Themenjahr 2013 – Reformation und Toleranz Christentum und Islam im Dialog – ohne Toleranz geht es nicht von Ralf Lange-Sonntag In Nordrhein-Westfalen leben nach der 2010 vom Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales herausgegebenen Studie „Muslimisches Leben in Nordrhein-Westfalen“ rund 1,4 Millionen Muslime. Die meisten von ihnen haben einen türkischen Migrationshintergrund, doch die Anzahl der Muslime mit deutscher Staatsangehörigkeit wächst kontinuierlich. Diese Situation stellt die evangelische Kirche vor vielfältige Herausforderungen, die sowohl diakonischer als auch apologetischer, liturgischer und poimenischer Art sind. Die Evangelische Kirche von Westfalen hat daher schon frühzeitig ein dichtes Netz von kreiskirchlichen Beauftragten für das Gespräch mit dem Islam aufgebaut, die über den Islam informieren, Dialog und Kooperation mit Muslimen fördern und gegebenenfalls in Konflikten zwischen den streitenden Parteien moderieren. Grundlage dieser Arbeit ist eine im Evangelium vom gnädigen Gott begründete Toleranz, die muslimische Gläubige wahr- und ernst nimmt, ohne die Unterschiede zwischen den Religionen zu verwischen. Dabei ist es die Erfahrung vieler im christlich-muslimischen Dialog Engagierten, dass die Begegnung mit dem Andersglaubenden den eigenen Glauben nicht schwächt, sondern ganz im Sinne des reformatorischen Anliegens die Neubesinnung auf das Proprium des christlichen Glaubens fördert und Christen sprachfähiger für den eigenen Glauben macht. Dialog geschieht nicht im luftleeren Raum, sondern benötigt reale Begegnungsmöglichkeiten. Einer jener Orte, an dem Christen und Muslime regelmäßig aufeinander treffen und den Alltag teilen, ist die Schule. Hochrechnungen gehen von etwa 320.000 muslimischen Schülerinnen und Schülern in NRW aus, Tendenz steigend. In manchen Städten des Ruhrgebiets, wie z.B. in Gelsenkirchen gibt es bereits mehr muslimische als evangelische Schüler. Diese Situation hat in vierfacher Weise Konsequenzen für den evangelischen Religionsunterricht und die kirchliche Arbeit an Schulen: 1) Das Thema „Islam“ im Evangelischen Religionsunterricht Auch in Zukunft wird der Islam ein Thema im evangelischen Religionsunterricht sein. Er kann jedoch in keiner Weise mehr als „Fremdreligion“ verstanden werden, deren Grundzüge religionskundlich gelehrt und gelernt werden können. Mit dem Thema „Islam“ verbundene Kompetenzen übersteigen kognitive Fähigkeiten und kreisen vielmehr um die Fähigkeiten von Bezugnahme, Kommunikation, Toleranz und Dialog. So kann es beispielsweise nicht darum gehen, die fünf Säulen des Islam als solche rein kognitiv zu vermitteln. Um die oben genannten Kompetenzen im Bezug auf den Islam anzubahnen bedarf es der Frage danach, welche Bedeutung die fünf Säulen für Muslime haben und ob ähnliche Bedeutungszusammenhänge im eigenen Glauben anzutreffen sind. Eine notwendige Elementarisierung der fünf Säulen fördert Grundstrukturen menschlichen Lebens heraus, die Entsprechungen im christlichen Glauben finden. Das muslimische Glaubensbekenntnis (Schahada) in seinen beiden Teilen korreliert mit den Fragen: Woran richte ich mein Leben aus und wem kann ich glauben? In beiden Teilen geht es daher kritisch um die Autoritätsfrage, die in diesem Zusammenhang im Unterricht behandelt werden muss. Nach Luther ist Gott das, woran ich mein Herz hänge. Die Schahada vermag in ähnlicher Weise falsche Autoritäten zu dekonstruieren, was in der muslimischen Welt zwar selten, aber bisweilen dennoch gelingt. In ähnlicher Weise führt das fünfmalige „Pflichtgebet“ (Salat) auch Nichtmuslime zu der Frage, was ihrem Alltag Struktur und Ziel gibt bzw. ob eine „Tagesregel“ für ihr Leben sinnvoll sei. Der Ramadan wiederum korreliert mit dem Slogan des letzten Evangelischen Kirchentages „Soviel du brauchst“. Die Almosenabgabe kann auch evangelische Schülerinnen und Schüler anleiten, darüber nachzudenken, dass und wie Verantwortung für andere ein Teil des eigenen Glaubens ist. Schließlich verbirgt sich hinter dem Hadsch, der Pilgerfahrt nach Mekka, die Frage nach der Sehnsucht, nach dem, was man einmal im Leben machen möchte. Nicht das christliche Pilgern als solches entpuppt sich daher als die didaktisch gebotene christliche Korrelationsmöglichkeit, sondern eher die Frage nach der Einmaligkeit der Taufe bzw. der Konfirmation mit dem damit verbundenen Erwartungshorizont. Sinnvoll ist es auch, den Islam an exemplarisch ausgewählten Themen zu behandeln, die an die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen anknüpft. So bietet z.B. „Konfliktstoff Kopftuch. Eine thematische Einführung in den Islam“ von Jochen Bauer, erschienen im Verlag an der Ruhr, die Möglichkeit, am Beispiel des Kopftuches die Vielfalt des Islam aufzuzeigen und Klischees aufzudecken. Problematisch ist es jedoch, den Islam vor allem im Hinblick auf seine angeblichen Defizite zu behandeln. Sinnvoller wäre es, positive oder zumindest neutrale Anknüpfungspunkte zu finden. So könnte mit Hinweis auf das Zinsverbot die Frage nach einer gerechten Wirtschaftsordnung thematisiert werden. Andere Möglichkeiten, Toleranz und Gesprächsfähigkeit zwischen den Religionen anzubahnen, sind thematische Querschnitte, die gleichermaßen die muslimischen und christlichen, aber auch säkulare Perspektiven zu einem Thema ins Gespräch bringen. An einer Berufsfachschule „Gesundheit und Soziales“ hat der Verfasser in dieser Hinsicht positive Erfahrungen bei der Behandlung von Themen wie Organspende oder Tätowierungen gesammelt. 2. Muslimische Schüler im Evangelischen Religionsunterricht Evangelischer Religionsunterricht war in der Vergangenheit trotz oder gerade wegen seiner konfessionellen Ausrichtung auch für muslimische Schülerinnen und Schüler attraktiv. In manchen Berufsschulklassen überwiegen zurzeit die muslimischen Schüler im Evangelischen Religionsunterricht und bei den Abiturprüfungen im vergangenen Jahr haben immerhin acht muslimische Schüler mit der Bestnote „sehr gut“ abgeschlossen. Das gemeinsame Lernen ermöglicht nicht nur, dass Muslime das Christentum besser kennenlernen, sondern auch, dass christliche Schüler angesichts der muslimischen Präsenz lernen, der eigenen Religion auf den Grund zu gehen und deren Fundamente erklären zu können. Das Interesse am evangelischen Religionsunterricht beruht jedoch auch auf der Erfahrung, dass der muslimische Glaube im Religionsunterricht ernst genommen wird und keine verborgenen missionarischen Bestrebungen vorhanden sind. Gleiches ließe sich sagen für die religiösen Schulwochen, die vom Pädagogischen Institut angeboten werden. Mit Einführung des Islamischen Religionsunterrichts im Jahr 2012 mag mittelfristig die Teilnahme von Muslimen am Evangelischen Religionsunterricht abnehmen. Doch zum einen sollten Religionslehrer auch weiterhin nicht-christliche Schüler zu ihrem Unterricht einladen, zum anderen ist ein fundierter, einladender Evangelischer Religionsunterricht eine gesunde Konkurrenz für den Islamischen Religionsunterricht und fordert muslimische Religionslehrkräfte auf, in gleicher Weise schülerorientiert zu arbeiten. 3. Kooperation mit dem Islamischen Religionsunterricht Durch die Einführung des Faches Islamkunde im Jahr 1999 als Schulversuch und des Islamischen Religionsunterrichts im Jahr 2012 ist an vielen Schulen in NordrheinWestfalen eine neue Situation entstanden. Muslimische Kinder haben nun die Möglichkeit, sich für einen Unterricht zu entscheiden, in dem der Islam durch Vertreter der eigenen Religion gelehrt wird. Mittelfristig wird der Islamische Religionsunterricht als konfessioneller Unterricht im Sinne des Art. 7 GG flächendeckend eingeführt werden und das religionskundliche Fach Islamkunde ersetzen. Für den Evangelischen Religionsunterricht bedeutet die Einführung des Islamischen Religionsunterrichts zwar eine Abnahme muslimischer Teilnehmer, doch könnte eine Kooperation der verschiedenen konfessionellen Angebote den Dialog zwischen Christentum und Islam intensivieren. Evangelische, katholische und muslimische Schüler könnten jeweils in ihrer eigenen Lerngruppe ein Thema aufbereiten, um die Ergebnisse anschließend den Schülern der anderen Konfessionen bzw. Religion vorzustellen. Auch könnten in den einzelnen Lerngruppen, zu denen je nach Angebot auch Lerngruppen anderer Religionen oder Konfessionen (syrisch-orthodox, alevitisch, jüdisch …) hinzukommen könnten, die Vor-Urteile über die jeweils anderen thematisiert werden, bevor es zu einem gemeinsamen Unterricht oder einem in gemischten Lerngruppen erteilten Projektunterricht kommt. Eine Kooperation mehrerer konfessionell spezifizierter Lerngruppen hätte nicht nur den Vorteil, dass sie das Mit-, Neben- und gegebenenfalls Gegeneinander verschiedener Religionen und Konfessionen, wie es in der Lebenswirklichkeit der Kinder und Jugendlichen vorkommt, im Religionsunterricht abbildet. Gemeinsames Lernen würde auch der in der evangelischen Religionspädagogik vorherrschenden und durch Studien abgesicherten Einsicht entsprechen, dass Identität weniger durch das Modell der Beheimatung als durch vielfältige Begegnung gebildet wird. 4. Toleranz als Bestandteil des Schulprogramms Die bisherigen Überlegungen kreisten um den konfessionellen Religionsunterricht. Doch auch jenseits des Religionsunterrichts ist der Dialog zwischen Christentum und Islam sinnvoll, wenn nicht notwendig. Toleranz zwischen den Vertretern verschiedener Religionen ist eine Kompetenz, die die ganze Schule fördern muss und die daher in den Schulprogrammen vieler Schulen verankert ist. Aus diesem Grund engagieren sich Schulen verstärkt im interreligiösen und interkulturellen Dialog. Zum Beispiel haben seit 2006 fast 100 Schulen an dem von der Quandt-Stiftung ausgeschriebenen „Trialog der Kulturen“-Schulenwettbewerb beteiligt. Das Ziel dieses Wettbewerbs ist es, Projekte an Schulen zu unterstützen, die die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Judentum, Christentum und Islam thematisieren und die Toleranz zwischen den Religionen fördern. Die Zusammenarbeit mit außerschulischen Institutionen wird dabei gezielt gesucht, so dass christliche und muslimische Akteure nicht nur aus dem Kreis der Lehrer stammen, sondern auch in Form von Kirchen- bzw. Moscheegemeinden oder anderen religiösen Institutionen beteiligt sind. In anderen Schulen hat man positive Erfahrungen mit sogenannten „abrahamitischen Teams“ gemacht, d.h. mit religiös gemischten Freiwilligenteams, die Schulen und andere Institutionen besuchen, um dort mögliche Vorurteile, Ängste oder negative Erfahrungen mit Kindern und Jugendlichen zu besprechen. Die Evangelische Kirche sollte ihre Mitglieder ermutigen, solche Teams dort, wo es sie gibt, zu unterstützen.