Mikrobielle Jäger und Parasiten - Naturwissenschaftliche Rundschau

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Forschung
Stephan C. Schuster und Snjezana Rendulic,
University Park, Pennsylvania, USA
Mikrobielle Jäger und Parasiten
Wie räuberische Bakterien Bakterien fressen
Seit den frühen 1960er Jahren ist bekannt, dass Bakterien in der Lage sind, ihresgleichen als
­Nahrungsquelle zu nutzen. Zu diesem Zweck haben räuberische Bakterien unterschiedliche
­Strategien des Jagdverhaltens und des Jagdmechanismus entwickelt. Unter allen bisher untersuchten mikrobiellen Räubern nimmt das Bacterium Bdellovibrio bacteriovorus eine einzigartige
Stellung ein. Einen Teil seines raffinierten Lebenszyklus verbringt es als Parasit in einem Wirtsbacterium. Obwohl B. bacteriovorus bereits vor 40 Jahren von dem deutschen Mikrobiologen
Heinz Stolp entdeckt wurde, blieben viele Aspekte seines Lebenszyklus bis heute im Verborgenen.
Durch eine im vergangenen Jahr veröffentlichte Genomanalyse, die den molekularen Bauplan
­dieses Organismus zugänglich machte, wurde dieses Forschungsgebiet neu belebt. Dieser Artikel
gibt einen Überblick über die derzeit bekannten bakteriellen Räuber und ihre Strategien und
fasst den derzeitigen Kenntnisstand der Genomanalyse zusammen. Zudem werden mögliche
­Anwendungen des bakteriellen Räubers bei der Bekämpfung von schädlichen Bakterien in
der Umwelt sowie im medizinischen Bereich aufgezeigt.
R
äuber-Beute-Beziehungen sind auf allen Ebenen des
Lebens beschrieben, in der makroskopischen und
mikroskopischen Welt der Zoologie und der Mikrobiologie. Erstaunlicherweise ist wenig bekannt, dass auch
bestimmte Bakterien selbst eine räuberische Lebensweise
verfolgen [1]. Bisher ging man hauptsächlich davon aus, dass
Bakterien nur als Nahrungsgrundlage für mikrobielle Räuber
wie Amöben oder tierische Räuber wie Nematoden dienen.
Angesichts der Tatsache, dass Bakterien den größten Teil der
Biomasse dieses Planeten ausmachen, erscheint es mehr
als unwahrscheinlich, dass Bakterien selbst diese außerordentlich große Nahrungsressource ungenutzt lassen. Nach
heutigem Kenntnisstand ist es daher wenig überraschend,
dass räuberische Bakterien in allen terrestrischen und aquatischen Biotopen gefunden werden, inklusive menschlicher
und tierischer Därme [2].
Wolfsrudel oder Einzelkämpfer
Ein Großteil des Stoffwechsels im Boden basiert auf
der Zersetzung von organischem Material durch Bodenbakterien, die als Destruenten hochmolekulare Biopolymere zu organischen, niedermolekularen Substanzen zersetzen. Diese Bakterien können ihrerseits als Nahrungsgrundlage für andere räuberische Bodenbewohner wie Amöben
und Nematoden dienen. Ähnlich wie Amöben haben auch
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bestimmte Bakterien, die Myxobakterien, gelernt, im Team
zu jagen. Sie jagen im „Wolfsrudel“, d. h. sie schwärmen als
Gemeinschaft aus und sondern dabei lytische Enzyme ab,
die die Zellwand anderer Bakterien zersetzen und letztere
abtöten [1]. Die freigesetzten Nährstoffe werden von den
Myxobakterien aufgenommen, denen die lytischen Substanzen nichts anhaben. Für diese Art der Bejagung war
es in der Evolution notwendig, eine soziale Interaktion mit
Individuen derselben Art einzugehen, von der alle Beteiligten profitieren.
Im Gegensatz zu diesem gemeinschaftlichen Vorgehen
wurde für mehrere bakterielle Spezies ein direkter Angriff
eines einzelnen Bacteriums auf ein anderes beschrieben.
Vertreter hierfür gehören den Gattungen Vampirococcus,
Daptobacter, Bacteriovorax oder Bdellovibrio an. Während
die Vertreter der ersten beiden Gattungen vor allem in limnischen Systemen leben [3], kommen die Arten der anderen
beiden Gattungen sowohl im Boden als auch in limnischen
Systemen und in marinen Gewässern vor. Alle diese Vertreter unterscheiden sich grundlegend im Mechanismus
ihres Angriffs und lassen sich den Kategorien Endo- und
Ektoparasit zuordnen. Ektoparasiten wie Vampirococcus
heften sich von außen an die Beute an und verweilen dort,
während sie das Innere ihrer Beute aussaugen. Im Gegensatz
hierzu durchdringen Endoparasiten wie Daptobacter beide
469
Forschung
Bdellovibrio bacteriovorus
Gram-negative
Wirtszelle
VIII. Freisetzung
I. Beutelokalisierung
freischwimmende Phase
VII. Ausdifferenzierung
Äußere Membran
Periplasma
Innere Membran
Cytoplasma
II. Anheftung
Abb. 1. Der zweiphasige Lebenszyklus von
Bdellovibrio bacteriovorus. Während der Angriffsphase ist Bdellovibrio hochmotil und
kann chemotaktisch Beutekonzentrationen
ausfindig machen. Hat es ein adäquates
Beutebacterium aufgefunden, dringt es in
dieses ein und geht in die Reproduktionsphase über. Diese findet im periplasmatischen Raum innerhalb der Wirtszelle statt,
wobei die innere Membran, die das Cytoplasma abgrenzt, nicht durchbrochen wird.
Reproduktionsphase
III. Eindringen
VI. Teilung
V. Bdelloplast
IV. Etablierung
Membransysteme ihrer Beute, um nach dem Eindringen
in die Wirtszelle ihre Wachstums- und Vermehrungsphase
innerhalb des Cytoplasmas der Beute zu beginnen.
Die Familie Bdellovibrionaceae nimmt eine Sonderstellung ein [1], da sie auf Grund ihres Jagdverhaltens und
Lebenszyklus sowohl als Jäger als auch als Parasitoide klassifiziert werden können. Bdellovibrio kann mit „der zitternde
Sauger“ übersetzt werden (von griech. bdallein, saugen
und lat. vibrare, zittern), wobei der Namensteil -vibrio auf
Ähnlichkeit in Form und Gestalt mit Bakterien der Gattung Vibrio zurückzuführen ist [4]. Zum Wirtsspektrum von
­Bdellovibrio gehören Gram-negative Bakterien [4]. Es durchdringt nur die äußere Membran seiner Beute, verbleibt aber
außerhalb des Cytosols im sog. Periplasma der Zelle, wo es
von den Ressourcen der Wirtszelle zehrt (Abb. 1).
Reproduktion unter Ausschluss der Öffentlichkeit
Bdellovibrio bacteriovorus als Modellorganismus der Familie der Bdellovibrionaceae durchläuft in seinem Lebenszyklus
zwei Phasen (Abb. 1). In der ersten Phase schwimmt das
Bacterium durch Geißelantrieb (Abb. 2a) mit den bislang
schnellsten bei Bakterien gemessenen Geschwindigkeiten (>
100 µm/s [5]) und verwendet seine Chemosensoren, um hohe
Beutekonzentrationen auszumachen. Nach Zusammentreffen mit einer Beutezelle überprüft der Räuber während einer
ersten reversiblen Anheftung die Eignung des Objekts als
Nahrungsquelle (Abb. 2b). Stellt sich die Beute als geeignet
heraus, wird die Anheftung unumkehrbar und der Räuber beginnt, in das Periplasma der Wirtszelle einzudringen,
indem er mit Hilfe eines lytischen Cocktails aus Proteasen,
Peptidasen, Glycanasen und Lipasen eine Eintrittsöffnung
in die äußere Membran schneidet. Durch diese Öffnung, die
enger ist als das eindringende Bacterium selbst, zwängt sich
Bdellovibrio durch die äußere Zellwand, nachdem es seine
Geißel abgeworfen hat, und nistet sich im Periplasma ein.
Im Anschluss an das Eindringen verändert sich die Gestalt
des Wirtsbacteriums dahingehend, dass die stäbchenförmi­
470
ge Form in eine sphärische übergeht. Man nimmt an, dass
für diesen Prozess ein vom Räuber bedingter Umbau des
Peptidoglycangerüsts, einer netzartigen Membranstruktur
des Wirtsbacteriums, verantwortlich ist. Diese Veränderung
verhindert gleichzeitig eine zusätzliche Infektion durch
weitere Bdellovibrio-Zellen. Das Verhindern einer solchen
Superinfektion dient der ausschließlichen Nutzung der
Wirtsressourcen durch den erfolgreichen Räuber und stellt
eine Analogie zum Befruchtungsprozess der Eizelle mit
Spermium dar.
Jetzt, da sich die parasitische Zelle ihrer Beute sicher sein
kann, beginnt eine Umprogrammierung der Genexpression
a.
b.
c.
d.
Abb. 2. Lebensstadien von Bdellovibrio. Nachkolorierte transmissionselektronenmikroskopische Aufnahmen einzelner Lebensstadien von
Bdellovibrio. – a. Begeißelter Schwärmer auf der Suche nach Beutebakterien, – b. Anheften an eine potentielle Wirtszelle, – c. Abgerundete
Wirtszelle mit aufgenommenem Bdellovibrio (sog. Bdelloplast), in der
Bdellovibrio zunächst in die Länge wächst, um sich in mehrere Tochterzellen zu teilen, – d. Freisetzung von ausdifferenzierten Bdellovibrio-Zellen aus der Hülle des Wirtsbacteriums. Vergrößerung ca. 15500-fach,
Balken 1µm.
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Schuster, Rendulic: Mikrobielle Jäger und Parasiten
des Räubers und damit ein Übergang von der Angriffsphase
in die Fortpflanzungsphase. Hierzu wird der Zellzyklusstop,
der während der Angriffsphase besteht, aufgehoben.
Obwohl es sich bei der Familie der Bdellovibrionaceae
ebenso wie bei ihrer Beute um Gram-negative Bakterien
handelt, weicht der Zellteilungsprozess von Bdellovibrio
dramatisch von dem üblichen Teilungsprozess der Gramnegativen Bakterien ab. Zunächst wächst die eingedrungene
Zelle durch Verlängerung um ein Vielfaches ihrer ursprünglichen Größe. In einem synchronen Prozess wächst diese
filamentöse Zelle in dem Maße, wie das Cytoplasma der
Beutezelle schrumpft. Die Zahl der Tochterzellen wird durch
die Größe der Wirtszelle bestimmt, da der zur Verfügung stehende Platz innerhalb der Beutezelle durch das starre Peptidoglycangerüst begrenzt ist. Die Tochterzellen entstehen
gleichzeitig durch einen Abschnürungsprozess aus der filamentösen Mutterzelle, wobei häufig eine ungerade Anzahl
von Nachkommen beobachtet werden kann (Abb. 2c).
Nun erfolgt zum zweiten Mal eine genetische Umprogrammierung des Parasiten, da alle Tochterzellen sich in Angriffszellen verwandeln müssen. Dieser Prozess ist beendet, wenn
alle Tochterzellen über einen Motilitätspol mit einer Flagelle
sowie über den notwendigen Angriffspol am gegenüberliegenden Ende verfügen. Der letzte Schritt für die Beendigung
des Zellzyklus besteht in der Freisetzung der Tochterzellen aus dem Überbleibsel der Wirtszelle. Dieser Vorgang
­erinnert stark an die Freisetzung von Bakteriophagen, da
nun die noch verbleibende Zellhülle des Wirts, bestehend
aus äußerer Membran und Peptidoglycan, mit Hilfe von
­lytischen Enzymen aufgerissen wird. Die so freigesetzten
Tochterzellen (Abb. 2d) sind augenblicklich in der Lage, weitere Wirtszellen aufzuspüren und zu befallen.
Genomanalyse liefert Bauplan eines Organismus
In den 40 Jahren seit der Entdeckung von Bdellovibrio
konzentrierten sich die Forschungsvorhaben hauptsächlich
auf mikrobiologische, morphologische und biochemische
Aspekte dieses Organismus. Durch diese Arbeiten gelang
es, den Lebenszyklus von Bdellovibrio darzustellen sowie
Einzeluntersuchungen zu den Transportphänomenen durch­
zuführen, die bei der Aufnahme von Nährstoffen aus dem
Wirt eine Rolle spielen. Erst in den letzten beiden Jahren
gelang es, ein genetisches System zu etablieren, das Veränderungen im Erbgut des Bacteriums zulässt [6]. Im vergangenen Jahr konnte von unserer Forschergruppe erstmals die
komplette Genomsequenz sowie eine Analyse derselben
veröffentlicht werden [7].
Es zeigte sich, dass Bdellovibrio keine nähere Verwandtschaft zu den 150 Bakterien hat, deren Genome zu diesem
Zeitpunkt bekannt waren, und dass durch Sequenzvergleiche lediglich 50% der vorhergesagten Gene eine Genfunktion zugeordnet werden konnte. Dies ist zum einen
dadurch begründet, dass das Bdellovibrio-Genom das erste
vollständig analysierte Genom der Klasse der räuberischen
d-Proteobakterien ist, zum anderen dadurch, dass es keine
Neigung zeigt, sich genetische Information aus der bio­
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K a s te n : F u n kt i o n s v o r h e r s a g e v o n Ge n e n
Genomsequenzierung
Die gesamte genetische Information von Bdellovibrio bacteriovorus
wurde durch Sequenzanalyse von Nucleinsäurefragmenten ermittelt. Dabei wurde jeder Bereich des Genoms durchschnittlich achtmal sequenziert. Durch überlappende Bereiche in den Sequenzen
der sequenzierten Fragmente konnten diese zu einem ringförmigen
Bakterienchromosom zusammengesetzt werden.
Identifizierung von Genen
Die Nucleinsäuresequenz wird durch bioinformatische Methoden
analysiert. Anhand von bekannten Mustern und Genstrukturen
werden so genannte offene Leserahmen definiert, das sind die
­Sequenzbereiche, die in die entsprechenden Aminosäuresequenzen der Genprodukte übersetzt werden. Da die Aminosäuren der
Proteine durch Nucleotid-Tripletts codiert werden und die Nucleotidsequenz aus zwei Richtungen abgelesen werden kann, müssen
dabei sechs mögliche Leserahmen berücksichtigt werden.
Funktionsvorhersage
Die vorhergesagten Gensequenzen werden mit bekannten Genen
in Datenbanken verglichen, die entweder alle bisher bekannten
Nucleinsäure- und Aminosäuresequenzen enthalten [genbank,
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/Genbank/] oder nur jene Sequenzen,
deren Funktion durch experimentelle Untersuchungen nachgewiesen worden sind [swissprot, http://www.ebi.ac.uk/swissprot/]. Dabei werden auch Gene von Organismen, die phylogenetisch weit
entfernt sind, berücksichtigt, da diese essentiell und somit nicht
beliebig veränderbar sind. Die Analyse der ca. 200 bisher entschlüsselten Bakteriengenome zeigt, dass selbst nahe verwandte
Bakterienstämme sich in bis zu 40% ihres Erbmaterials voneinander unterscheiden. Die Zahl der bisher unentdeckten Gene ist in
Organismen ohne enge Verwandtschaft noch um ein Vielfaches
höher und lässt den Anteil der uns unbekannten Gene des globalen
mikrobiellen Genpools nur erahnen.
Stoffwechselmodell
Die Funktion der vorhergesagten Gensequenzen eines Genoms
kann auf Karten der Stoffwechselwege eines Organismus im Computer projiziert werden. Die Zuordnung erfolgt dabei über einen
Sequenzvergleich zu der Datenbank „Kyoto Encyclopedia of Genes and Genomes“ [KEGG, http://www.genome.jp/kegg/]. Aus der
Summe aller Funktionsvorhersagen können Aussagen über das
metabolische Potential eines Organismus gemacht werden und
somit zumindest teilweise seine Physiologie abgeleitet werden.
Wegen des Anteils an Genen mit unbekannter Funktion im Genom
eines Organismus können komplementäre und bisher unbekannte
Stoffwechselwege mit diesem Verfahren nicht ermittelt werden.
tischen Umwelt oder seiner Beute anzueignen (horizontaler
Gentransfer).
Aus der Klassifizierung der vorhergesagten Gene lässt
sich schließen, dass es sich um einen Organismus handelt,
der obligatorisch auf Wirtsbakterien angewiesen ist, da
nur wenige Gene für Stoffwechsel und Energiegewinnung
vorhanden sind. Bdellovibrio besitzt die höchste jemals in
einem Bacterium festgestellte Anzahl an Genen für hydrolytische Enzyme (Anzahl Gene/Megabasen), die sehr wahrscheinlich am Abbau der Wirtsbiopolymere beteiligt sind
471
Forschung
Tab. 1. Gene, die für hydrolytische Enzyme codieren [7].
(Tab. 1). Diese ca. 290 verschiedenen Enzyme zerlegen Proteine, Polysaccharide, DNA, RNA sowie Lipide in ihre niedermolekularen Bestandteile. Interessanterweise spiegelt sich
diese Ansammlung an degradierenden Enzymen in einer
großen Anzahl an Energie verbrauchenden Transportern
(ABC-Transportern) sowie diffusionskontrollierten Membrandurchgängen (Permeasen) wider (Abb. 3). Somit scheint
klar zu sein, dass Bdellovibrio eine generelle Tendenz hat,
vorhandene Biopolymere abzubauen, anstatt sie als Ganzes
in seinem eigenen Stoffwechsel zu verwenden. Diese anhand
der Genomanalyse gemachte Vorhersage stimmt gut mit
experimentellen Beobachtungen der vergangenen 40 Jahre
überein. Mit Hilfe bioinformatischer Programme konnte für
Bdellovibrio ein Stoffwechselschema konstruiert werden, das
viele experimentelle Befunde erklärt. So lässt sich feststellen,
dass der sequenzierte Stamm Bdellovibrio bacteriovorus
HD100 sehr wohl in der Lage ist, ihm zur Verfügung stehende
Nährstoffe umzusetzen und mit der gewonnenen Energie ein
Membranpotential aufzubauen, das alle physiologisch wichtigen Vorgänge der Zelle betreibt. Jedoch ist dieser Bdellovibrio-Stamm nicht in der Lage, sich außerhalb seines Wirts zu
reproduzieren. Der Stoffwechsel dieses Bacteriums enthält
alle notwendigen Enzyme zur Durchführung von Glycolyse,
oxidativer Phosphorylierung, Fettsäureabbau sowie einen
kompletten Citratzyklus (Abb. 3). Ebenso ist es in der Lage,
seine eigenen Bausteine zur DNA-Synthese zu produzieren.
Eine wesentliche Erkenntnis der Genomanalyse besteht
darin, dass Bdellovibrio nur elf der 20 essentiellen Aminosäuren selbst synthetisieren und nur zehn derselben
abbauen kann. Dem räuberischen Bacterium stehen also
neun essentielle Aminosäuren nur mittels Abbau von Wirts-
Peptidexporter
Art des hydrolytischen Enzyms
Lipasen
Glycasen
Proteasen und Peptidasen
DNasen
RNasen
andere Hydrolasen
proteinen und Transport aus dem Wirtsbacterium zur Verfügung. Hieraus erklärt sich zugleich die große Anzahl an
ABC-Transportsystemen und Permeasen.
Ebenso fehlen Bdellovibrio alle benötigten Enzyme
zur Speicherung von organischem Kohlenstoff. In diesem
Zusammenhang ist zu erwähnen, dass das Bacterium in der
Lage ist, Glycolyse durchzuführen, jedoch weder die Neusynthese von Glucose (Gluconeogenese) noch den Aufbau
von polymeren Zuckermolekülen betreibt.
Da Bdellovibrio nicht in der Lage ist, sich außerhalb
seines Wirtes zu vermehren, jedoch durch die Verstoffwechselung von Nährstoffen aus seiner Umwelt Energie zu
gewinnen vermag, liegt der Schluss nahe, dass anhand von
Bdellovibrio die Lebensdauer einer Bakterienzelle untersucht werden kann, ohne dass eine Verjüngung der Kultur
durch Zellteilung auftritt. Diesbezüglich wurde beobachtet,
dass Bdellovibrio nicht wie viele seiner Artverwandten in
eine stationäre Phase mit reduziertem Wachstum eintritt,
sondern über einen längeren Zeitraum metabolisch aktiv
bleibt, ein Sachverhalt, der durch die anhaltend hohe Motilität dokumentiert ist.
Peptidimporter
Peptidpermease
Aminosäurenimporter
Aminosäurenpermeasen
Kohlenhydrattransporter
und -permeasen
Polyamintransporter
Zuckertransporter
Arginin
Cl -
H+
2+
Ca
Na+
K+
K+
Ionentransporter und -permeasen
K+
ADP
ATP
ADP
Na+
cat i on
Cl -
ADP
H+
ATP
ATP
AD P
P
AD
Na+
Mg2+
Co2+
Cl -
Mg2+
Co2+
P
AD
P
AT
ADPTP
A
ADP
ATP
AD
P
ATP
AD
AT P
P
AD
AT P
P
ADP
AT
P
Ornithin
Succinyl-CoA
Phosphattransporter
Multidrug Resistenz
Exporter
Glutamat
2-Oxoglutarat
Succinat
PO34-
Fettsäuresynthese
A
AT DP
P
AT
P
Ethanol
TTP
TMP
vorhergesagte
Transporterkomponenten
ATP
Orotat
Prolin
P
AD
ATP
Acetaldehyd
H+
P
AD P
AT
H+
Isocitrat
Fumarat
Acetyl-CoA
CO2
Malonyl-CoA
CO2
Acetat
H+
Glutamin
Citratzyklus
H
H+
UMP
vorhergesagte
Permeasenkomponenten
ATP
ADP
Citrat
Malat
Pyruvat
Isoleucin
+
Nukleotidsynthese
UTP
ATP
α-Ketoisovalerate
Leucin
GTP
Acetyl-CoA
Oxaloacetat
Phosphoenolpyruvat
?
P
AD
P
AT
Valin
CTP
2-P-Glycerat
Cystein
ADP
GMP
Asparagin
Aspartat
Alanin
ADP
P
AD
ATP
CMP
3-P-Glycerat
Mg2+
Co2+
Threonin
ATP ATP
Lysin
Aspartat semialdehyd
Serin
AMP
IM
Methionin
1,3-Di-P-Glycerat
Glycin
Phosphoribosyl
Pyrophosphat
ATP
AT
P
AD
AT P
P
P
AD
Histidin
Homoserin
AD
P
Sonstige
Transporter
P
AT
Glyceraldehyd-3-P
Glycolyse
3x
472
AT
P
Fe2+
Zn2+
Tryptophan
Tyrosin
Phenylalanin
Ribulose-5-P
Gluconeogenese
2x
ATP
Xylulose-5-P
DNAimporter
AD
P
Glucose-1-P
Fructose-1,6-di-P
Fe2+
Fe2+
Zn2+
Multidrug
Effluxpumpen
Ribose-5-P
Glucose-6-P
Fructose-6-P
Fe2+
ATP
Sedoheptulose-7-P
TonB/ExbD/ExbB
16 Proteine
Nukleotidpermeasen
Chorismat
Pentosephosphatweg
Glucose
Eisentransporter
ADP
ATP
ADP
ATP
ADP
ATP
ADP
ADP
ATP
ADP
ATP
ATP
ATP
ADP
ADP
ADP
ATP
Shikimat
Erythrose-4-P
Na +
ADP
TEM
Anzahl der vorhergesagten
Gene aus dieser Grupppe
15
10
150
20
9
89
Co2+
Zn2+
Co2+ Cd2+
Zn2+
Cd2+
Ag2+
AD
P
Ni2+
CrO24
Metalltransporter
und -permeasen
Abb. 3. Schematische
Darstellung der vorhergesagten Stoffwechselwege von Bdellovibrio
bacteriovorus. Die Stoffwechselwege wurden
durch Sequenzvergleich
der vorhergesagten
Gene von B. bacteriovorus mit bekannten
Genen, die für Enzyme
codieren, zusammengestellt. Die Biosynthesewege der essentiellen
Aminosäuren, die B.
bacteriovorus selbst
herstellen kann, sind
schwarz dargestellt,
nicht vollständige
Synthesewege rot. Die
dazugehörigen Degradationswege sind durch
Unterstreichung der
jeweiligen Aminosäure
gekennzeichnet:
schwarz bei kompletter
Enzymausstattung und
rot bei unvollständigem
Degradationsweg.
Naturwissenschaftliche Rundschau | 58. Jahrgang, Heft 9, 2005
Schuster, Rendulic: Mikrobielle Jäger und Parasiten
Wie oben gezeigt, kann das wesentliche Ergebnis einer
Genomanalyse nicht nur im Auffinden spezifischer Gene
und ihrer Genprodukte, sondern vor allem im Nachweis
ihrer Abwesenheit bestehen. Diese Feststellung ist insofern
besonders wichtig, als im Vorhandensein eines Gens keine
Garantie für die Expression und Nutzung des Genproduktes
gegeben ist. Im Gegensatz hierzu kann bei Fehlen eines
Gens die physiologische Befähigung, die durch das Genprodukt vermittelt würde, ausgeschlossen werden. In dieser
Hinsicht ist beispielsweise das Fehlen der beiden Protein­
exportsysteme Typ III und Typ IV aufschlussreich. Diese Proteinexportsysteme finden sich in all jenen Bakterien, die ihre
eigenen Proteine und Enzyme in Wirtszellen (v. a. Säugetierzellen) einschleusen, um ihre Aufnahme in die jeweilige
Zelle zu erleichtern. Bdellovibrio scheint diese Befähigung
zu fehlen, eine Tatsache, die einen experimentellen Befund
aus den 1970er Jahren erklärt, bei dem es nicht gelungen
war, Kanincheneizellen und Erythrocyten mit Bdellovibrio
zu infizieren [8]. Es ist daher nach jetzigem Kenntnisstand
auszuschließen, dass Bdellovibrio in der Lage ist, eine tierische Zelle zu infizieren. Diese Tatsache zusammen mit der
Beobachtung, dass Bdellovibrio über besonders schwach
immunogene Lipide verfügt [9], lässt es möglich erscheinen,
Bdellovibrio im tierischen Organismus zur Infektionsbekämpfung einzusetzen, ohne dabei einen anaphylaktischen
Schock auszulösen.
Bdellovibrio als lebendes Antibiotikum?
Die Summe der oben genannten Eigenschaften, die mittels der Genomanalyse sowie experimenteller Befunde festgestellt wurden, legt den Schluss nahe, dass Bdellovibrio
ein geeignetes Agens sein könnte, um große Ansammlungen von Gram-negativen Bakterien zu bekämpfen. Inzwischen sind viele verschiedene Isolate von Bdellovibrio
bekannt, manche davon mit einem sehr breiten Wirtsspektrum, während andere Stämme auf eine einzige Bakterienart als Wirt spezialisiert sind [10]. Praktische Anwendungen sind daher sowohl im ökologischen als auch im medizinischen Bereich vorstellbar. Im ökologischen Bereich
eignet sich Bdellovibrio beispielsweise für den Einsatz
bei der Abwasserreinigung in der biologischen Reinigungsstufe, im Pflanzenschutz, sowie generell gegen Biofilme,
die auf nahezu allen Oberflächen in der Umwelt zu finden
sind. Um Rückstände aus Klärwerken (Klärschlamm) zu
desinfizieren, die eine völlig unbekannte Zusammensetzung
von Mikroorganismen enthalten, wären Bdellovibrio-Stämme mit breitem Wirtsspektrum geeignet. Im Bereich des
Pflanzenschutzes fallen zwei wichtige Krankheitserreger
in das Beutespektrum von Bdellovibrio: Pseudomonas glycinea, der Erreger von Mehltau, sowie Erwinia amylovora,
der Erreger von Feuerbrand. Besonders bei dem Erreger
des Feuerbrandes, der ein zunehmendes Problem im Bereich des Obstbaus darstellt, erscheint der großflächige
Einsatz von Antibiotika aus Umweltschutzgründen bedenklich. Da Bdellovibrio weltweit in allen bisher untersuchten Böden nachgewiesen werden konnte, scheint es
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Bestandteil der natürlichen Nahrungskette im Boden zu
sein. Sein Einsatz im landwirtschaftlichen Bereich in Form
eines wässrigen Aerosols könnte demnach eine umweltverträgliche Maßnahme gegen die genannten Erreger darstellen.
Biofilme sind komplexe mikrobielle Gemeinschaften, die
sich aus einer definierten Ansammlung von verschiedenen
bakteriellen Spezies zusammensetzen. Diese Gemeinschaften produzieren eine zuckerhaltige Matrix, die die Diffusion
von bestimmten Substanzen verhindern kann und die
Bekämpfungsmöglichkeiten mittels Antibiotika einschränkt.
Interessanterweise scheint Bdellovibrio in diese komplexen
Biofilmstrukturen ebenso eindringen zu können wie in Bakterien, die sich mittels einer sehr umfassenden Oberflächenzuckerstruktur vor Bakteriophagen und anderen negativen
Umwelteinflüssen schützen können [11].
Es ist daher offensichtlich, dass der Angriff von Bdellovibrio
auf seine Beute einen äußerst robusten Mechanismus darstellt, der nicht durch kurzfristige Änderungen (Mutationen)
in der genetischen Ausstattung der Wirtszelle zu einer Resistenz gegen den Fressfeind führt. Obwohl die Wirtsbakterien
in der Lage sind, sich den ständigen Änderungen in der
Umwelt anzupassen, ist es ihnen offensichtlich nicht gelungen, sich dem Befall von Bdellovibrio zu entziehen. Dies ist
umso erstaunlicher, als bei der „interbakteriellen Kriegsführung“ ein ganzes Arsenal an chemischen Substanzen zum
Einsatz kommt, von denen wir viele in Form von Antibiotika
für unsere Zwecke einsetzen. Die Neigung der Wirtsbakterien, sich Resistenzen gegen Antibiotika anzueignen, stellt
jedoch in keinem Fall einen Schutz gegen die Bejagung
durch Bdellovibrio dar.
Durch die Einzeluntersuchungen der Wirkungsweise der
hydrolytischen Enzyme von Bdellovibrio können möglicherweise neue Klassen von peptidbasierten antimikrobiellen
Substanzen charakterisiert werden, die in neuen Pharmazeutika resultieren könnten. Diese rekombinanten Polypeptide könnten wie die natürlichen Hydrolasen wirken.
Außerdem von Bedeutung für den medizinischen Einsatzbereich ist die Tatsache, dass die in der Genomanalyse identifizierten Enzyme an zellulären Mechanismen der Wirtszelle
ansetzen, die sich von jenen wenigen unterscheiden, gegen
die heute eingesetzte Antibiotika wirken. Daher lassen sich
durch das Studium von Bdellovibrio neue Angriffspunkte für
weitere Pharmazeutika ausmachen.
Denkbar erscheint auch der gezielte Einsatz von Bdellovibrio als lebender Organismus, da sein Wirtsspektrum eine
Vielzahl von medizinisch relevanten Pathogenen umfasst.
Beispiel hierfür sind Legionellen, die die Legionärskrankheit
verursachen, Salmonellen, die Erreger bakteriellen Durchfalls, sowie die uropathogenen Escherichia coli.
Weitere Anwendungen könnten die Behandlung von Patienten mit Cystischer Fibrose umfassen, die unter einer
Infektion der Lunge mit Burkholderia- und PseudomonasBakterien leiden. Ebenso erscheint der Einsatz im Harntrakt
von Patienten möglich, die mit dem Bacterium Proteus
infiziert sind. Im chirurgischen Bereich lässt sich an eine
473
Forschung
Anwendung denken, um chirurgische Implantate frei von
Biofilmen zu halten, die beispielsweise Katheter verstopfen
und häufig zusätzliche Eingriffe nötig machen.
Während eine systemische Anwendung verwegen er­scheinen mag, da eine außerordentlich große Anzahl von
Faktoren berücksichtigt werden muss, erscheint derzeit eine
äußere Anwendung vertretbar. Ein aussichtsreiches Beispiel
hierfür sind Studien, die im Labor der Autoren begonnen
wurden, um Infektionen von Brandwunden zu bekämpfen, die durch das Bacterium Pseudomonas aeruginosa ver­
ursacht werden.
Zukunft der Genomanalyse
Am Beispiel des räuberischen Bacteriums Bdellovibrio
bacteriovorus lässt sich zeigen, welche umfassenden Möglichkeiten die Aufklärung und Analyse kompletter Genomsequenzen von Bakterien bieten. Erst durch diese Technik ist
es gelungen, die noch vor zehn Jahren sehr geringe Breite an
mikrobiellen Modellorganismen dramatisch zu erweitern.
Somit lassen sich biologische Systeme, denen bisher nur
ein Nischendasein im wissenschaftlichen Umfeld zugestanden wurde, auf Augenhöhe mit etablierten Systemen wie
E. coli bringen. Viele molekularbiologische Methoden können erst mithilfe vollständig analysierter Genomsequenzen
der zu untersuchenden Organismen zur Anwendung kommen. Gleichzeitig erlaubt dieser Forschungsansatz, testbare
Hypothesen zu formulieren und gezielt nur die erfolgversprechendsten experimentellen Studien durchzuführen.
474
Literatur:
[1] M. O. Martin, J. Mol. Microbiol. Biotechnol. 4, 467 (2002). – [2] L. Hu,
B.Y. Liu, Chinese J. Microbiol. and Immunol. 10, 95 (1990). – [3] R.
Guerrero et al., Proc. Natl. Acad. Sci. USA 83, 2138 (1986). – [4] H. Stolp,
M. P. Starr, Antonie van Leeuwenhoek J. Microbiol. Serol. 29, 217 (1963). –
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Lambert et al., Environ. Microbiol. 5, 127 (2003). – [7] S. Rendulic et al.,
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[10] E. Jurkevitch et al., Appl. Environ. Microbiol. 66, 2365 (2000). –
[11] S. F. Koval, M. E. Bayer, Microbiology 143, 749 (1997).
Prof. Dr. Stephan C. Schuster studierte Chemie (Diplom) in München
und Konstanz. Promotion am Max-Planck-Institut für Biochemie,
Martinsried, mit einer Arbeit über den bakteriellen Flagellenmotor.
Arbeiten zur bakteriellen Motilität und Chemotaxis als Postdoktorand am California Institute of Technology, Pasadena, USA. Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Biochemie, Martinsried
(1994–2000) und am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie,
Tübingen, (2000–2004). Seit 2005 Associate Professor for Molecular
Microbial Ecology und Mitglied des Center for Comparative Genomics
and Bioinformatics an der Pennsylvania State University (USA).
Fachgutacher für Genprojekte und Editor von Fachzeitschriften.
Department of Biochemistry and Molecular Biology, Center for
Comparative Genomics and Bioinformatics, 310 Wartik Laboratory, Penn
State University, University Park, PA 16802, USA
Dipl.-Biol. Snjezana Rendulic studierte Mathematik und Biologie in
Tübingen und Zagreb. Doktorandin in der Arbeitsgruppe von Prof. Dr.
Stephan C. Schuster am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie
in Tübingen und zurzeit an der Penn State University in Pennsylvania
(USA).
Department of Biochemistry and Molecular Biology, Center for
Comparative Genomics and Bioinformatics, 310 Wartik Laboratory, Penn
State University, University Park, PA 16802, USA
Naturwissenschaftliche Rundschau | 58. Jahrgang, Heft 9, 2005
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