Gott, Götter, Gottlosigkeit: Islam und säkulare Gesellschaft

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ANALYSE
March 2010
Gott, Götter, Gottlosigkeit:
Islam und säkulare Gesellschaft
Dietrich Jung
I den offentlige debat om muslimsk indvandring til Europa stilles der tit
spørgsmålet om islam overhovedet er forenelig med det sekulære samfund.
Artiklen diskuterer dette spørgsmål fra en religionssociologisk vinkel, og
konkluderer, at der ikke findes en principiel uforenelighed mellem islam og
det sekulære samfund, hvis den troende muslim er villig til at acceptere, at
der ikke eksisterer en religiøs konsensus i samfundet. Det sekulære samfund
er nemlig præget af både Gud, guder og gudløshed. Artiklen baserer sig på et
foredrag som forfatteren holdt den 18. december 2009 på Institut for Islamisk
Religionspædagogik i Osnabrück universitetet.
Dietrich Jung: Gott, Götter, Gottlosigkeit. Islam und säkulare Gesellschaft
Seit geraumer Zeit diskutiert die europäische Öffentlichkeit die muslimische
Einwanderung nach Europa als Problem. Mit den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 in New York und Washington sowie den darauffolgenden islamistisch motivierten Bombenattentate in Madrid und London hat sich dieses
Problem zu einem Bedrohungsszenario entwickelt, demzufolge sich die demokratisch verfassten Staaten Europas mit einer muslimischen Herausforderung
konfrontiert sähen. Dabei werden in der öffentlichen Debatte so unterschiedliche Fragen wie nach den Ursachen des transnationalen islamistischen Terrors,
dem gesellschaftlichen Status muslimischer Minderheiten in Europa, den Defiziten der Integrationspolitik europäischer Staaten oder des eventuellen EU Beitritts der Türkei miteinander vermengt. Der einzige gemeinsame Nenner dieser
so unterschiedlichen Fragestellungen ist ihr Bezug zum Islam und die Angst
eines nicht geringen Teils der europäischen Öffentlichkeit, dass dessen wachsende Präsenz in Europa die zentralen Normen und Werte der europäischen
Gesellschaften unterminiere.
Im Lichte der religiösen Erweckungsbewegungen, welche in den letzten
Jahrzehnten die muslimische Welt und die muslimischen Minderheiten Europas erfasst haben, stellt dieser Aufsatz die generelle Frage nach dem Verhältnis
von Islam und säkularer Gesellschaft. Er versucht eine Antwort auf diese Frage
aus religions-soziologischer Perspektive zu geben. Es handelt sich hier also
nicht um den Versuch, den „wahren Islam“ zu definieren; dieses kann nicht die
Aufgabe der Soziologie, sondern nur die des muslimischen Theologen sein. Für
die Religionssoziologie ist der Islam ein historisch und sozial bedingtes Phänomen, welches in den verschiedenen Formen beobachtet werden kann, in denen sich Muslime mit den islamischen Traditionen identifizieren. Aus soziologischer Perspektive gibt es keinen wahren Islam, sondern eine Vielzahl beobachtbarer religiöser Praktiken, durch die Muslime den Traditionsbestand des
Islams aktualisieren. Im Folgenden stelle ich zuerst die Frage, ob und inwiefern
die moderne Gesellschaft eine säkulare sei. Können wir uns die Moderne nur
als eine säkulare Moderne vorstellen? Wie definieren wir diese säkulare Natur
der modernen Gesellschaft? Dann wende ich mich der Frage zu, was es für den
religiösen Menschen im Allgemeinen und den praktizierenden Muslim im Besonderen bedeutet, in einer säkularen Gesellschaft zu leben. Ich spreche hier
vom praktizierenden Muslim, um diesen vom „statistischen Muslim“ zu trennen. In der öffentlichen Debatte um den Islam wird häufig der Eindruck erweckt, als wären alle statistisch geführten Muslime mit den praktizierenden
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Muslimen deckungsgleich. Allerdings gibt es nicht nur in Europa, sondern in
der gesamten islamischen Welt Muslime, die ihren Glauben nicht praktizieren.
Inwiefern ist die Moderne säkular?
Betrachtet man die zeitgenössische Diskussion um die gesellschaftliche Entwicklung in der muslimischen Welt, so stößt man häufig auf die Annahme, dass
sich die Muslime mit einer blockierten Modernisierung konfrontiert sähen. In
der Versiegelten Zeit, einem Buch des an der Universität Leipzig lehrenden Historikers Dan Diner, wird ein Naher Osten beschrieben, in dem nach Ansicht des
Autors die Zeit still zu stehen scheint. Diner sieht die soziale Entwicklung im
Nahen Osten durch eine sakrale Versiegelung der Zeit charakterisiert. In seiner
Analyse sind muslimische Lebenswelten vom heiligen Recht durchdrungen, in
der Welt des Islams seien „Raum und Zeit im Gesetz eins“ (S. 242). Für Diner ist
die Kultur der islamischen Welt dadurch geprägt, dass sie ein inhärentes Problem mit der Moderne habe (S. 16). Seiner Ansicht nach herrschen im Vorderen
Orient noch immer vormoderne Verhältnisse, für welche im Kern der Islam als
Religion verantwortlich zeichne (S. 13). Diners Buch ist ein gutes Beispiel für
die in Europa weit verbreitete Auffassung, ein grundsätzliches Problem bestünde in der Unvereinbarkeit von Islam und Moderne. Dieser Wahrnehmung
liegt die historische Entwicklung Europas modellhaft zu Grunde. Die Moderne
wird in den Kategorien einer säkularen sozialen Ordnung gedacht, welche die
Mehrheit der Mitgliedsstaaten der EU charakterisiert. Gibt es also keine islamische Moderne und schließen sich Islam und säkulare Moderne notwendigerweise aus?
Ein kurzer Blick in die Geschichte des Nahen Ostens genügt, um die Konturen einer spezifisch islamischen Moderne zu erkennen. In der zweiten Hälfte
des neunzehnten Jahrhunderts war die muslimische Welt durch eine Reihe von
religiösen und sozialen Reformbewegungen gekennzeichnet, dem sogenannten
islamischen Modernismus, in denen es vor allem um politische Unabhängigkeit, gesellschaftlichen Fortschritt und die Vereinbarkeit von Glauben mit moderner Wissenschaft ging. Einen zentralen Platz in diesen Reformbemühungen
nahm Muhammad Abduh (1849-1905) ein, der wesentliche Elemente für das
Konzept einer islamischen Moderne entwickelte. Geboren in einem kleinen
Dorf im Nildelta, erfuhr Abduh zunächst eine am Ideal traditioneller islamischer Wissenschaften orientierte klassische Ausbildung. Im Jahre 1866 zog er
als sechzehnjähriger nach Kairo, wo er seinen Ausbildungsweg an der al-Azhar
Universität, der wohl wichtigsten religiösen Lehranstalt im sunnitischen Islam,
fortsetzte. Enttäuscht vom Zustand der al-Azhar und ihren antiquierten Lehr-
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methoden wendete sich Abduh intellektuellen Zirkeln zu, in denen er sich nicht
nur mit westlicher Philosophie, sondern auch mit den philosophischen Schriften des schiitischen Islams vertraut machte. Nach dem Abschluss seiner Studien
arbeitete Abduh als Journalist, Hochschullehrer und Jurist, bevor er im Jahre
1899 zum Mufti von Ägypten ernannt wurde, dem Amt des höchsten staatlichen Repräsentanten des Islams.
Folgt man Muhammad Abduhs Interpretation des Islams, so handelt es sich
bei diesem um die rationellste Form des monotheistischen Glaubens, die sich
im Zuge notwendiger religiöser und sozialer Reformen als vollständig kompatibel mit der modernen Welt erweisen würde. Der Islam vereinige auf geradezu
natürliche Weise Religion, moderne Wissenschaft, rechtsstaatliche Prinzipien,
den modernen Verfassungsstaat und das Leitbild eines mündigen, moralisch
integeren und rational handelnden Bürgers. Die Ursache für die zeitgenössische
Unterlegenheit der islamischen Welt gegenüber einem imperialen Europa sah
Abduh in den Beharrungskräften traditionaler religiöser und politischer Institutionen begründet, welche eine vom Islam inspirierte Modernisierung der Gesellschaft verhinderten. In dem religiösen Charakter seines Reformprograms
sah er auch den zentralen Unterschied zur Modernisierung Europas. Die muslimische Gesellschaft unterscheide sich nämlich von der westlichen dadurch,
dass die Normen und Werte des Islams einen moralischen Grundkonsens lieferten. Damit aber ist Muhammad Abduhs Konzeption der Moderne gerade nicht
säkular, sondern religiös definiert. Im Gegensatz zur europäischen Moderne
sollte die islamische Moderne nicht durch eine Marginalisierung der Religion,
sondern durch die Stärkung ihrer Rolle als Bindungskraft in der Gesellschaft
gekennzeichnet sein.
Muhammad Abduh war ein muslimischer Apologet und ein Mann des
neunzehnten Jahrhunderts, dessen Ideenwelt durchaus Parallelen zum Denken
vor allem protestantischer Apologeten in Europa erkennen lässt. Auch diese
versuchten zunächst, die Moderne in Einklang mit dem holistischen Anspruch
der Religion zu bringen. Weder Protestanten noch Katholiken wollten sich mit
den säkularen Tendenzen der europäischen Moderne einfach abfinden, die katholische Kirche bekämpfte sie offiziell bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil
im Jahre 1962. In welchen Formen erscheint uns aber die europäische Moderne
als säkular? Kann die moderne Gesellschaft nur als säkulare Gesellschaft gedacht werden?
Der Begriff der Säkularisierung umfasst zumindest drei verschiedene Bedeutungshorizonte. Der erste bezieht sich auf das Institutionengefüge der modernen Gesellschaft. Die funktionelle Differenzierung der modernen Gesellschaft
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in Subsysteme wie Politik, Recht, Ökonomie, Erziehungswesen oder Religion
wird in den Säkularisierungstheorien als die Trennung von Staat und Kirche
thematisiert. In christlicher Terminologie wird damit die relative Autonomie
des staatlichen und des religiösen Feldes zum Ausdruck gebracht, deren jeweilige Institutionen – im Idealfall – einer eigenen, von den Institutionen anderer
Subsysteme getrennten Logik folgen. Staatliche Herrschaft kann damit nicht
länger religiös legitimiert und religiöse Überzeugungen nicht länger durch politische Macht oktroyiert werden. Damit treten auch die sozialen Institutionen
des Rechts, in der Form von staatlich sanktionierten Normen, und der Moral,
die gerade nicht staatlicher Sanktionsmacht unterliegt, auseinander, ohne jedoch ein Zusammenspiel in den sozialen Praktiken des Alltagslebens zu verhindern.
Die zweite Dimension des Begriffs der Säkularisierung ist gesellschaftlicher
Natur. Hier verweist die Säkularisierung der Gesellschaft auf einen Bedeutungsverlust der Religion mit Blick auf die Selbstbeschreibung der Gesellschaft
hin. Diese definiert sich eben nicht durch einen religiös bestimmten Kodex von
Normen und Werten, sondern durch eine Pluralität von ethischen, moralischen
und ästhetischen Haltungen sowie Weltanschauungen. Es besteht dabei kein
Zweifel, dass die Religion im Rahmen dieser Pluralität eine wichtige Rolle
spielt. Sie kann diese Rolle aber nur in Anerkennung dieser Pluralität wahrnehmen und muss auf Absolutheitsansprüche verzichten. Die moderne Gesellschaft ist nicht durch einen inhaltlichen, sondern durch einen formalen Konsens
definiert, der die Plattform für einen permanenten Verhandlungsprozess unterschiedlicher gesellschaftlicher Ansprüche darstellt.
Während es sich bei Institutionen und gesellschaftlichen Werten und Normen um Makrostrukturen der Moderne handelt, thematisieren die Säkularisierungstheorien auch die Rolle der Religion auf der Mikroebene, also das Verhältnis von Religion und Individuum. In diesem Verhältnis behauptet die Säkularisierungsthese, die moderne Gesellschaft sei dadurch gekennzeichnet, dass
sich Religion auf diese Mikroebene verlagere, Prozesse der Modernisierung mit
einer Privatisierung und Individualisierung der Religion einherginge. Religiöse
Überzeugungen und Praktiken würden in steigendem Masse eine Privatangelegenheit, zu einer bewussten Wahl für das moderne Individuum. Religion
scheint damit der liberalen Idee zu folgen und sich von einem kollektiven hin
zu einem individuellen Phänomen zu entwickeln.
Diese drei Bedeutungshorizonte der Säkularisierungstheorie repräsentieren
abstrakte Desiderate aus der europäischen Geschichte. In dieser abstrakten
Form beschreiben sie nicht die gesellschaftliche Wirklichkeit, sondern sie bilden
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formale Kriterien, mit denen die Entwicklungen moderner Gesellschaften vermessen werden. Die Modernisierungstheorien der 1950er und 1960er Jahre gingen davon aus, dass es sich bei diesen drei Dimensionen um soziale Prozesse
handle, die einen linearen und gleichzeitigen Verlauf nähmen und damit zu
einer Konvergenz moderner Gesellschaften führen. Sie interpretierten daher
das Verhältnis zwischen Modernität und Religion als ein Null-Summen-Spiel,
also als ein Verhältnis, bei dem die Modernisierung von Gesellschaften mit einem relativen Verschwinden der Religion einherginge. In der Religionssoziologie gehören diese linearen Auffassungen von Modernisierung und Säkularisierung inzwischen der akademischen Asservatenkammer an. Die globalen historischen Entwicklungen seit dem Zweiten Weltkrieg zeitigen oft sehr widersprüchliche Formen der Säkularisierung, bei denen z.B. die Trennung staatlicher und religiöser Sphären keineswegs mit einem Bedeutungsverlust der Religion für Gesellschaft und Individuum einhergehen muss.
In der Forschung wird die Säkularisierung daher heute als ein Prozess gedeutet, der oft widersprüchliche und zirkuläre Bahnen annimmt und dabei
auch zu paradoxen Ergebnissen führen kann. Dies gilt nicht nur für das westliche Paradebeispiel der USA, wo eine sehr scharfe institutionelle Trennung von
Staat und Religion mit einer nach wie vor tief religiösen Gesellschaft einhergeht, deren politische Diskurse wie selbstverständlich religiöse Weltanschauungen mit einbeziehen. Ähnlich paradoxe Ergebnisse lassen sich in der islamischen Welt ausmachen. So haben z.B. in der Türkei die Verhandlungen um
einen zukünftigen EU-Beitritt zu Reformen geführt, in deren Verlauf sich der
auf einer staatlichen Kontrolle der Religion basierende türkische Säkularismus
hin zu einer tatsächlich rechtlich abgesicherten Trennung von Staat und Religion entwickelte. Aus institutioneller Perspektive handelt es sich hier um einen
Säkularisierungsprozess, der staatlichen und religiösen Institutionen ein höheres Maß an Autonomie einräumt, dafür aber in seiner gesellschaftlichen und
individuellen Dimension in einer „Rückkehr“ des Religiösen erkennbar wird. In
der Islamischen Republik Iran hingegen, hat die Verschmelzung von staatlichen
und religiösen Sphären dazu geführt, dass immer mehr Menschen, auch religiöse Gelehrte, für eine Trennung von Staat und Religion plädieren, wie z.B. der
im Dezember 2009 verstorbene Großayatollah Montazeri.
Diese Beispiele mögen genügen, um die Komplexität von Entwicklungen anzudeuten, die in dem Begriff einer säkularen Moderne zusammengefasst werden. Die säkulare Moderne darf daher keineswegs mit einer nicht-religiösen
Moderne verwechselt werden. Die Religion ist ein Teil der Moderne und ihrer
sozialen Verhandlungsprozesse, die das gesellschaftliche Leben kennzeichnen.
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Was charakterisiert dann aber eine säkulare Gesellschaft, wenn nicht das graduelle Verschwinden von Religion? Das zentrale Kennzeichen der säkularen
Gesellschaft habe ich im Titel meines Aufsatzes zusammengefasst: In der säkularen Gesellschaft herrschen gleichzeitig Gott, Götter und Gottlosigkeit. Das
religiöse Feld ist durch eine Form der Pluralität gekennzeichnet, in dem auch
das Recht zur Gottlosigkeit, zur religiösen Indifferenz akzeptiert ist. Es gibt
eben nicht nur eine Pluralität von Religionen, sondern konkurrierende Formen
von Ethik, Moral und Weltanschauungen, die nicht im Religiösen wurzeln. Dabei handelt es sich nicht nur um das Recht, sich als Atheist zu bezeichnen, sondern um das elementare Recht, ein Leben zu führen, in dem die Religion keine
Rolle spielt; oder um es mit dem von Max Weber verwendeten Begriff zu sagen:
um das Recht „religiös unmusikalisch“ zu sein. Säkularismus in diesem Sinne
als Gleichzeitigkeit von Religionen und religiöser Indifferenz ist für mich ein
Kernbestandteil moderner Gesellschaften und es ist dieser Punkt, in dem ich
mich von der Konzeption einer islamischen Moderne, wie sie Muhammad
Abduh im Auge hatte, radikal unterscheide.
Religion und Islam in der säkularen Gesellschaft
Es ist dieser Verlust eines ethisch-moralischen Konsenses, der auf religiösen
Traditionen beruht, mit dem sich die Religionen in der säkularen Gesellschaft
arrangieren müssen. Mit welcher Herausforderung sieht sich der religiöse
Mensch angesichts dieser Form des Säkularen konfrontiert? Die zentrale Herausforderung stellt sich in der Akzeptanz von konkurrierenden moralischen
und ethischen Standpunkten, von einer Pluralität religiöser und nicht-religiöser
Weltbilder. Der im Glauben zumindest latent angelegte absolute Geltungsanspruch religiöser Normen und Werte kann wohl als individueller Leitfaden
dienen, muss aber im gesellschaftlichen Leben relativiert werden. Der gläubige
Mensch muss nicht nur die gesellschaftliche Gleichwertigkeit anderer religiöser
Überzeugungen akzeptieren, sondern auch den „Unglauben“, die religiöse Indifferenz. Das für liberale Gesellschaften kennzeichnende Prinzip der Religionsfreiheit beinhaltet nämlich sowohl das Recht zur freien Religionsausübung für
Individuen und Kollektive, als auch das Recht auf Freiheit von Religion. In einer säkularen Gesellschaft ist der für das gesellschaftliche Zusammenleben
notwendige normative Konsens insofern prekär, als er ständig neuen sozialen
Verhandlungsprozessen ausgesetzt ist. Dabei müssen individuelle und kollektive Rechtsgüter permanent neu bewertet werden. Öffentliche Debatten über
das Kruzifix in Schulen, das Schächten von Tieren oder das Tragen von Kleidung mit religiöser Symbolik in öffentlichen Funktionen sind Beispiele für diese
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Art von gesellschaftlichen Verhandlungsprozessen, wie sie die deutsche Öffentlichkeit in den vergangenen Jahren erlebt hat. Hierbei müssen auch die Grenze
zwischen den in modernen Gesellschaften funktional getrennten normativen
Feldern des Rechts und der Moral immer wieder neu festgelegt werden.
In diesen Verhandlungsprozessen melden sich zunehmend Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund zu Wort. Dies gilt insbesondere für Staaten, in denen die Einwanderung zu einer Erhöhung der religiösen Vielfalt nationaler Gesellschaften geführt hat, und dabei spielen wiederum Muslime eine
herausragende Rolle. Mit Bezug auf die muslimischen Minderheiten in Europa
stellt sich daher die Frage, ob der Islam in der Lage sei, sich den zuvor genannten Herausforderungen der säkularen Gesellschaft zu stellen. An dieser Frage
scheiden sich die Geister. Ich persönlich vertrete die Auffassung, dass Islam
und säkularer Gesellschaft nicht prinzipiell unvereinbar sind, solange man
nicht der Auffassung islamistischer Ideologen folgt, für die der „wahre Islam“
ein holistisch gedachtes soziales und religiöses System darstellt.
Im Gegensatz zu den islamistischen Dogmen und den Axiomen über einen
vermeintlich überhistorischen Islam, welche oft auch die öffentliche Debatte
über Islam und Politik in Europa bestimmen, kennt auch die islamische Geschichte verschiedene Formen von säkularen Entwicklungspfaden. So diskutierten z.B. schon die islamischen Rechtsgelehrten des Mittelalters die Frage einer
Trennung zwischen rechtlicher und moralischer Sphären. Das Rechtswesen des
Osmanischen Reichs, um ein anderes Beispiel zu erwähnen, folgte keineswegs
allein den „Gesetzen“ der Scharia. In weiten Bereichen galt unter dem Begriff
kanun staatliches Recht, welches der absolutistischen legislativen Gewalt des
osmanischen Sultans entsprang. Wie zuvor schon angedeutet, hat die postrevolutionäre Verschmelzung von Religion und Politik im Iran dazu geführt,
das religiöse und säkulare iranische Intellektuelle intensiv die Frage eines institutionellen Säkularismus diskutieren, gerade um auf der individuellen Ebene
die Freiheit des Glaubens und auf gesellschaftlicher Ebene die relative Autonomie der schiitischen Gelehrsamkeit zu bewahren. In der Türkei, um ein letztes Beispiel zu erwähnen, haben religiöse Gelehrte die Herausforderung moderner säkularer Wissenschaft angenommen und arbeiten an einer zeitgemäßen, historisch-hermeneutischen Auslegung des Korans und der islamischen
Traditionen. Letzten Endes verweist auch die ganze Diskussion um einen sogenannten „Euro-Islam“ darauf, dass sich die europäischen Muslime den Herausforderungen der säkularen Gesellschaft zu stellen bereit scheinen.
Zweifel an der Vereinbarkeit von Islam und säkularer Gesellschaft können nur
dann aufkommen, wenn man den Islam als eine strikte Gesetzesreligion auffasst,
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deren in der Scharia zusammengefassten Normen sich dem historischen und sozialen Wandel widersetzen. Bei der Scharia handelt es sich jedoch nicht um eine mit
dem modernen Rechtsbegriff zu erfassende Ordnung, sondern um religiös definierte normative Prinzipien, deren moralische Verbindlichkeit für den gläubigen
Muslim aber außer Frage steht. Dabei bedürfen diese religiösen Prinzipien immer
der Interpretation, eine Tatsache, welche in der Entwicklung der islamischen Jurisprudenz ihren historischen Ausdruck fand. Fragt man daher nach der Vereinbarkeit von islamischem Recht und säkularer Gesellschaft, so stellt man nicht die Frage nach dem Wesen der Scharia, sondern danach, wer in der jeweiligen Gesellschaft über die Interpretationsmacht verfügt, die zu ihrer Auslegung unumgänglich erforderlich ist. Diese Interpretation der Scharia ist in einer säkularen Gesellschaft selbstverständlich nicht die Aufgabe von staatlichen Institutionen. Auch
kann keine Form ihrer Interpretation den Anspruch hegen, für alle Muslime oder
gesamte Gesellschaften verbindlich zu sein. Dem individuellen Muslim jedoch ist
es frei gestellt, den Islam als einen persönlich verbindlichen und allumfassenden
„way of life“ zu wählen.
Die säkulare Gesellschaft ist in der Tat ein Produkt der Moderne, sie stellt
aber keineswegs die einzige Erscheinungsform moderner Gesellschaften dar.
Ich definiere sie über einen religiösen Pluralismus, der Raum gibt für den Glauben an den einen Gott, aber auch für den Glauben an eine Vielzahl von Göttern.
Die spezifische Differenz der säkularen zur nicht-säkularen Gesellschaft ist aber
das Recht auf Gottlosigkeit und damit der Verzicht auf einen religiösen Konsens in der Gesellschaft. Dadurch verfügt der religiöse Mensch über weitgehende individuelle Freiheitsrechte in Bezug auf seinen Glauben, muss diesen
aber in ständiger Herausforderung durch andere religiöse und nicht-religiöse
Lebensentwürfe leben. Die Sanktionsgewalt über die Einhaltung von religiösen
Normen wird von öffentlichen auf transzendente Institutionen übertragen; im
persönlichen Bereich kann das Individuum nach religiösem Gesetz leben, als
Bürger muss es dem formalen Recht folgen. Dies setzt eine Trennung zwischen
religiösen und gesellschaftlichen Verpflichtungen voraus, die die islamische
Rechtsphilosophie unter den Kategorien ibadat und muamalat behandelt, und
die im historisch konkreten Fall durch gesellschaftliche Verhandlungen immer
wieder neu festgelegt werden muss. Muslime, die in einer säkularen Gesellschaft leben, müssen diese Herausforderungen annehmen, was Traditionalisten
und Islamisten zweifelsohne schwerfällt. Allerdings verfügen diese nicht über
einen Alleinvertretungsanspruch bezüglich der Interpretation islamischer Traditionen. Die Vielseitigkeit dieser Interpretationen hat die moderne Entwick-
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Dietrich Jung: Gott, Götter, Gottlosigkeit. Islam und säkulare Gesellschaft
lung in der islamischen Welt gezeigt, die mit Reformern wie den eingangs erwähnten Muhammad Abduh ihren Anfang nahm.
Literatur
Dan Diner: Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt (Berlin
2005).
Dietrich Jung: Islam and Politics: A Fixed Relationship? In: Critique: Critical
Middle Eastern Studies, Vol. 16 (2007).
Mark Sedgwick: Muhammad Abduh (Oxford 2010).
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