Bio-Politik zwischen Markt und Gewissen

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Dokument 4282
Sperrfrist:
18.06.2004; 20:00 Uhr
Veranstaltung:
Bio-Politik zwischen Markt und Gewissen
Referent/in:
Teufel MdL, Erwin (Ministerpräsident)
Ort:
Universitätsklinikum Ulm Hörsaal Medizinische Klinik,
Robert-Koch-Str.8 (Ulm)
Programm Seite:
96
I.
Einleitung
„Leben aus Gottes Kraft“ – was bedeutet das im Zeitalter der Biomedizin? Wenn wir genauer
hinhören, klingt diese Berufung auf Gott sperrig und provozierend: Wer will heute schon aus
der Kraft eines Dritten leben? Wer will noch akzeptieren, daß er ein Geschöpf und daß sein
Leben ein Geschenk ist? Bieten die modernen Lebenswissenschaften da nicht plausiblere
Erklärungen und Handlungsoptionen? Wieweit sind diese Erkenntnisse und
Handlungsoptionen mit dem christlichen Glauben oder auch mit der säkularen Tradition der
Aufklärung vereinbar? Dürfen wir alles tun, wozu wir heute in der Lage sind? Wo müssen wir
Grenzen ziehen?
Ich freue mich, daß die Universität Ulm den Katholikentag zum Anlaß genommen hat, um
heute Abend über diese schwierigen und wichtigen Fragen zu sprechen. Ich bin sehr gerne
zu Ihnen gekommen und danke der Universität und der Katholikentagsleitung für die
Einladung. Danken möchte ich auch Herrn Professor Guido Adler für seine Einführung von
naturwissenschaftlicher Seite.
Ich bin weder Naturwissenschaftler noch Philosoph. Aber ich bin Bürger und Politiker. Als
Bürger muß ich mich – wie jede und jeder von Ihnen – tagtäglich neu mit der Frage auseinandersetzen, wie wir leben wollen; welches Bild wir vom Menschen haben; und welche
praktischen Konsequenzen wir aus diesem Bild ziehen. Und als Politiker habe ich die
Aufgabe, an Rahmenbedingungen mitzuwirken, die ein gutes und menschliches Miteinander
in unserem Land und unserer Gesellschaft ermöglichen. Das sind die beiden Perspektiven,
aus denen heraus ich Ihnen heute meine Position zu einigen aktuellen Fragen der Bioethik
darlegen möchte.
II.
Bioethische Konfliktlinien
Die Erkenntnisse der Biomedizin konfrontieren uns mit einer Reihe von grundlegenden
Konflikten. Einer davon, nämlich das Dilemma zwischen „Markt und Gewissen“ – also
zwischen ethischen Wertentscheidungen und ökonomischen Interessen – steht in der
Überschrift dieses Vortrages. Aber es gibt noch weitere Konflikte und Grundsatzfragen, die
durch die Erkenntnisse der Lebenswissenschaften ausgelöst werden:
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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 Eine dieser Grundsatzfragen habe ich eben bereits genannt: Dürfen wir alles tun, was wir
können? Ist das, was technisch machbar ist, auch ethisch vertretbar?

Heiligt der Zweck jedes Mittel?

In welchem Verhältnis stehen Forschungsfreiheit, Heilungsauftrag und Menschenwürde?
 Und schließlich: Auf welcher Ebene können Vernunft und Glaube sich heute noch
begegnen?
So wie am Beginn des 20. Jahrhunderts Chemie und Physik die Schlüsseldisziplinen einer
neuen Epoche waren, so gilt in unseren Tagen die Biologie als Leitwissenschaft des
beginnenden 21. Jahrhunderts. Die Biomedizin und auch die Hirnforschung haben in den
letzten Jahren unsere Vorstellungen vom Leben, vom Sein und vom Bewußtsein des
Menschen grundlegend verändert. Diese neuen Erkenntnisse der Lebenswissenschaften
stellen eine große Herausforderung für unser tradiertes Welt- und Menschenbild dar:
 Was bedeutet es für unsere Vorstellung von Personalität und Individualität, wenn man
den Menschen klonen – also auf technischem Wege kopieren kann?
 Was bedeutet es für unsere Vorstellung von Willensfreiheit und Verantwortung, wenn
menschliches Handeln nichts anderes ist als die Reaktion bestimmter Hirnareale auf äußere
Reize und Stimuli?
Daß neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu einem Wandel des Welt- und Menschenbildes
führen, ist beileibe nichts Neues. Denken Sie an die Entdeckungen von Kepler und Galilei,
denken Sie an Darwins Evolutionstheorie oder an die Psychoanalyse von Freud.
Jede dieser Entdeckungen oder Theorien hat unser Bild vom Menschen verändert: Kepler
und Galilei haben der Erde den Platz im Mittelpunkt des Kosmos streitig gemacht. Darwin
hat den Menschen aus der Mitte der Schöpfung herausgerückt, indem er ihn als Produkt
eines von Zufällen geprägten Entwicklungsprozesses beschrieben hat. Und Freud schließlich
hat erkannt, daß wir Menschen oft noch nicht einmal „Herr im eigenen Haus“ sind, weil unser
Bewußtsein über Tiefenstrukturen verfügt, die dem willentlichen Zugriff verschlossen sind.
Dennoch glaube ich, daß der Paradigmenwechsel, vor den uns die modernen
Lebenswissenschaften heute stellen, wesentlich tiefgreifender ist als alle bisherigen
Wendepunkte in der Wissenschaftsgeschichte.
Dafür gibt es im wesentlichen zwei Gründe: Zum einen unterscheiden die Erkenntnisse der
Humangenetik sich von den früheren wissenschaftlichen Revolutionen dadurch, daß sie nicht
nur Erklärungsmodelle bieten, sondern konkrete Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Es geht
in der modernen Biomedizin nicht mehr nur um Erklären und Verstehen, sondern um
Machen und Verfügbarmachen. Das ist der eine Unterschied.
Der zweite Unterschied liegt darin, daß die neuen Erkenntnisse der Biowissenschaften –
anders als die wissenschaftlichen Entdeckungen früherer Jahrzehnte und Jahrhunderte –
uns unmittelbar in unserem Mensch-Sein berühren. Nach der Entschlüsselung des
Humangenoms werden wir – wie Bundespräsident Johannes Rau es vor einiger Zeit
formuliert hat – „zu Mitspielern der Evolution“. Der Mensch gewinnt durch die neuen
wissenschaftlichen Erkenntnisse eine existentielle Verfügungsgewalt über das Leben selbst.
Er hat es in der Hand, sein eigener Schöpfer zu werden.
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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Noch nie in der Geschichte ist unser Menschenbild so grundlegend in Frage gestellt worden.
Angesichts der Erkenntnisse der Biowissenschaften müssen wir uns heute auf eine neue
Weise mit den Grundfragen menschlicher Existenz auseinandersetzen:

Was ist der Mensch?

Wie wollen wir leben?

Aus welcher Kraft wollen wir leben?
 Diese Fragen nach den Grundlagen unseres Lebens gehen jeden von uns an. Sie
betreffen nicht nur Naturwissenschaftler und Philosophen und auch nicht nur Politiker und
Kirchenleute.
III.
Hoffnungen und Ängste
Die rasante Entwicklung der Biowissenschaften während der letzten Jahre hat bei vielen
Menschen Hoffnungen und Erwartungen, aber auch große Ängste und Sorgen ausgelöst.
So verspricht sich die Wissenschaft von der Biomedizin neue Erkenntnisse, die in Zukunft
vielleicht auch zur Heilung von Krankheiten beitragen können. Es ist nur zu verständlich, daß
schwerkranke Menschen und ihre Angehörigen ihre Hoffnung auf die Entwicklung solcher
Heilungsverfahren setzen. Und ebenso verständlich ist es, daß Ärzte und Wissenschaftler
sich bemühen, neue Erkenntnisse auf diesem Gebiet zu gewinnen und zur Linderung von
Krankheit und Leid beizutragen.
Die Wirtschaft und auch der Staat versprechen sich vom biomedizinischen Fortschritt neue
wirtschaftliche Impulse, die Ansiedlung von Zukunftstechnologien, die Schaffung neuer
Arbeitsplätze und eine gute Platzierung im internationalen Standortwettbewerb. Auch diese
Erwartungen sind – zumal in einer wirtschaftlich schwierigen Situation – mehr als
verständlich.
Alle diese Hoffnungen und Zielsetzungen sind legitim: Es ist legitim, daß Wissenschaftler
neue Erkenntnisse finden wollen. Es ist legitim, daß kranke Menschen auf die Entdeckung
neuer Heilmethoden hoffen. Es ist legitim, daß Eltern sich ein gesundes Kind wünschen. Und
es ist legitim, daß Politik und Wirtschaft den Standort Deutschland stärken und neue
Arbeitsplätze schaffen wollen.
Aber für eine umfassende ethische Bewertung der neuen Möglichkeiten der Biomedizin
reicht das allein nicht aus. Wenn ich mir ein ethisches Urteil über ein Verfahren oder eine
Technologie bilden will, genügt es nicht, daß das angestrebte Ziel legitim ist. Ich muß mich
zusätzlich auch fragen, ob die Mittel, die zur Erreichung dieses Zieles eingesetzt werden,
zulässig sind. Und schließlich muß ich mir außerdem auch die Frage stellen, ob das
Verfahren zu unbeabsichtigten Nebenwirkungen führt, die möglicherweise ethisch nicht
vertretbar wären.
Bedauerlicherweise wird bei uns die Bioethik-Diskussion häufig nur auf der Ebene der
angestrebten Ziele geführt, auf der ja auch weitgehend Einigkeit besteht: Niemand kann
etwas gegen wissenschaftlichen Fortschritt oder gegen die Entdeckung neuer Heilmethoden
haben. Die Frage nach der ethischen Qualität der Mittel und der Nebenfolgen wird jedoch
viel zu selten gestellt.
Diese Frage ist aber für eine ethische Bewertung unverzichtbar. Wer sich vor dieser Frage
drückt, setzt sich mit Recht dem Vorwurf aus, daß für ihn der Zweck die Mittel heiligt.
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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IV.
Menschenwürde als Entscheidungsgrundlage
Ehe ich auf drei konkrete Verfahren eingehe, die in der aktuellen Diskussion eine wichtige
Rolle spielen, möchte ich Ihnen kurz den Maßstab erläutern, der die Grundlagen meiner
Bewertung bildet. Dieser Maßstab ist die Menschenwürde, wie sie die Väter und Mütter
unseres Grundgesetzes aus gutem Grund wie einen Leitsatz an den Beginn unserer
Verfassung gestellt haben: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu
schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“, heißt es in Artikel eins des
Grundgesetzes.
Für mich als Christ ergibt sich die Menschenwürde aus der Gottesebenbildlichkeit und aus
der Geschöpflichkeit des Menschen. Das bedeutet jedoch nicht, daß die Menschenwürde ein
christliches Sondergut darstellt. Im Gegenteil: Die Achtung der Menschenwürde war auch
eine zentrale Forderung der Philosophie der Aufklärung. Und die Aufklärung mit ihrem
Bekenntnis zur Menschenwürde bildet bis heute die Grundlage für den modernen
demokratischen Rechtsstaat, für unsere freie und plurale Gesellschaft und auch für unser
Verständnis von Wissenschaft. Ein Staat, der die Menschenwürde nicht achtet, beschädigt
sein eigenes Fundament. Und das gleiche gilt auch für die Wissenschaft: Gerade dort, wo
sie die Skepsis zum Erkenntnisprinzip macht, wo sie sich gegen Autoritäten und tradierte
Wahrheiten auflehnt und wo sie Grenzen überwinden will, verwirklicht sie das Gedankengut
der Aufklärung, das ohne das Prinzip der Menschenwürde nicht denkbar wäre.
Konkret bedeutet Menschenwürde, daß ein Mensch immer ein Zweck an sich ist. Kein
Mensch darf für Zielsetzungen instrumentalisiert werden, die außerhalb seiner selbst liegen.
Dieses Instrumentalisierungsverbot ist eine elementare Freiheitsforderung.
Zum Wesen der Menschenwürde gehört es, daß sie ohne Voraussetzungen und
Bedingungen gilt. Nicht das Geschlecht, die Nationalität, die Abstammung oder der Besitz,
nicht das Alter, nicht Gesundheit oder Krankheit sind Kriterien für Menschenwürde, sondern
allein die Tatsache, daß man ein Mensch ist. Die Menschenwürde gilt bedingungslos. Wer
sie an Voraussetzungen knüpft, nimmt ihr ihren Wesenskern.
Im Zusammenhang mit der biomedizinischen Forschung stellt sich die Frage, ob ein Embryo
bereits ein Mensch ist – oder mit anderen Worten: Wann fängt das menschliche Leben an?
Nach meinem Verständnis beginnt das Leben mit der Verschmelzung von Ei- und
Samenzelle. In diesem Augenblick entsteht aus den Keimzellen zweier Menschen ein neues
Lebewesen mit einer unverwechselbaren Individualität.
Alle späteren Entwicklungsschritte dieses neuen Lebewesens stellen lediglich
Fortentwicklungen der Anlagen dar, die bei der Zeugung entstanden sind. Deshalb stellt die
Verschmelzung von Ei- und Samenzelle die eigentliche Zäsur bei der Entstehung von Leben
dar. Jede andere Grenzziehung wäre willkürlich und würde uns auf eine schiefe Ebene
führen, weil sie schon morgen durch eine neue, ebenso willkürliche Definition ersetzt werden
könnte.
Wenn menschliches Leben mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle beginnt, dann
bedeutet dies, daß auch Embryonen unter dem vollen Schutz der Menschenwürde stehen
und daß sie nicht für Zwecke, die außerhalb ihrer selbst liegen, instrumentalisiert werden
dürfen. Das Embryonenschutzgesetz, wie es bei uns in Deutschland gilt, trägt genau diesem
Sachverhalt Rechnung, indem es bestimmt, daß Embryonen nur für die Herbeiführung einer
Schwangerschaft erzeugt werden dürfen.
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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V.
Konkrete Anwendungsfälle
Embryonale Stammzellen, Präimplantationsdiagnostik, Klonen
Ich bin der festen Überzeugung, daß die Menschenwürde der letzte und grundlegende
Maßstab ist, an dem jedes Gesetz und jede neue Technologie sich messen lassen müssen.
Dies gilt auch für alle Erkenntnisse und alle technischen Möglichkeiten auf dem Gebiet der
Lebenswissenschaften. Wenn wir über die Zulassung der Forschung an embryonalen
Stammzellen diskutieren, dürfen wir nicht nur über den zu erwartenden Nutzen sprechen,
sondern wir müssen uns auch die Frage stellen, wie diese Forschung sich mit der
Unverletzlichkeit der Menschenwürde vereinbaren läßt. Ebenso verhält es sich bei der
Präimplantationsdiagnostik oder auch beim Klonen.
Im folgenden möchte ich diese drei Beispiele, die ja auch im Mittelpunkt der aktuellen
Diskussion stehen, konkretisieren und weiter vertiefen.
Forschung an embryonalen Stammzellen
In verschiedenen Ländern der Erde gibt es derzeit Versuche, mit Hilfe embryonaler
Stammzellen neue Möglichkeiten zur Heilung schwerer Krankheiten wie Krebs, Alzheimer
oder Parkinson zu erforschen. Die Stammzellforschung verfolgt unter anderem das Ziel,
beschädigtes Gewebe – etwa nach einem Herzinfarkt – durch regeneriertes Gewebe zu
ersetzen, das man aus embryonalen Stammzellen gewinnen will.
Die Befürworter dieser Forschungsrichtung verweisen auf den Gewinn an wissenschaftlicher
Erkenntnis und auf mögliche neue Heilungsmöglichkeiten, die man auf diese Weise zu
entwickeln hofft.
Diese Ziele sind zweifellos legitim und begrüßenswert. Dennoch lehne ich die Forschung an
embryonalen Stammzellen ab. Denn für die Gewinnung dieser Zellen müssen Embryonen,
d.h. menschliches Leben vernichtet werden. Deshalb spricht man in diesem Zusammenhang
auch von der sogenannten „verbrauchenden Embryonenforschung.“ Wenn ein Embryo für
die Forschung „verbraucht“ wird, wird er für einen Zweck genutzt, der außerhalb seiner
selbst liegt. Insofern liegt hier ein schwerwiegender Verstoß gegen das
Instrumentalisierungsverbot vor, das sich aus der Menschenwürde ergibt.
Diese Tatsache läßt sich durch keinen noch so guten Zweck rechtfertigen. Und sie läßt sich
auch nicht dadurch umgehen, daß man für die Forschung sogenannte „überflüssige
Embryonen“ verwendet, die bei künstlichen Befruchtungen entstanden sind. Auch diese
Embryonen haben ein Lebensrecht und eine unveräußerliche Würde.
Dieses ethische Dilemma läßt sich meines Erachtens auch nicht dadurch lösen, daß man
embryonale Stammzellen aus dem Ausland importiert, wie dies der Bundestag vor gut zwei
Jahren – wenn auch unter strengen Auflagen – beschlossen hat. Man muß sich darüber im
Klaren sein, daß auch für die Gewinnung dieser Stammzellen menschliches Leben zerstört
wurde und daß der Import von Stammzellen eine schleichende Auflösung des
Embryonenschutzgesetzes bedeutet.
Und schließlich heilt auch nicht der Zweck der Forschung, nämlich Krankheiten zu heilen,
das Mittel. Wir können nicht die Menschenwürde des Embryos gegen die Menschenwürde
des Kranken quasi „aufrechnen“.
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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Präimplantationsdiagnostik
Vor dem gleichen Zielkonflikt zwischen Mittel und Zweck stehen wir auch bei der
Präimplantationsdiagnostik (PID). Bei diesem Verfahren, das in Deutschland bislang
verboten ist, werden einer Frau mehrere Eizellen entnommen und im Labor künstlich
befruchtet. Die dabei entstandenen Embryonen werden anschließend auf mögliche Defekte
untersucht. Der Embryo, der am gesündesten ist oder den Wunschvorstellungen der Eltern
am ehesten entspricht, wird dann in die Gebärmutter der Frau eingepflanzt; die übrigen
werden vernichtet.
Die PID ist also im Grund nichts anderes als eine „Zeugung auf Probe“. Die Befürworter
dieses Verfahrens weisen darauf hin, daß sich auf diese Weise die Geburt behinderter
Kinder oder spätere Abtreibungen wegen einer zu erwartenden Behinderung vermeiden
lassen.
Selbstverständlich ist der Wunsch eines Elternpaares nach einem gesunden Kind berechtigt.
Aber auch hier müssen wir die Mittel betrachten, die zur Erreichung dieses Zweckes
eingesetzt werden: Bei der PID werden Embryonen auf Vorrat erzeugt, selektiert und
anschließend zum Teil vernichtet. Diese Vorgehensweise stellt einen klaren Verstoß gegen
die Menschenwürde und das Embryonenschutzgesetz dar.
Die PID ist auch deswegen hoch problematisch, weil sie die Beteiligten dazu zwingt,
zwischen „lebenswertem“ und „lebensunwertem“ Leben zu unterscheiden. Eine solche
Selektion kann sich kein Mensch anmaßen.
Für mich folgt daraus, daß die PID ethisch nicht vertretbar ist.
Eine Gruppe von Mitgliedern des „nationalen Ethikrats“ hat vor einiger Zeit den Vorschlag
gemacht, die PID nur beim Vorliegen bestimmter schwerer Erbkrankheiten zuzulassen. Aber
wir alle wissen aus unserer Lebenserfahrung, daß eine solche Beschränkung sich in der
Praxis kaum durchhalten läßt. Was ist überhaupt eine „schwere Erbkrankheit“? Und wer soll
über die Zulässigkeit der PID entscheiden: der Arzt? Der Gesetzgeber? Die Gerichte?
Nein, ich fürchte, daß auch eine eingeschränkte PID letztlich ein Dammbruch wäre, der sich
schon bald nicht mehr kontrollieren läßt. Denn wenn Eltern und Ärzte die Möglichkeit haben,
Embryonen nach ihrer genetischen Beschaffenheit auszuwählen oder zu verwerfen, ist die
Gefahr groß, dass der Kreis der Indikationen für diese Selektion immer weiter ausgedehnt
wird und dass schließlich auch Embryonen vernichtet werden, weil beispielsweise ihr
Geschlecht, ihre Haar- oder Augenfarbe den Vorstellungen der Eltern nicht entsprechen, was
in einigen Ländern bereits praktiziert wird. Wenn Leben in dieser Weise zur Disposition steht,
ist es nur noch ein kleiner Schritt vom Kinderwunsch zum Anspruch auf ein Kind nach
Wunsch.
Exkurs: Auswirkungen auf die Akzeptanz von Behinderten
Bei der ethischen Bewertung der Präimplantationsdiagnostik – aber auch der
Pränataldiagnostik, wie sie auch bei uns schon seit Jahren praktiziert wird, – müssen wir uns
auch die Frage stellen, welche Auswirkungen diese Verfahren auf die gesellschaftliche
Anerkennung von kranken und behinderten Menschen haben. Behindertenverbände
befürchten zu Recht, daß die Akzeptanz für Behinderte und für die Eltern von behinderten
Kindern sinken wird, wenn sich aufgrund der wissenschaftlichen Möglichkeiten in unserer
Gesellschaft die Vorstellung durchsetzt, daß Behinderungen ‚eigentlich nicht mehr sein
müssen‘ und daß es doch eigentlich Aufgabe der Eltern gewesen wäre, die Geburt eines
behinderten Kindes zu verhindern. Es darf nicht soweit kommen, daß eine Frau sich dafür
rechtfertigen muß, wenn sie ein behindertes Kind zur Welt bringt!
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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Der Bundesvorsitzende der Lebenshilfe, der langjährige SPD-Bundestagsabgeordnete
Robert Antretter, hat dazu einen sehr nachdenkenswerten Satz formuliert: „Je mehr wir die
Fähigkeiten der Medizin vervollkommnen, den perfekten Menschen zu schaffen, desto
weniger wird akzeptiert werden, daß es normal ist, anders zu sein.“
Auch diesen Aspekt müssen wir bei der Bewertung der Präimplantationsdiagnostik
bedenken.
Klonen
Lassen Sie mich abschließend noch einige Worte zum Klonen sagen. Unter Klonen versteht
man ein biomedizinisches Verfahren, bei dem eine identische Kopie eines lebenden
Organismus hergestellt wird. Zur Geburt eines Lebewesens führte diese Technik bisher nur
in Tierversuchen, wobei es offenbar eine sehr hohe Fehlerquote gab.
Prinzipiell scheint das Verfahren auch beim Menschen anwendbar zu sein. In Wissenschaft
und Politik wird deshalb die Frage diskutiert, ob es nicht möglich sein könnte, das Klonen für
die Gewinnung von Körpergewebe oder Spenderorganen zu nutzen, die vom Empfänger
nicht abgestoßen werden. Dazu müßte man – stark vereinfacht gesagt – zunächst durch
Klonen eine genetische Kopie des späteren Empfängers herstellen. Aus dieser Kopie, deren
Gewebsmerkmale mit denen des Empfängers identisch sind, könnte dann abstoßungsfreies
Transplantationsmaterial gewonnen werden.
Für die Bewertung dieses Verfahrens gilt das, was ich vorhin bereits über die
„verbrauchende Embryonenforschung“ gesagt habe.
Das Klonen ist in meinen Augen unzulässig, weil hier menschliches Leben für fremde
Zwecke – nämlich die Ersatzteilgewinnung für andere Menschen – instrumentalisiert wird.
Hinzu kommt, daß das Klonen von Menschen auch sonst eine Reihe weiterer schwerwiegender Probleme aufwirft: So stellt sich etwa die Frage, welche Identität und welchen
rechtlichen Status menschliches Leben besitzt, das als Kopie eines anderen Menschen
hergestellt wurde. Gesteht man ihm den Anspruch auf Menschenwürde zu, so verbieten sich
das Klonen und die Nutzung geklonter Lebewesen von vornherein. Verweigert man dagegen
dem Klon die Menschenwürde, so bedeutet dies in letzter Konsequenz die Einführung einer
biologischen Klassengesellschaft, in der es auf der einen Seite Menschen mit vollem Wert
und voller Würde gibt, und auf der anderen Seite Menschen, die zwar biologisch mit ersteren
identisch sind, juristisch aber nicht die gleichen Rechte genießen. Eine solche
Unterscheidung würde uns ethisch in die Zeit der Sklaverei oder der Rassenideologie
zurückwerfen.
Ich bin der Meinung, daß wir uns nicht von den Zielen blenden lassen dürfen, mit denen
interessierte Kreise versuchen, das Klonen zu rechtfertigen. Angesichts mancher
Äußerungen von Klon-Befürwortern drängt sich der Eindruck auf, daß es ihnen weniger um
die Suche nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen geht, als vielmehr vor allem um
Schlagzeilen. Manche scheinen im Klonen eine Möglichkeit zu sehen, die Sterblichkeit zu
überwinden und die Rolle des Geschöpfs mit der des Schöpfers zu vertauschen. Diese
Motivation ist für mich als Christen jedoch nicht akzeptabel.
In diesem Zusammenhang möchte ich mich ganz entschieden gegen die künstliche
Unterscheidung zwischen dem reproduktivem und dem sogenannten therapeutischen
Klonen wenden. Auch wenn das therapeutische Klonen einem positiven Zweck dienen
könnte – nämlich der Heilung von Krankheiten –, ändert dies nichts an der Tatsache, daß
auch bei diesem Verfahren ein Mensch reproduziert wird. Darin unterscheidet das
therapeutische Klonen sich nicht vom reproduktiven Klonen. Und deshalb ist die begriffliche
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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Trennung zwischen reproduktivem und therapeutischem Klonen für die ethische Bewertung
völlig unerheblich.
VI.
Auseinandersetzung mit Kritikern des Prinzips Menschenwürde
Ich weiß sehr wohl, daß das Embryonenschutzgesetz und die ihm zugrundeliegende
Vorstellung der Menschenwürde vom Augenblick der Zeugung an in den letzten Jahren
immer wieder in Frage gestellt worden sind. So hat etwa der damalige Bundes-KulturStaatsminister Julian Nida-Rümelin Anfang 2001 die These aufgestellt, daß ein Embryo
keine Menschenwürde besitze, weil er nicht in der Lage sei, diese Würde aktiv für sich in
Anspruch zu nehmen. Im Sinne von Nida-Rümelin bildet die Fähigkeit zur Selbstachtung die
Voraussetzung für Menschenwürde. Wer nicht zur Selbstachtung fähig ist, hat auch keine
volle Menschenwürde. Wohin eine solche Aushöhlung der Menschenwürde führen kann,
erkennt man sehr schnell, wenn man sich vor Augen hält, was die Argumentation von NidaRümelin für geisteskranke, alte oder demente Personen bedeuten würde.
Nicht weniger problematisch ist der Vorstoß, den Bundesjustizministerin Brigitte Zypries im
vorigen Herbst unternommen hat, als sie argumentierte, daß künstlich erzeugten Embryonen
außerhalb des Mutterleibes „die Menschenwürde im Sinne des Artikel 1 Grundgesetz“ nicht
zustehe, da ihnen die Voraussetzung fehle, „sich aus sich selbst heraus als Mensch zu
entwickeln.“ Wenn man Frau Zypries beim Wort nimmt, bedeutet dies nichts anderes, als
daß die Schutzwürdigkeit eines Embryos letztlich davon abhängt, an welchem Ort er sich befindet: Im Mutterleib genießt er (zumindest theoretisch) den Schutz der Menschenwürde; im
Reagenzglas dagegen gilt er rechtlich als eine Ansammlung von Zellen, die den Interessen
Dritter geopfert werden können. Abgesehen davon, daß die Argumentation von Frau Zypries
unlogisch ist, weil der Embryo sich auch im Mutterleib nicht „aus sich selbst heraus“ entwickelt, sondern nur in Gemeinschaft mit seiner Mutter, zeigt auch dieses Beispiel, daß die
Gültigkeit der Menschenwürde auf keinen Fall an Bedingungen geknüpft werden darf. Wenn
die Menschenwürde von äußeren Voraussetzungen abhängig gemacht wird, verkommt der
Lebensschutz zur Definitionssache und wird beliebig.
Die Gegner des bestehenden Embryonenschutzgesetzes weisen mit Blick auf das
Abtreibungsrecht darauf hin, daß in Deutschland ein Embryo im Reagenzglas wesentlich
besser geschützt sei als innerhalb des Mutterleibes. Aber wer so argumentiert, vergleicht
Dinge, die man nicht miteinander vergleichen kann. Denn dem Abtreibungsrecht liegt die
Erkenntnis zugrunde, daß das Leben eines ungeborenen Kindes in existentieller Weise mit
dem Leben seiner Mutter verbunden ist und daß der Lebensschutz sich nicht gegen den
Willen der Mutter durchsetzen läßt. Beim Schutz eines in vitro erzeugten Embryos liegen die
Dinge dagegen völlig anders. In meinen Augen ist es ein Denkfehler, wenn man aus der
Tatsache, daß Abtreibungen bei uns unter bestimmten Voraussetzungen straffrei bleiben, die
Folgerung zieht, daß die Zerstörung von Embryonen für Forschungszwecke legalisiert
werden müsse.
VII.
Zusammenfassung:
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Für mich – das ist aus meinem Vortrag hoffentlich deutlich geworden – ist die
Menschenwürde die zentrale Größe bei der ethischen Bewertung der Chancen und Risiken
der Biomedizin. Menschenwürde ist kein Gut, das vom Staat gewährt wird; sie ist ein
vorfindlicher Grundwert, an dem alles Handeln – auch das des Staates – sich orientieren
muß. Die Menschenwürde kann deshalb auch nicht gegen andere Ziele abgewogen werden.
Wenn wir die Menschenwürde preisgeben, dann geben wir auch unsere Selbstachtung als
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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handelndes Subjekt auf. Wenn wir den unbedingten Vorrang der Menschenwürde
relativieren – und sei es in bester Absicht – setzen wir uns der Eigenlogik von Sachzwängen
aus, die letztlich auf eine schiefe Ebene führen. Aus diesem Grund bin ich gegen jede
Abschwächung des geltenden Embryonenschutzgesetzes.
Viele Ziele der embryonalen Stammzellforschung sind sinnvoll und richtig. Die ethische
Problematik liegt in den meisten Fällen nicht in den Zielen, sondern in den eingesetzten
Mitteln. Wir sollten deshalb viel mehr Kraft und Phantasie für die Suche nach Alternativen
aufwenden, die es uns erlauben, das angestrebte Ziel auf ethisch unbedenklichen Wegen zu
erreichen.
Ja, es gibt einen Konflikt zwischen Fortschritt und Wertgebundenheit. Aber dieser Konflikt ist
nicht unlösbar. Lassen wir uns nicht einreden, daß die Bioethik-Diskussion zwangsweise auf
ein schlichtes Entweder-Oder hinauslaufe. Es gibt auch Dritte Wege, die wir suchen und
finden müssen. Gerade darin sehe ich die Aufgabe einer
verantwortungsbewußten Politik.
Eine solche Alternative könnte in der Erforschung der Möglichkeiten adulter Stammzellen
liegen. Baden-Württemberg hat als erstes Land ganz bewußt einen Schwerpunkt auf diese
Forschungsrichtung gelegt. Baden-Württemberg ist einer der führenden
Wissenschaftsstandorte in Europa. Darauf sind wir stolz. Aber in unserem Land gibt es keine
Forschung an embryonalen Stammzellen. Stattdessen hat unsere Landesstiftung ein
Forschungsprogramm „Adulte Stammzellen“ mit einem Gesamtvolumen von 7,5 Millionen
Euro aufgelegt. Eines der geförderten Projekte aus der ersten Ausschreibungsrunde ist hier
an der Universität Ulm angesiedelt.
Wir sollten uns bei der Bioethik-Diskussion jedoch nicht nur auf Gesetze, Verbote und
Förderrichtlinien beschränken. Genauso wichtig erscheint mir auch eine kritische
Überprüfung unserer gesellschaftlichen Leitbilder:
 Was bedeutet es für unsere Gesellschaft, wenn sie sich zwanghaft an einem
fragwürdigen Ideal von Jugend und Vitalität orientiert?
 Welche Folgen hat es, wenn aus dem natürlichen Wunsch nach einem Leben ohne Leid
ein Anspruch oder eine Norm wird?
 Wie gehen wir mit den Menschen um, die dieser Norm nicht entsprechen, weil sie alt,
krank oder behindert sind?
Mancher wird vielleicht sagen, daß aus der Vorstellung der technischen Machbarkeit
menschlichen Lebens ein hohes Maß an Überheblichkeit und ein Mangel an Demut
sprechen. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Diagnose stimmt. Was uns fehlt, ist nicht so sehr
die Demut als vielmehr der Mut. Unser Denken kreist um Risiken, Gefährdungen und
Bedrohungen und um die Frage, wie wir diese Risiken minimieren können. Vertrauen und
Hoffnung scheinen nicht mehr so recht in diese Welt zu passen.
Früher, als das Leben wahrscheinlich wesentlich risikoreicher als heute war, sagte man von
einer schwangeren Frau, sie sei „guter Hoffnung“. Das war eine schöne, treffende und
ermutigende Beschreibung für das Wunder des menschlichen Lebens. Heute ist diese
Formulierung kaum noch zu hören.
Das mag Zufall sein. Aber vielleicht hängt dieses Verstummen der guten Hoffnung auch
damit zusammen, daß sie von unserem allgegenwärtigen Machbarkeitsdenken an den Rand
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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gedrängt wurde. Wir haben uns die Hoffnung schlechtreden lassen. Wir laufen Gefahr, die
Hoffnung durch die Angst vor dem Risiko und den Zwang zur Risikominimierung zu ersetzen.
Vielleicht würde uns das Hoffen wieder leichter fallen, wenn wir uns die Verantwortung für
unser Leben nicht allein auf die eigenen Schultern laden würden; wenn wir unser Leben nicht
als das Produkt menschlicher Anstrengungen begreifen würden, sondern als ein Geschenk –
unfaßbar, unverdient und unvergleichlich. Nichts anderes heißt für mich „Leben aus Gottes
Kraft.“
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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