Deutsches Ärzteblatt 1975: A-3424

Werbung
Zur Fortbildung
Aktuelle Medizin
Lungenödem
ÜBERSICHTSAUFSATZ
niedriger Atemfrequenz im Vordergrund steht, empfiehlt sich die sofortige intravenöse Injektion eines
Morphinantagonisten, zum Beispiel
Nalorphine hydrobromid, in einer
Dosierung von 15 mg. Hierdurch
kann häufig eine bessere Atemfunktion erreicht werden, und das
Bewußtsein der Patienten hellt auf.
Duberstein und Kaufmann machten
aber darauf aufmerksam, daß bei
den Patienten, die primär eine Tachypnoe zeigten, und bei denjenigen, die auf eine initiale NalorphinInjektion mit vermehrter Agitiertheit reagierten, Morphinantagonisten kontraindiziert sind, da
sie eine schwere Entzugskrise auslösen können. Bei 19 Patienten mit
dieser Konstellation hatten sie sieben Todesfälle registriert.
Die Beteiligung von DNS-Viren
an der Entstehung
menschlicher Neoplasmen
Ein kurzer Überblick
Ulrich Jehn, Rudolf Gross, Gisela Jamjoom
Aus der Medizinischen Universitätsklinik Köln
(Direktor: Professor Dr. med. Rudolf Gross)
9
Kortikosteroide in höherer Dosierung sind aus theoretischen Erwägungen (Hypersensibilitätsreaktion, Membraneffekt) empfohlen
worden. Kontrollierte Untersuchungen über den Effekt beim Heroininduzierten Lungenödem sind aber
nicht bekannt.
0 Da es auch bei den Patienten,
deren Befinden sich nach einer initialen Nalorphine-Injektion deutlich
gebessert hatte, im Verlauf der
nächsten Stunden wieder zu einer
Verschlechterung der Atemfunktion
kommen kann, und es sich — wie
bereits erwähnt — um einen lebensbedrohlichen Zustand handelt,
empfiehlt es sich in jedem Falle,
eine stationäre Einweisung zur
weiteren Beobachtung zu veranlassen.
O Bei den Patienten, die in bewußtlosem Zustand in die Klinik
eingeliefert werden, sollte in jedem
Falle eine sofortige Intubation und
Beatmung durchgeführt werden,
um auf diese Weise Hypoxämie
und Azidose rasch zu beseitigen
und einer Aspiration vorzubeugen.
Bei der Suche nach der Pathogenese menschlicher Malignome
steht die Virusätiologie ganz im
Vordergrund der augenblicklichen
Forschung. DNS-Viren und DNSReplica von RNS-Viren scheinen
bei der malignen Transformation
von Zellen eine entscheidende Rolle zu spielen.
Anschrift der Verfasser:
Prof. Dr. med. A. Wagner
Landkrankenhaus Coburg
863 Coburg
Ketschendorfer Straße 33
Erstmals formulierte der französische Arzt Peyrilhe 1773 die Theorie, daß der Krebs durch ein kontagiöses Agens hervorgerufen werde. Obwohl 1908 Ellermann und
Bang eine Leukämie des Huhnes
durch zeltfreie Filtrate übertragen
konnten und 1911 Rous ein Sarkom
in gleicher Weise — beides RNS-Viren —, wurde dieser Arbeitsrichtung kaum Beachtung geschenkt.
Heft 50 vom 11. Dezember 1975
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Literatur bei den Verfassern
3424
Der genaue molekularbiologische Vorgang der Onkogenese ist
nach wie vor unklar. Es verdichten sich jedoch die Hinweise dafür,
daß Herpes-Viren — insbesondere das Epstein-Barr-Virus und das
Virus des Herpes genitalis — eine Trigger-Wirkung bei der malignen
Transformation einer Zelle ausüben. Durch die Vielfalt verfeinerter
Methoden wurde es möglich, den Spurennachweis dieser DNS-Viren ständig zu verbessern und die Lösung dieses Rätsels einen großen Schritt voranzutreiben. Auch wenn die neueren Erkenntnisse in absehbarer Zeit keine therapeutischen Konsequenzen
haben werden, so sind gerade die epidemiologischen Untersuchungsergebnisse ein vielversprechender Ansatzpunkt für eine wirkungsvolle Vorsorge.
Das Feld beherrschten die mit chemischen und physikalischen Mitteln induzierten Tumoren. Eine
Wende trat erst in den 50er Jahren ein, als Ludwik Gross ein RNShaltiges Leukämievirus und ein
DNS-Tumor-Virus — nämlich Polyoma — bei der Maus fand. Das
Interesse an DNS-Viren als mögliche Kandidaten für die Entstehung
menschlicher Neoplasmen konzentrierte sich zunächst auf die Adenoviren und Papova-Virert — vor
allem Polyoma und SV 40 — welche
bei verschiedenen Säugetieren experimentell Neoplasmen hervorrufen. Das Papilloma-Virus — das
dritte der Papova Gruppe — erzeugt beim Menschen die Warze
und Papillome im Larynx. Obwohl
nach dem gegenwärtigen Kenntnis-
Zur Fortbildung
Aktuelle Medizin
DNS-Viren und menschliche Neoplasmen
stand Adenoviren, Polyoma und SV
40 bei der Entstehung mensch licher Neoplasmen nicht beteiligt
sind, haben sie doch wertvolle Einblicke in molekularbiologische Vorgänge einer malignen Zelltransformation im Tiermodell gegeben. Seit
den 60er Jahren schließlich erregen die Herpes-Viren - allen voran das Epstein-Barr-Virus - die
Aufmerksamkeit der Tumorvirologen als eine Gruppe von DNS-Viren , die mögl icherweise eine ätiologische Rolle bei einigen menschlichen Neoplasmen spielen. Der
Beweis dafür, daß ein Virus im
menschlichen Organismus ein Malignom hervorrufen kann , ist deshalb so schwer, wei l die auch heute noch gültigen Kriterien Kochs
für die Entstehung einer Krankheit
durch ein infektiöses Agens nicht
erfüllt werden können:
0
Es muß regelmäßig im infizierten Körper zu finden sein ,
8 Es muß sich isolieren , in Reinkultur züchten
lassen und
und
untersuchen
phoms. ln frischen Tumorzellen
wurden nie Viruspartikel gefunden.
Der Spurennachweis gelingt am
einfachsten
immunfluoreszenzmikroskopisch in Lymphoblasten-Kulturen des Tumors, wobei vier
Gruppen EBV-assoziierter AntigenSysteme gefunden werden: EA,
MA, VCA und EBNA. Obwohl man
in frischen Tumorzellen keine Viruspartikel findet, enthalten diese
doch regelmäßig bis zu 20 GenomÄquivalente EBV-spezifischer DNS,
Abkürzungen im Text:
BL
Burkitt-Lymphom
Ca
Karzinom
DNS
Deoxyribonukleinsäure
EA
early Antigen
EBNA
Epstei n-Barr-Virusassoziiertes nukleäres Antigen
EBV
Epstein-Barr-Virus
Herpes-simplexVi rus
HSV
8 Die Reinkultur muß, einem ge-
MA
Membran Antigen
eigneten Versuchstier beigebracht,
wieder eine entsprechende Erkrankung setzen.
NPC
Nasopharyngeal Ca
Deshalb muß sich jede Beweisführung auf indirekte Hinweise stützen , welche dazu geeignet sind ,
Spuren aufzufinden , die ein Virus
im Tumor bzw. im befallenen Organismus hinterlassen hat. Geeignete
Methoden sind immunologischer,
biochemischer,
molekularbiologischer und epidemiologischer Art.
Im folgenden werden die Indizien
für eine Beteiligung von DNS-Viren
an der Entstehung von vier
menschlichen Neoplasmen aufgezeigt:
1962 beschrieb Burkitt ein malignes Lymphom, das bei Kindern in
bestimmten Gegenden Afrikas endemisch auftritt. 1964 entdeckten
Epstein und Barr das nach ihnen
benannte Virus elektronenoptisch
in Zellkultu ren eines solchen Lym-
RNS
Ribonukleinsäure
SV40
Simian Virus 40
uv
ultraviolett
VCA
virales Capsid Antigen
stets das MA-System und EBNA,
selten die beiden anderen. EBV
können ferner normale periphere
Lymphozyten in vitro transformieren und sind für die Etablierung
von Langzeitkulturen notwendig.
Weiterhin haben 90 Prozent aller
BL-Patienten hohe, gegen die erwähnten Antigene gerichtete Antikö rpertiter mit Krankheitsverlaufsbezogenen Schwankungen : beispielsweise haben Patienten , bei
denen
die
Anti-EA-Antikörper
unter der Behandlung verschwinden, eine gute Prognose mit
der Möglichkeit der Langzeitremission. Umgekehrt sind die Patien-
ten , die unter der Behandlung antiEA-positiv werden oder vor Einsetzen der Therapie schon sehr hohe
Anti-EA-Titer haben, die Kandidaten für Tumorrezidive mit ungünstiger Prognose. Die epidemiologischen Hinweise für eine Virusätiologie dieses Tumors sind schließlich
..,. die begrenzte geographische
Verteilung der Erkrankung,
..,. das geringe Vorkommen des BL
in kühlen Mikroklimaten innerhalb
des endemischen Gürtels, welches
- zusammen mit der Kongruenz
der Malariagebiete - an ein Insekt
als Überträger denken läßt,
..,. d ie Häufung des BL in zeitlich
begrenzten Abständen
..,. und die Tatsache, daß die Erkrankung auf Kinder beschränkt
ist, mit Ausnahme von Nomaden,
die aus Gegenden mit niedrigem
Tumorbefall in endemische Gebiete einwandern.
Letztens muß erwähnt werden , daß
nach Inokulation von EBV in Marmosetaffen ein dem BL sehr ähnliches Lymphom erzeugt werden
kann.
Da in Zellkulturen des Nasopharyngeai-Ca der Chinesen ebenfalls
elektronenoptisch EBV, immunfluoreszenzmikroskopisch die erwähnten virusspezifischen Antigene und
in frischem Biopsie-Material EBVDNS gefunden werden, vermutet
man auch bei diesem Malignom
eine enge Korrelation von EBV und
Karzinom .
Regelmäßig
werden
ebenfalls hohe EBV-Anti körper-Titer im Serum der Patienten gefunden - im Gegensatz zu anderen
Formen von Kopf- und Nackentumoren - etwa dem Hypo- und
Oropharynx-Ca der Inder.
Drittens wird die Hodgkinsche Erkrankung mit EBV in Verbindung
gebracht, und zwar besonders die
sarkomatöse,
lymphozytenarme
Form mit der schlechtesten Prognose. Solche Patienten zeigen
hohe Anti-VCA- und Anti-MA-Reak-
DEUTSCHES ARZTEBLA'IT Heft 50 vom 11 . Dezember 1975 3425
Zur Fortbildung
Aktuelle Medizin
DNS-Viren und menschliche Neoplasmen
tivität — gut vergleichbar mit dem
BL und NPC —, während Patienten
mit der lymphozytenreichen, relativ
gutartigen, paragranulomatösen
Form nur schwach positiv reagieren und mit EBV-negativ Kontrollen
vergleichbar sind. Die granulomatöse Form liegt sowohl hinsichtlich
des histologischen Bildes als auch
der serologischen Reaktivität dazwischen. Interessant ist, daß die
lange Zeit für pathognomonisch
gehaltenen „Reed-Sternberg-Zellen" ebenfalls in rekurrierenden
Läsionen des Burkitt-Lymphoms
und bei Patienten mit infektiöser
Mononukleose gefunden werden.
Es gibt auch epidemiologische
Hinweise, die zumeist in einigen
Fällen auf eine Virusätiologie des
Hodgkins hindeuten: beispielsweise wird in den USA bei der Erkrankung jugendlicher Patienten eine
geographische Häufung beobachtet. Weiterhin wurde in der Stadt
New York die Erkrankung dreimal
häufiger bei tonsillektomierten Jugendlichen gefunden als bei solchen, die nicht tonsillektomiert waren, eine Beobachtung, die auch in
Finnland gemacht wurde. Eine jahreszeitliche Schwankung im Auftreten des Hodgkin mit Schwerpunkt
im Winter wurde aus England und
Deutschland berichtet.
Ein anderes Herpes-Virus — Herpes-simplex-Virus Typ II — wird
mit der Entstehung des Zervix-Ca
der Frau in Zusammenhang gebracht. Die Indizien dafür sind ähnlich, wie sie für das EBV aufgezeigt
wurden:
eine noch höhere Zervix-Ca-Rate.
— 80 Prozent der Patienten mit
Zervix-Ca haben Antikörper gegen
HSV-II, entsprechende Kontrollgruppen nur 25 Prozent. Insgesamt
wurden vier HSV-II-spezifische Antigene identifiziert:
O ein „non-virion Antigen", das
selbst nicht Bestandteil des Virion
ist, für das aber von integrierter Virus-DNS codiert wird. Es wird für
die maligne Transformation der
Zellen
verantwortlich
gemacht.
Fast 100 Prozent der Frauen mit
fortgeschrittenem Ca zeigen Antikörper gegen dieses Antigen, während Patienten mit einem Ca der
Harnblase und Vulva etwa, negativ
sind.
e ein „early Antigen", welches
mit der klinischen Ausdehnung des
Ca korreliert: 90 Prozent der Patienten im Stadium III und IV haben
Antikörper gegen dieses Antigen,
verglichen mit 35 Prozent der Frauen mit sehr frühen karzinomatösen
Veränderungen der Zervix. Darüber hinaus scheinen diese Antikörper auch prognostische Bedeutung
zu haben: positive Titer verschwanden bei denjenigen Patienten mit
massivem Befall, die auch klinisch
nach intensiver Therapie frei von
Tumorgewebe waren. Bei denjenigen, die zwei Jahre nach der Behandlung serologisch wieder positiv wurden, wurde auch klinisch
bald ein Tumorrezidiv gefunden.
O in frischen Tumorzellen ein „virales Capsid Antigen" und
O ein Membran-Antigen.
Ausgedehnte epidemiologische Untersuchungen der 60er Jahre legten den Verdacht nahe, daß das
Zervix-Ca im Prinzip eine venerische Erkrankung ist. Die Vorstellung, daß ein Agens während des
Geschlechtsverkehrs übertragen
wird, führte zur Suche eines solchen Faktors, und so wurde auch
bald anamnestisch eine hohe Übereinstimmung im Auftreten von Herpes genitalis und Zervix-Ca gefunden. Frauen, die während der
Schwangerschaft an einem Herpes
genitalis erkrankten, hatten sogar
3426
Heft 50 vom 11. Dezember 1975
Aber Virus-assoziierte Antikörper
sind nicht die einzigen Spuren, die
dieses Virus in den Krebszellen
hinterläßt: Fragmente von
HSV-II-DNS wurden in frischen
Tumorzellen nachgewiesen, welche
bis zu 40 Prozent des Virus-Genoms in integrierter Forni
enthielten. Offenbar werden in
Tumorzellen nur 5 Prozent des
HSV-Genoms transkribiert, während bei einer zell-lytischen Infektion und Replikation dieser Viren
50 Prozent transkribiert werden.
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Diese Beobachtung unterstützt die
Hypothese, daß eine Transformation der Zellen nur durch defekte
Viren veranlaßt werden kann —
möglicherweise dann, wenn ihre
DNS in das zelluläre Genom integriert ist. In Zellkulturen kann das
— etwa mit UV-Licht — inaktivierte, „defekte" Virus Zellen permanent transformieren.
Abschließend muß gesagt werden,
daß zwar weite Bevölkerungsteile
Herpes-Viren ausgesetzt sind, aber
nur relativ wenige an Malignomen
der erwähnten Art erkranken. Andere Faktoren müssen deshalb zusätzlich zu DNS-Viren an der Entstehung des Tumors beteiligt sein:
eine wesentliche Rolle scheint das
Immunsystem zu spielen, welches
normalerweise eine Tumorentstehung verhindert, aber etwa infolge eines genetischen Defekts, einer ablaufenden Infektion (Malaria)
oder einer Immunsuppression von
der Welle transformierter Zellen
überrollt wird. Eine andere Möglichkeit wäre, daß zwei oder mehrere Viren zusammenwirken müssen, um eine maligne Transformation auszulösen, etwa dergestalt,
daß DNS-Viren eine „Trigger"-Funktion an dem im normalen
Gen-Pool aller Vertebraten latent
vorhandenen Onkogen als Teil eines Oncorna-Virus ausüben.
Auch wenn die Grundlagenforschung immer schwieriger wird,
und selbst für den tätigen Wissenschaftler in ihrer Komplexität
schwer überschaubar ist, glauben
wir dennoch, daß es wichtig ist,
den praktisch tätigen Arzt von Zeit
zu Zeit über den Stand der Forschung zu informieren.
Literatur bei den Sonderdrucken
Anschrift des Verfassers:
Privatdozent
Dr. med. Ulrich Jehn
Medizinische Universitätsklinik
5 Köln-Lindenthal
LFJ-Ebene 4
Herunterladen