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Interview
"Krebstherapien immer effektiver"
Berliner Morgenpost, Donnerstag, 23. Februar 2012 03:12
Jedes Jahr erkranken in Deutschland etwa 430 000 Menschen an Krebs. Und es werden mehr, weil die
Menschen älter werden und Krebs meist eine Alterskrankheit ist. Innerhalb der Krebsmedizin
(Onkologie) gibt es die Kritik, dieses Fach sei in Deutschland teuer, aber nur Mittelmaß. Wie geht es
also mit der Krebsmedizin weiter?
Mit dieser Frage befassen sich Mediziner auch bis Sonnabend auf dem 30. Deutschen Krebskongress
auf dem Berliner Messegelände. Über Erfolge und Ziele sprach Wolfgang W. Merkel mit Professor Peter
M. Schlag, dem Direktor des Tumorzentrums der Charité (Charité Comprehensive Cancer Center).
Berliner Morgenpost: Welches sind die wichtigsten beeinflussbaren Dinge, die man tun kann, um Krebs
vorzubeugen?
Professor Peter M. Schlag: Um es kurz zu machen: Das sind im Grunde die altbekannten Regeln, die
zum Beispiel auch vor Herzinfarkt schützen: eine gesunde Ernährung, körperliche Aktivitäten und Sport,
Alkohol nur in Maßen und vor allem: nicht rauchen und nicht sonnenbaden.
Berliner Morgenpost: Die Zahl der Krebsleiden nimmt zu. Sind ganz neue Therapien in Sicht, oder
werden eher die bestehenden verfeinert?
Professor Peter M. Schlag: Beides wird gemacht. Generell werden die bestehenden Therapien immer
weniger belastend und weniger radikal. Vor 20 Jahren war es beispielsweise üblich, dass bei Brustkrebs
die ganze Brust abgenommen wurde. Das hat sich zunehmend verbessert, heute sind das meist kleine
Eingriffe. Um eine gute Heilungschance zu bekommen, kombinieren wir das mit anderen Therapien: mit
Medikamenten und Strahlentherapie. Ähnliches gilt zum Beispiel für Prostatakrebs. Auch da wird nicht
mehr immer operiert, manchmal reicht es zu bestrahlen. Wir therapieren heute oft nach dem
Baukastenprinzip, um die Heilungsquote zu verbessern. Zugleich geht es mit weniger
Beeinträchtigungen für den Patienten ab. Neu sind molekulare Analysen. Denn Bezeichnungen wie
Lungenkrebs sind nur grobe Oberbegriffe, hinter denen sich viele Unterformen verbergen, die
unterschiedlich aggressiv sind und auf unterschiedliche Medikamente ansprechen. Diese Unterformen
wollen wir molekular charakterisieren, um Medikamente zu finden, die diese Tumoren an ihrer
genetischen Wurzel angreifen. Auf diese Weise, das ist die größte Hoffnung, können wir Krebs
zunehmend zu einem Leiden machen, das zwar nicht immer heilbar ist, aber doch eine handhabbare
chronische Krankheit - so wie Herz-Kreislauf-Leiden oder Diabetes.
Berliner Morgenpost: Ist das "individualisierte Medizin"?
Professor Peter M. Schlag: Ich habe ein Problem mit diesem Begriff, er suggeriert, dass Ärzte ihre
Patienten in der Vergangenheit nicht als Individuum gesehen haben. Die Behandlung war aber schon
immer individuell. Es geht um die schon genannte Subklassifizierung von Tumoren nach ihrer
Aggressivität zu wachsen, ihres Potenzials zu metastasieren und ihrer unterschiedlichen
therapeutischen Angriffspunkte, welche diese auf molekularer Ebene bieten. Das ist die neue,
vielversprechende Strategie.
Berliner Morgenpost: Der ehemalige Präsident der Deutschen Krebsgesellschaft, Lothar Weißbach,
kritisiert die deutsche Krebsmedizin als nicht innovationsfreudig. Wie sehen Sie das?
Professor Peter M. Schlag: Konstruktive Kritik ist stimulierend, aber in diesem Fall ist sie vor allem
plakativ und zu wenig inhaltlich untersetzt. Wir sind in Deutschland nicht schlecht aufgestellt. Vielleicht
nicht Weltspitze, aber zumindest das europäische Ausland beneidet uns um unsere hohen
Behandlungsstandards und technischen Möglichkeiten. Das betrifft auch die Forschung - nicht nur in
Berlin, Heidelberg und München, wo jeweils eine Vielzahl international anerkannter Einrichtungen auf
dem Gebiet der Tumorforschung angesiedelt sind, zum Beispiel das MDC, die Charite und das MaxPlanck-Institut für molekulare Genetik. In letzter Zeit sind von der Deutschen Krebshilfe und dem
Bundesforschungsministerium zudem viele Mittel freigegeben worden, mit denen wir innovative Projekte
vorantreiben. Gutachter haben uns eine hervorragende Leistungsfähigkeit bestätigt. Die neuen
innovativen Ansätze betreffen beispielsweise Verfahren der Krebsimpfung und Immuntherapien, bei
denen das Immunsystem aktiviert wird, Krebszellen zu bekämpfen. Außerdem wird Tumorgewebe
tiefgreifend genetisch analysiert, um umfassendere diagnostische und therapeutische Verfahren zu
entwickeln. Es handelt sich um hoch innovative und international wettbewerbsfähige Projekte. Diese
Untersuchungen werden in Kürze dazu führen, an Hand des genetischen Fingerabdrucks eines Tumors
zukünftig Krebstherapien immer passgenauer und effektiver zu gestalten.
Berliner Morgenpost: Die Kritik besagt auch, die Früherkennung sei ineffizient.
Professor Peter M. Schlag: Die Früherkennung von Krebs funktioniert sicher nicht optimal. Das liegt
aber weniger daran, dass wir nicht innovativ wären. Das Problem ist, dass wir nicht gut an die
Bevölkerung rankommen. Die Teilnahmequoten bei den Früherkennungsprogrammen liegen teilweise
bei nur zehn oder 15 Prozent. Das reicht nicht. Wir haben beim Thema Krebs ein
Kommunikationsproblem. Krebs wird in der Bevölkerung nach wie vor als "Sackgasse" gesehen. Wenn
die Früherkennung greift, besteht eine große Chance auf Heilung. Die Menschen sehen Krebs aber zu
sehr als unabänderliches Schicksal. Wir müssen ihnen natürlich klarmachen, dass es nicht die eine
Früherkennungsmaßnahme gibt und dass dies in der Regel nicht mit Krebsvorsorge gleichzusetzen ist.
Die Bevölkerung schreckt wahrscheinlich auch vor der Früherkennung zurück, weil es keinen einfachen
Test gibt, sondern für jede Krebsform unterschiedliche Methoden, welche zudem meist noch invasiv
sind.
Berliner Morgenpost: Wie kann man das Kommunikationsproblem lösen?
Professor Peter M. Schlag: Da sind kontinuierliche Aufklärungsprozesse nötig, wir müssen an dem
Dialog zwischen Ärzten und der Bevölkerung arbeiten. Früherkennung müsste schick werden. Wir
müssten dahin kommen, dass es als völlig normal oder als mutig gilt, zur Krebsfrüherkennung zu gehen.
Berliner Morgenpost: Können wir uns bei immer mehr Krebsleiden die bestmögliche Therapie leisten?
Professor Peter M. Schlag: Das ist schwer zu beantworten. Wir können jedenfalls auch fragen: Sind
unsere heutigen Therapien nicht oft ineffektiv? Wir haben heute oft starke Nebenwirkungen, die
wiederum neue Behandlungen notwendig machen. Auch das kostet enorm viel. Wir müssen mehr und
bessere Belege dafür bekommen, was effektive und was ineffektive Behandlungen sind und wie dies
gemessen werden kann. Unter Umständen wird man dann entscheiden: Für diese Form eines Tumors
ist das derzeit verwendete Medikament teuer, aber nicht wirksam und wir konzentrieren uns nur noch
auf eine das Leiden lindernde Behandlung. Wir besitzen heute schon Kriterien, anhand derer wir
erkennen können, dass manche modernen und teuren Medikamente wirkungslos sind. Wir brauchen
noch mehr solcher Analysen und Biomarker. Dann können wir rational entscheiden, wie wir therapieren
und können sicher sein, nicht mehr Nebenwirkungen als erwünschte Wirkungen zu bekommen. Dies
würde in jedem Fall beitragen, dass es nicht zu einer Rationierung, sondern zu einer Rationalisierung
der Tumortherapie kommt.
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