4. Inszenierung von Erinnerungen im Anne Dorns Roman

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Zur Inszenierung von Erinnerung
im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
INHALTSVERZEICHNIS
1. EINLEITUNG ............................................................................................................. 1
2. GEDÄCHTNISTHEORETISCHE KONZEPTE .................................................... 4
2.1. GEDÄCHTNISFORMEN NACH ALEIDA ASSMANN ...................................................... 4
2.1.1. Individuelles und Generationen-Gedächtnis .................................................. 4
2.1.2. Kollektives vs. kulturelles Gedächtnis ............................................................ 8
2.2. DAS AUTOBIOGRAPHISCHE GEDÄCHTNIS.............................................................. 11
2.2.1. Die Prägung der Erinnerungen in der Kindheit und in der Adoleszenz ....... 11
2.2.2. Gedächtnis im Alter ...................................................................................... 15
3. ERINNERUNG UND GEDÄCHTNIS IN DER LITERATUR ............................ 17
3.1. LITERATUR ALS GEDÄCHTNISMEDIUM .................................................................. 17
3.2. RHETORIK DES KOLLEKTIVEN GEDÄCHTNISSES NACH ASTRID ERLL – .................. 20
3.2.1. Erfahrungshaftiger vs. monumentaler Modus. ............................................. 20
3.2.2. Antagonistischer und historisierender Modus .............................................. 23
3.3. ZUR GATTUNGSTYPOLOGIE DER FICTION OF MEMORY .......................................... 25
4. INSZENIERUNG VON ERINNERUNGEN IM ANNE DORNS ROMAN
„SIEHDICHUM“ .......................................................................................................... 30
4.1. ZUM INHALT ......................................................................................................... 30
4.2. ZUR RHETORIK DER ERINNERUNG ........................................................................ 32
4.2.1. Zum Textanfang ............................................................................................ 32
4.2.2. Zur Zeitstruktur ............................................................................................. 34
4.2.3. Zu den Erzählebenen und zum Ort des Erzählens ........................................ 41
4.2.4. Zur erzählerischen Vermittlung .................................................................... 46
4.2.5. Zu der Perspektivenstruktur.......................................................................... 51
4.2.6. Zur Raumdarstellung .................................................................................... 53
4.2.7. Zu der Intertextualität und der Interdiskursivität ......................................... 58
4.2.8. Zur Figurenkonzeption – Johannes Martens als Gedächtniskonstrukt ........ 63
4.2.9. Zur Analyse des Erzählschlusses .................................................................. 68
4.3. EINORDNUNG IN DIE GATTUNGSTYPOLOGIE .......................................................... 70
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
5. SCHLUSSBETRACHTUNG ................................................................................... 72
LITERATURVERZEICHNIS..................................................................................... 75
2
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
„Wie ist das, wenn man sich erinnert?´, hatte der Enkel in Koblenz
gefragt, und Martha hatte ihm erklärt: ´Man geht in den Keller und
räumt da auf. Manchmal fängt man auch an, noch tiefer zu graben,
man bewegt den Boden, auf dem man steht. Aber dicht daneben hat
auch wer sein Haus. Und plötzlich verschiebt sich in seinem Keller
etwas oder bricht auf. Er will das nicht haben. Du musst also
vorsichtig sein.´ “
(Anne Dorn)
1. Einleitung
Fragen nach dem Gedächtnis und der Erinnerung stehen seit einigen Jahren im
Brennpunkt des Interesses nicht nur der Neurowissenschaftler, sondern auch der Kulturund Literaturwissenschaftler. Die Forschungsergebnisse dieser Wissensbereiche
beeinflussen sich gegenseitig. Zum einen entwickelt man Theorien, die dann in
literaturwissenschaftlichen Abhandlungen an literarischen Textbeispielen belegt werden
können. Zum anderen bemüht man sich die Gedächtniserscheinungen in der Literatur zu
systematisieren. Die Frage lautet nun: was hat zu solcher Gedächtniskonjunktur
beigetragen? Einerseits, und darauf weist Carsten Gansel hin, hängt das mit politischen,
kulturellen und sozialen Veränderungen nach 1989 zusammen. Das Ende des `RealSozialismus’ ermöglichte eine neue Haltung zu solchen Themen, wie Krieg, Holocaust,
Flucht und Vertreibung einzunehmen.1 Andererseits
kann man das Interesse an
Vergangenheitsschilderungen mit dem Generationenwechsel zu erklären versuchen. “In
dem Maße nämlich wie jene Generation ausstirbt, die den mit Nationalsozialismus und
Krieg verbundenen Zivilisationsbruch noch erlebt hat, kommt es zu neuen Formen der
Erinnerung.“2 Die Erfahrungen deren Speicherung durch das Vergehen einer Generation
gefährdet ist, finden bevorzugt Aufnahme in fiktionalen Texten. Auf diese Weise nähert
sich eine neue Autorengeneration der Vergangenheit und sucht sie auf ihre Weise in den
Blick zu bekommen. Die Veränderungen führten dazu, dass man heutzutage von
´Prinzip Erinnerung´ in der deutschen Gegenwartsliteratur nach 1989 sprechen kann.
Das Gedächtnis ist jedoch nicht nur ein wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand.
Rüdiger Pohl schreibt: „All unser Wissen, das wir je erworben haben, all unsere
Erfahrungen, alle Menschen, die wir kennen, unsere Sprache, unsere motorischen
Fähigkeiten, unsere Gefühle, Ideen, Vorstellungen und Wünsche – alles basier auf dem,
Vgl. Gansel, Carsten: Das Prinzip Erinnerung in der deutschen Gegenwartsliteratur nach 1989 – (call for
papers), S. 1.
2
Ebd., S. 2.
1
1
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
was wir ´Gedächtnis´ nennen.“3 Dem zufolge spielt das Gedächtnis eine wichtige Rolle
im individuellen und gesellschaftlichen Leben der Menschen. An die Beziehung
zwischen dem Individuum, seinem Gedächtnis und anderen Menschen weist ebenfalls
Anne Dorn. In dem oben zitierten Ausschnitt aus dem Roman „Siehdichum“
verdeutlicht sie, dass in dem Moment, in dem man ´in den Keller´ geht um dort
´aufzuräumen´, ein schwerer und gefährlicher Prozess beginnt. Einerseits muss man
´vorsichtig sein´, um jemanden nicht zu stören. Andererseits muss man aufpassen,
„damit man möglichst dicht an die wirklichen Erinnerungen kommt, denn über die Jahre
sind da ja Veränderungen eingetreten, es ist viel retuschiert worden“4. Das Gedächtnis
und die Erinnerungen kann man also als ein soziales Phänomen betrachten, auf das viele
Faktoren Einfluss haben.
Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel die Relationen zwischen den Erinnerungen
und dem Gedächtnis und ihrer literarischen Repräsentation möglichst ausführlich
darzustellen. Sie besteht aus drei Hauptteilen. Der erste Teil bezieht sich strikt auf die
theoretischen Voraussetzungen in der Gedächtnisforschung. Es werden nämlich die vier
Assmanschen Formen des Gedächtnisses, so wie das autobiographische Gedächtnis
erläutern. Bei der Schilderung des autobiographischen Gedächtnisses fällt der Fokus auf
das Gedächtnis im Alter. Im zweiten Teil wird näher auf das Verhältnis zwischen der
Literatur und dem Gedächtnis angegangen. Berücksichtigt dabei werden sowohl die
literarischen Gattungen, die sich mit dem Thema Erinnerung und Gedächtnis
auseinandersetzen, nämlich der Gedächtnis- und Erinnerungsroman, als auch
unterschiedliche textuelle Verfahren, die einen Text mehr oder weniger als ein
Gedächtnismedium erscheinen lassen und die man als Modi der Erinnerung bezeichnet.
Dem dritten Teil liegt ein Versuch der Darstellung von Gedächtnisphänomenen am
Beispiel des Romans „Siehdichum“ von Anne Dorn zugrunde. Die Rhetorik der
Erinnerungen, die in diesem Punkt ihre Anwendung gefunden hat, nutzt solche
Parameter
wie:
Erzählebenen,
die
Zeitstruktur,
Perspektivenstruktur
erzählerische
und
Vermittlung,
Fokalisierung,
Verhältnis
Raumdarstellung
der
und
Intertextualität. Abschließend wird noch die Aufmerksamkeit der Einordnung zu der
3
Pohl, Rüdiger: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte.
Stuttgart: W. Kohlhammer 2007, S. 13.
4
Gansel, Carsten; Hernik - Młodzianowska: Armut besteht aus einem seelischen Mangel – Carsten
Gansel und Monika Hernik im Gespräch mit Anne Dorn. Gießen 2008.
2
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Subgattung der fiction of memory geschenkt. Alle diese Verfahren sollten einem Zweck
dienen: Analyse der Inszenierung von Erinnerung in dem Roman „Siehdichum“ von
Anne Dorn. In Schlussbetrachtung sollten die Ergebnisse der Analyse zusammengefasst
werden.
3
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
2. Gedächtnistheoretische Konzepte
2.1. Gedächtnisformen nach Aleida Assmann
2.1.1. Individuelles und Generationen-Gedächtnis
Dieses Kapitel eröffnet den theoretischen Teil der Erwägungen zur Bedeutung des
Gedächtnisses in dem Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn. Ausschlaggebend sind
hier die wissenschaftlichen Arbeiten von Experten auf diesem Gebiet. An erster Stelle
ist Aleida Assmann zu erwähnen. Sie beschäftigt sich seit den 1990er Jahren mit den
Themen Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen. In ihren Beiträgen setzt sie sich
ausführlich mit diesen Phänomenen auseinander und bleibt der Differenzierung
zwischen vier Gedächtnisformen treu. Sie unterscheidet individuelles, Generationen-,
kollektives
und
kulturelles
Gedächtnis.
Die
Grenzen
zwischen
diesen
Gedächtnisformationen überlappen sich, „denn die einzelnen Ebenen durchqueren den
einzelnen Menschen und überlagern sich in ihm“5. Jeder Mensch ist ein Individuum, das
aber gleichzeitig in mehren sozialen Gruppen agiert, in einem bestimmten Zeitpunkt
lebt und einer bestimmten Nation, Religion und Kultur zugehört. In vorliegendem
Kapitel sollen die vier Formen des Gedächtnisses gründlich erfasst werden.
Das individuelle Gedächtnis ist in seiner Gesamtheit einzigartig und unwiederholbar.
Dieses private Gedächtnis bestimmt das Selbst, die Persönlichkeit. In ihren Schriften
stellt Aleida Assmann eigene Bemerkungen in Anlehnung an Theorien von Maurice
Halbwachs und Jan Assmann. Das individuelle Gedächtnis steht in engem
Zusammenhang mit anderen Gedächtnisformen, so wie eine Einzelperson immer unter
Berücksichtigung einer Gruppe, einer Generation, einer Nation, schließlich eines
Kollektivs betrachtet werden soll. Die Wir-Gruppe bildet ein Rahmen für die
Entwicklung eines Ichs6. Das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe und die
individuellen Erinnerungen, die in Beziehungen zu den Erinnerungen der Angehörigen
dieser Gruppe bleiben, prägen die Identität jedes Einzelnen. Bei Aleida Assmann kann
man lesen: Erinnerungen „existieren nicht isoliert, sondern sind mit Erinnerungen
5
Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen. Wissen. Ethik. Jahrgang 13/2002, S.
183-190, hier: S. 184.
6
Vgl. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik.
München: C.H. Beck Verlag 2006, S. 21.
4
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
anderer vernetzt“7. Sie gehören einem Individuum, entstehen jedoch im Prozess der
Interaktion mit den Anderen, die zusätzlich ihre Gültigkeit bestätigen können. In dieser
Hinsicht kann man nach Halbwachs wiederholen, dass ein einsamer Mensch keine
Erinnerungen bilden kann.8 Die Sprache als ein bedeutendes Mittel der Kommunikation
verfestigt die Erinnerungen. Die Sprache und somit auch die Anwesenheit anderer
Menschen gelten als Voraussetzung für die Entwicklung des Gedächtnisses.
Aleida
Assmann
nennt
einige
grundsätzliche
Merkmale
des
individuellen
Gedächtnisses. An erster Stelle weist sie darauf hin, dass sie „perspektivisch und darin
unaustauschbar und unübertragbar sind“9. Jedes Ereignis wird von der Person von
einem bestimmten Standpunkt aus betrachtet. Jedes Individuum klassifiziert es auf
eigene Art und Weise und selbst schreibt diesem die Bedeutung zu. Jede
Wahrnehmungsposition wird zugleich durch zusätzliche Faktoren beeinflusst, wie
Erfahrungen oder Einstellungen.
Als nächstes kommt, dass die Ereignisse oft nur als Bruchstücke im Gedächtnis
behalten werden. Sie sind oft begrenzt und ungeformt. Als Erinnerung werden nur
einzelne Momente, Aussagen, Ereignisse gespeichert. Das Übermaß der zur Zeit des
Geschehens vorkommenden Informationen geht häufig verloren. Die Erinnerungen sind
jedoch
flüchtig,
labil,
vergänglich.10
Behalten
werden
Fragmente,
die
im
Enkodierungsprozess11 ausschlaggebend schienen und eine Struktur erhielten. Sie
können sich durch später auftretende ähnliche Ereignisse verändern. Entweder fluktuiert
ihre Wichtigkeit, oder verändern wir sie selbst, oft unbewusst.12 Aleida Assmann
kommentiert das auf diese Weise: „Durch Erzählen, Zuhören, Nachfragen und
Weitererzählen dehnt sich der Radius der eigenen Erinnerungen aus.“13 Sie unterliegen
ständigem Wandel, werden durch Erzählungen der Anderen bereichert, ergänzt, aus
neuer Sicht betrachtet, bestätigt bzw. korrigiert, mit der wirklichen Wirklichkeit
konfrontiert.
7
Ebd., S. 24.
Vgl. Ebd., S. 25.
9
Ebd., S.24.
10
Vgl. Ebd., S. 25.
11
Enkodierung (nach Tulving) – Vorgang in dessen Verlauf sich ein Geschehen in das Gedächtnis
einprägt. Vgl. Preußler, Warburga: Gedächtnis im Alter: Die Bedeutung des Kontextes für das
episodische Gedächtnis. Dissertation. München 1992.
12
Vgl. Ebd., S.14.
13
Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen. Wissen. Ethik. Jahrgang 13/2002, S.
183-190, hier: S. 185.
8
5
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Neben den fragmentarischen Erinnerungen existieren auch solche, die unzugänglich
sind und die man nicht wachruft. Diese Erinnerungen sind oft mit traumatischen
Ereignissen und Begebenheiten verbunden und deswegen bleiben für längere Zeit
verschlossen. Das erinnernde Subjekt lässt sie nicht auf die Ebene des Bewusstseins
kommen, weil sie für ihn zu schmerzhaft sind. Oft befasst man sich damit erst nach
Jahren. Am Anfang verdrängt, helfen sie bei der Suche nach der eigenen Identität, nach
dem wirklichen Ich, der einmal begraben wurde. Sie sind von Bedeutung, wenn man
sich selbst oder jemand nach der Zeit rechtfertigen will. Erst wenn sie verarbeitet
werden können sie schließlich in Vergessenheit geraten.14
Das Individuum speichert Informationen die nicht nur ihn betreffen. Die privaten
Erinnerungen eines Einzelnen stehen immer in Zusammenhang mit den persönlichen
Erinnerungen anderer Leute. Einige gehören sowohl uns als auch unseren
Familienmitgliedern, Bekannten.15 Noch andere sind durch den Zeitpunkt unseres
Lebens stark geprägt und deswegen auch sogar für ganze Generation repräsentativ und
kongruent. Beispielsweise haben die Leute, die zwischen 1980 - 2000 geboren wurden,
den Tod von Papst Johannes Paul II. stark erlebt und verbinden ähnliche Erinnerungen
mit seiner Person. Er war Papst ihrer Generation, der einzige, den sie kannten und
dessen Predigte sie gehört haben. Obwohl diese jungen, nach 1980 geborenen, Leute
sich niemals getroffen haben, kommemorieren sie dasselbe Erinnerungsvermögen, das
dem Generationen–Gedächtnis zugehört. An dieser Stelle soll auch das soziale
Gedächtnis16 d.h. das Gedächtnis einer Gesellschaft erwähnt werden. Dies
14
Vgl. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und
Geschichtspolitik, a.a.O., S. 24; Sehe zu diesen Fragen vertiefend auch: Schacter, Daniel L.: Wir sind
Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999; Pohl, Rüdiger: Das
autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kohlhammer
2007.
15
Das Familiengedächtnis besteht aus Vergangenheitselementen, die sich auf die Familienmitglieder
beziehen und die in den gemeinsamen Gesprächen vergegenwärtigt werden. Die Inhalte des
Familiengedächtnisses werden nicht gezielt abgerufen, sondern zufällig und beiläufig. Meistens weisen
auf sie hin nicht die direkt Betroffenen, sonder ihre Verwandten, Nachkommen. Durch ´conversational
remembering´ fühlen sie die Familienmitglieder verbunden und glauben, dass sie ein ´gemeinsames
Erinnerungsinventar´ besitzen. Vgl. Welzer, Harald: Das gemeinsame Verfertigen von Vergangenheit im
Gespräch. In: Welzer, Harald (Hg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung.
Hamburg: Hamburger Edition 2001.
16
Das soziale Gedächtnis – eine Definition des sozialen Gedächtnisses liefert Harald Welzer. Nach ihm
sollte man unter sozialem Gedächtnis „eine Gesamtheit der sozialen Erfahrungen der Mitglieder einer
Wir-Gruppe“ verstehen. Dabei erwähnt er vier Medien, die diesen Prozess unterstützen und die indirekt
Bild der Vergangenheit liefern: Interaktion (die auf den kommunikativen Praktiken, Bearbeitung des
Vergangenem in Gesprächen beruht), Aufzeichnungen (Elemente die Spuren der Vergangenheit tragen,
6
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
veranschaulicht die Geschichte zwei amerikanischer Städte: Dallas, wo J.F. Kennedy
und Memphis, wo Martin Luther King ermordet wurden.17. In beiden diesen Städten
wurden die tragischen Erlebnisse erst nach Jahrzehnten überarbeitet. Die dortigen
Gesellschaften brauchten Zeit um der Attentate zu gedenken. Daraus folgt, dass das
Individuum, sein Gedächtnis und Lebensweise nicht nur zeitlich bestimmt sondern auch
durch das Milieu und die dort herrschenden Vorstellungen und Werte beeinflusst sind.
In
diesem
Zusammenhang
kann
auch
die
Rede
von
dem
Einfluss
des
Generationswechsels sein. Dieser findet nach ca. vierzig Jahren statt und verändert die
Werthierachie, Einstellungen und Weltbilder in der betroffenen Gesellschaft.18
Generationen verfügen über gemeinsame Merkmale, die sie oft als einzigartig
erscheinen lassen, beispielsweise die Generation von Leuten die 1924-1927 geboren
wurde (´schuldige Generation der jungen Soldaten´), und deren Angehörigen nicht nur
im vergleichbaren Alter sich befanden, sondern auch durch gleiche Erfahrungen geprägt
wurden.19
Aleida
Assmann
schreibt:
„Generationen
teilen
demnach
„eine
Gemeinsamkeit der Weltauffassung und Weltbemächtigung“20. Dieselben politischen,
kulturellen und sozialen Ereignisse formen das Ich-Bewusstsein Millionen von
Menschen. Sie unterscheiden sich auch markant von Weltanschauungen und
Erfahrungen vorangegangener bzw. nachfolgender Generationen. Das führt zu vielen
Konflikten zwischen den Vertreter einer „alten“ und einer „jungen“ Generation.
Darüber hinaus ist noch zu bemerken, dass es eine besondere Lebensphase gibt, deren
Folgen sogar nach vielen Jahren sichtbar sind. Man geht davon aus, wiederholend nach
Karl Mannheim, dass:
“Individuen im Alter von 12 bis 25 Jahren für lebensprägende Erfahrungen
besonders aufnahmefähig sind. Man nimmt an, dass da, was in diesem Zeitraum
erlebt wurde für die Persönlichkeitsentwicklung einschneidender ist und tiefere
beispielhalber alte Briefe, Kriminalromane aus den dreißiger Jahren), Bilder (d.h. Fotos oder Filme, die
´im Hintergrund´ Vergangenheitselement implizieren), und schließlich Räume (durch Architektur, durch
das Äußere der Städte u.a. wird absichtslos die Geschichte vermittelt). – Vgl. Welzer Harald: Das soziale
Gedächtnis. In: Welzer, Harald (Hg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung.
Hamburg: Hamburger Edition 2001, S. 9-21, hier: S. 15-18.
17
Sehe: Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen. Wissen. Ethik. Jahrgang
13/2002, S. 183-190, hier: S. 185.
18
Vgl. ebd.
19
Assmann, Aleida: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Stuttgart: Deutsche VerlagsAnstalt 1999, S. 40.
20
Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen. Wissen. Ethik. Jahrgang 13/2002, S.
183-190, hier: S. 186.
7
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Spuren im Gedächtnis hinterlässt als das, was im höherem Alter zu verarbeiten
ist.“21
Dieser Theorie folgend sind ein Individuum und seine ganze Generation durch die
Ereignisse der Jugendphase bestimmt. Die Geschehnisse, die in diesem Lebensabschnitt
vorkommen sind für den späteren Charakter relevant und folgereich. Generationen, die
daran nicht beteiligt waren, können das nicht verstehen. Sie betrachten das aus einem
anderen Standpunkt.
2.1.2. Kollektives vs. kulturelles Gedächtnis
Das kollektive Gedächtnis stellt eine dritte Stufe in der Hierarchie von Aleida Assmann
dar und dementsprechend ist es umfangreicher als die gerade analysierenden
Gedächtnistype. Das Hauptproblem, von dem man ausgeht, besteht darin, dass
„Institutionen und Körperschaften wie Nationen, Staaten, die Kirche oder eine Firma
kein Gedächtnis `haben` sondern sich eines `machen`“22. Da sie, also diese
Institutionen, als solche nur dank den Menschen existieren, müssen diese Menschen zu
Trägern dieser Gedächtnisform eingeschworen werden. Das Vorhandensein von
kollektiven Erinnerungen geschieht aufgrund von Medien, die das ermöglichen. Aleida
Assmann zählt zu Medien des kollektiven Gedächtnisses unter anderem Texte, Bilder,
Ritten, Praktiken, Symbole, Orte und Monumente. Ebenfalls weist Astried Erll auf den
medialen Charakter vom Gedächtnis:
„Die Konstitution und Zirkulation von Wissen und Versionen einer
gemeinsamen Vergangenheit in sozialen und kulturellen Kontexten […]werden
überhaupt erst durch Medien ermöglicht: durch Mündlichkeit und Schriftlichkeit
als uralte Basismedien zur Speicherung fundierender Mythen für Nachfolgende
Generationen, durch Buchdruck, Radio, Fernsehen und Internet zur
Transmission von Versionen gemeinschaftlicher Vergangenheit in weiten
Kreisen der Gesellschaft, schließlich durch symbolträchtige Medien wie
Denkmäler als Anlässe des kollektiven, oft ritualisierten Erinnerns.“23
Das kollektive und individuelle Gedächtnis besitzen einige gemeinsame Merkmale, und
zwar beide Gedächtnisformen sind perspektivisch organisiert. Sowohl Individuen als
21
Ebd., S. 185.
Ebd., S. 186.
23
Erll, Astried: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Erll, Astried; Nünning, Ansgar
(Hrsg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und
Anwendungsperspektiven. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2005, S.251.
22
8
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
auch Kollektive selektieren ihre Erinnerungen und selbst bestimmen, was vergessen
sein kann bzw. sein sollte und was nicht. Zum Kollektiv vereinigen sich die Einheiten –
die Individuen – wenn sie ein gemeinsames Ziel erreichen wollen. Die positiven Effekte
solcher Zusammenarbeit, also z.B. der Sieg, bleiben tief in dem kollektiven Gedächtnis
verankert, die Niederlage bleibt dagegen eher verschwiegen. Dasselbe betrifft das
Kollektiv als Opfer oder Täter, wobei hier der Grad der Selektion besonders zum
Vorschein kommt, denn selbstverständlich erinnert man sich lieber an eigenes Leid als
an eigene Schuld. An dieser Stell soll noch zugegeben werden, dass das Individuum als
Opfer eher zum Vergessen der Trauma tendiert und seine Erfahrungen erst dann zum
kollektiven Opfererinnerungen werden, wenn sowohl es als auch die anderen
Betroffenen gesellschaftliche Anerkennung finden. Darüber hinaus entwickelt sich
zwischen den Opfern und Tätern auf der kollektiven Ebene ein Faden der
Wechselbeziehung, denn die beiden Seiten sehen sich beim Erinnern zu und betrachten
kritisch.
Das kollektive Gedächtnis, obwohl es sich an einigen Stellen mit dem individuellen
überquert, unterscheidet es sich auch wesentlich von diesem. Aleida Assmann definiert
diese Differenzen folgender Weise: „Es ist nicht auf Vernetzung, Anschlussfähigkeit
und gegenseitige Bestätigung angelegt […]. Es ist auch nicht bruchstückhaft
fragmentiert […]. Schließlich existiert es nicht als ein labiles und flüssiges Gebilde.“24
Diesen Feststellungen zufolge kann das kollektive Gedächtnis isoliert betrachtet
werden. Darüber hinaus kann es eine andere Konzeption vom Gedächtnis zu den
vorherrschenden kollektiven Erinnerungen darbieten. Die kollektiven Erinnerungen
müssen nicht in der Interaktion nachgewiesen werden, denn schon die Tatsache, dass sie
für ein Kollektiv gelten, kann man als ihre Bestätigung annehmen. Das kollektive
Gedächtnis ist auch umfangreicher und stabiler als das individuelle Gedächtnis, denn es
unterliegt keinen biologischen Veränderungen, wie es bei dem menschlichen
Gedächtnis der Fall ist. Sie geraten auch nicht in Vergessenheit. Die Inhalte des
kollektiven Gedächtnisses sollen über Generationen hinweg erhalten bleiben.25
24
Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen. Wissen. Ethik. Jahrgang 13/2002, S.
183-190, hier: S. 186.
25
Vgl. Ebd.
9
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Die vierte und zugleich die letzte Stufe in Assmannscher Gliederung des Gedächtnisses
stellt das kulturelle Gedächtnis dar, das so wie die vorherige Formation „Erfahrungen
und Wissen über die Generationenschwelle transportieren und damit ein soziales
Langzeitgedächtnis auszubilden“ soll.26 Das kulturelle Gedächtnis unterscheidet sich
von dem kollektiven nicht nur durch die temporale Verlängerung sondern vor allem
durch den Bezug zum Vergangenen.27 Beim kulturellen Gedächtnis beobachtet man
eine „permanente Tendenz zur Entfernung vom lebendigen Bewusstsein“28. Alle
Bestände des kulturellen Gedächtnisses (Texte, Bilder, Plakette, Skulpturen,
Gedenktage, Feste, Rituale, Bräuche) werden durch Konservierung und Schutz erhalten.
Erst aber durch subjektive Perzeption, durch Wahrnehmung einzelner Menschen
können diese als Elemente des kulturellen Gedächtnisses angesehen werden. 29 Eine
wichtige Rolle spielen dabei Bildungsinstitutionen, die das kulturelle Wissen an die
Individuen durch mediale Überlieferung vermitteln.
Sogar wenn die biologischen Träger von Erinnerungen nicht mehr leben, gehen ihre
Erfahrungen nicht ganz verloren. Sie können sogar über Jahrzehnte konserviert werden.
Entweder sind sie in dem Familiengedächtnis bzw. kommunikativen Gedächtnis30
behalten und durch Gegenstände und Gespräche gestützt, oder gelangen sie in Museen
und Archiven, als materielle Überreste. In diesem Sinne werden jedoch nicht nur
Erinnerungen einzelnen Menschen sondern auch ganzer Generation gespeichert.31
In Bezug auf diese fixierten Lebenserfahrungen unterscheidet man im Rahmen des
kulturellen Gedächtnisses das Funktions- und Speichergedächtnis, wobei die Grenze
zwischen ihnen nicht fest und `hermetisch` ist. Dieser Differenzierung
liegt der
26
Vgl. Ebd., S. 189.
Fauser, Markus: Einführung in die Kulturwissenschaft. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
2006, S.128.
28
Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen. Wissen. Ethik. Jahrgang 13/2002, S.
183-190, hier: S. 189.
29
Vgl. Ebd.
30
Das kommunikative Gedächtnis bildet eine Zwischenstufe zwischen dem individuellen und kulturellen
Gedächtnis in Klassifikation nach Jan Assmann. „Das kommunikative Gedächtnis umfasst Erinnerungen,
die rezente Vergangenheit beziehen. Es sind dies Erinnerungen, die der Mensch mit seinen Zeitgenossen
teilt. Der typische Fall ist das Generationen-Gedächtnis. Dieses Gedächtnis wächst der Gruppe historisch
zu, es entsteht in der Zeit und vergeht mit ihr, genauer, mit seinen Trägern.“ (Assmann, Jan: Das
kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München:
Verlag C.H. Beck 2005).
31
Vgl. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und
Geschichtspolitik, a.a.O., S.51-54.
27
10
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
„Austausch zwischen Speicherformen und gelebter Kommunikation“32 zugrunde.
Bestandteile des Speichergedächtnisses, d.h. alle verballen sowie visuellen Dokumente,
die als Überreste vergangener Epochen überdauerten, sind einzige Verbindung
zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart.33 „Das Speichergedächtnis ist das
kulturelle Archiv […]”34, das den passiven Teil des kulturellen Gedächtnisses bildet.
Die Elemente des Funktionsgedächtnisses sind vor dem Vergessen aufbewahrt, bleiben
unverändert. „Diese Artefakte sind durch Verfahren der Auswahl und Kanonisierung
hindurchgegangen, was ihnen einen Platz im aktiven und nicht nur passiven kulturellen
Gedächtnis einer Gesellschaft sichert.“35
Wie lange das kulturelle Gedächtnis dauern wird, ist davon abhängig, wie lange man es
unterstützen wird. Die ungepflegten Erinnerungen sterben schnell aus. Ein Beispiel
dafür liefert Carsten Gansel in seinem Artikel “Was uns im Gedächtnis bleibt“. Er
signalisiert, dass die Erinnerung an DDR nur in individuellem Gedächtnis der DDRBürger präsent ist. Das offizielle, kulturelle Gedächtnis DDR ist nicht mehr vorhanden,
denn das kulturelle Gedächtnis „existiert nur so lange, wie die Macht, die es stützt, von
Dauer ist“36.
2.2. Das Autobiographische Gedächtnis
2.2.1. Die Prägung der Erinnerungen in der Kindheit und in der Adoleszenz
In diesem Kapitel soll dargelegt werden, was für Leistungen des menschlichen
Gedächtnisses im Allgemeinen zustande kommen, und wie sie sich im Laufe des
Lebens entwickeln. Der Fokus fällt auf das autobiographische Gedächtnis, seine
Merkmale und den lebensprägenden Charakter.
Wie ist es möglich, dass man sich während einer Vorlesung nur selten an den gerade
gehörten Satz genau erinnert? Nach wenigen Sekunden oder Minuten weiß man nur
noch die wichtigsten (subjektiv gesehen) Tatsachen, Stichwörter und zum Schluss des
Vortrags bzw. schon nach wenigen Stunden kann man nur die Schlussfolgerungen und
32
Fauser, Markus: Einführung in die Kulturwissenschaft, a.a.O., S.129.
Vgl. Aleida, Assmann: Geschichte, Gedächtnis, Identität.
http://www.ustinov.at/archiv/assmann_lv1.htm (Letzter Zugriff am 14. Juni 2009).
34
Ebd.
35
Ebd.
36
Carsten Gansel: Was uns im Gedächtnis bleibt. In: Nordkurier, 17./18. Juni 2007, S. 3.
33
11
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
den
Leitfaden
des
Vortrags
erklären.
Diese
Erscheinung
versuchen
die
Gedächtnisforscher mit Hilfe des Mehrspeichermodells37 zu erörtern. Dieses Modell
besteht aus dem Ultrakurzzeitgedächtnis, dem Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnis (KZG)
und dem Langzeitgedächtnis (LZG). Die Informationen gelangen stufenweise durch
Ultrakurzzeitgedächtnis und KZG ins LZG. Da die Kapazität der einzelnen
Gedächtnistypen unterschiedlich ist, begleitet den Übergang der Informationen von
einem zu dem anderen Typ (die Speicherung) immer ein Filtrationsprozess.38 In
Rahmen des Langzeitgedächtnisses unterscheidet man deklaratives – darunter auch
episodisches und semantisches Gedächtnis - und prozedurales Gedächtnis. Auf die
Merkmale dieser beiden Gedächtnistypen deutet Pohl hin:
„Unter deklarativem Wissen ist das Faktenwissen zu verstehen, das Personen im
Gedächtnis gespeichert haben, das sie sich bewusst machen können und das sie
in der Regel zu verbalisieren vermögen. Prozedurales Wissen bezieht sich auf
die kognitiven Mechanismen, die Personen dazu in die Lage versetzen,
komplexe kognitive und motorische Handlungen durchzuführen, ohne dabei die
einzelnen Bestandteile dieser Handlungen bewusst kontrollieren zu müssen.“39
Das deklarative Wissen basiert also auf dem was man gehört bzw. gelesen hat, das sind
eher theoretische Fähigkeiten. Dagegen das prozedurale Wissen offenbart sich in
verschiedenen praktischen Fertigkeiten, beim Problemlösen, beim Trinken oder beim
Schwimmen. Man kontrolliert die einzelnen Schritte nicht, sondern macht sie
unbewusst. Vorher musste man aber viel Zeit in ihre Einübung investieren.
Das deklarative Gedächtnis ist ein Oberbegriff für episodisches und semantisches
Gedächtnis. Was unterscheidet diese zwei Formen voneinander? In erstem Fall hat man
mit den persönlichen Erinnerungen zu tun, die der Erinnernde selbst erlebt hat und
denen zeitliche Rahmen ihm bekannt sind. In dem zweiten dagegen handelt es sich um
das allgemeine Wissen, das man einmal erworben hat, das es für viele Personen typisch
37
Das Mehrspeichermodell geht auf Atkinson und Shiffrin zurück. Sie haben nämlich versucht
Speicherungsprozesse im Gehirn schematisch zu beschreiben. Das Ultrakurzzeitgedächtnis beschränkt
sich auf wenige Sekunden. Im Kurzzeitgedächtnis dagegen werden die Informationen für Minuten
gespeichert. Das KZG ist im Stande schnell neue Elemente zu kodieren, da es aber flüchtig ist, gehen sie
oft verloren. Diejenigen Informationen, deren Bedeutung für das Individuum relevant ist, gelangen ins
Langzeitgedächtis und bleiben dort dauerhaft, sogar das ganze Leben lang, gelagert. Vgl. Schönpflug,
Wolfgang; Schönpflug, Ute: Psychologie. Allgemeine Psychologie und ihre Verzweigungen in die
Persönlichkeits-, Entwicklungs- und Sozialpsychologie. Ein Lehrbuch für das Grundstudium. Weinheim:
Beltz-Psychologie –Verlag - Union 1997, S. 214-254, hier S.238-243.
38
Vgl. Pohl, Rüdiger: Das autobiographische Gedächtnis, a.a.O., 2007, S. 17.
39
Oswald, M & Gadenne, V.: Wissen, Können und Künstliche Intelligenz: Eine Analyse der Konzeption
des deklarativen und prozeduralen Wissens. Sprache und Kognition, 3. 1984, S. 173, zitiert nach: Pohl,
Rüdiger: Das autobiographische Gedächtnis, a.a.O., S. 20.
12
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
ist und dessen Eineignung mit keinem konkreten Datum in Verbindung gesetzt sein
kann.40
Viele Forscher setzen die deklarativen Gedächtnisformen mit dem autobiographischen
Gedächtnis in Verbindung. Die Inhalte des autobiographischen Gedächtnisses weisen
immer einen Selbstbezug auf.41 Dabei sollte man „zwischen dem Selbst als
Erfahrendem und dem Selbst als Gegenstand der Erfahrung“42 diferenzieren. Wenn man
etwas indirekt erfahren hat, z.B. im Fernseher gesehen hatte, dann sind das keine
autobiographische Erinnerungen sondern ´narrative Erinnerungen´. Dagegen wenn man
unmittelbar an den Ereignissen teilnimmt gelangen diese in das autobiographische
Gedächtnis, denn ihre Bedeutung ist für die betroffene Person relevanter. Zu den
wichtigsten Merkmalen autobiographischer Erinnerungen gehört die Tatsache, dass sie
vor allem dieselben Emotionen wachrufen, die zur Zeit des Geschehens vorhanden
waren. Solche Erinnerungen werden nicht nur durch die ursprünglichen Gedanken und
Gefühle begleitet, sondern sie erscheinen visualisiert und stehen lebendig vor den
Augen. Man erinnert sich sogar ziemlich genau an die Zeit und den Ort des Geschehens
und ist sich sicher, das Erinnernde selbst erlebt zu haben. Die autobiographischen
Erinnerungen sind oft komplex, mit vielen Einzelheiten und können sogar für
Jahrzehnte behalten werden.43
In einem Interview für „Gehirn & Geist“ postulierte Hans Joachim Markowitsch: „Sich
an die eigene Biographie zu erinnern, heißt zu wissen, wie man eine bestimmte
Situation erlebt und wie man sich gefühlt hat.“44 Diese Überlegung weist erneute auf
den selbstbezogenen bzw. ichbezogenen Charakter dieser Erinnerungsformation. Die
autobiographischen Erinnerungen umfassen unterschiedliche Themen aus dem Leben
der erinnernden Person. Die Gedächtnisforscher versuchen sogar Kategorien für die
autobiographischen Erinnerungen zu konstruieren, wie z.B. Kindheitserinnerungen,
Leben zuhause, Schule und Beruf, Kennen lernen und Heiraten, Verwandten und
Freunde.45 Das Erinnern an sich selbst erfolgt unterschiedlich und ist von der
40
Vgl. Pohl, Rüdiger: Das autobiographische Gedächtnis, a.a.O., S. 18f.
Vgl. Ebd., S. 44f.
42
Baddeley, A.D.: What is autobiographical memory? In: M.A. Conway, D. C. Rubin, H. Spinnler &
W.A. Wagenaar (Hrsg.), Theoretical perspectives on autobiographical memory (S. 13-29). Dordrecht:
Kluwer. 1992, zitiert nach: Pohl, Rüdiger: Das autobiographische Gedächtnis, a.a.O., S.45.
43
Vgl. Pohl, Rüdiger: Das autobiographische Gedächtnis, a.a.O., S. 45f.
44
Manuela Lenzen: Die Sache mit dem geblümten Kleid. In: Gehirn & Geist, Heft 5/2005. S. 48.
45
Vgl. Pohl, Rüdiger: Das autobiographische Gedächtnis, a.a.O., S. 65.
41
13
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Lebensphase abhängig, auch wenn es immer wieder dieselben Kategorien wachgerufen
werden. Die Veränderungen des Gehirns, die im Laufe des Lebens stattfinden, bleiben
nicht ohne Einfluss auf das Gedächtnis und seine Leistungen. Die Zielsetzung dieses
Kapitels ist aber nicht diese biologischen Veränderungen exakt darzustellen, eher ihre
Auswirkungen für den Erinnerungsprozess.
Harald Welzer weist auf eine allgemein bekannte Tatsache, dass man sich nicht in
jedem Lebensalter auf dieselbe Art und Weise erinnert. Das autobiographische
Gedächtnis beginnt im dritten Lebensjahr. Die Ereignisse die vor dieser Zeit passierten
bleiben nicht erhalten.46 Hervorzuheben ist, dass die Kinder oft die Quelle ihrer
Erinnerungen verwechseln und oft nicht sicher sind, was sie wirklich selbst erlebt
haben. Dies wird mit dem noch nicht völlig entwickelten selbstbezogenen Gedächtnis
erklärt. Die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses wird erst zum Ende der
Adoleszenz vollständig.47 In der Zeit der adoleszenten Entwicklung stehen vor dem
jungen Menschen zahlreiche Aufgaben, deren Bewältigung für jede Person sich selbst
zu bestimmen bzw. seine Identität zu konstituieren heißt. Im Zusammenhang damit
betont Werner Bohleber:
„[…] das Ziel [besteht – D.B.] in einer zweiten `Individuation`. Wie immer man
dieses `Streben des Ichs nach Einheitlichkeit` (Freud 1923a, S.274) begrifflich
ausformen mag, die Identitätsbildung ist die Hauptaufgabe der adoleszenten
Entwicklung. […] Von Außen her bestehen Anforderungen, sich zu definieren,
Rollen zu übernehmen, einen Beruf zu wählen und Beziehungen einzugehen.“48
Der Übergang von der Adoleszenz ins Erwachsenalter steht immer in Verbindung mit
gesellschaftlichen Forderungen. Die neue Situation bleibt nicht ohne Einfluss auf das
Leben junger Menschen. Früheres Erwachsensalter assoziiert jeder mit besonderen
Szenen, die unter dem Motto „erstmalige Erlebnisse“49 zusammengefasst wurden. Sie
sind für diese lebensprägenden Phasen von besonderer emotionaler Bedeutung und
bleiben sogar nach der Adoleszenzzeit im Gedächtnis behalten. „Sie prägen den
Lebenslauf eines Menschen, sein Verhalten, seine Einstellungen und sein Verständnis
46
Sehe zu diesen Fragen beispielsweise Kindheitsamnesie bei Pohl, Rüdiger: Das autobiographische
Gedächtnis, a.a.O., S. 108-118.
47
Vgl. Welzer, Harald: Kriege der Erinnerung. In: Gehirn & Geist, Heft 5/2005. S. 44.
48
Bohleber, Werner: Einführung in die psychoanalytische Adoleszenzforschung. In: Bohler, Werner
(Hrsg.): Adoleszenz und Identität. Stuttgart: Verlag Internationale Psychoanalyse 1996, S. 9.
49
erstmalige Erlebnisse – z.B. der erste Schultag, die erste Freundin, Verlassen des Elternhauses, die erste
Arbeit – vgl. Pohl, Rüdiger: Das autobiographische Gedächtnis, a.a.O., S. – Kapitel 3.2 Erstmalige
Erlebnisse, S. 69-72.
14
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
der Welt um ihn herum.“50 Dies bezüglich kann man erneut auf Aleida Assmann und
ihre Feststellung hinweisen, dass die Zeit zwischen dem 12 und dem 25 Lebensjahr dem
Individuum ein besonderes Gepräge verleiht. Nicht überraschend klingen also die
Schlussfolgerungen, dass sich bei einer älteren Person deutlich mehr Erinnerungen aus
dem jüngeren Erwachsensalter - im Vergleich zu späteren Lebensphasen - finden.
2.2.2. Gedächtnis im Alter
Mit etwa 35 Jahren also schon im mittleren Erwachsensalter versucht man sein eigenes
Leben und eigene Leistungen per distance zu beurteilen. Man stellt sich Fragen nach der
Richtigkeit des gewählten Weges und nach den neuen Zielen, die man vor sich selbst
noch stellen kann.51 Diese kritische Phase verschärft sich mit dem Alter. Durch die
`Lebensrückschau` (Pohl) versucht man die Bilanz aus dem eigenen Leben zu ziehen
und sich mit dem eigenem Selbstkonzept auseinanderzusetzen. Pohl beschreibt das auf
folgende Weise: „Das Hauptziel der Lebensrückschau besteht darin, die Vergangenheit
in ein zufrieden stellendes Ganzes zu integrieren“52. Solche Maßnahmen können für ein
erfolgreiches Leben im hohen Alter hilfreich sein. Resultate dieser Auseinandersetzung
mit der eigenen Geschichte können folgendermaßen sein:
„Wenn diese Revision erfolgreich abgeschlossen werden kann, erscheint das
eigene Leben integrer und kohärenter als es vielleicht war. Wenn die Revision
allerdings zu einem negativen Resultat führt, können gravierende psychische
Störungen die Folge sein.“53
Solche Reflexionen stellt man am häufigsten in solchen Lebensphasen an, „in denen ein
stabiler alter Zustand verlassen wird und ein neuer gefunden werden muss“54. Damit
aber eine solche Revision überhaupt möglich wäre muss man sich zuerst an das
Vergangene und weit Zurückliegende erinnern und dies scheint für einen 70jährigen
Menschen nicht immer einfach zu sein. Abgesehen von alterstypischen Krankheiten wie
z.B. Alzheimer muss hier die natürliche, im Alter auftretende, Demenz berücksichtigt
werden. Die durchgeführten Studien zeigen, „dass die meisten Erinnerungen (über 50%
50
Ebd., S. 69.
Vgl. Ebd., S. 101.
52
Ebd., S. 136.
53
Ebd., S. 102.
54
Ebd., S. 137.
51
15
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
von insgesamt 1200) aus den letzten wenigen Jahren stammten.“55 Andere
Untersuchungen lassen „eine Häufung der genannten Ereignisse zwischen 15 und 30
Jahren“ erkennen56. Daraus kann man folgende Schlussfolgerungen ziehen, und zwar
die Erinnerungen lassen sich in drei Kategorien aufteilen. Die erste umfasst die jüngsten
Ereignisse, so ungefähr die letzte Lebensspanne. Dann kann man eine Akkumulation
von Erinnerungen aus dem Alter von 15-30 Jahren beobachten. Als dritte Kategorie
bezeichnet man die infantile Amnesie in den ersten 3-5 Jahren.57 Somit sind auch die
verschiedenen Lebensabschnitte nicht gleichmäßig in der Rückerinnerung vertreten.
Darüber hinaus ist anzumerken, dass die Erinnerungen an die länger zurückliegenden
Episoden stabiler, dauerhafter, fester und reichhaltiger erscheinen, als solche die kurz
zuvor passierten.58
Die Untersuchungen vor allem älteren Menschen liefern Informationen zu den
verschiedenen Reminiszenz-Typen, d.h. sie lassen die Kategorien der persönlich
bedeutsamen Erinnerungen erstellen.59 Man hat die Reminiszenzen der befragten
Senioren in sechs Gruppen gegliedert: integrative, also diejenigen, die die
Lebensgeschichte kohärent und integrativ erscheinen lassen; instrumentelle, also solche,
die „frühere Pläne, zielgerichtete Aktivitäten, das Erreichen von Zielen, Versuche,
Probleme zu lösen, und das Lernen aus vergangenen Erfahrungen“60 einbeziehen. Die
dritte Erinnerungsgruppe bilden die transmissiven Erinnerungen, die mit der Weitergabe
von Erfahrungen verbunden sind. Jeder aus eigner Erfahrung kann bezeugen, dass ältere
Menschen oft und gern ihr Leben erinnern. Wer hat nicht gehört, wie die älteren
Personen, die Großeltern ihre Lebensgeschichte bzw. die Jugenderfahrungen und die
Zeit des zweiten Weltkriegs in Erzählungen verraten? Auf die Gründe dieser Rückschau
verweist Pohl noch mal anlässlich der Beschreibung von Funktionen des
autobiographischen Erinnerns:
„Ältere Menschen berichteten häufiger über Aktivitäten des zielgerichteten
Nachdenkens über ihr Leben, um ihre Erfahrungen zu integrieren und zu einer
Lebensbilanzierung zu gelangen, während jüngere Menschen die
55
Ebd., S. 104.
Ebd.
57
Vgl. Ebd., S. 105.
58
Vgl. Welzer, Harald: Kriege der Erinnerung. In: Gehirn & Geist, Heft 5/2005. S. 44.
59
Vgl. Pohl, Rüdiger: Das autobiographische Gedächtnis, a.a.O., S. 120.
60
Ebd., S. 122.
56
16
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Lebensrückschau eher dazu verwenden, mehr über sich herauszufinden oder
Lösungen für aktuelle Probleme zu finden.“61
Als nächstes kommen die defensiven Erinnerungen, die die Vergangenheit übertrieben
idealisieren, und die obsessiven Erinnerungen, die immer wieder bei der betroffenen
Person auftauchen und mit den Schuldgefühlen zu erklären sind. Als letzte nennen die
Forscher die narrativen Erinnerungen, d.h. alle autobiographischen Fakten, wie Geburt,
Einschulung u.ä.62 Diese Reminiszenzarten lassen sich mit dem erfolgreichen bzw. nicht
erfolgreichen Altern in Verbindung setzten, so dass „die Häufigkeit integrativer und
transmissiver Erinnerungen positiv mit erfolgreichem Altern korrelieren sollte, während
die Häufigkeit obsessiver Erinnerungen eher mit nicht erfolgreichem Altern korrelieren
sollte“63.
Die Speicherung und der Abruf von Informationen sind von dem Zustand der
betroffenen Person abhängig. Darunter sollte jedoch nicht nur die Stimmung sondern
auch das Alter verstanden werden. Die Ursachen dafür, dass sich das Gedächtnis
altersabhängig verändert, können unterschiedlich sein. Zum einen nimmt man mit dem
zunehmenden Alter immer mehr Informationen auf. Zum anderen ist das Gehirn immer
weniger in der Lage, alle Informationen mit der gleichen Präzision festzuhalten.
Außerdem bilden die gespeicherten Episoden neue Verknüpfungen zu den bereits
existierenden, und jeder Abruf setzt eine erneute Speicherung in Gang.64
3. Erinnerung und Gedächtnis in der Literatur
3.1. Literatur als Gedächtnismedium
Markus Fauser schreibt: „Man braucht ein Medium, das Erfahrung und Wissen
speichert, transportiert und den wachsenden Bestand an komplexen symbolischen
Formen zentral organisiert.“65 Die Rolle eines solchen Mediums erfüllt unter anderem
die Literatur. Dank der Möglichkeit der Auslagerung von Wissen über die Erfahrungen
und Erinnerungen können diese überdauern. Man kann die Literatur als eine Art
Speicher betrachten, der vor dem Vergessen schützt. Man geht davon aus, dass
61
Ebd., S. 138.
Vgl. Ebd., S. 122.
63
Ebd.
64
Markowitsch, H.J.; Welzer, Harald: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen
und biosoziale Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta 2005, S. 241.
65
Fauser, Markus: Einführung in die Kulturwissenschaft, a.a.O., S. 128.
62
17
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
„literarische Werke auf die außertextuelle kulturelle Wirklichkeit Bezug nehmen und
sie im Medium der Fiktion beobachtbar machen“66. Zur Darstellung kommen sowohl
Inhalte des individuellen Gedächtnisses als auch des kulturellen und kollektiven. In dem
ersten Fall kann es sich um das Verhältnis zwischen dem erlebenden und dem
erzählenden ich handeln, wo dir frühere Erfahrungen einer Person durch diese
retrospektiv geschildert werden. Auf der kulturellen Ebene werden Texte zu
„Speichermedien des kulturellen Funktionsgedächtnisses“67.
Sowie diese Gedächtnisformen ist auch das kollektive Gedächtnis ohne Medien nicht
denkbar. Durch die Texte werden oft die individuellen Erinnerungen zu Elementen des
kollektiven Gedächtnisses. Auf dieses Phänomen weist Astried Erll indem sie schreibt:
„So können persönliche Erinnerungen erst durch mediale Repräsentation und
Distribution zu kollektiver Relevanz gelangen. Das wird besonders deutlich am
Beispiel von Zeit- und Augenzeugen. Nur durch Interviews oder die
Veröffentlichung von Briefen werden deren Erfahrungen zu einem Element des
kollektiven Gedächtnisses.“68
Die
Literatur
und
das
Gedächtnis
überqueren
sich
an
mehreren
Stellen.
Gedächtnisinhalte findet man in Verdichtung, Narration und selbst in dem
Gattungsmuster. Als Verdichtung bezeichnet man Verfahren, die Elemente der
Vergangenheit in die Literatur involvieren. Die vergangenen Ereignisse können im Text
direkt, also durch unmittelbare Wiedergabe von Geschehnissen, oder indirekt
erscheinen, d.h. in Form von bestimmten Bildern oder Topoi, die von den Rezipienten
entschlüsselt werden sollen. Beispielsweise die Schilderung von zwei rauchenden
Türmen ruft ins Gedächtnis die terroristischen Attentate in den USA.
69
In narrativen
Prozessen werden die Erinnerungen konfiguriert und zu einer sinnhaften Geschichte
zusammengefügt. „Erst die Narrativisierung vom historischen Geschehen oder
pränarrativen Erfahrungen zu einer Geschichte ermöglicht deren Deutung.“70
Wenn man aber aus einem anderen Blickwinkel auf die Beziehung zwischen Literatur
und Gedächtnis schaut, dann zeigt sich, dass die literarischen Texte nicht nur an die
kulturellen bzw. historischen Geschehnisse erinnern, sondern auch an Literatur selbst.
66
Erll, Astried: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart, Weimer: Metzler 2005, S. 71.
Erll, Astried: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses, a.a.O., S. 262.
68
Erll, Astried: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 123.
69
Ebd., S. 144.
70
Ebd., S. 145.
67
18
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Man versteht darunter, dass im literarischen Werk durch intertextuelle Bezugnahmen an
vorgängige Texte erinnert wird.71 Fast jedes Werk knüpft an ein anderes. Diese
Anknüpfung an andere Texte kann nicht nur durch Zitate oder bloße Anspielung
erscheinen. Das kann schon in dem Titel markiert werden, z.B. „Die neuen Leiden des
jungen W.“ von Ulrich Plenzdorf erinnern an „Die Leiden des jungen Werthers“ von
Goethe.
Da die Vergangenheit in literarischen Inszenierungen oft eine zentrale Rolle spielt, ist
die genaue Untersuchung dieses Aspektes nicht zu unterschätzen. Einerseits soll man
auf die literarischen Gattungen hinweisen, die sich mit dem Thema Erinnerung und
Gedächtnis auseinandersetzen. Zu erwähnen sind hier nicht nur historische Romane
sondern auch die neue Gattung - fictions of memory. Andererseits sind unterschiedliche
textuelle Verfahren zu beachten, die einen Text mehr oder weniger als ein
Gedächtnismedium
erscheinen
lassen.
Anzunehmen
ist,
dass
„bestimmte
Ausdrucksformen die Leserschaft dazu verleiten können, die literarischen Texte gemäß
denjenigen kognitiven Schemata […] zu rezipieren, die auch bei Prozessen kollektiven
Erinnerns zur Anwendung kommen“72. Astrid Erll präzisiert diesen Faktor noch
genauer, indem sie schreibt:
„Dass und wie literarische Werke von der Leserschaft als Medien
funktionalisiert werden, scheint daher auch in gewissem Masse auf die Rhetorik
des Textes zurückführbar zu sein. Die Aktualisierung eines literarischen Textes
als Gedächtnismedium kann durch eine Strategie provoziert werden, die im
Folgenden >Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses< genannt werden soll.“73
Ihrer Differenzierung nach gibt es fünf Modi der Rhetorik des kollektiven
Gedächtnisses,
und
zwar:
erfahrungshaftigen,
monumentalen,
historisierenden,
antagonistischen und reflexiven74 Modus.
Wie man sieht, ist das Verhältnis zwischen Literatur und Gedächtnis sehr eng. Die
Literatur ist zweifelsohne eines, der besten Medien zur Überlieferung von
71
Vgl. Fausner, Markus: : Einführung in die Kulturwissenschaft, a.a.O., S. 144.
Erll, Astried: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 168.
73
Ebd.
74
Reflexiver Modus – offenbart sich in der Literatur als Möglichkeit der ´erinnerungskulturellen´
Selbstbeobachtung. Durch die Schilderung verschiedener Probleme und Funktionsweisen des kollektiven
Gedächtnisses wird die Literatur zum Medium der kollektiven Beobachtung, woran die Leser teilnehmen.
Vgl. Erll, Astried: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses, a.a.O., S. 269. Sehe zu dem
reflexiven Modus vertiefend noch: Erll, Astried: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen,
a.a.O., S. 184-191. (Da der reflexive Modus für weitere Arbeitsteile nicht konstruktiv ist, wird auf seine
genaue Erfassung verzichtet).
72
19
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Vergangenheit. In folgenden Teilen der Arbeit werden die Schnittpunkte der Literatur
und des Gedächtnisses tiefer erläutert.
3.2. Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses nach Astrid Erll –
3.2.1. Erfahrungshaftiger vs. monumentaler Modus.
Die Literatur ist nicht nur ein Medium des kollektiven sondern auch des
kommunikativen und des kulturellen Gedächtnisses. Sie ist beteiligt an der Mitformung
und Vermittlung der Kultur, sowie an der Identitätsbildung von Generationen, wodurch
sie einen Ausgleich zwischen ihnen schafft. Da die literarischen Texte Affinitäten zu
beiden Basis-Registern kollektiven Erinnerns aufweisen, d.h. sie basieren auf dem
kommunikativen und bzw. oder auf dem kulturellen Gedächtnis, lässt den Schluss zu,
dass sie erfahrungshaftig und/ oder monumental sind75.
Je nach dem welche Themen und mit Hilfe welcher ästhetischer Verfahren sie inszeniert
werden, lassen sich die literarischen Texte entweder zu dem erfahrungshaftigen oder zu
dem monumentalen Modus zuordnen. Die Dominanz der Strategien, die literarische
Texte als repräsentativ für Erfahrungen einer sozialen Gruppe erscheinen lassen, ist
ausschlaggebend für den erfahrungshaftigen Modus, dagegen die Dominanz narrativer
Mitteln, die für das kulturelle Gedächtnis typisch sind, die auch z.B. in Mythos
verwandt werden und die, die Tradition aufrechterhalten, führt zum monumentalen
Modus.76 Die beiden Modi schließen sich jedoch nicht aus.
Der erfahrungshaftige Modus steht in engem Zusammenhang mit dem alltäglichen
kommunikativen Gedächtnis. Das Erzählte greifen nach Erfahrungen von bestimmten
Individuen bzw. Gruppen, die Erinnerungen einer nahen Vergangenheit bearbeiten. Auf
der anderen Seite platziert sich die Monumentalität der Literatur. Als Monumente
bezeichnet man Bauwerke, Texte u.ä., die als historisches Zeugnis vergangener
Kulturen gelten. Erlls Worten folgend ist es „ein gestiftetes Zeichen, dass eine Botschaft
kodiert“77.
Um den einen oder den anderen Modus im Text zu erkennen soll man zuerst feststellen,
ob die fiktionalen Geschehnisse „in der außertextuellen Erinnerungkultur im Rahmen
75
Vgl. Erll, Astried: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 169.
Vgl. Ebd., S. 174f.
77
Vgl. Ebd., S. 170.
76
20
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
kommunikativer oder kultureller Gedächtnisse“78 aktiviert werden. Als nächstes sollen
die paratextuelle Gestaltung und Intertextualität erörtert werden. Durch Hinweise und
Anspielungen an vorgängige bedeutende Texte, wie z.B. Bibel oder Werke von
Shakespeare, kommt der kulturelle Schatz erneut mit seiner festen Bedeutung ins
Bewusstsein.
Die
Widmungen
an
Angehörigen
einer
dargestellten,
fiktiven
Gedächtnisgemeinschaft, können die fiktive Welt mit den wirklichen Tatsachen,
lebensweltlichen Kontexten verbinden.79
Nicht zu unterschätzen ist auch die Sprache der Protagonisten, was Astried Erll unter
dem Stichwort `Interdiskursivität` verbirgt, denn auch hier befinden sich markante
Attribute der analysierenden Modi. In Bezug darauf stellt sie fest:
„Sprachliche Besonderheiten wie etwa fingiertes mündliches Erzählen (vgl.
Erzgräber/Goetsch 1987) und die Aufnahme alltagssprachlicher und
gruppenspezifischer Ausdrücke können dabei zu einem erfahrungshaftigen
Modus beitragen. Umgekehrt führt die literarische Inszenierung der `Sprache des
Monuments` etwa durch formelhafte und archaisierende Wendungen, zu einem
monumentalen Modus.“80
Daraus lässt sich schließen, dass der Autor schon mit der Thematik des Werkes sowie
mit dem geschilderten sozialen Milieu bzw. historischer Epoche einigermaßen auf den
´erfahrungshaftigen´ oder den ´monumentalen´ Modus abzielt. Ansonsten spielt auch
die Intermedialität eine bedeutende Rolle bei der Unterscheidung zwischen diesen
beiden Modi. Die Medien des kommunikativen Gedächtnisses also z.B. Fotos, Videos
und Tonbandaufnahmen konstituieren die Erfahrungshaftigkeit und die Medien des
kulturellen Gedächtnisses (Denkmäler oder heilige Schriften) die Monumentalität.81
Darüber hinaus gibt es noch andere Indikatoren, die typisch für die Inszenierung der
einen oder der anderen Gedächtnisformation sind. Im Weiteren werden demzufolge
noch die erzählerische Vermittlung, die Innenweltdarstellung und die Raum- und
Zeitdarstellung ausgeführt.
Nicht zu unterschätzen in den Darstellungsverfahren von fiktiven Welten ist durchaus
die narratorische Vermittlerrolle. Je nach dem aus welcher Perspektive die
78
Erll, Astried: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 170.
Vgl. Ebd.
80
Ebd., S. 171.
81
Vgl. Ebd..
79
21
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Schilderungen erfolgen unterscheidet man, so nach Stanzel, die auktoriale
Erzählsituation, die Ich-Erzählsituation und die personale Erzählsituation.82 Die
auktoriale Sicht steht für den monumentalen Modus, denn die Beschreibungen erfolgen
aus der Perspektive einer unbeteiligten, beobachtenden Instanz, die „Überblick über
Zeit und Raum, über handelnde Personen und ihre Motive“ hat 83. Ihr Blickwinkel ist
sehr weit, denn er umfasst auch die Kulturgeschichte. Ich-Erzählungen stehen dagegen
für das kommunikative Gedächtnis, denn sie sind unmittelbar mit den geschilderten
Situationen verbunden. Der Ich-Erzähler nimmt selbst an Ereignissen teil bzw. setzt
seine eigenen Beobachtungen in Verbindung mit den Erfahrungen anderer Personen.84
Darüber hinaus ist die Darstellung von individuellen Lebenserfahrungen und Emotionen
für die Erfahrungshaftigkeit wichtig. Die Inszenierung von pränarrativen Erlebnissen
wird durch den monumentalen Modus bevorzugt.
Die Darstellungen von Raum und Zeit verwischt die Grenze zwischen den beiden Modi.
Der Übergang von Erfahrungshaftigkeit zur Monumentalität erfolgt in diesem Punkt
fließend. Der Raum und die Zeit des beschriebenen Geschehens bilden einen Rahmen,
„innerhalb deren Lebenserfahrung erst verortet werden kann“85. Die von Anfang an für
die betroffene Gemeinschaft bedeutende Faktoren werden dann zum Gegenstand des
kulturellen Gedächtnisses, wenn sie „im Fernhorizont der Kultur relevante Dimension
annehmen“86. In diesem Zusammenhang führt Astried Erll ein Beispiel an, nämlich die
Kriegsromane der 1920er Jahre. Einerseits führen sie vor Augen einen Raum, der für
die illustrierte Zeit kennzeichnend und präsent war und als solcher das kommunikative
Gedächtnis stiftete. Andererseits wird die Kriegsfront zu einem Gedächtnisort im
Fernhorizont des kulturellen Gedächtnisses.87
Da der erfahrungshaftige und der monumentaler Modus nur selten isoliert vorkommen,
sondern öfters sich ergänzen, erfüllen die literarischen Texte erinnerungskulturelle
Funktionen. Dies können Astried Erlls Worte resümieren:
82
Vgl. dazu ausführlich: Stanzel, Franz, K.: Theorie des Erzählens. Göttingen: Vandenhoeck und
Ruprecht 2001.
83
Erll, Astried: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 172.
84
Vgl. Ebd.
85
Ebd., S. 174.
86
Ebd.
87
Vgl. Ebd.
22
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
„Sie vermögen zum einen überkommne Elemente des kulturellen Gedächtnisses
durch Erfahrungshaftigkeit anzureichen und damit in die Kontaktzone der
Gegenwart (zurück)zuführen – was zugleich einen gewissen Verlust an
Verbindlichkeit impliziert. Sie können zum anderen (bzw. häufig zugleich)
Erfahrung, die im Rahmen außerliterarischen individueller und kommunikativen
Gedächtnisse kodiert wird, exemplarisch als Gegenstand des `kulturellen
Fernhorizontes` darstellen und damit die Transposition von `lebendiger
Geschichte` etwa des Generationengedächtnisses in das kulturelle Gedächtnis
literarisch mitformen.“88
3.2.2. Antagonistischer und historisierender Modus
Literarische Texte stellen nicht nur die dominierenden Erinnerungen dar, die typisch für
viele
Menschen
sind,
sondern
zur
Darstellung
kommen
auch
solche
Vergangenheitsschilderungen, die für die innergesellschaftlichen oder marginalisierten
Gruppen bzw. für Einzelpersonen bedeutend sind. „Aus der Vielfalt der Gedächtnisse
von sozialen Klassen, Geschlechtern, Generationen oder religiösen Gemeinschaften
ergeben sich die `Fronten` antagonistischer Texte.“89 Falls diese Erinnerungen im
Gegensatz zu den typischen, verbreiteten Erinnerungen stehen, dann spricht man von
Gegen-Erinnerungen und Erinnerungskonkurrenzen. Mit dem antagonistischen Modus
hat man oft zu tun, dort wo die „zentralen Elemente einer Erinnerungskultur außer Acht
gelassen und damit im Medium der Fiktion vergessen werden“90.
Die Gegensätzlichkeit von Erinnerungen kann mithilfe von zahlreichen narrativen
Verfahren präsentiert werden. Sogar die kontrastive Zusammenstellung von Räumen
„dient der antagonistischen Gegenüberstellung von mit ihnen assoziierten sozialen
Gruppen und ihren Erinnerungen“91. Die Art und Weise, wie die Figuren konstruiert
sind und in welcher Beziehung sie zu einander stehen, kann explizieren, „welchen
Gruppen relevante und `richtige` Erinnerungen zugesprochen werden und welchen
nicht“92. Die Perspektivenstruktur des Textes ermöglicht das Überschauen der Werte,
Normen und Identitätskonzepten, die inszeniert wurden und die in Konkurrenz zu
anderen Gruppen oder Nationen stehen. Als Erzählinstanz fungiert hier vor allem die
Wir-Gruppe, wobei man auch fließende Übergänge von dem `personal voice` zu dem
88
Ebd., S. 175.
Ebd., S. 179.
90
Ebd., S. 180.
91
Ebd., S. 180.
92
Ebd.
89
23
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
`communal voice` bemerken kann.93 Astried Erll führ an dieser Stelle ein Fragment aus
dem Kriegsroman „Im Westen nichts Neues“ ein, dass einen solchen Vorgang schildert:
„Ich bin jung, ich bin zwanzig Jahre alt aber ich kenne vom Leben nichts anderes
als die Verzweiflung, den Tod […] Ich sehe, dass die klügsten Gehirne der Welt
Waffen und Worte erfinden, um das alles noch raffinierter und noch länger
dauernd zu machen. Und mit mir sehen das alle Menschen meines Alters hier
und drüben, in der ganzen Welt, mit mir erlebt das meine Generation. Was
werden unsere Väter tun, wenn wir einmal aufstehen und vor sie hintreten und
Rechenschaft fordern?“94
Der Protagonist repräsentiert hier die Generation junger Soldaten, die im zweiten
Weltkrieg
kämpften.
Die
individuelle
Erfahrung
wandelt
sich
hier
zur
Generationsstimme, die gegen Generation der Väter auftritt. Der antagonistische Modus
ist ein Mittel, das das kollektive Gedächtnis im Medium der Literatur revidiert,
rechtfertigt oder moniert. Durch seine Dominanz in literarischen Texten versucht man
eine Erinnerungshoheit zu erringen.95
Als nächster wird der historisierende Modus in Erwägung gezogen. Das Wort
„Historie“ bedeutete ursprünglich „Wissen“96. Die Elemente des historisierenden
Modus` basieren also vor allem auf dem Wissen, sie werden sogar als „Bestandteil des
kulturellen Wissenssystems“ angesehen97. Nebenbei charakterisiert die Geschichte auch
die Unfähigkeit das Vergangene in Gegenwart zu verwandeln. Es ist schon passiert und
nichts kann das verändern. Die Geschichte betrachtet man demzufolge als
´abgeschlossene Vergangenheit´, die keinem Wandel mehr unterliegen kann. Die
historischen Gedächtnisinhalte finden mittels verschiedener Verfahren ihren Ausdruck
in Romanen. Zum einen wird der spezifische Zeitabschnitt bzw. der geschichtliche,
messbare Zeitpunkt präsentiert. Die Veranschaulichung einer historischen Epoche soll
diese als ein vergangenes in solcher Form einzigartiges Phänomen ausmalen. Dabei soll
die sprachliche Gestaltung potenziell geschichts-wissenschaftlich und sachlich sein.
Zum anderen bestätigt man die Korrektheit der schriftlichen Darstellung der Geschichte
93
Ebd., S. 181.
Remarque, Erich: Im Westen nichts Neues. (1929) S. 177f. Zitiert nach Erll, Astried: Kollektives
Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 181.
95
Vgl. Erll, Astried: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 182.
96
Historie – [ griech. – lat. Historia, eigtl. <Wissen>, <Kunde>] Vgl. z.B. Brockhaus Enzyklopädie in
vierundzwanzig Bänden. Zehnter Band, Mannheim: F.A. Brockhaus 1989.
97
Erll, Astried: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 177.
94
24
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
möglicht genau mittels Angaben in den Fußnoten, Verweisen auf Quelle oder
geschichtswissenschaftliche Abhandlungen in den Paratexten.98
Obwohl die Modi sehr unterschiedlich sind, muss man feststellen, dass sich bei fast
jedem literarischen Text die Erkennungszeichen eines jeden Modus finden lassen. Sie
treten „in variablen Mischungsverhältnissen“ auf99. Die Übergänge zwischen den
einzelnen Modi sind fließend, so dass man statt von eindeutigen Klassifizierung zu
einem Typ, eher von der tendenziellen Zugehörigkeit sprechen kann.100
3.3. Zur Gattungstypologie der Fiction of memory
Der Terminus fiction of memory, so nach Birgit Neumann, ist ein Gattungsbegriff zur
Bezeichnung von Romanen, die konstitutive Interdependenz von Erinnerung und
Identität ausloten.101 Es gibt unterschiedliche Verfahren, die das Vergangene in eine
kohärente Kontinuität zusammenschließen und auf dieser Basis die Identitäten
entwickeln. Man geht davon aus, dass das erinnernde Subjekt aus der Gegenwartsebene
auf das erinnerte Subjekt aus der Vergangenheit zurückblickt. Für diesen Prozess sind
neben den Erinnerungsakten selbst auch die Gedächtnisbestände wichtig. Birgit
Neumann thematisiert das Verhältnis zwischen diesen beiden Begriffen wie folgt:
„Während der Terminus Gedächtnis auf die Gesamtheit gespeicherter
Erfahrungen verweist und ihm damit eine gewisse Stasis zu Eigen ist, bezeichnet
der Begriff der Erinnerung den konkreten Akt der Vergegenwärtigung und
dynamischen Elaboration spezifischer Gedächtnisbestände“102
Als Gedächtnis bezeichnet man den Bestand an alle bisher aufgenommene Eindrücke
und gesammelte Kenntnisse. Das ist ein passiver, statischer Teil des Sehen-KodierenHervorrufen-Prozesses. Die im Gedächtnis gespeicherten Elemente werden erst durch
den Erinnerungsprozess lebendig gemacht. Der Terminus der Erinnerung weist also auf
das Aktive hin.
Die Gegensätzlichkeit zwischen Gedächtnis und Erinnerung führt in fictions of memory
zu genauen Untersuchungen der Zeitstruktur. Die Zeitstruktur ist eine der
98
Vgl. Ebd.
Ebd., S. 189.
100
Vgl. Hernik-Młodzianowska, Monika: Zur Inszenierung von Erinnerung im Werk von Peter Härtling.
Dissertation. Gießen 2008, S. 53.
101
Vgl. Neumann, Birgit: Fictions of Memory: Erinennerung und Identität in englischsprachigen
Gegenwartsromanen. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht, Heft 4/2004, S. 336.
102
Ebd., S.334.
99
25
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
wesentlichsten Komponente der Rhetorik der Erinnerung und Identität, somit ist sie
auch ausschlaggebend für die Gattungstypologie der fictions of memory.103 Die
Darstellung von Gedächtnis ist durch Vergangenheitsorientierung und Dominanz der
intradiegetischen
Ebene
der
zurückliegenden
Handlung
gekennzeichnet.
Die
Erinnerungen sind demgegenüber gegenwartsorientiert und ihre Inszenierung erfolgt auf
extradiegetischer Ebene.104 Dieser Struktur nachgehend, gemeint sind die Gegenwartsund Vergangenheitsebene, differenziert Neumann zwischen dem Gedächtnisroman und
dem Erinnerungsroman. Diese Einteilung ist jedoch nicht endgültig, denn Neumann
berücksichtigt in ihrer Differenzierung auch den erinnernden Subjekt, d.h. abhängig
davon, ob in dem Roman personal voice oder communal voice zur Sprache kommen,
unterscheidet sie vier Gruppen von Texten: autobiographischer und kommunaler
Gedächtnisroman, und autobiographischer und soziobiographischer Erinnerungsroman.
In vorliegendem Kapitel wird der Fokus nur auf die Hauptzweige der fiction of memory
gesetzt: den Erinnerungs- und Gedächtnisroman.
In einem Gedächtnisroman werden die zurückliegenden Ereignisse aus dem Leben eines
erinnerten oder erlebenden Ichs bzw. Kollektivs aus der Perspektive eines erzählenden
Ichs bzw. Kollektivs vergegenwärtigt. „In Gedächtnisromanen [geht es – D.B.] in erster
Linie darum, was man erinnert, die Betonung liegt auf den erinnerten Inhalten, während
die Umstände des Erinnerungsprozesses aus dem Blickfeld geraten.“105 Wichtig ist also
nicht der Prozess des Erinnerns an sich, vielmehr wird davon ausgegangen, welche
Tatsachen
vom
Individuum
bzw. von dem
Kollektiv
als
zugänglich
und
identitätsprägend angesehen werden und welche nicht. Einen Einblick in die DamalsZeiten verschaffen unter anderem Dialoge über das Vergangene, sowie auch dargestellte
Gedenkfeier, Riten, Rituale, die auf der kulturellen Ebene die Persönlichkeit kreieren.
In dem Erinnerungsakt werden die mit der Zeit eingetretenen Veränderungen
berücksichtigt und die Vergangenheitseindrücke stabilisieren sich, so dass sie eine
kohärente Ganzheit bilden. Birgit Neuman beschreibt diesen Prozess wie folgt:
„Im erinnernden Rückblick schlägt das gealterte, seine Vergangenheit
rekonstruierende und analysierende Ich eine bedeutungsstrukturierende Brücke
zwischen den im Laufe der Zeit eingetretenen Veränderungen. Auf diese Weise
103
Vgl. Ebd., S. 338.
Zu dem Verhältnis der Erzählebenen sehe den Kapitel 4.2.3. in dieser Arbeit.
105
Hernik-Młodzianowska, Monika: Zur Inszenierung von Erinnerung im Werk von Peter Härtling.
Dissertation. Gießen 2008, S. 80.
104
26
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
werden die komplexen Transformationen und Brüche zwischen dem `self that
was` und dem `self that is` in eine plausible und aneignungsfähige Form
gebracht.“106
Die Rückblicke auf die Vergangenheit sind hauptsächlich von der aktuellen Situation
des Erzählenden Ichs abhängig und durch sie bedingt. Die Erzählinstanz selektiert und
interpretiert das Erinnerte. Die Vergangenheit wird in den Gedächtnisromanen als
abgeschlossener Teil des Lebens angesehen und „vor dem Hintergrund eines bereits
bekannten Endes konfiguriert und narrativiert“107. Reize, die die Erinnerungen
wachrufen befinden sich immer auf der extradiegetischen Ebene der Handlung. Der
Wechsel
zwischen
verschiedenen
Zeitebenen
d.h.
zwischen
Vergangenheitsbeschreibungen und der Basiserzählung108, und dessen Folge, nämlich
die punktuelle Durchbrechung der Chronologie, sind ein typisches Merkmal eines
Gedächtnisromans.
In den Gedächtnisromanen verlangt man nach Authentizität sowohl der letzten als auch
der weit zurückliegenden Geschehnisse, deswegen erfolgt hier eine genaue
Beschreibung von Ort und Zeit der geschilderten Erinnerung. Die Glaubwürdigkeit
dieser Erinnerung wird oft durch „zahlreiche intertextuelle und intermediale Referenzen
auf persönliche Gedächtnismedien wie Briefe, Photographien oder Tagebüchereinträge“
bestätigt.109 Obwohl diese Elemente auf den direkten Bezug auf die Realität hinweisen,
zu merken ist, dass im Zentrum „dieser Romanform die vergangenen Erfahrungen einer
fiktionalen Erzählinstanz“110 stehen. Auch wenn es sich um einen autobiographischen
Gedächtnisroman handelt, soll man sich merken, dass sogar `autobiographisch` „bei
Neuman lediglich persönlich, bzw. in der Ich-Form verfasst“ bedeutet111.
Den authentischen Charakter der Erinnerungen suggeriert wiederum interne
Fokalisierung. Die Vergangenheit wird in dieser Romanform grundsätzlich aus dem
106
Neumann, Birgit: Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer
Fictions of Memory. Berlin: Walter de Gruyter 2005, S. 213.
107
Ebd., S. 214.
108
Nach Birgit Neumann liefert eine Basiserzählung „Einblick in die gegenwärtigen Bedingungen, die die
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit motivieren“. Die erinnerte Vergangenheit wird durch
Analepse in den Text einbezogen. (Neuman, Birgit: Fiction of memory: Erinnerungen und Identität in
englischsprachigen Gegenwartsromanen, a.a.O., S. 238).
109
Neumann, Birgit: Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer
Fictions of Memory, a.a.O., S. 216.
110
Ebd.
111
Hernik-Młodzianowska, Monika: Zur Inszenierung von Erinnerung im Werk von Peter Härtling.
Dissertation. Gießen 2008, S. 78.
27
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Blickwinkel einer beteiligten Person präsentiert und in einem solchen Fall spricht man
von Feld-Erinnerungen. Darunter verstand Daniel Schacter Erinnerungen, die aus der
ursprünglichen Perspektive gesehen wurden, d.h. man sieht das Ereignis noch mal aus
derselben Sicht und dieses Zurückblicken begleiten primär empfundene Gefühle.112
Beispielsweise erinnert man sich an den Kinobesuch mit den Freunden und man sieht
die Filmleinwand und die leeren Plätze vor sich, nicht aber sich selbst oder den ganzen
Kinosaal. Die Erinnerungsperspektive beschränkt sich nur auf das selbst einmal erlebte.
Darüber hinaus ist diese Erinnerung sehr emotional gekennzeichnet.
Die vergangenen Geschehnisse können auch aus einem anderen Standpunkt ins
Gedächtnis gerufen werden, und zwar aus der Sicht eines Beobachters. Die
Erinnerungen, die ursprünglich das Statut von Feld-Erinnerungen besaßen, verlieren mit
der Zeit an Intensität. In einem solchen Fall wird man zum Zuschauer, der auf sich
selbst aus Entfernung schaut. Deswegen kann man dieses erinnerte Ich nicht mit dem
wirklichen Ich gleichsetzen. Den Zusammenhang zwischen diesen Blickwinkeln und
den
Romantypen
erschließt
authentizitätsuggerierenden
Birgit
Charakter
Neumann,
von
in
field
dem
sie
memories
auf
und
den
den
gegenwartsgebundenen von observer memories hinweist.113
Bei den Erinnerungsromanen, dem Begriff `Erinnerung` zufolge, handelt es sich um die
Darstellung eines Prozesses - „sie sind prozess-, nicht produktorientiert“114. Ähnlich
wie in dem Gedächtnisroman, wird auch hier unternommen Erfahrungen einer oder
mehrerer Person zu rekonstruieren und mit dem Zustand des Gewordenseins in
Beziehung zu setzen. Jedoch hier, so betont Birgit Neuman, in dieser Romanform
dominiert die gegenwartsorientierte, extradiegetische Ebene. Indem man zwischen
fragmentarischen Erinnerungen Verbindungen herzustellen versucht, sucht man nach
möglichen Erklärungen der gegenwärtigen Situation, nach der Rolle von vergangenen
Ereignissen. Auf dieser Ebene erfolgt „erst im narrativen Modus, im Prozess des
Erzählens“115 die Identitätsherausbildung. Erst durch das Erzählen versucht man eigene
Vergangenheit und Persönlichkeit zu stabilisieren. Dies erweist sich jedoch in manchen
112
Vgl. Schacter, Daniel L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg:
Rowohlt 1999, S. 45ff.
113
Neumann, Birgit: Erinnerung, Identität, Narration,, a.a.O., S. 219.
114
Neumann, Birgit: Fictions of Memory: Erinennerung und Identität in englischsprachigen
Gegenwartsromanen, a.a.O., S. 232.
115
Neumann, Birgit: Erinnerung, Identität, Narration, a.a.O., S. 218.
28
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Fällen als schwer zu realisieren, denn „vergangenes und gegenwärtiges Ich bleiben
einander fremd“116. Außerdem ist nicht jede Erinnerung in jedem Moment zugänglich
und „die Spannungsverhältnisse des Erinnerungsromans resultieren vielmehr gerade aus
der Offenheit des Erinnerns, das zahlreiche Leerstellen und Fragezeichnen zulässt“117.
So ist es z.B. bei den amnestischen oder bei verdrängten Erinnerungen. Zu diesem
Aspekt sollte auch unreliabe narration118 angedeutet werden, denn sie „problematisiert
den schmalen Grad, der zwischen der Findung und der Erfindung von Vergangenem
liegt“119. Die Unmöglichkeit sich die eigenen Vergangenheit zu erinnern führt nicht nur
zur Unsicherheit oder zur unterschiedlichen Skizzierungen derselben Begebenheit,
sondern auch zur Erfindung unauthentischer neuer Episoden. Die Ereignisse werden oft
aus mehreren Perspektiven veranschaulicht. Dabei handelt sich nicht nur um Sichtweise
mehrerer Personen bzw. mehrerer homodiegetischen Instanzen, sondern auch um die
gesellschaftlich konkurrierenden Gedächtnismedien. Die eingeführten Notizen,
Gerichtsprotokolle,
Tagebucheinträge
oder
andere
öffentlich
zugängliche
Gedächtnismedien können das Vergangene revidieren bzw. die Unstimmigkeiten
reduzieren.
Den
Erinnerungsroman
charakterisiert
also
„Perspektivität,
Selektivität
und
Konstruktivität von Erinnerungen“.120 Diese Merkmale lassen die Authentizität von
Erinnerungen bezweifeln. Die Beschreibungen aus der Perspektive eines Beobachters
führen dazu bei, dass die Erinnerungen zu einem durch die Gegenwart beeinflussten
Konstrukt werden. Die Figur des Jetzt und des Damals ist nicht eine und dieselbe
Person. Darauf weist Birgit Neuman, in dem sie schreibt:
„Die hieraus resultierende Abhängigkeit des zurückliegenden Geschehens von
gegenwärtigen Perspektivierungen und Sinnbedürfnissen der Erzählinstanz zeigt
an, in welchem Masse die inszenierten Erinnerungen von präsentischen
Bedingungen überformt sind“121
116
Neumann, Birgit: Fictions of Memory: Erinennerung und Identität in englischsprachigen
Gegenwartsromanen, a.a.O., S. 346.
117
Hernik-Młodzianowska, Monika: Zur Inszenierung von Erinnerung im Werk von Peter Härtling.
Dissertation. Gießen 2008, S. 79.
118
Unzuverlässiges Erzählen (unreliabe narration) liegt dann vor, wenn die Aussagen des Erzählers in
Bezug auf das erzählte Welt, Zweifel erregen. Sehe zu diesem Thema vertiefend: Martinez, Matias;
Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: Verlag C. H. Beck 2007, S. 95-107.
119
Neumann, Birgit: Fictions of Memory: Erinennerung und Identität in englischsprachigen
Gegenwartsromanen, a.a.O., S. 346.
120
Neumann, Birgit: Erinnerung, Identität, Narration, a.a.O., S. 218.
121
Ebd., S. 219.
29
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Für Erinnerungsromane ist die anachronische Zeitstruktur typisch. Diese Anachronie
erfolgt aufgrund der Unsicherheit von Erinnerungsfähigkeit. Man versucht sich eine
Chronologie zu verschaffen und die Vergangenheit mit der Gegenwart in Beziehung zu
setzen, dies gelingt jedoch selten. Die verschiedenen Zeitebenen stehen unverbunden
nebeneinander.122
Birgit
Neumanns
Differenzierung
der
englischsprachigen
Literatur
unter
Berücksichtigung der Interaktion zwischen Erinnerungen und Identitäten ist legitim
nicht nur für diesen Sprachraum, sonder für alle literarischen Texte die sich an dieses
Themenkomplex wenden. In weiteren teilen der Arbeit wird dieses Verhältnis am
Beispiel eines Romans aus der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur belegt.
4. Inszenierung von Erinnerungen im Anne Dorns Roman
„Siehdichum“
Ausgehend von dem theoretischen Teil dieser Erwägungen soll in vorliegenden
Kapiteln die Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman „Siehdichum“ ergründet
werden. Die komplette Analyse des Werkes wird durch den Spiegel der literarischen
Verfahren aufgezeigt, wobei im Vordergrund nicht die Begrifflichkeit sondern die Art
und Weise der Darstellung von Vergangenheit gestellt wird. Das Hauptziel vorliegender
Arbeit ist es die Konstruktion von Martha Lenders Erinnerungen darzustellen. Es soll
zudem untersucht werden, ob das Gedächtnis der Protagonistin in gewisser Weise
typisch für eine ältere Generation ist. Grundsätzlich geht es aber um die Frage, wie das
Erinnern im Roman funktioniert.
4.1. Zum Inhalt
Martha Lenders ist eine 75-jährige Frau, die sich zu ihrem Lebensabend mit der
Vergangenheit auseinandersetzen will. Selbst der Titel des Romans – „Siehdichum“
signalisiert eine Rückschau, einen Blick in die Vergangenheit. Es hat aber auch eine
andere Bedeutung, nämlich in einem Dorf in Polen, das solchen Namen trug, ist der
jüngere Bruder von Martha - Johannes – verschwunden. Johannes war ein Mitglied des
122
Vgl. Neumann, Birgit: Fictions of Memory: Erinennerung und Identität in englischsprachigen
Gegenwartsromanen, a.a.O., S. 346.
30
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
letzten Aufgebots des Reichsarbeitsdienstes. Diese Einheit wurde gleich am Ende des
Krieges 1945 irgendwohin nach Polen in Wielkopolskie - Woiwodschaft geschickt und
man hat nichts mehr von ihr gehört. Die anfänglichen Versuche Marthas Vaters den
Sohn zu finden zeigten keinen Erfolg. Jahrzehntelang blieb die Frage offen, ob
Johannes lebt und wenn ja, wo er sich jetzt befindet. Die Protagonistin entscheidet sich
erst im Jahr 2000 sich auf die Suche nach dem verschollenen Bruder zu machen.
Ausgestattet mit den Briefen und Archivdokumenten fährt sie in die Fremde mit der
großen Hoffnung sich nach dem Johannes Schicksal zu erkundigen. Während der Reise
verlässt sie sich auf den wohlwollenden Menschen. Sie hat Unterstützung bei Henryk
Szaruka
-
einem
Filmemacher
aus
Posen,
Krzysztof
Jaworski
-
einem
Geschichtsprofessor aus Warschau und einer jungen Germanistikstudentin – Ewa
Biniewicz - gefunden. Folgend dem Weg der RAD-Abteilung 3/401 besucht sie die
wichtigsten polnischen Städte: Posen, Krakau und Warschau. Sie besichtigt nicht nur
die historischen Plätze, Denkmäler und Museen, die für die polnische Kultur so wichtig
sind, sondern vor allem beabsichtigt sie in polnischen Archiven Spuren ihres Bruders zu
finden. Diese Reise ist für sie nicht nur aufgrund des Alters und begrenzter
Sprachkenntnis sehr schwer. Sie sucht nach etwas, was sie eigentlich nicht finden kann.
Martha unternimmt die Reise nach Polen zwei Mal. Der Leser begegnet sie schon
während ihres Aufenthalts in Posen, also der dritten Station ihrer Reise. Wenn die
Spurensuche kein Ergebnis bringt, und Martha verzweifelt die Rückreise nach Koblenz
plant, passiert etwas was ihr den Ansporn zu noch einem Versuch gibt. Durch Zufall
steigt sie in den falschen Zug ein, und so „befindet [sie – D.B.] sich, ohne es wirklich
gewollt zu haben, auf der Fahrt zu ihrem Ziel.“123 (S. 134) Statt nach Warschau fährt sie
wieder nach Krakau. Jetzt besucht sie, gemeinsam mit der Studentin Ewa, schlesische
Dörfer und Städte, also Punkte, von denen in Zeitzeugenberichten die Rede war. Die
Lokalisation von Siehdichum bleibt aber geheim. Martha kehrt nach Koblenz zurück.
Dort erfährt sie, dass es den Ort Siehdichum höchstwahrscheinlich überhaupt nicht gibt.
Sie sollte SIGDA suchen. „Wo liegt das? Wo Siehdichum liegen soll“(S. 253). Ihr
zweiter Aufenthalt in Polen verdankt sie ihrem langjährigen Freund Krzysztof Jaworski.
Er hat sie nicht nur wieder nach Warschau eingeladen, sondern wurde sogar zu ihrem
Gastgeber. Marthas Reise scheint im Endeffekt vergeblich zu sein. Sie hat den Bruder
123
Dorn, Anne: Siehdichum. Berlin: Dittrich Verlag GmbH 2007, S. 134. (Seitenangaben folgend im Text
in Klammern).
31
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
nicht gefunden. Trotzdem vermittelt sie den Eindruck heiterer Ruhe und der Akzeptanz
von dem, was ihr der Los gebracht hat.
4.2. Zur Rhetorik der Erinnerung
4.2.1. Zum Textanfang
Die Feststellung, dass nicht nur die erzählte Geschichte bzw. ihre sprachliche
Bearbeitung, sondern auch der Textanfang für den Erfolg des Werkes gravierende
Bedeutung haben kann ist durchaus nicht übertrieben. Die ersten Sätze eines jeden
literarischen Werkes sind für einen potenziellen Leser entscheidend, wenn er nach
einem Roman oder einer Novelle greift. Sie sollten in ihm Leselust erwecken und zum
Lesen anregen. Zugleich spielen sie bedeutende Rolle bei der Informationsbearbeitung
von den Rezipienten, weil die im Text nachher vorkommenden Informationen „stets im
Licht des schon am Erzählanfang Gesagten gedeutet“124 werden.
Da die Anzahl der Textanfänge so enorm ist, hat man mehrere Modelle ihrer möglichen
Klassifizierungsweise entwickelt. In dieser Arbeit wird der Erzählanfang aus
zweierleier Sicht betrachtet. Der ersten möglichen Klassifizierung der Textanfänge
folgend, differenziert man zwischen dem Anfang mit hoher Expositionalität und dem
Anfang mit geringer Expositionalität. Dieses Modell des Erzählanfangs ist auf Helmut
Bohnheims zurückzuführen. „Unter Expositionalität ist dabei eine Strategie der […]
Informationsvorgabe zu verstehen, die darauf achtet, dass dem Leser die für das
Verständnis der Geschichte erforderlichen Voraussetzungen mitgeteilt werden.“125 In
dem Roman „Siehdichum“ wird man mit dem statischen Modus konfrontier, der eine
Beschreibung umschließt und der für die hohe Expositionalität steht.126
„Die tote Seitenstraße lag im Dunkel, an der Hotelrezeption im Wielkopolska/
Großpolen wartete eine junge Frau in Mantel und Mütze. Sie drückte Martha den
Zimmerschlüssel in die Hand und wies noch den Weg durch einen schwach
124
Krings, Constanze: Zur Analyse des Erzählanfangs und des Erzählschlusses. In: Wenzel, Peter (Hg.):
Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: Wissenschaftlicher Verlag
Trier 2004, S. 163.
125
Ebd., S. 168.
126
Bonheim unterscheidet zwischen vier Erzählmodi: den Modus der Beschreibung, der Rede, den
Bericht und den Kommentar. Diese Unterscheidung liegt den zwei Bonheimischen Anfangstypen
zugrunde. Vgl. dazu vertiefend den Beitrag von Quinkertz, Ute: Zur Analyse des Erzählmodus und
verschiedener Formen von Figurenrede. In Peter Wenzel (Hg.):Einführung in die Erzähltextanalyse,
a.a.O., S. 141-161.
32
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
beleuchteten Flur, kein Mensch sonst zu sehen, alles still. Martha Lenders wollte
gestern Abend ohnehin nichts anderes mehr als ihre Ruhe. Im Zimmer nahm sie
sofort ihr Nachthemd aus dem Koffer, aß ohne richtigen Hunger eine trockene
Semmel und einen Apfel. Dann wollte sie sich ein bisschen waschen, die Zähne
putzen.“(S. 7)
Der Anne Dorns Roman beginnt mit der Beschreibung einer Szene aus der Reise der
Protagonistin. In dieser kurzen Textpassage findet man reiche an Adjektive Raum- und
Personenbeschreibung. Trotzdem erfährt der Leser nichts Genaueres über die Gründe
und Umstände dieser Ankunft. Die Bezeichnung dieses Anfangs als Beginn mit hoher
Expositionalität steht also im Widerspruch zu den wirklichen Empfindungen der
Rezipienten. Zwar ist diese Szene „visuell“ gut geschildert, aber als hohe Exposition
des Inhalts kann man sie nicht betrachten.
Die zweite und empfehlenswerte Kategorisierung führt Carsten Gansel in seinem Band
„Moderne Kinder- und Jugendliteratur“ ein. Er unterscheidet vier Kategorien, in die die
literarischen Texte eingereiht werden können.127 Die Erzählungen können eine
Einleitung bzw. ein Vorwort eröffnen, die als ein Bindestrich zwischen den realen und
fiktiven Welten gelten. Darunter versteht man auch Widmungen, Rahmenerzählungen,
Angaben von Quellen usw. Falls die Geschichte von Anfang an erzählt wird, so dass
man stufenweise mit der fiktionalen Welt und seinen Bewohnern konfrontiert wird,
dann spricht man von dem Beginn ab ovo. Dieser Anfangtyp ist kennzeichnend für
Märchen, die oft mit Worten „Es war einmal…“ beginnen und chronologisch verlaufen.
Die Geschichte kann aber auch in ultimas res eingeleitet werden, d.h. mit dem Ende,
und dabei einen analytischen Charakter haben (wie es vor allem in Detektivgeschichten
vorkommt). In einem solchen Fall wird erst im Laufe des Lesens klar, was wirklich
passiert war und was hat zu solchen Ergebnissen geführt.128
Der Roman „Siehdichum“ ist repräsentativ für die vierte Kategorie. Mit dem ersten Satz
„Die
tote
Seitenstraße
lag
im
Dunkel,
an
der
Hotelrezeption
im
Wielkopolska/Großpolen wartete eine junge Frau in Mantel und Mütze.“(S. 7) ist man
als Leser unmittelbar in die Situation eingesetzt. Man steht neben dieser Frau und weißt
nicht wer sie ist und was sie dort macht (was für den Beginn ab ovo kennzeichnend
127
Sehe dazu vertiefend auch: Constanze, Krings: Zur Analyse des Erzählanfangs und des
Erzählschlusses. In: Wenzel, Peter (Hg.): Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle,
Probleme, a.a.O., S. 163-179.
128
Carsten, Gansel: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxisbuch für den Unterricht. Berlin:
Cornelsen Verlag 1999, S. 74.
33
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
wäre), und ob sie überhaupt für die Handlung wichtig ist. Der hier angeführte
Textanfang steht für den Beginn in medias res. „Es wird ein bestimmter Zeitpunkt
mitten in der Geschichte als Beginn für das Erzählen gewählt, Anfang mit der
Episode.“129 Erst die nächsten Sätze erhellen diese Konstellation, denn weiter liest
man: „Sie drückte Martha den Zimmerschüssel in die Hand und wies noch den Weg
durch einen schwach beleuchteten Flur, kein Mensch sonst zu sehen, alles still. Martha
Lenders wollte gestern Abend ohnehin nichts anderes mehr als ihre Ruhe“(S. 7). Das
Leserinteresse versetzt sich von der ´jungen Frau´ auf Martha, die Protagonistin.
Darüber hinaus weist die Tempusform auf die Vergangenheit und die Zeitangaben
´gestern Abend´ bekunden, dass diese Situation nicht weit weg zurückliegt. Die genaue
Erschließung der Ereignisabfolge wird jedoch erst nach der Lektüre des Romans
möglich, denn erst dann kann man sich eine Chronologie von Ereignissen verschaffen.
Damit es überhaupt möglich wäre die Gedächtniserscheinungen zu untersuchen, müssen
im Roman Vergangenheitsschilderungen präsent sein. Da schon der Anfang durch eine
Retrospektion gekennzeichnet ist, kann man die These riskieren, dass die
Beschreibungen nicht chronologisch dargeboten sind, und dass „Siehdichum“ zu einer
Reihe von Büchern gehört, an denen man Gedächtnisphänomene untersuchen kann.
4.2.2. Zur Zeitstruktur
Die Analyse der Zeitstruktur ist demzufolge der wichtigste Punkt vorliegender Arbeit.
Gerard Genette unterschied drei Kategorien, nach denen man die Zeitstruktur eines
literarischen Textes untersuchen kann, nämlich die Ordnung, die Dauer und die
Frequenz. Ordnung bezieht sich auf die Reihenfolge in der Geschichte erzählt wird130.
Dauer dagegen steht für die Beziehungen zwischen Erzählzeit (also wie lange ein
Geschichte gelesen bzw. erzählt wird) und der erzählten Zeit (also wie lange diese
Geschichte dauert)131. Bei der Analyse der Frequenz betrachtet man das Verhältnis
zwischen den dargestellten Ereignissen und der Häufigkeit ihrer Schilderung im
literarischen Werk.132
129
Ebd.
Vgl. Marsden Peter, H.: Zur Analyse der Zeit. In: Wenzel, Peter: Einführung in die Erzähltheorie,
a.a.O., S. 93.
131
Vgl. Mardsen, Peter: Zur Analyse der Zeit. In: Wenzel, Peter: Einführung in die Erzählanalyse, a.a.O.,
S. 90f.
132
Vgl. Genette, Gerard: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink Verlag 1998, S. 81.
130
34
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Die Abweichungen von der normalen Ereignisabfolge (Anachronie) hindern den
Erzählfluss. In dem Roman von Anne Dorn wird die Gegenwarthandlung ständig durch
Vergangenheitsdeutungen durchbrochen, die in Form von Analepsen – so nach Genette,
bzw. Rückwendungen – so nach Lämmert, erscheinen. Martinez und Scheffel
charakterisieren das folgendermaßen: „In der Form der Analepse wird ein Ereignis
nachträglich dargestellt, das zu einem früheren Zeitpunkt stattgefunden hat als dem, den
die Erzählung bereits erreicht hat.“133
Der Roman von Anne Dorn beginnt von Anfang an mit einer rückschauenden
Erzählung. Die Szene spielt am Abend, im Hotel im Wielkopolska/Großpolen. Der
Satz: „Martha Lenders wollte gestern Abend ohnehin nichts anderes mehr als ihre
Ruhe.“ (S.7) macht dem Leser klar, dass die Reichweite, also „der zeitliche Abstand
zwischen der Zeit, auf die sich der Einschub bezieht, und dem gegenwärtigen
Augenblick der Geschichte“134 und somit der Umfang, also „die im Rahmen des
entsprechenden Einschubs erfasste […] Dauer der Geschichte“135 nur minimal sind. In
diesem Fall wird die Leserschaf in ein Geschehen hineinversetzt, das nur ein Tag vor
dem Beginn der erzählten Story anfängt. Gestern Abend, also am Samstag kommt
Martha nach der Fahrt von Krakau nach Posen ins Hotel an. Innerhalb dieser
Rückwendung findet man noch andere Rückblende und Rückschritte136. Die in die erste
Analepse eingeschobene Geschichte stellt die Umstände Marthas Reise von Krakau
nach Posen und endlich überhaupt nach Polen. „Es erfolgt ein Einschnitt im Erzählgang
im Sinne eines Nachtrages[…]“137 Lämmert bezeichnet diese Art des Nachtrages als
eine aufbauende Rückwendung. Sie inszeniert „die Vorgänge, die zu der gegenwärtigen
Situation hinführten“138. Entsprechend steht im Text:
„Auf der Zugfahrt von Krakau/Kraków nach Posen/Poznań hatte sie
zwangsweise anderen vertraut. […] Es war eine nur augenblicklich schwach
beleuchtete, schwarze Wand, an der der Zug entlangraste. Darauf war sie nie
gefasst – ja, ja, das war der Wald! So plötzlich und unerwartet stand er vor ihr.
Keinem Mensch, nicht einmal sich selbst hatte sie dieses Reiseziel genannt. Es
133
Vgl. Martinez, Matias; Scheffel Michael: Einführung in die Erzähltheorie, a.a.O., S. 33.
Ebd., S. 35.
135
Ebd.
136
Gansel unterscheidet neben Rückwendung noch drei Formen der Einbeziehung von Vergangenheit ins
Erzählgang, nämlich: Rückschritt, Rückgriff, und Rückblick. Sehe dazu ausführlich: Gansel, Carsten:
Moderne Kinder- und Jugendliteratur, a.a.O., S. 76.
137
Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, a.a.O., S. 76.
138
Lämmert, Eberhard: Bauformen des Erzählens. Stuttgart: Verlag J.B. Metzler 2004, S.104.
134
35
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
gab keinen Grund dafür, nur dieses Gefühl: Im Wald. Im Wald musste es
gewesen sein. Johannes, der kleine Bruder, war nie zurückgekehrt. Er war
einberufen worden am Ende des Krieges, angeblich zum Reichsarbeitsdienst.
Aber die Jungen hatten Waffen bekommen, man hatte sie in der Gegend von
Adelnau/Odolanów in Marsch gesetzt. Und ewig, ewig lief der kleine, noch
kindliche Bruder vor Martha her, einen Feldweg entlang, über eine Anhöhe – bis
diese haltlosen Träume in einem Wald endeten. Er musste dort verscharrt sein,
in Polen. […]
Vor Monaten hatte sie einen Antrag auf Reisekostenzuschuss gestellt. Ein
Ministerium hatte den Antrag genehmigt. In Warszawa, Kraków und Poznań gab
es Institute für deutsch-polnische Zeitgeschichte. Vom Wald hatte sie
niergendwo geredet und niergendwohin davon geschrieben.“ (S. 11f)
Aus diesem Textabschnitt erfährt der Rezipient woher Martha gerade gekommen ist,
warum sie eben diese Städte besucht, schließlich warum sie sich eigentlich in Polen
befindet. Zugleich begegnet man hier wieder eine Analepse, die in die erste eingebaut
wurde. Ihre Reichweite ist jedoch viel größer, denn sie reicht in die Mitte 40`er Jahre
des 20. Jahrhunderts. Dies signalisieren die Worte ´am Ende des Krieges´. In diesem
Moment erscheint die Person des Bruders zum ersten Mal. Die aufbauende Analepse
taucht im Roman sehr oft auf und dient vor allem als Ergänzungsmittel. Offensichtlich
ist:
„Vom Schmerzen gequellt, dessen Grund nicht zu sehen ist, sitzt sie und hält den
Atem an: Wäre sie damals nicht vom Waggon gesprungen, wäre sie mutig
gewesen und auf dem fahrendem Zug geblieben, wären ihr nicht vier
Wirbelkörper gebrochen, hätten die alten Frakturen nicht angefangen zu
wuchern, - es ist die Kette von Unglück, das niemand auslöschen kann.“ (S. 42)
Der Erzähler führt in Form einer Rückwendung eine Erklärung für den Krampf, der die
Protagonistin von Zeit zu Zeit verfolgte. Durch diese Aussage des Erzählers hat man
den Eindruck, dass Martha ihre Entscheidung aus der Perspektive vergangener Jahren
und durch Spiegel bekannter Konsequenzen bewusst revidiert. Es kommen hier ihre
individuellen Erinnerungen zum Vorschein, die auf keinerlei Weise ergänzt oder
kommentiert werden. Diese erinnerte Situation wird im Roman nicht mehr angedeutet.
Neben einer aufbauenden Rückwendung unterscheidet Lämmert auch eine auflösende
Rückwendung. Diese Art von Analepse bildet am häufigsten den Schluss der
Geschichte oder leitet diesen ein. „Durch die Aufdeckung bisher ungekannter Ereignisse
oder Zusammenhänge oder durch die Aufklärung eines bislang in der Erzählung noch
rätsehaft gebliebenen Geschehens löst sie die Knoten der Handlung auf, glättet die
36
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Konflikte oder macht sie begreiflich.“139 In „Siehdichum“, obwohl die Struktur des
Romans sehr kompliziert und reich an Analepse ist, findet man keine auflösende
Rückwendung. Das einzige Thema, das für den Leser unklar sein konnte, war die
rätselhafte Person des ´anderen Bruders´. Alle Unstimmigkeiten lösen sich jedoch
während des Telefongespräches Marthas mit ihm, also in der gegenwärtigen Handlung.
Neben der Ordnung lässt sich in der Zeitstruktur literarischer Texte auch Dauer
analysieren. Je nach dem wie die Ereignisse präsentiert werden spricht man von
zeitdeckendem Erzählen (Szene), zeitdehnendem Erzählen (Dehnung), zeitraffendem
Erzählen (Raffung), Zeitsprung (Ellipse) und Pause.140 Wenn die erzählte Zeit und die
Erzählzeit gleich sind, dann spricht man von einer Szene. Es kommen keine
Anachronien vor. Im „Siehdichum“ wird die szenische Zeitdarstellung nicht nur in
Gesprächen der Gegenwartshandlung präsentiert. Auch die Erinnerungen nehmen eine
Dialogform an. Beispielshalber erinnert sich Martha an das gemeinsame Angeln mit
dem Bruder:
„Martha und der Bruder rannten im Morgennebel gern in den Wald. Unterhalb
des Schwanenteiches, der längst mit Kalmus verschilft war, packten sie die
Fische am besten. Schleie, Karauschen, ab und zu einen Spiegelkarpfen. Und die
Forellen. Johannes bleibt stehen, zeigt mit dem Finger: ´Da! Da!´ Und Martha
erstarrt. Geht in die Hocke. Fasst blitzschnell unter die Wurzeln der Erle.
Johannes hüpft und freut sich, springt über den Bach: ´Haben wir dich?´ Die
Forelle zuckt. Kühl zuckt in seinen und Marthas Händen das andere Leben.
´Heh, bleib still´ – ´Sie sieht dich an´. ´Die weiß doch nicht, wer ich bin!´ ´Sie
kennt deinen Schatten.´ ´Halt sie fest und gib mir dein Taschentuch.´ Wie soll
ich jetzt in meine Tasche,´ - Komm-komm mein Freundchen, zeig uns deinen
schönen Tupfen´. ´Das sind Bauchaugen.´ ´Beinaugen! Schwanzaugen! Hui -!´
´Halt sie fest!´ ´Ich stecke sie dir…´ ´Nein, bitte nicht!´ ´Quell sie doch nicht.´
´Ich suche einen Stein´. ´Machst du`s?´ ´… einen Knüttel…´ ´Ich kann sie nicht
mehr halten´ ´Steck sie dir in die Hosentasche!´ ´Platsch! Blöde Schlage!´ ´Und
wo ist sie denn jetzt?´ ´Siehst du sie?´ ´Gib den Stock her, ich hab sie.´ ´Die ist
tot´ […]“ (S. 57)
Die dialogisierte Erzählform ermöglicht die Darstellung von Ereignissen in solchem
Tempo, in dem sie wirklich verlaufen würden. Man hat sogar den Eindruck, dass sie
sich gerade in diesem Moment, in dem man es liest, abspielen. Die Kommentare des
Erzählers sind sehr begrenzt um den Redefluss nicht zu stören. Diese Erinnerung ist
charakteristisch für den erfahrungshaftigen Modus, denn zur Sprache wird hier das
139
140
Lämmert, Eberhardt: Bauformen des Erzählens, a.a.O., S. 108.
vgl. Martinez, Matias; Scheffel Michael: Einführung in die Erzähltheorie, a.a.O., S. 40.
37
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
alltägliche, kommunikative Gedächtnis gebracht. Das erzählte greift nach Erfahrungen
von Martha und ihrem Bruder, stellt ihre Emotionen, kindliche Problem. Diese
Erinnerung ist ein kleiner Teil Marthas persönlicher Erfahrungen. Sie hat es selbst erlebt
und deswegen erscheinen sie so genau visualisiert. Dank der Dialogform mach der
Erzähler die Geschichte lebendig. Man hat den Eindruck, als ob man das Geschehen mit
den Augen der Figur wahrnähme. Es ist also ein Beispiel für die Felderinnerungen,
deren Perspektive, sich auf die ursprüngliche Perspektive. Das alles weist darauf hin,
dass diese Erinnerung Marthas autobiographischem Gedächtnis zugehört. Sogar nach
Jahrzehnten blieb sie behalten.
Wenn die Kommentare des Erzählers umfangreicher sind, wenn zum Ausdruck auch die
Figurengedanken kommen, dann spricht man von Dehnung. Da „Siehdichum“ von
Gedanken der Protagonistin, ihren Zweifeln und Träumen überflutet ist, kommt diese
Erzählform am häufigsten vor. Auch innerhalb von Analepsen kann man sie finden:
„So schnell sie konnte, entwischte sie dem Spiegel und verschloss das von ihr
bewohnte Zimmer 114. An der benachbarten Zimmertür stand die Zahl 112.
Martha sah sich um: kein Zimmer 113, vermutlich auch kein Zimmer mit den
Nummern 13 und 213. Ein Hotel im Stil der Fünfziger Jahre,
ein
volksdemokratisches Hotel, und so mit Aberglauben geschlagen! Bis lange hatte
sie angenommen, östlich der Elbe habe man mithilfe des Kommunismus jede
Erscheinung des Lebens erklärt, Glauben und Aberglauben ausradiert, das ganze
Dasein auf Linien gebracht. Diese aus der Reihe tanzenden, polnischen Hoteliers
liebte sie sofort! Und hätte trotzdem auch in einem Zimmer 113 ruhig
geschlafen. Jetzt wollte sie frühstücken. (S. 9)“
Als zeitdehnend gilt hier Marthas Überlegung zum Aberglauben, den sie in Verbindung
mit dem Kommunismus gesetzt hatte. Die Situation hilft ihr eigenes Wissen zu
revidieren. Dabei wird auf das polnische kulturelle Gedächtnis eingegangen.
Die Zeitstruktur von „Siehdichum“ ist mit diesen Beispielen noch nicht völlig
analysiert. Es finden sich hier auch Beispiele für Raffung, d.h. eine längere Zeit - Tage,
Monate oder Jahre werden in einigen Absätzen zusammengefasst.141 Das betrifft
beispielsweise Berichte von Zeitzeugen:
„Am frühesten Morgen waren wir in das verlassene Dorf gekommen. (Dorfname
von mir vergessen). Hier wurden wir ebenfalls von russischen Panzern mit
aufgesessener Infanterie auf gespürt und beschossen und in sie Flucht gejagt.
141
Genette, Gerard: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink Verlag 1998, S. 68.
38
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Nach einigen Stunden Weiterschleichen stieß ich im Wald auf zwei Kameraden.
Wir verbrachten Tage und Nächte ohne zu essen und ohne Schlaf im Dicksicht.
Ich war wie betrunken, als wir uns wieder auf den Weg machten. An der Oder
wurden wir ein drittes Mal auseinandergejagt. Hierbei geriet ich total erschöpft
in Gefangenschaft. Das war am 4.2. in der Nähe von Steinau, auf einem Gutshof.
Was mit den beiden passierte, weiß ich nicht.“ (S. 207)
Der Ich-Erzähler fasst eine längere Zeit mit Worten Tage und Nächte zusammen. Eine
besondere Form von dem zeitraffenden bzw. summarischen Erzählen stellt die Ellipse
dar. Genette bezeichnet Ellipse als „ausgesparte Zeit der Geschichte“142. Man bemerkt
das als einen Zeitsprung. Der Erzähler verzichtet auf die Schilderung der für die
Handlung unwichtigen Situationen, beispielsweise vermeidet er die Schilderung einigen
Tage aus dem Leben der Protagonistin. Auf diese Weise erscheint die Handlung
kohärenter, interessanter und fließender. In dem oben zitierten Fragment wird das durch
Worte: Nach einigen Stunden signalisieren. Ein anderer Beweis liefert folgende
Textstelle, wo der Zeitsprung sich in den Worten: ´Einige Abende später´ offenbart.
„So sitzt Martha Lenders im ersten Rang des Stadttheaters, und hofft dass die
Beleuchtung des Zuschauerraums bald erlischt. […] Einige Abende später,
zwischen elf und zwölf Uhr, als Martha sich damit beschäftigt, ihre auf
Videokassetten umgespielten Filmkopien und Filmschnipsel zu sichten, als
fände sie unter dem alten Material etwas Passendes, Unruhetilgendes, in diesem
Augenblick meldet sich der andere Bruder: […]“ (S. 240)
Schließlich kann man in dem Roman noch die Pausen aussondern. Darunter versteht
man eine Art Stillstand in der erzählten Geschichte. Diese wird durch Kommentare,
Reflexionen des Erzählers oder Beschreibungen, „die insofern nicht in die Zeit der
erzählten Geschichte eingebunden sind“143 unterbrochen. Wichtig ist, dass sie „nicht aus
der Perspektive einer handelnden Person“144 dargeboten werden. Ein ausgezeichnetes
Beispiel stellt die Situation im Instrumentenmuseum. Marthas ziemlich kurzer Besuch
wurde im Buch auf 9 Seiten beschrieben. Offensichtlich ist:
„Instrumente! – Schnell durch die Tür und den Wolldecken-Windfang! Die
Garderobenfrau und Kassenwartin hütet eine einzige Jacke, - vielleicht ist das
ihre eigene. Martha zahlt. Sie redet in Englisch auf die Frau ein, beklagt, dass es
so wenig Museen für Instrumente gibt, so dass die Frau, die kein Wort versteht,
ergeben nickt, die ungestüme Besucherin aber im Auge behält. Martha will alles
sehen!
142
Genette, Gérard: Die Erzählung, a.a.O., S. 76.
Martinez, Matias; Secheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, a.a.O., S. 44.
144
Ebd.
143
39
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Schon immer hat es sie beschäftigt, wieso Menschen aus Schafsdärmen,
Rosshaaren, Tannenholz, Harz, Blech, einfach allem Ding fabrizieren, Geräte
formen, um ihrem Drang, etwas zu sagen, was nicht in die Sprache passt, eine
Brücke zu bauen. […]
Martha mit dem kleinen Bruder im Mai in den Wiesen: jeder sucht nach
dicken Stengeln der Löwenzahnblüte. Schnell ein kinderfingerlanges Stück von
der Blütenstengelröhre abgeknipst und ein Ende davon zwischen Daumen und
Zeigefinger platt gedrückt. Jetzt pusten sie durch das gequetschte `Mundstück`
und der Stengel jault, jammert, furzt, - im hohen Bogen die `Flöten` in die Luft
geworfen und neue fabriziert. Töne suchen, - aber alle sind sich so ähnlich! Am
Rand der Wiese angelangt, wischen Martha und Johannes den Blütenstaub und
die Spuren des milchigen Pflanzensaftes von den Fingern. Eine Weile noch
bleibt ihnen der Rhythmus, diese durch-das-Gras-laufen, sich Bücken, Pusten,
die-Arme-in-die-Luft-Werfen,Der Rundgang im Posener Instrumentenmuseum beginnt enttäuschend, im
ersten Raum stehen Musik-Automaten.“ (S. 30f)
Zwischen der Kartenbesorgung und dem Eintritt in den ersten Raum liegt vermutlich
nicht mehr als eine Minute. In dem Augenblick, in dem die Kommentare eingefügt
wurden, wurde das Geschehen gehalten, die Erzählung geht aber weiter. Den
Erzählverlauf stört, neben dem Kommentar des Erzählers, auch die Einführung einer
Analepse, die sich an Marthas Kindheitserinnerungen bezieht. Diese Erinnerung erfolgt
zweifelsohne aufgrund der Situation. Es scheint als ob es ein Ausschnitt aus dem
Tagebuch wäre, worauf der Satz: „Martha mit dem kleinen Bruder im Mai in den
Wiesen: […]“ hinweist. Auf diese Weise wird auch der Eindruck der Authentizität von
Erinnerungen vermittelt. Darüber hinaus, da es sich hier um die individuellen
Erinnerungen handelt, ist ihr bruchstückhafte und ungeformte Struktur sichtbar. Die
literarische Technik, mit deren Hilfe diese Erinnerungen fixier wurden macht den Leser
zum Beobachter dieses Geschehens. Daniel Schacter bezeichnet solche Schilderungen
als Beobachter-Erinnerungen.
Als dritte Kategorie bei der Zeitanalyse wird die Frequenz besprochen. Gerard Genette
unterscheidet zwei Arten von Frequenz: singulative und iterative. In singulativen
Erzählungen ist das Verhältnis zwischen Erzählung und Diegese 1:1, was bedeutet, dass
einmal passiertes Geschehen nur einmal präsentiert wird, bzw. etwas, was mehrmals
passierte, kommt auch mehrmals zum Ausdruck. Die iterativen Erzählungen dagegen
beziehen sich mehrmals auf dieselbe Situation bzw. beziehen sie sich einmal auf etwas
was mehrmals passiert ist.145
145
Vgl. Genette, Gerard: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink Verlag 1998, S. 82.
40
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
In dem Roman „Siehdichum“ kann man eine Tendenz zu den singulativen Erzählungen
beobachten. Die gegenwärtigen Ereignisse kommen zur Sprache nur einmal. Auf der
intradiegetischen Ebene werden auch vor allem Situationen geschildert, die einmal
passierten und einmal präsentiert wurden. Innerhalb der Vergangenheitsbeschreibungen
kann man jedoch einige Beispiele für iterative Erzählungen finden. Entsprechend heißt
es: „Manchmal, wenn Martha und der Bruder heimwärts gingen und müde den Wald
durchstreiften, legten sie sich noch einmal ins Fichtendickicht und fühlten am ganzen
Körper den Balsam einer abgrundtiefen Traurigkeit.“ (S. 103) In dieser kurzen Analepse
knüpft der Erzähler an Marthas individuelle Kindheitserinnerung an, die hier
fragmentarisch, und ohne Einleitung erscheint. Das Wort ´manchmal´ zeugt von der
wiederholenden Tendenz zur solchen Kindheitsspielen. Die Erinnerungen an die
Kindheit haben bei Martha einen verallgemeinernden Charakter. Davon zeugt auch
diese Textstelle:
„So musste es sein, wenn Bruder und Schwester nach Hause kamen, immer vom
Berg her abwärts, dass zuerst das Dach zum Vorschein kam, und der Rauch aus
dem Schornstein verriet, dass die Mutter vor den Töpfen stand, ungeduldig
vielleicht und voller Vorwurf. Der fiel rasch zusammen, wenn Johannes sie mit
seiner Freude am Draußengewesensein überrumpelte. Rauch in der Luft.“ (S.
127)
Es erfolgt hier eine allgemeine Beschreibung von der Situation die öfters vorkam. Es
wird gezeigt wie es gewöhnlich war, wenn Martha und Johannes nach Hause
zurückkehrten. Martha denkt an die Kindheit anlässlich der Rückreise nach Koblenz.
Darüber hinaus wird die Erinnerung durch die Umgebung, d.h. durch „den zarten
Rauch, der aus den Schornsteinen aufstieg“. (S. 127) Der Erinnerungsreiz gehört also zu
der Gegenwart – Handlung.
Die komplexe anachronische Zeitstruktur des Romans bildet Rahmen für die
Präsentation von Erinnerungen und ist zugleich ein Ausgangspunkt für die weitere
Analyse.
4.2.3. Zu den Erzählebenen und zum Ort des Erzählens
Der ständige Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit berechtigt zur genaueren
Untersuchung der Erzählebenen der Handlung. Wenn man die Theorien von Martinez
und Scheffel berücksichtig, die in Anlehnung an Gerard Genette entwickelt wurden,
41
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
kann man feststellen, dass im Roman zwei Erzählebenen146 vorherrschen. Die in
Gegenwart folgende Handlung gehört zur ersten also extradiegetischen Erzählebene147.
Auf dieser Ebene spielt sich die Martha Lenders - Handlung ab. Diese Basiserzählung
beschränkt sich auf Marthas Spurensuche nach dem verschollenen Bruder. Der
Aufenthalt der Protagonistin in Posen und ihr Treffen mit Henryk Szaruka, dann die
Begegnung mit Ewa Biniewicz und die gemeinsame Reise, schließlich die Rückkehr
nach Hause in Rheinland und erneute Fahrt nach Polen sind auf dieser Ebene verortet.
Die dargestellten Ereignisse vollziehen sich in der Gegenwart und werden im Präsens
erzählt. Es lassen sich im Text genau Angaben zu der „Jetzt-Zeit“ finden; so heißt es
z.B.: „Martha Lenders steht am 29. Oktober des Jahres 2000 gegen ein Uhr mittags in
Poznań auf der Straße (S. 15)“. Die erste Ebene ist auch mit Adverbien wie „heute“
oder „jetzt“ markiert, so heißt es z.B.: „Jetzt spricht er mit Martha […] (S. 75)”, „Heute,
am Morgen des 2. November im Jahre 2000, rennen die Kinder in Poznań raus auf die
Straße […]“ (S. 115). Da die Struktur des Textes ständig verschiedene Belege und
Erinnerungen durchbrechen, weisen solche Wörter daraufhin, welcher Ebene das
Erzählte zugeordnet sein sollte.
Zweifelsohne bilden alle in die Handlung einbezogenen Berichte und Erinnerungen der
Protagonistin sowie auch der Nebenfiguren die zweite Erzählebene, nämlich die
intradiegetische Ebene148. Diese Ebene kann entweder längere Textpassagen umfassen
oder nur kurze eingeschobene Erinnerungen, wie z.B. die von Henryk Szaruka erzählte
Geschichte; so steht es im Text: „Zögernd, wie nur zur Probe, fängt er an zu erzählen:
Meine Familie kommt aus der Ukraine. Die Frauen waren immer katholisch, das war
fast Tradition. (S. 123)“ Henryk Szaruka ist ein Filmmacher aus Posen, der die
Protagonistin auf der dritten Station ihrer Reise begleitet. Diese Figur gehört zu der
Basiserzählung, also der extradiegetischen Ebene, und die geschilderte Erinnerung
erfolgt auf der intradiegetischen Ebene. Der Übergang von der ersten zu der zweiten
Erzählebene hängt oft mit dem Wechsel der Erzählinstanz149 zusammen. Das oben
„Jedes Ereignis, von dem in einer Erzählung erzählt wird, liegt auf der nächsthöheren diegetischen
Ebene zu der, auf der der hervorbringende narrative Akt dieser Erzählung angesiedelt ist.“ (Genette,
Gérard: Die Erzählung, a.a.O., S.163).
147
Martinez, Matias; Scheffel Michael: Einführung in die Erzähltheorie, a.a.O., S. 188.
148
Martinez, Matias; Scheffel Michael: Einführung in die Erzähltheorie, a.a.O., S. 190.
149
Mit dem Wechsel der Ebenen fällt auch der Wechsel von Erzählinstanzen zusammen. Als Leser wird
man, wiederholend so Martinez und Scheffel, „ mit einem zweiten Erzähler und einer Erzählung in der
Erzählung konfrontiert“ (Ebd. S. 75).
146
42
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
zitierte Fragment veranschaulicht diesen Vorgang. Der Er-Erzähler führt die Geschichte
von Henryk Szaruka ein und weiter wird sie von der Figur selbst, also von dem IchErzähler, vermittelt.
Zu der intradiegetischen Ebene gehören auch Schilderungen von Marthas Kindheit und
Berichte des älteren Ehepaares aus dem Altenheim von Odolanów:
„Irgendwo hier muss dieser Lastwagen gefahren sein, und Martha fragt nun
genauer: »Waren Sie hier als der Krieg zu Ende ging?« » Ja das war schlimm.
Als das Schlimmste vorbei war, kammen die russischen Offiziere zu uns ins
Haus, sie haben bei uns gegessen.« Ewa nimmt von den Keksen, Martha mag
jetzt nichts. »Alle Häuser wurden von Russen und Polen geplündert und in
einem Katastrophalen Zustand hinterlassen. Die Russen steckten alle Tage
Häuser in Brand. Die Zur Brandbekämpfung eingesetzten deutschen Bewohner
wurden dann von den gleichen betrunkenen Rotarmisten am Löschen gehindert,
andererseits aber bestraft, wenn die Brände nicht eingedämmt werden
konnten.[…]«“ (S. 178)
An diesem Textabschnitt lässt sich wider den Wechsel zwischen der Gegenwart und der
Vergangenheit beobachten. Die Leute erinnern sich an tragische Momente aus ihrem
Leben und berichten darüber als homodiegetische Erzählinstanzen. Sie gehören zu der
Generation von Leuten, die den Krieg an eigener Haut erlebt hatten. Sie haben keine
guten Erinnerungen aus dieser Zeit, mindesten berichten sie nicht von solchen. Als der
Krieg zu Ende war mussten sie gegen 20-30 Jahre alt sein. Dieses Alter hat eine
prägnante Bedeutung für das weitere Leben jedes Menschen. Obwohl sie jetzt viel älter
sind und ihr Leben gesichert ist, haben sie ständig Angst. Dies veranschaulicht
folgendes Zitat:
„Die Frau, die Elisabeth erwartet hat, beginnt wieder zu flüstern: »Sie haben ihn
eingesperrt, die eigenen Leute!« Er flüstert nicht: »Ja, meine polnischen
Mitmenschen, die Nachbarn und ehemalige Schulkameraden, das war ihre
Abbrechnung. Das ist nun vorbei.« […] Der alte Man redet jetzt von den Russen
[…] Seine Frau macht ein ängstliches Gesicht.“ (S. 178,180)
In diesem Fragment wird deutlich, dass die Frau immer noch Angst hat von der
Vergangenheit zu erzählen. Sie flüstert, als ob sie fürchtete, dass jemand sie hören
würde. Diese Art von Erinnerungen, die das ältere Paar in Anspruch nimmt, bezeichnet
man als besonders emotionale Erinnerungen. Sie gehören zugleich zu einer Reihe von
transmissiven Erinnerungen. Sie konzentrieren sich nämlich auf die Wiedergabe von
eigenen Erfahrungen.
Der Ausgangspunkt
für die Erinnerung
ist
auf der
43
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
extradiegetische Ebene verortet, die Mitteilung eröffnet dagegen eine nächste
Erzählebene.
In dem Roman „Siehdichum“ begegnet man vielen intradiegetischen Ebenen, die aber
im Unterschied z.B. zu Schehrezads Erzählungen, „nicht ineinander verschachtelt
sind“150 sondern unabhängig nebeneinander auftreten. Als längere Binnenerzählung151
kann man die in den Text permanent einbezogenen Berichte von Augenzeugen und
andere Dokumente betrachten. Zwar erscheinen die Mitteilungen aus der Vergangenheit
der Reichsarbeitsdiensteinheit 3/401 im Roman fragmentarisch, trotzdem bilden sie eine
gewisse Ganzheit. Sie schildern das Schicksal der Jungen der Einheit 3/401, die als
letztes Aufgebot des Reichsarbeitsdienstes nach Polen geschickt wurden. Unter ihnen
war Johannes Martens, Marthas Bruder. So heißt es z.B.: „Den dritten Zug der 3/401,
und damit auch Johannes Martens, schickte man in der Morgenfrühe des 22.I. noch in
der Dunkelheit nach kurzem Halt zurück, wieder Richtung Freyhahn“ (S. 54). Diese
Figur gehört ausschließlich zu der intradiegetischen Ebene, weil sie nur in Erinnerungen
und Berichten existiert. In der Gegenwartshandlung kommt Johannes Martens nie als
lebendige, handelnde Gestallt.
Obwohl man die Elemente der intradiegetischen Ebene als abgeschlossene
Vergangenheitsbilder betrachten kann, gibt es im Text auch Stellen, wo sichtbar ist,
dass sie die Gegenwarthandlung ergänzen. Zuerst berichtet der Erzähler der
Gegenwartebene, so heißt es z.B.: „Kamen die Jungen von Adelnau her über Altenau
durch die Wälder, war es für sie am besten, Militsch nördlich zu umgehen […]“. (S.
188) Weiter kann man ein Fragment der Zeitzeugenberichte lesen, das schon auf der
anderen Ebene angesiedelt ist. Die Jungen aus der RAD-Einheit berichten: „Wir
marschierten durch den Wald, machten kurze Pausen in denen wir uns auf Kiefernäste
setzten, die zu Haufen zusammengetragen wurden.“ (S. 188) Auf beiden Ebenen kommt
das Wort ´Wald´ vor, und dies zeigt sich als Bestätigung von Vermutungen des
Erzählers der ersten Ebene. Da es sich in dem zweiten Fragment um die intradiegetische
Ebene handelt, bezeugt auch der Wechsel der Erzählinstanz vom Er-Erzähler zu dem
Wir-Erzähler. In dem ersten Fall gehört der Erzähler nicht zu den handelnden Figuren,
150
Martinez, Matias; Scheffel Michael: Einführung in die Erzähltheorie, a.a.O., S. 77.
„Intradiegetische Erzählung (Binnenerzählung): Erzählung zweiter Stufe, d.h. Erzählung in der
Erzählung einer Figur, die der erzählten Welt einer Rahmengeschichte angehört.“ (Martinez/Scheffel,
Lexikon und Register erzähltheoretischer Begriffe. In: Einführung in die Erzähltheorie, a.a.O., S. 190).
151
44
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
was bedeutet, dass er heterodiegetisch152 ist. Dagegen der kollektive Erzähler im
zweiten Fall kommt in seiner Mitteilung als Figur vor. Der Wechsel von einem zum
anderen Erzähler ist jedoch für die Unterscheidung der Ebenen nicht ausschlaggebend
und obligatorisch, was die Erinnerungen an Marthas Kindheit oder an ihre nahe
Vergangenheit bestätigen. Textbeispiele dafür wurden bereits in dem Kapitel Zur
Zeitstruktur erwähnt.
Die intradiegetische Ebene kommt in dem Roman sehr oft vor. Sie dient nicht nur reiner
Darstellung von Erinnerungen. Martinez und Scheffel sehen darin eine konsekutive
Form von Ebenenverknüpfungen.
„Eine konsekutive oder auch kausale Form der Verknüpfung liegt in all den
Fällen vor, in denen der Binnengeschichte eine explikative Funktion zukommt.
Die Binnengeschichte soll hier erklären, welche Art von Ereignissen die
Situation herbeigeführt haben, in der die erzählende Figur sich in diesem
Augenblick befindet.“153
Entsprechend heißt es:
„Martha verstaunt unter Professor Jaworskis Briefen einen Engel, zieht dessen
flache Flügel aus dem klobigen nach vorn geneigten Leib, die aus dunklerem
Holz gedrechselte Schalmei schraubt sie ihm aus dem Mund. […]
In den Tuchhallen von Kraków, mitten in diesem Wirrwarr der VolkskunstVerkaufsbuden, hing er an einer Schnur, dudelte Constane und Martha eines vor.
Beiden gefiel er sofort. Die Mutter war schneller. Vielleicht hatte Constanze sie
schneller sein lassen. Eines Tages, und das wusste die Tochter, würde die Mutter
ihr diesen himmlischen Boten schenken.
Jetzt hat es Martha plötzlich eilig, zerrt ihr Gepäck durch den Flur, nimmt alles
mit in den Frühstücksraum und bezahlt die zweite Tasse Tee, bevor sie die erste
getrunken hat.“ (S. 55f)
Die kurze, eingeschobene Binnengeschichte dient der Erklärung, woher Martha diesen
Engelchen hat. Nach Carsten Gansel kann man diese Erinnerung als Rückgriff
bezeichnen, denn dieser Einschnitt in den Erzählgang „ist nur kurz, eher peripher, kaum
spürbar und hat beiläufigen Charakter“154.
Anne Dorn beschränkt sich in dem Roman nicht nur auf zwei Ebenen. Wenn auf der
intradiegetischen Ebene eine weitere Geschichte erzählt wird, dann spricht man von der
nächsthöheren Ebene, und zwar der metadiegetischen Ebene. Die Geschichte Professor
152
Sehe dazu genauer den nächsten Kapitel Zur Erzählsituation.
Martinez, Matias; Scheffel Michael: Einführung in die Erzähltheorie, a.a.O., S. 78.
154
Carsten, Gansel: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, a.a.O., S. 76.
153
45
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Jaworskis „von der Suche nach seiner deutschen Kinderfrau“(Dorn, S. 18), bildet dritte
diegetische Ebene, obwohl sie von demselben Erzähler mitgeteilt wurde, der auch auf
der zweiten Ebene berichtet. Offensichtlich ist:
„Zuletzt erzählten sie einander, wovon sie gewöhnlich nie sprachen: So der
Professor aus Polen von der Suche nach seiner deutschen Kinderfrau. Sein
Bruder und er waren zweisprachig aufgewachsen. Diese Ursula war, über seine
Kindheit hinaus zur Familie gehörig, seine Vertraute geblieben[…].“ (S. 18)
Krzysztof Jaworski ist ein Freund von Martha Lenders, den sie vor einigen Jahren in
einer Bibliothek kennen gelernt hat. Er ist ein Historiker aus Warschau, der die ältere
Frau in ihren Nachforschungen unterstützt. Als direkte Figur der Handlung erscheint er
erst wenn sich Martha zum zweiten Mal nach Polen begibt. Bis zu diesem Zeitpunkt
war er nur als Marthas geistiger Begleiter in dem Roman präsent. Die Figur von
Krzysztof Jaworski hat eine relevante Bedeutung für die geschilderte Geschichte. Er ist
ein Medium, das die Vergangenheit mit der Gegenwart, und somit die extra- und
intradiegetische Ebene, verbindet. Zu den diegetischen Ebenen gehören neben den
Erinnerungen an gemeinsam verbrachte Zeit, vor allem Briefe von ihm an Martha und
von ihr an ihn.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in dem Roman „Siehdichum“ die
intradiegetische Ebene dominiert. Sie besteht nicht nur aus Erinnerungen der Figuren
sondern auch aus Mitteilungen des Erzählers, die die gegenwärtige Situation, das
Zustandekommen
erklärt.
Welche
Rolle
spielt
der
Erzähler
bei
der
Erinnerungspräsentation wird im nächsten Kapitel erläutern.
4.2.4. Zur erzählerischen Vermittlung
In den narrativen Texten wird das Geschehen immer von einer Erzählinstanz vermittelt.
Diese ist auch dann vorhanden, wenn sie im Text nicht direkt, explizit erscheint. Der
Erzähler schafft eine Verbindung zwischen der erzählten Story und den Lesern. Da die
Erzählinstanz so wichtig ist, wurden schon mehrere Klassifikationstypen erstellt. Für
die vorliegende Arbeit eignet sich die Einteilung von Gerard Genette, der drei
Erzählsituationen differenziert, scilicet: heterodiegetische, homodiegetische und
autodiegetische Erzählung. Der heterodiegetische Erzähler gehört nicht zu der erzählten
Welt, d.h. tritt nicht als Figur in der erzählten Geschichte auf. Der homodiegetische
46
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Erzähler ist dagegen eine der Figur der dargestellten Welt, die in Ich-Form darüber
berichtet, was sie wahrnimmt. Ein Sonderfall stellt die Wiedergabe eigenen Erlebnissen
von einem homodiegetischen Erzähler155. In einem solchen Fall spricht man von dem
autodiegetischen Erzähler.
Berücksichtigt man dabei den Ort des Erzählers, d.h. aus welcher Ebene wird berichtet,
so spricht man von vier Erzählertypen:
„(1) extradiegetisch-heterodiegetisch (Erzähler erster Stufe, der eine Geschichte
erzählt, in der er nicht vorkommt […]); (2) extradiegetisch-homodiegetisch
(Erzähler erster Stufe, der seine eigene Geschichte erzählt […]); (3)
intradiegetisch-heterodiegetisch (Erzähler zweiter Stufe, der eine Geschichte
erzählt, in der er nicht vorkommt, wie etwa Schehrezad in den Erzählungenaus
den Tausendundein Nächten); (4) intradiegetisch-homodiegetisch (Erzähler
zweiter Stufe, der seine eigene Geschichte erzählt […]).“156
Das Erzählte in dem Roman „Siehdichum“ wird hauptsächlich
von dem
heterodiegetischen Erzähler vermittelt. Der Grad der Anteilnahme des Erzählers an den
von ihm geschilderten Ereignissen wird in dem nächsten Kapitel näher definiert. Jetzt
wird der Versuch unternommen, die Bedeutung dieser Erzählform für die Konstruktion
von Erinnerungen in „Siehdichum“ zu erklären. Aus diesem Grund fällt der Focus auf
die
Analyse
des
extradiegetisch-heterodiegetischen
und
intradiegetisch-
heterodiegetischen Erzählers.
Der Roman beginnt mit einem rückschauenden Bericht aus Marthas Ankunft ins Hotel
„Wielkopolska“ und ihrem ersten Tag in dieser Stadt. Von all dem berichtet der daran
unbeteiligte Erzähler, der einerseits genau sieht, was Martha tut, andererseits einen
Einblick in ihre Gedankenwelt gewährleistet. Dies offenbart sich beispielsweise in
diesem Fragment:
„Jetzt wollte sie frühstücken. Ihre derzeitige Leibspeise war polnischer
Borschtsch, diese rote, würzige Mittagssuppe. Vermutlich war es von nun an
gleichgültig, wann sie was aß, das Alter saß ihr im Nacken. Vielleicht befand sie
sich auf dieser Reise in einem Verwandlungsprozess, für den sich noch kein
Gefühl fand. Wie in dem Schmetterling, der noch einmal sein Winterquartier
verließ, so regte sich in ihr eine gewisse Bedenklichkeit.“ (S. 9)
155
Vgl. Strasen, Sven: Analyse der Erzählsituation und Fokalisierung. In: Wenzel, Peter (Hg.):
Einführung in die Erzähltextanalyse, a.a.O., S. 120.
156
Martinez, Matias; Scheffel Michael: Einführung in die Erzähltheorie, a.a.O., S. 81.
47
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Der heterodiegetische Erzähler, der über „sie“, also Martha erzählt, befindet sich auf der
extradiegetischen
Ebene.
Man
hat
hier
also
mit
einem
extradiegetisch-
heterodiegetischen Erzähler zu tun. Die Mitteilungen des Erzählers machen auf Marthas
Emotionen aufmerksam. Seine Vermutungen, die Marthas Zustand betreffen, sind mit
einer typischen Tendenz, die man bei den älteren Menschen beobachtet, zu erklären.
Diese Phase in der sich Martha gerade befindet bezeichnet Rüdiger Pohl als =
`Lebensrückschau`.
„Das
Hauptziel
der
Lebensrückschau
besteht
darin,
die
Vergangenheit in ein zufrieden stellendes Ganzes zu integrieren“157. Martha versucht ihr
eigenes Leben und eigene Leistungen per distance zu beurteilen. Der heterodiegetische
Erzähler erster Stufe macht den Leser auf Marthas Überlegungen aufmerksam, der
intradiegetische dagegen liefert Informationen aus Marthas Leben, und auf diese Weise
hilft dem Leser ihre Bedenklichkeit zu verstehen. Die Tatsache, dass die Erinnerungen
nicht von der Protagonistin selbst (also dem autodiegetischen bzw. homodiegetischen
Erzähler) ausgesprochen wurden, verstärkt den Eindruck der Objektivität. Einen solchen
Fall stellen Marthas Gedanken über ihren Mann:
„Martha fragt sich zum werweißwievielten Mal: Was war an ihm, dass er der
Vater meiner Kinder geworden ist? Bei dieser wichtigen Frage schaut sie
konsequent und ausdauernd vor ihre Füße, auf den Fußboden, um nichts von
dem zu verleugnen oder gar wegzuwischen, was ihr an ihm so überaus wichtig
war: sein Geruch, seine Nähe, seine Leibhaftigkeit, seine Ungeniertheit, sich
auszuschütten, leer zu machen, und sie, Martha, randvoll damit aufzufüllen.
Wenn sie dann voll von ihm und satt war, restlos befriedigt, erwachte sie wie aus
tiefer Absence. […] Zehn Jahre lang hielt sich das zwischen ihm und ihr, und
kippte urplötzlich: Von einem Tag auf den anderen wachte der Ekel in ihr. Sein
Mund hatte die Fasson verloren, sein Kinn fing an, sich zu spalten. […] Es war
ihr unmöglich mit ihm weiter zu schlafen, und die Kinder verstummten, wenn
sie hörten, wie er von der Treppe her Stufe für Stufe näher kam.“ (S. 250)
Der
extradiegetisch-heterodiegetische
Erzähler
beschreibt
Marthas
aktuellen
emotionalen Zustand. Der intradiegetisch-heterodiegetische Erzähler fasst in wenigen
Sätzen Marthas Beziehung mit ihrem Mann zusammen. Er stellt sowohl das dar, was
Martha an ihm gefiel, als auch das was in ihr Ekel erregte. Martha versucht sich selbst
und ihr Entscheidungen zu reflektieren. Diese Erinnerungen kann man als integrative
Reminiszenzart einstufen, denn Martha versucht hier ihre eigene Lebensgeschichte zu
verstehen und sie integrativer, kohärenter erscheinen zu lassen. Solche Reflexionen
stellt man am häufigsten dann an, wenn „ein stabiler alter Zustand verlassen wird und
157
Pohl, Rüdiger: Das autobiographische Gedächtnis, a.a.O., S. 136.
48
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
ein neuer gefunden werden muss“158. Eine solche Lebensphase hat gerade die
Protagonistin Martha Lenders erreicht. In einem Brief an die Tochter Constanze
schreibt sie:
„Sie wendet das Blatt, schreibt: Lieben Constanze […] Ehe ich wieder zu Hause
bin, möchte ich Dir sagen, dass ich mich gern mit anderen Dingen beschäftigen
würde, als mit dieser Geschichte, in die meine enttäuschten Eltern verflochten
sind, und in der die Hintergründe für das gespenstische Leben, das ich mit
Euerem Vater geführt habe, eine Rolle spielen. Aber seit Ihr nun groß seid und
ich alleine lebe, zwingt mich etwas, wofür es keinen Namen gibt, alles daran zu
setzen, gerade das, was nicht in den Kopf will, auch zu verstehen. Das einzige,
was ich bislang mit Sicherheit behaupten kann, ist, dass ich eine alte Frau bin,
am Ende des zweiten und Beginn des dritten Jahrtausends in einem Europa
genannten Teil der Welt lebe, und alle Selbstverständlichkeit, die mir durch
meine Geburt geschenkt war, verloren scheint. Sollte mein Leben wirklich so
enden?“ (S. 167)
Der Rezipient hat den Eindruck, dass alle ihre Reflexionen zielgerichtet sind, dass ihr
Nachdenken einem gewissen Zweck dient – der Lebensbilanzierung. Die Distanz zu
eigener Lebensgeschichte wird in diesem Moment klar präsentiert. Da Martha eigene
Lage beschreibt und selbst als Gegenstand der Erzählung kommt macht sie zu
autodiegetischem Erzähler.
Der extradiegetisch-heterodiegetische Erzähler erfüllt noch eine wichtige Rolle bei der
Schilderung von Gedächtnisinhalten. Er führt in die Handlung direkte Äußerungen der
Figuren und was dem folgt, auch der Protagonistin ein. In der direkten Rede bringen die
Figuren selbst ihre Erinnerungen zum Ausdruck. Das offenbart sich auch in diesem
Fragment:
„Martha beginnt die Zeit totzuschlagen (und auch zu nutzen) mit: ´…mein
Bruder war vermutlich niemals hier, nur andere Teile seiner Einheit, ganz sicher
der erste und zweite Zug. Eine Arbeitsdiensteinheit hatte drei oder vier Züge –
keine Eisenbahnzüge!´ Und da lacht sie ihre Helferin etwas dümmliches an, weil
sie sich erinnert, dass selbst ihre Kinder fragten: ´Ein Zug? Was für ein Zug?´
´Mein Bruder gehörte zum 3. Zug der 3/401, der bei der Rast kurz vor Militsch
in den frühen Morgenstunden des 22. Januars zurückgeschickt wurde. Die
Jungen hatten ihre Maschinengewehre weggeworfen.`
Solche Geschichten, in denen alles wider die Regel läuft, liebt Ewa! Wenn ihre
Großmutter erzähl […]“ (S. 148)
158
Ebd., S. 137.
49
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Der unbekannte extradiegetisch-heterodiegetische Erzähler leitet eine Binnenerzählung
ein und erteilt das Wort der Martha, die jetzt nicht als Figur der Handlung, sondern als
ein
intradiegetisch-heterodiegetischer
Erzähler
erscheint.
Sie
wird
zum
heterodiegetischen Erzähler, denn sie spricht hier nicht von sich selbst, sondern von
ihrem Bruder und seiner Einheit. Martha ist also nicht unmittelbar an dem Geschehen
beteiligt und tritt als solche nicht auf.
Anne Dorn belebt die Vergangenheit in ihrem Roman mit Hilfe verschiedenen
Erzählinstanzen wieder. Die Geschehnisse vermitteln auch die homodiegetischen
Erzähler. Diese Erzählweise beschränkt sich jedoch nur auf die Briefe und verschiedene
Augenzeugenberichte. Da diese Elemente der Handlung der intradiegetischen Ebene
zugehören, manifestiert sich hier der intradiegetisch-homodiegetische Narrator:
„Ich habe drei oder vier Männer in braunen Uniformen, meiner Ansicht nach
Arbeitsmänner, ohne Köpfe auf der Bahnhofstraße liegen sehen. Dass die Köpfe
durch den Panzer abgefahren waren, glaube ich nicht. So kann ich mir nur
geköpfte Menschen vorstellen, da die Hälse lang aus dem Stehkragen ragten,
ohne zerquetscht zu sein. Diese Angaben beruhen auf Wahrheit, da alles was
man sah, seiner einschneidend wirkte. Sie lagen gegenüber vom Haus des
Baumeisters.“ (S. 112)
Dieser Bericht stammt von einem anonymen Beobachter, der zu der erzählten Welt
gehört, an dem Geschehen jedoch nicht persönlich teilnimmt. Susanne Schneider
bezeichnet einen solchen Erzähler als unbeteiligten Beobachter und ordnet ihn dem
Genettischen homodiegetischen Erzähler zu.159 Da es sich hier um persönliche
Erfahrungen eines Zeugen handelt, kann man noch mal die Worte von Astried Erll
zitieren:
„So können persönliche Erinnerungen erst durch mediale Repräsentation und
Distribution zu kollektiver Relevanz gelangen. Das wird besonders deutlich am
Beispiel von Zeit- und Augenzeugen. Nur durch Interviews oder die
Veröffentlichung von Briefen werden deren Erfahrungen zu einem Element des
kollektiven Gedächtnisses.“160
Dank der Veröffentlichung von den Berichten, die sich in den Archiven in Köln
befinden (Hinweis darauf gibt es in Danksagung am Ende des Romans) gelangen diese
ins kollektive Gedächtnis. Außerdem kann es in diesem Fall von dem Übergang vom
Speicher- ins Funktionsgedächtnis die Rede sein, und die Verwendung des
159
160
Martinez, Matias; Scheffel Michael: Einführung in die Erzähltheorie, a.a.O., S. 82.
Erll, Astried: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 123.
50
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
erfahrungshaftigen
Modus
mit
der
Einbeziehung
von
individuellen
und
Gruppenerinnerungen macht die Vergangenheit präsent.
Die durchgeführte Analyse verdeutlicht, dass es keine eindeutige Antwort auf die Frage
nach der Erzählinstanz gibt. In „Siehdichum“ gibt es mehrere Erzähler, die die
aktuellen, so wie die vergangenen Geschehnisse an den Leser vermitteln.
4.2.5. Zur Perspektivenstruktur
Die Bestimmung der Erzählinstanz bedeutet nicht die definitive Auseinandersetzung mit
der Vermittlerrolle. Wichtig ist nicht nur wer, sondern auch aus welcher Sicht das
Erzählte präsentiert. Genette bezeichnet die Perspektivenstruktur als Fokalisierung.
„Mit den Kategorien der Fokalisierung soll beschrieben werden, ob und inwiefern, die
Informationen, über die der Erzähler verfügt, eingeschränkt sind.“161 Genette
differenziert demzufolge zwischen der:
„1. Nullfokalisierung: Erzähler > Figur (´Übersichte` Der Erzähler weiß, bzw.
sagt mehr, als irgendeine der Figuren weiß bzw. wahrnimmt)
2. Interne Fokalisierung: Erzähler ≈ Figur (´Mitsicht` - der Erzähler sagt nicht
mehr, als die Figur weiß)
3. Externe Fokalisierung: Erzähler < Figuren (´Außensicht` - der Erzähler sagt
weniger als die Figur weiß)“162
In dem Roman „Siehdichum“ erfüllt die Rolle des Vermittlers ein heterodiegetischer
Erzähler. Seine Sichtweise beschränkt sich überwiegend auf die Perspektive der
Protagonistin. Der Leser bekommt Informationen, die auch Martha zur Verfügung
stehen. Mithilfe der internen Fokalisierung kommen Marthas Wahrnehmungsposition
und ihre Gefühle zum Vorschein. Entsprechend heißt es:
„Wie hatten Martha und Johannes es geschafft, bis zu Marthas Antritt als
Pflichtjahrmädchen in Österreich im Kinderzimmer zu schlafen, ohne sich
gegenseitig zu stören? […] Sie ließen einander leben, zählten kein Seufzen, kein
unruhiges Hin- und Herdrehen wenn er oder sie nicht schlaffen konnten. Am
ehesten waren es noch die Gerüche, die Austausch hielten. Martha hatte
angefangen Pflanzen zu sammeln und zu pressen, Johannes hatte Teilstücke von
alten Motoren unter seinem Bett. Wenn Martha das Zimmer putzte, bat er sie,
seinen hochwertigen Ersatzschrott nicht anzurühren.“ (S. 283)
161
162
Strasen, Sven: Zur Analyse der Erzählsituation und der Fokalisierung, a.a.O., S. 120.
Martinez, Matias; Scheffel Michael: Einführung in die Erzähltheorie, a.a.O., S. 64.
51
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Obwohl dies von einem heterodiegetischen Erzähler, der nicht zu der erzählten Welt
gehört, mitgeteilt wurde, kann man hier den Mangel an Objektivität wahrnehmen. Die
Erinnerung an das mit dem Bruder geteilte Zimmer erweckt Zweifel an die
Authentizität der Vergangenheitsschilderung. Die interne Fokalisierung beschränkt den
Einblick in die damaligen Zeiten. In dieser Lebensruckschau zeigt sich das Bild der
Vergangenheit von der Protagonistin idealisiert. Das Zimmer macht hier den Eindruck
eines Paradieses, wo Liebe, Ruhe und Harmonie herrschten. Diese Tatsache lässt sich
verallgemeinern. Auch wenn die Kinderzeit nicht immer glücklich war, (und das lässt
sich nicht widerlegen, denn sie mit der Kriegszeit zusammenfällt) erscheint sie in
Marthas Erinnerungen als ein Märchenland. Sie kehrt gedanklich oft zu dieser
Lebensphase zurück, die schlimmen Erfahrungen lässt sie aber in Vergessenheit ruhen.
Auf die interne Fokalisierung weisen auch zahlreiche Fragen hin, auf die niemand eine
Antwort gibt. Sie beziehen sich auf die gegenwärtigen Situationen, die für Protagonistin
unklar sind: „Wo ist ihr Bettzeug? […] Was ist, wenn er vielleicht schon schläft? […]
Wie nur soll sie ihm sagen, dass er sie heute vergaß?“ (S. 290); auf den Johannes und
sein Schicksal seit der Einberufung: „Vielleicht hatte Marthas schmächtiger, kleiner
Bruder auf der letzten Strecke geschlafen? Vielleicht Hatte er Hunger? Was hatte die
Mutter ihm eingepackt?“ (S. 143); und auf die Zukunft: „Wie stellt sie es an, dass nicht
er bezahlt, sondern sie? Ist es weit, wohin sie jetzt unterwegs sind? (S. 269)“. Wenn
Martha keine Antwort kennt, kennt sie auch der Erzähler nicht. Solche rhetorischen
Fragen tauchen im Text immer wieder auf.
Da Marthas Blickwinkel in dem Roman so gut, wie nie verlassen wird, kann man von
einer ´festen´ Fokalisierung sprechen. Die Erzählperspektive wechselt sehr selten. Ein
Beispiel dafür liefert jedoch folgende Textstelle:
„Sie essen und trinken beide und werden nicht müde, einander anzusehen.
Martha entdeckt Ewas Goldkettchen unter dem roten Schal, Ewa bemerkt eine
glatte, rechteckige Fläche unter Marthas Pullover, einen Brustbeutel, dessen
Vorhandensein die Deutsche in Abständen ertastet. Sie trägt also ihr Geld auf
dem Herzen, vertauscht von einem Moment zum anderen ihr Reiseziel, fragt
einfach so einen ihr fremden Menschen: ´Wollen Sie mit mir reisen?´“ (S. 140)
Man kann hier einen flüssigen Übergang von Marthas zu Ewas Blickwinkel beobachten.
Die beiden Frauen sitzen im Zug unterwegs nach Odolanów. Der erste Satz klingt
neutral, es kann sogar dem Erzähler zugeschrieben werden, der über eine auktoriale
52
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Sicht verfügt. Er bildet zugleich ein Ausgangspunkt für die Präsentation von zwei
verschiedenen Gedanken. Die kurze Textstelle signalisiert das Vorhandensein der
knappen ´multiplen´ internen Fokalisierungen, bei denen „im Wesentlichen dasselbe
Geschehen aus der Perspektive verschiedenen Figuren vermittelt wird“163.
Ein anderes, interessantes Beispiel stellen die Gedanken Marthas und Ewas in Bezug
auf die Kriegszeit. Entsprechend steht im Text:
„In beiden Frauen wohnen noch allerlei Sprüche, die sich nicht belegen können,
aber auch nicht ganz vergessen:
´Das Feuer des Hasses wurde, als der Russe erst da war, von Polen geschürt. Sie
waren es, die die Schwerverwundeten und Leichen fledderten.´
´Für die Deutschen waren wir keine Menschen, sie haben uns
zusammengetrieben wie Vieh, und wenn es darauf ankam, auch so
abgeschlachtet.´“ (S. 165)
Dieser kurze Textausschnitt präsentiert einerseits polnisches Opfergedächtnis, das über
Generationen hinweg präsent ist und das das polnische kollektive Bewusstsein ständig
prägt, andererseits kommt zum Ausdruck das Opfergedächtnis der Deutschen. Marthas
Gedanke liefert eine neue Sichtweise auf die deutsche Vergangenheit. In dem
polnischen kollektiven Gedächtnis sieht man eine Tendenz die Deutschen als Täter
einzustufen. Die Protagonistin repräsentiert hier die ältere deutsche Generation, die den
zweiten Weltkrieg überlebt hatte. Obwohl sie diese Zeit in ihren Erinnerungen nicht
genauer anspricht, wandelt sich hier ihr Aussage zur Generationsstimme, die nicht
gegen das polnische offizielle Gedächtnis auftritt, sondern ihr eine neue Orientierung
gibt. Eine solche Präsentation nähert sie dem antagonistischen Modus nach Astried Erll,
hier wird sie jedoch vielmehr als eine Arte der Aufhebung eines Antagonismus
verstanden. Es ist ein Versuch das kollektive Gedächtnis im Medium der Literatur zu
revidieren und zu rechtfertigt.
4.2.6. Zur Raumdarstellung
Die eindeutige Bestimmung des Handlungsortes in „Siehdichum“ ist schwer zu
realisieren, denn dieser an mehrere Schauplätze gebunden ist. Die Protagonistin
163
Ebd., S. 66.
53
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
befindet sich auf der Reise nach Polen. Als geografisch-physikalischer Raum gelten hier
also die von Martha in Polen besuchte Städte (wie Warschau, Krakau, Posen) und
Dörfer, so wie ihr deutscher Wohnort (Koblenz). Diese realen Orte erscheinen vor allem
auf der extradiegetischen Ebene der Handlung. Außerdem spielen sie als Hintergrund
der Erinnerungen eine bedeutende Rolle. Nebenan findet man im Roman
Beschreibungen oder wenigstens Benennungen von Orten, die in Berichten der Soldaten
und in anderen Erscheinungen der intradiegetischen Ebene der Handlung vorkommen
(Ostrów, Odolanów, Militsch usw.).
Für die vorliegende Arbeit ist die von Carsten Gansel vorgeschlagene Klassifizierung
legitim. Er differenziert zwischen Handlungsraum, atmosphärisch - gestimmtem Raum,
Anschauungsraum, perspektiviertem, symbolischem und kontrastierendem Raum. In
dem Roman „Siehdichum“ überwiegen drei von ihnen. Als gestimmt bezeichnet Gansel
Räume, die mit einer besonderen Atmosphäre wahrgenommen werden. Die von der
Figur subjektiv empfundene Atmosphäre kann durch gerufene Assoziationen bestimmt
werden.164 Als solcher kann in diesem Roman unwidersprüchlich der Wald angesehen
werden.
Der Wald taucht in Erinnerungen und Gedanken Marthas mehrmals auf. Auf der
extradiegetischen Ebene der Handlung geschieht das aufgrund gegebener Situation, wie
beispielsweise in diesem Fragment: „Über den Fußbodenbohlen rennt eine langbeinige
Spinne. […] Im Wald sitzen überall Spinnen und Käfer und Larven auf der Lauer. Hier
aber existieren sie frech in Gegenwart […]“(S. 35) oder beruht es auf reiner
Assoziation: „Sie […] riecht wieder den Moder, ganz wie im Wald.“ (S. 43) bzw. „[…]
der Geruch des Waldes umringt Poznań, dringt über die Straßen vor bis auf die Plätze
mit den zielstrebig eilenden Menschen. […]“(S. 97)
Des Weiteren, was auch für vorliegende Arbeit relevanter ist, gilt der Wald als Auslöser
von Erinnerungen. Er wird mehrmals zum Ort des Erinnerungsabrufs. Das Wald-Motiv
führt in die Handlung Johannes-Thema ein. In jedem Moment Marthas Alleinseins im
Wald leitet sie ihre Gedanken zum Bruder, sowohl während der einsamen Reise von
Krakau nach Posen:
164
Vgl. Haupt, Birgit: Zur Analyse des Raums. In: Wenzel, Peter: Einführung in die Erzähltextanalyse,
a.a.O., S. 70.
54
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
„Darauf war sie nicht gefasst – ja, ja, das war der Wald! So plötzlich und
unerwartet stand er vor ihr. Keinem Menschen, nicht einmal sich selbst hatte sie
dieses Reiseziel genannt. Es gab keinen Grund dafür, nur dieses Gefühl: Im
Wald. Im Wald musste es gewesen sein. Johannes, der kleine Bruder, war nie
zurückgekehrt.“ (S. 11)
als auch einige Meter entfernt von Ewa und dem Taxifahrer in der Nähe von Militsch:
„Es gibt hier nur den dichten Wald, der die Wiesen mit vorgestreckten Fingern
berührt in aller Zärtlichkeit. Alles was Martha bislang gedacht hat von Wäldern
und Bäumen, fällt ins Vergessen: Hier steht der Gegner oder auch der Freund,
mit dem Johannes und sie so spielerisch Umgang hatten! Ihre Idee, dass der
Bruder im Wald sein muss, geborgen unter Zweigen, nähert sich aus Geräuschen
[…]. “ (S. 184)
Schon in diesem Textabschnitt deutet der Erzähler daraufhin, dass dieser Ort für Martha
so emotional geladen ist nicht nur deswegen, dass dort Johannes verschwunden war.
Der Wald kommt oft in ihren Kindheitserinnerungen vor. Der Wald als Platz ist
unentbehrlich mit Marthas und Johannes Kindheit verbunden. In Erinnerungen an diese
Zeit wurde er zum Spielplatz der beiden.
„Martha und der Bruder rannten im Morgennebel gern in den Wald […]
Gleichzeitig steht sie auch im Wald, an dieser besonders schönen,
geheimnisvollen Stelle, wo sich zwei mit Moos überwucherte, im Sommer meist
trockene Entwässerungsgräben kreuzen. Sie könnte die Gräben verlassen und
unter den überhängenden Fichtenästen verschwinden. Der Brüder könnte gut,
wenn er schnell genug nachkommt, ihre Fußspur vom noch nicht ganz wieder
aufgerichteten Moos ablesen. Er zockelt aber in Rufweite hinterher, singt sich
eins, ab und zu schreit er: Martha! Wo bist du!“ (S. 57f)
Nach Gansels Gliederung der Räume, könnte man den Wald nicht nur als
atmosphärisch-gestimmten Raum bezeichnen, sondern auch als symbolischen Raum.
Das Wald-Motiv kann einerseits für das Gefährliche, das Fremde, die Verschollenheit,
schließlich für den Tod stehen. Offensichtlich ist: „Martha liebte es sehr von nicht
enträtselbaren Lauten umgeben, dazuzugehören und sich doch in der Fremde zu fühlen.
Zumindest so wie im Wald!“(S. 37) Andererseits kann der Wald als Sicherheit bzw.
Schutz vor der Gefahr gesehen werden. Demzufolge sagt Martha: „Kein Wald
gefunden, keinen Schutz unterm Laubdach der Bäume, den falschen Weg
eingeschlagen“ (S. 110)
Der Wald spielt in der Gegenwart-Handlung als auch in den Erinnerungsinszenierungen
von „Siehdichum“ eine große Rolle. „Der Wald übernimmt die Regie“ (S. 162).
55
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Darüber hinaus „ist [er] so groß, so unerschöpflich als Thema, weil unbeschreibbar.“ (S.
274), dass es unmöglich wäre ihn in allen Erscheinungen hier zu präsentieren.
Als symbolisch kann man auch den Ort SIEHDICHUM betrachten. Dieser Ort zählt
nicht zu den Schauplätzen der Handlung, ist aber ihr unerreichbares Ziel. Dieses Dorf,
den „Ort an dem die Reste der 3/401 aufgerieben wurden“ (S. 222) versucht Martha
Lenders erfolglos während ihrer Reise zu finden. Dieser Name stammt von Herrn
Jakobs, dem anderen Bruder, der sagt: „Ich habe das so gelesen. Etwas mit großem `S`
vorweg und jedenfalls `i`.“(S. 245) Niemand ist also sicher, ob es z.B. nicht Siegda war.
Siehdichum kann als: Guck, hinter dich! Guck, was hinter dir bleib! Schau ringsum, in
alle Richtungen! Schau! Sei wach! Guck, was nach dir bleib! verstanden werden. Es hat
noch eine andere Bedeutung. „Siehdichum hätte man das nennen können, was beide
[Martha und Ewa – D.B] von Anfang an treiben“ (S. 206) Durch diese Aussage wird
deutlich gemacht, dass ´Siehdichum´ nicht nur als materieller Ziel die Gedanken der
Protagonistin verfolgt. Es bezieht sich im Algemeinen auf die Tätigkeit des Erinnerns.
Als nächstes wird der Aktionsraum und seine Rolle bei der Inszenierung von
Erinnerungen der Analyse. Aktionsraum bezieht sich auf die handelnden, agierenden
Figuren. Es ist „ein Raum der Bewegung“165. Als solche wirkt auf den Leser z.B. die
Trasse mit wichtigsten Polnischen Sehenswürdigkeiten in Warschau, die Martha und
Krzysztof gemeinsam durchstreifen. Während des Rundgangs besichtigen sie Plätze, die
für das polnische Volk, bedeutend sind. Man könnte diese Orte als Erinnerungsorte im
Sinne von Pierre Nora bezeichnen, die das kollektive Gedächtnis stützen.166 Dazu zählt
man beispielsweise die Tafel, die an die letzte Barrikade des Bonza-Bataillons erinnert
oder das Denkmal des Unbekannten Soldaten, das nicht nur bei der Protagonistin
sondern auch bei Textrezipienten Erinnerungen an die Opfer des Krieges wachruft.
Darüber hinaus löst dieses Kriegesdenkmal bei Martha Kindheitserinnerungen,
Erinnerung an den Bruder und an die Feier:
165
Haupt, Birgit: Zur Analyse des Raums. In: Wenzel, Peter: Einführung in die Erzähltextanalyse, a.a.O.,
S. 71.
166
Der Begriff Erinnerungsorte geht auf Pierre Nora, einen französischen Historiker. Als Erinnerungsorte
bezeichnete er nicht nur geographische Orte sondern auch Ereignisse, Personen, Kunstwerke. Für Nora
sind die Erinnerungsorte alle loci, die als historischer Zeugnis mit einer symbolischen Bedeutung
zusammenhängen. Auch ein Schulbuch kann dazu gehören, wenn es zum Objekt eines Rituals wird. Sie
rufen Erinnerungen auf der kollektiven Ebene. Vgl. Fauser, Markus: Einführung in die
Kulturwissenschaft, a.a.O., S. 129f.
56
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
„Sie fahren am Sächsischen Garten entlang, er spricht vom Denkmal des
Unbekannten Soldaten. Nein, so tief in diesem Park waren Martha und ihre
Tochter nicht. An unbekannte Gefallene zu denken, ist seit dem Ersten
Weltkrieg in ganz Europa heilige Pflicht. Oh, diese Feiern am dörflichem
Kriegerdenkmal, wenn Johannes und Martha sich fest in die Arme zwicken
mussten, um nicht zu lachen, wenn des Kantors Glatze rot und röter wurde bei
diesem Gesang: Deutschland, heiliges Wort.“(S. 276f)
Durch diese Worte setzt die Autorin nicht nur die individuellen Erinnerungen Marthas
in Gang, sondern appelliert viel mehr an das kulturelle Gedächtnis der damaligen
Dorfgemeinschaft. Durch Zeremonialität wird die Erinnerung an die anonymen
Soldaten, die im Krieg ihr Leben opferten, gestützt. Ein Erinnerungsort
für ein
bestimmtes Kollektiv ist auch Umschlagplatz, von dem die Leute aus Ghetto in die
Lager abtransportiert wurden.
„Sie eilen sich und stehen sofort zwischen den lichtgrau, glatt polierten
Marmorwänden. Krzysztof Jaworski […] steht vor einer Lücke im Stein. Ein
Schritt und er wäre entlassen, ins Grüne. […] Martha schaut zu Boden und der
ist aus Stein. Krzysztof Jaworski steht und liest die in den Marmor eingehauenen
Zeichen, vierhundert Wort. […] Die vielen, vielen Menschen, die am
Umschlagplatz in die Waggons stiegen, hatten jeder einzeln auch einen Namen.
Hier weiterzudenken, scheint Martha lebensgefährlich. Durch den Einschlupf
zum Grün hin zieht der Wind. Hier also gab es `drei Kilo Brot und ein Kilo
Marmelade` für jeden der freiwillig kam. Brot! Marmelade! Der Hunger war der
Helfer der Schergen. Irgendwo hier muss ein Bahngleis gewesen sein. Hier also
fand der Wechsel von der Verzweiflung in letztes, nacktes Elend statt:
Abtransport. Aus.“ (S. 280f)
Martha weiß genau wo sie sich befindet. Dieser Raum als Ort des Schreckens vermittelt
eine bestimmte Atmosphäre. Für Martha als eine Deutsche, als Nachkomme der Täter
kommt es schwer dies zu ertragen, es ist „lebensgefährlich“. Noch genauer kommt das
zum Ausdruck in dem Moment, in dem „sie sich entschuldigt, dass sie die Blumen
vergaß und […] leise knickst.“ (S. 281) Dies geschieht an demselben Ort, wo vor 30
Jahren „ein deutscher Staatsmann mit seinem Kniefall Raum geschaffen für sie beide“
(S. 281) hatte. Dieser Satz ruft Assoziationen mit Person des Bundeskanzlers Willy
Brandt. Da diese Ereignisse nicht so entfernt in der Vergangenheit sind, erinnern sich
sehr gut daran sowohl Martha Lenders als auch Krzysztof Jaworski. In diesem Fall kann
von dem Generationen-Gedächtnis die Rede sein. Das Ehrenmal des jüdischen Ghettos
ist jedoch auch ein Medium des kulturellen Gedächtnisses und einer der Elemente des
monumentalen Modus, der im Roman öfters zum Vorschein kommt.
57
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Die Beschreibung des Mahnmals für die Opfer des Aufstandes im Warschauer Ghetto,
und eigentlich seiner Umgebung erfolgt ziemlich genau. Offensichtlich ist: „Da liegt ein
Strauß Tulpen auf der dritten Stufe von sieben. Direkt am Sockel des Reliefs leuchten
einige weiße Blüten. Neben der unteren, zusammengesunkenen Figur steht ein Strauß
wilder Blumen in einer Blechbüchse.“(S. 281) Dieser Erinnerungsort wird, Gansel
zufolge, als ein Anschauungsraum präsentiert. Der Anschauungsraum ist überwiegend
auf das Sehen konzentriert. Die Beschreibungen eines solchen Raums sind am
objektivsten, denn diese für mehrere Personen gleich wären. In diesem statischen Raum
befinden sich die Figuren, dort finden die im Text beschreibenden Ereignisse statt. Er
ermöglicht eine Fernsicht bzw. eine Überschau.167
Wie es an diesen Beispielen gezeigt wurde, ist es schwer den einen oder den anderen
Schauplatz eindeutig zu klassifizieren. Die Grenzen zwischen ihnen sind sehr flüssig, so
dass der jeweilige Ort zu verschiedenen Raumtypen zugeordnet sein kann und dabei
verschiedene Gedächtnisinhalte transportiert.
4.2.7. Zu der Intertextualität und der Interdiskursivität
Unter Intertextualität versteht man „alle Bezüge eines literarischen Textes auf andere
literarische und außerliterarische Texte“168 Diese Relationen und Verknüpfungen
zwischen den Texten können auch bei der Inszenierung von Erinnerungen eine
bedeutende Rolle spielen. Darüber hinaus fängt kein Text vom Punkt Null an,
demzufolge steht jeder Text im Kontakt zu einem anderen Text.169 Der Roman
„Siehdichum“ ist keine Ausnahme von dieser Regel.
Es gibt unterschiedliche Verfahren, wie man intertextuelle Bezuge in den Text
involviert. Genette führt einen Oberbegriff für alle diese Techniken, und zwar die
Transtextualität. Seiner Differenzierung nachgehend findet man in dem analysierten
Werk Beispiele für Paratexte, Intertextualität und Metatextualität.
167
Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, a.a.O., S. 42.
Olivier, Scheiding: Intertextualität. In: Erll, Astried; Nünning, Ansgar. (Hrsg.): Gedächtniskonzepte
der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin, New York:
Walter de Gruyter 2005, S. 53 – 72, hier: S. 53.
169
Vgl. Ebd., S. 55.
168
58
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Die Handlung in „Siehdichum“ ist mit zwei Zitaten eingeleiten. Nach Genette würde
man sie als Motti bezeichnen. Sie gehen dem Text voran, wurden aber auch auf keine
Weise kommentiert. Sie selbst sind wie ein „Kommentar zum Text, dessen Bedeutung
auf diese Weise indirekt präzisiert oder hervorgehoben wird.“170 Sie knüpfen inhaltlich
an den Inhalt des Textes an, aber das erschließt sich erst nach der Lektüre des Romans.
Das erste Zitat steht in direktem Bezug zur Marthas Suche nach dem verschollenem
Brüder. Es stammt von Jean Paul und lautet: „Kein Mensch kan[n] der Ersa[t]z des
anderen sein!“ Obwohl „Marthas Begehren, den Brüder neben sich zu empfinden
[Jahrzehntelang - D.B.] geschlummert“(S. 17) hatte, musste es einmal wieder aufleben,
denn niemand konnte ihr den Bruder ersetzten. Das zweite Zitat bilden die Worte von
Paul Klee: „Sollte alles dann gewusst sein? Ach, ich glaube nein!“ Diese Feststellung
kann man auch der Protagonistin zuschreiben, denn in der Endphase ihrer Suche gibt sie
nach und sagt: „Es ist nun genug.“ (S. 298) In diesem Zusammenhang könnte man auch
die Worte Marthas Tante erwähnen: `Mann muss nicht alles erinnern, manches ruht
besser im Vergessen`. (S. 55) Auf diesen Satz rekurriert in folgender Äußerung selbst
die Autorin Anne Dorn:
„Ich glaube, etwas kann erst im Vergessen ruhen, wenn es sozusagen
abgearbeitet bzw. verarbeitet ist. Zum Erinnern gehört ja notwendig das
Vergessen. Aber wann kann man vergessen? Man kann erst vergessen, wenn
man das wirklich für sich konkret erinnert und benannt hat. Dann ist die Seele
überhaupt erst in der Lage mit diesem Ereignis zu leben, und dann kann es dem
Vergessen überantwortet werden. Sagen wir so: Es wird nicht verschoben, es
tritt ab, das ist etwas ganz anderes als das Verdrängen. Das Verdrängen ist ganz
einfach, aber es gibt keine innere Ruhe, es gibt keine Lebensstärke. Leute, die
verdrängen, die werden oft von den äußeren Umständen getrieben, ja gelebt. Erst
nach dem Erinnern kann man erleichtert sein und sagen: „Ja, es war wie es war
und nun kann ich das so stehen lassen, es quält mich nicht mehr“.171
Obwohl Martha den Bruder nicht gefunden hat, scheint sie endlich mit der
Vergangenheit zurechtgekommen zu sein. Man könnte vermuten, dass sie auch zu
solchen Schlussfolgerungen kam, dass nicht alles gewusst sein sollte.
Die paratextuelle Gestaltung des Romans ist nur ein Ausgangspunkt für die weitere
Suche nach der Intertextualität. Beispiele für intertextuelle Elemente, die sich auf das
170
Gerard, Genette: Paratexte. Frankfurt/Main: Campus Verlag 1989, S. 153.
Gansel, Carsten; Hernik – Młodzianowska, Monika: „Armut besteht aus einem seelischen Mangel“ –
Carsten Gansel und Monika Hernik im Gespräch mit Anne Dorn. Gießen 2008.
171
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Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
kulturelle Gedächtnis beziehen und die im Roman aktualisiert werden, sind zahlreich.
Einerseits findet man Elemente der polnischen literarischen Tradition in Form von in
den Text involvierten Fragmenten von Gedichten führenden und weltbekannten
polnischen Dichtern: Czeslaw Milosz (S. 21) und Wisława Szymborska (S. 65, 91).
Andererseits erinnert die Autorin ständig an das Märchen von Brüdern Grimm
„Brüderchen und Schwesterchen“. Fragmente dieser Geschichte vermischen sich mit
den Berichten aus Marthas Suchaktion. Wenn die Gedichte immer eingeleitet werden
und dann auch kommentiert:
„Henryk hinterließ, als er morgens ging, den Prospekt einer Veranstalltung, auf
dem ein Gedicht von Wislawa Szymborska in fünf Sprachen zu lesen ist, auch in
der deutschen. Es heißt
JEDENFALLS
Es hätte geschehen können.
Es hat geschehen müssen.
Es war schon früher geschehen. Später.
Näher. Ferner.
Es ist nicht dir geschehen.
Du überlebtest, denn du bist der erste gewesen.
Du überlebtest, denn du bist der erste gewesen.
Weil selbst. Weil die Menschen.
[…]
Scheinbar gibt es nichts, was dieser Frau unbekannt ist, sie hat auf alles eine
Antwort, und wenn es Fragen sind.“ (S. 91)
kommen die Märchenfragmente plötzlich und auch verschwinden ohne irgendwie
angesprochen zu werden. Offensichtlich ist:
„Johannes und Martha hatten es nie geschafft, den beim Anblick einer
Sternschnuppe erlaubten Wunsch für sich zu behalten; ihr Wünschen musste
also zugleich die Erfüllung sein. Sie fanden das nicht weiter schlimm.
`Des Abends, wenn die Sterne Am Himmel glänzten und Schwesterchen müde
war, legte es seinen Kopf auf den Rücken des Rehkälbchens. Das war sein
Kissen, auf dem es sanft einschlief. Und hätte Brüderchen nur seine menschliche
Gestalt gehabt, es wäre ein herrliches Leben gewesen.` Martha hat Mühe, aus
dem Graben wieder herauszukommen. Da liegt eine Rolle verrosteter Draht, in
dem sie sich beinahe verfängt.“ (S. 201)
Die im Roman zitierten Gedichte erscheinen nicht nur als intertextuelle Elemente. Sie
dienen nicht nur der Verewigung des Werkes oder bloßer Erinnerung an es. Sie
erscheinen vor allem im Leben der Protagonistin, wirken auf ihre Empfindungen, ihre
60
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Stimmung. Eine andere Rolle soll den Märchenfragmenten zugeschrieben werden. Sie
bilden eine andere Ebene der Handlung. Die Geschichte von Brüderchen und
Schwesterchen entwickelt sich unabhängig von der Martha-Handlung. Nichtsdestotrotz
passen sie ausgezeichnet zu der aktuellen Situation und Gefühlen der Protagonistin.
Die Art und Weise wie Anne Dorn ihre Texte konfigurier ist sehr interessant. Sie
verweist nicht nur auf verschiedene Autoren, sondern spiegelt auch auf ihr literarisches
Schaffen an. Sie baut in ihren Text nicht nur die intertextuelle Elemente ein. Sie bedient
sich auch der Metatextualität. Anne Dorn lässt dem Erzähler einige Prätexte
kommentieren, präsentieren bzw. interpretieren. Als Beispiel kann man hier die
Aussage betreffs des Buches „Herz der Finsternis“ zitieren: „Der Reisende in Josef
Conrad Roman findet im Urwald, weit entfernt von anderen Europäern, einen
Wahnsinnigen und zerlesene Bücher.“ (S. 39) Ansonsten spricht sich die Protagonistin
selbst in einem Innermonolog über die polnische Schriftstellerin Hanna Krall aus:
„Heh, sie! Sind sie wirklich Polin? Ich habe seit Tagen mit niemandem richtig
gesprochen, erlauben sie mir, sie etwas zu fragen? Sie sind so viel jünger als ich,
wie konnten sie ihre Geschichten schreiben? Sich in Opfer wie Täter
hineindenken, obwohl sie weder Opfer noch Täter gewesen sind? Ich glaube
ihnen. Helfen sie mir, an andere Wunder zu glauben. […] Sie haben
Kinderherzen beschrieben, die vor Hunger zum dunklen, festen Punkten
geworden sind. Und den Arzt, der das sieht und festhält, damit diese GhettoKinder ihre unglaubliche Konzentration als Nachricht weitergeben. Was, meinen
sie, bleibt von verschwundenen Menschen, die einfach weg sind, ohne den
kleinsten Rest“ (S. 39f)
Sie nimmt in dieser Aussage Bezug auf das Werk von Krall „Zdążyć przed Panem
Bogiem“. Martha überlegt sich, wie kann man von etwas erzählen, und dazu noch so
überzeugend, wenn man das nicht selbst erlebt hat.
Die Verwendung von Medien und Praktiken, die das kulturelle Gedächtnis stützen,
dient der Repräsentation von Vergangenheit. Die intertextuellen Elemente wie Gedichte
von Milosz und Szymborska, das Zitat aus der Erzählung „Lida“ von Aleksander
Jurewicz, der Ausschnitt aus einem Lied oder die Märchenpassagen sind auf den
monumentalen Modus der Erinnerung zurückzuführen.
Als zusätzliche Darstellungsverfahren von Erinnerungen benutzt die Autorin die
Interdiskursivität. Diese Form von Textgestaltung zeichnet sich durch die Bezogenheit
auf außerliterarische Rede aus. Die Geschichte wird in einem solchen Fall mit Hilfe
61
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
alltagssprachlichen bzw. gruppenspezifischen Ausdrücke vermittelt. Im Roman
„Siehdichum“ findet man viele polnische Ortbenennungen und ihre Deutsche
Entsprechungen. Manchmal kommen sogar ganze Sätze auf Polnisch vor: „`Jedziemy
do Krakowa` Hat er Krakau erwähnt? `Warschau. Warszawa!`“ (S. 132). Da Martha
sich in Polen befindet, ist das nicht überraschend. Polnisch ist die Sprache ihrer
aktuellen
Umgebung.
Außerdem
sind
interdiskursive
Elemente
in
Marthas
Erinnerungen an die Kindheit und ihr Familienhaus vorhanden:
„Doch geschah in der Oberlausitz, was Martha sehr beschäftigte: Großmutter,
Großtanten und `Woga`, wie die Urgroßmutter genannt wurde, entschwanden in
eine andere Welt, sobald sie zusammentrafen. Sie sprachen dann wendisch.
Martha liebte es sehr, von nicht enträtselbaren Lauten umgeben, dezuzugehören
und sich doch in der Fremde zu fühlen. Zumindest so wie im Wald. Man neckte
sie, setzte ihr Klöße vor mit unaussprechlichem Namen, schickte sie, etwas zu
holen, von dem sie nicht wusste, was es wohl war. Immer seltsame Spiele de
Abschieds: Sagte sie der Großtante Aufwiedersehen, wurde gleich mehrstimmig
widersprochen: `Nein, die Martha kommt nicht wieder, die kommt nicht mehr in
die Polackei!` und sie dann: `Das ist keine Polackei!` Und die anderen: `Ach so,
- na dann vielleicht…` Man umarmte und winkte sich lange.“ (S. 37)
Diese Erinnerungen an das Leben zu Hause bilden Inhalte des autobiographischen
Gedächtnisses, denn sie weisen Selbstbezug auf. Der Erzähler berichtet von
Ereignissen, die Martha selbst erlebt hatte. Dank den Dialogelementen - wortwörtliche
Rede - erscheinen die Erinnerungen visualisiert und wirklichkeitsnah, obwohl ihre
Reichweite Jahrzehnte beträgt. Es wird sogar davon berichtet, wie Martha sich damals
gefühlt hat. Dies stimmt überein mit der Feststellung von Hans Joachim Markowitsch:
„Sich an die eigene Biographie zu erinnern, heißt, zu wissen, wie man eine bestimmte
Situation erlebt und wie man sich gefühlt hat.“172 Außerdem ist dieses Fragment ein
gutes Beispiel für die Feld – Erinnerung.
In diesem Kapitel sollten noch die in den Text eingeschobenen Berichtfragmente und
Briefe erwähnt werden. Die Zeitzeugenberichte betreffs des Schicksals der RADEinheit oder solche, die von der Erschießung Aufständischer aus Warschau erzählen,
sollten dem historisierenden Modus zugeordnet werden. Die in ihnen geschilderte
Vergangenheit gilt als abgeschlossen, und kann keinem Wandel unterliegen. Durch die
Verwendung von Erinnerungen einzelner Personen, der Betroffenen, werden die
172
Manuela Lenzen: Die Sache mit dem geblümten Kleid. In: Gehirn & Geist, Heft 5/2005. S. 48.
62
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Erfahrungen dieser Reichsarbeitsdiensteinheit wieder belebt. Carsten Gansel schreibt,
dass:
„das was von einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgeblendet,
abgewiesen, ausgemustert oder verworfen wurde, keineswegs gänzlich verloren
bzw. vergessen ist. Es kann sehr wohl in materiellen Spuren gesammelt,
aufbewahrt und einer späteren Epoche zugeführt werden, in der es dann neu
gedeutet wird“.173
Das Speichergedächtnis, von dem hier die Rede ist, bezieht sich auf die historische
Fakten, die Anne Dorn durch ihre Tätigkeit wieder belebt. Die Dokumente, die Martha
Lenders zur Verfügung hatte, die ihr der andere Bruder – Herr Jakobs – gegeben hatte,
besorgte sich Anne Dorn von den realen Zeitzeugen oder aus Archiven. Belege dafür
befinden sich in Danksagung:
„Die historischen Fakten, soweit sie die Reichsarbeitsdiensteinheit 3/401
betreffen, verdanke ich Bruno Dierke und vielen von ihm rechtzeitig
angesprochenen, inzwischen nicht mehr auffindbaren Zeitzeugen. […] Alle im
Roman verwendeten dokumentarischen Materialien befinden sich im
Historischen Archiv der Stadt Köln.“ (S. 303)
Das alles bestätigt die Korrektheit der schriftlichen Darstellung der Geschichte möglicht
genau.
Durch
Wiedergebrauch
dieser
Fakten
gelangen
sie
ins
kulturelle
Funktionsgedächtnis.
4.2.8. Zur Figurenkonzeption – Johannes Martens als Gedächtniskonstrukt
Um zu verstehen wie wirklich das Erinnern in dem Roman „Siehdichum“ funktioniert,
soll vor allem ergrünet werden, wie sich die Protagonistin Martha die Person des
Bruders vergegenwärtigt. Johannes Martens erscheint in der Handlung indirekt. Er ist
keine real handelnde Figur. Er kommt zur Sprache nur in Marthas Gedanken und
Träumen, deswegen kann man ihm diese Äußerungen nicht wirklich zuschreiben. Das
lässt sich mit diesem Zitat belegen: „Zu Martha kam der Bruder im Traum. Niemand
noch hatte es ihr gesagt, dass er vermisst war, aber er stand eines Nachts vor ihr und bat
um eine Brille: ´Ich kann nicht mehr sehen! Hilf mir! ´“ (S. 97) Diese Situation findet
keine Bestätigung in anderen Mitteilungen des Erzählers.
Gansel, Carsten: Rhetorik der Erinnerung. – Zu Literatur und Gedächtnis in den ´geschlossenen
Gesellschaften´ des Real-Sozialismus zwischen 1945 und 1989. In: Gansel, Carsten; Korte, Hermann:
Rhetorik der Erinnerung – Zu Literatur und Gedächtnis in den ´geschlossenen Gesellschaften´ des RealSozialismus zwischen 1945 und 1989. Göttingen: V&R unipress 2009, S. 9-16, hier: 13f.
173
63
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Da Johannes nur auf der intradiegetischen Ebene präsent ist, lässt sich diese Figur nicht
einfach beschreiben, denn alles was man von ihr erfährt ist subjektiv, und hauptsächlich
aus Marthas Sicht dargeboten. Man kann also eine These riskieren, dass man hier mit
einer figuralen expliziten Charakteristik zu tun hat174.
Johannes ist eine statisch konzipierte Figur, die aufgrund dessen, dass sie ein
Gedächtniskonstrukt ist, nur aus der Perspektive abgeschlossener und unveränderbarer
Vergangenheit charakterisiert wird. Dies gelingt vor allem durch Erinnerungen. Martha
erinnert sich an den Bruder häufig ohne ein wichtiges Zweck dabei zu haben. Ihre
Erinnerungen werden durch verschiedene Gegenstände, Bilder und die Umgebung
hervorgerufen. Schacter bezeichnet das als einen assoziativen Abruf.175 Offensichtlich
ist:
„Panne auf leeren Chaussee. Tiefdunkelblauer Spätherbsthimmel,
Sternschnuppenhimmel. Ein Wunsch frei – und da, noch einer! Johannes und
Martha hatten es nie geschafft, den beim Anblick einer Sternschnuppe erlaubten
Wunsch für sich zu behalten; ihr Wünschen musste also zugleich die Erfüllung
sein. Sie fanden das nicht weiter schlimm.“ (S. 201)
Die Erinnerung wird unmittelbar durch die nächtliche Stimmung in Gang gesetzt. Ein
ähnlicher Fall stellen die Erinnerungen an Johannes und die einmal unterm Dach
gefundene Fledermäuse. Veranlasst durch das Theaterstück „Die Fledermaus“ erinnert
sie sich daran.
Jede Erinnerung an den Bruder aktiviert autobiographische Gedächtnisbestände der
Protagonistin. Aleida Assmann unterscheidet dabei zwei Modi: Ich-Gedächtnis und
Mich-Gedächtnis.176 Die oben zitierten Fragmente bilden Inhalte des Mich174
Gansel spricht von zwei Techniken von Figurendarstellung: entweder wird die Figur durch eine andere
Figur charakterisiert (die figurale Charakteristik) oder wird diese von den Erzähler, d.h. aus seiner Sicht
bestimmt (die auktoriale Charakteristik). Darüber hinaus kann man von einer expliziten also direkten,
oder impliziten also indirekten Beschreibung die Rede sein. Die erste Charakteristik kommt oft in
Kommentaren, in Dialogen und Monologen vor, die zweite dagegen basiert vor allem auf spezifischen
Denkweisen bzw. Verhaltensweisen. – Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, a.a.O.
S. 39.
175
Vgl. Schacter, D. L.: Wir sind Erinnerungen. Gedächtnis und Persönlichkeit, a.a.O., S. 115.
176
Das Ich-Gedächtnis ist verbal und deklarativ, die Erinnerungen werden bewusst angerufen und in
Form einer Erzählung konstituiert, was ermöglicht Distanz zu sich zu nehmen. Die Erinnerungen des
Mich-Gedächtnisses sind flüchtig und diffus, sie erscheinen unbewusst, als Antwort auf gewisse Reize
der Umgebung, die als Erinnerungsauslöser funktionieren: Orte, Gegenstände, Gerüche und Geschmäcke.
Vgl. dazu ausführlich: Assmann, A.: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und
Geschichtspolitik. München: C.H. Beck 2006. S. 119-124.
64
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Gedächtnisses. Marthas Ich-Gedächtnis kommt zur Sprache vor allem in der Situation,
wo sie Ewa ihre letzte Erinnerung an Johannes anvertraut:
„Sie berichtet der jungen Polin, dass es ihr so leid tut, sich nicht in Liebe vom
Bruder verabschiedet zu haben, ´Wir haben uns gestritten. Es ging um einen
Schall, ein Stück Fallschirmseide. Johannes hatte feste Hände: ´Gib her, das ist
mein Schal! ´ Und ich: ´Der gehört mir, ich habe ihn geschenkt bekommen und
gerade erst mitgebracht.´ Veilleicht besaß er wirklich selbst einen,
Fallschirmseide konnte man irgendwoher ergattern, aber wir haben uns den
Schal gegenseitig von Hals gerissen.“ (S. 214)
Dieses Geständnis ist für die Protagonistin nicht einfach, denn dieses Ereignis hatte für
Martha weit reichende Konsequenzen. Einerseits hat sie Gewissensbisse, dass sie sich
von dem Bruder nicht ´in Liebe´ verabschiedet hat. Andererseits kommt hier ihre
Objektivität zum Vorschein. Mit dem Satz „Veilleicht besaß er wirklich selbst einen,
Fallschirmseide konnte man irgendwoher ergattern, aber wir haben uns den Schal
gegenseitig von Hals gerissen“ bringt sie zum Ausdruck eigene Reflexionen, denen sie
erst nach Jahren gewachsen war. Da dieser Streit mit großen Emotionen verbunden war,
zeugt die genaue, wortwörtliche Wiedergabe. Darüber hinaus weist die Art und Weise,
auf die Martha dieses Ereignis im Gedächtnis eingespeichert hat, auf eine besondere Art
von emotionalen autobiographischen Erinnerungen. Pohl Rüdiger stellt fest, dass
manche Ereignisse, die plötzlich und überraschend auftreten, die verschiedene Gefühle
hervorrufen und die man sich nach Jahren exakt, oft detailliert vergegenwärtigen kann,
sich in das Gedächtnis wie Blitzlicht-Foto einbrennen.177 Demgemäß kann man die
oben erwähnte Erinnerung an den Bruder als eine Blitzlicht-Erinnerung.
Des Weiteren kann man Marthas autobiographische Erinnerungen auch der
Klassifizierung von Daniel Schacter unterziehen. Folglich werden also Feld- und
Beobachtererinnerungen der Protagonistin untersuchen, die Informationen zum
Johannes-Thema liefern. Das folgende Beispiel liefert hier die Erinnerung ans Johannes
Aussehen, die durch ein Foto unterstützt wird:
„Martha holt noch einmal und nun in die Ruhe die letzte Fotografie von
Johannes aus ihrer Brieftasche: Ja, so war er. Immer ein Leichtgewicht, aber
doch glatt, mit glatt gespannter Haut. Lange schaut sie dem fotografierten
Bruder in die Augen. Ein wenig sind es die der Mutter, der Haaransatz vom
Vater. “ (S. 94)
177
Pohl, Rüdiger: Das autobiographische Gedächtnis, a.a.O., S. 73.
65
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Marthas Bemühen um seine Charakteristik ist auch an diesem Textausschnitt sichtbar:
„Er hatte als Kind das borstige Haar des Vaters. Man schnitt ihm einen Pony.
Und dann hieß es: ´Mein Gott, der hat ja ein Strohdach!´ Als sie ihn zum letzten
Mal sah, hatte er sich Pomade ins Haar geschmiert, sich also, wie man so sagt,
entpuppt, bevor er verschwand.“ (S. 204.)
Diese Art von Erinnerungen, sowohl die erste als auch die zweite, könnte man als
Felderinnerungen einstufen, den die Protagonistin sieht sich nicht als handelnde Figur.
Man hat den Eindruck, dass man mit ihren Augen den Bruder wahrnimmt und man fühlt
ihr emotionales Engagement. Eine völlig andere Situation und damit die neue
Sichtweise kommen zum Vorschein bei Erinnerungen an die Kindheitsspiele. Das
Spielmoment wird immer genau geschildert, mit vielen Einzelheiten, so dass man sie
sich gleich vorstellen kann, wie etwa in diesem Fragment:
„Da geht Johannes: ´Lauser! Lümmel!´ Wie gut er weiß, dass alle ihm etwas
zugute halten, er ist ja der Kleine. Seine Augen blitzen, und wie er feixt! In der
Hand hält er das kleine Säckchen, das er mir von hintern ins Kleid stopfen will.
Das Drecksäckchen, sein dreckiges zusammengezwirbeltes Taschentuch mit
werweißwas drin! Jetzt hüpft er, hüpft hinter mir vorbei, aber das macht er
immer so, damit ich denken soll, diesmal kriegt jemand anderes den Plumpsack.
Nicht umdrehen! Ihr dürft euch alle nicht umdrehen! Ich sehe genau, wenn er
mir gegenüber den Arm hochhebt – alle quietschen: ´Nein! Nein!´ Du hast aber
Pech, mein Lieber, ich renne sofort los, hab das Säckchen schon mit der Hand
aufgefangen, es war gar nicht richtig unter meinem Hemd! Ich erwisch dich,
erwisch dich, da! Kannst nach mir schnappen und spucken, du hast ihn wieder!
Hast verloren! Ich stehe wieder an meiner Stelle im Kreis. Plumpsack!
Plumpsack! Dreh dich nicht um, du bist tot, spielst nicht mehr mit, bist aus dem
Kreis, ich habe dich überholt, jetzt spiele ich mit den anderen!“ (S. 224)
Der Ich-Erzähler, der mit Martha gleichzusetzen ist, präsentiert hier eine lustige
Situation aus der Kindheit. Johannes ist in dieser Erinnerung ein lebendiges, lustiges
Kind. Diese Erinnerung ist innerhalb des Familiengedächtnisses verortet. Die
Erinnerung an die Kindheit, als Element des autobiographischen Gedächtnisses zeichnet
sich mit genauer Wiedergabe, auch wenn sie nicht mehr als Feld-Erinnerungen
erscheinen, sondern aus Distanz erfolgen. Davon zeugt diese Textstelle: „[…] ich renne
sofort los, hab das Säckchen schon mit der Hand aufgefangen, es war gar nicht richtig
unter meinem Hemd!“ Martha sieht sich hier als agierende Person.
Eine zusätzliche Quelle von Informationen betreffs Johannes liefern die Briefe und
verschiedene andere Dokumente. Eine der bedeutendsten Mitteilungen ist die von
66
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Deutschem Historischem Institut aus Warschau, die vier mögliche Verläufe Johannes
Dienstes schildert. Der Jungen konnte entweder von polnischen Zivilisten ermordet
werden, befand sich in einem Lager oder Gefängnis, wurde den Russen übergeben oder
starb in polnischer Gefangenschaft. In dieser Hinsicht kann man Johannes Martens als
stellvertretend für seine Generation betrachten. In dem Roman taucht er als einer „der
zweihundert Neuen in der Einheit 3/401, die es gar nicht mehr gab, nur gegeben hatte,
und eigentlich geben sollte“ (S. 229) Das Schicksal Tausenden von Männer, die am
Krieg beteiligt waren und spurlos verschwanden, ähnelt dem des Johannes.
„Siehdichum“ ist voll von Berichten und Zeugenaussagen zu der RAD - Einheit 3/401
und Johannes kann auch als Vertreter aller dieser Stimmen von Opfer des Krieges, die
sich beklagten, verstanden werden. An individuellem Beispiel wird all das gezeigt,
wovon die ganze Generation betroffen wurde. Die jungen und unerfahrenen Männer im
Alter von etwa 16 Jahre, wurden hinterhältig einberufen, und ohne Chance fürs
Überleben sich selbst gelassen. Als Mitglied der RAD 3/401 hat er das Schicksal der
ganzen Gruppe geteilt. In einem amtlichen Brief an den Vater, der vor Martha den Sohn
zu finden versucht, steht:
„Der dritte Zug der Abteilung 3/401 – nach den Unterlagen bzw. Aussagen
musste ihr Sohn dort gewesen sein – wurde am 26.1. 1945 in einem uns
unbekannten Dorf im Kreise Wohlau zersprengt! Nur wenige entkamen. So ist
es nach unseren Unterlagen immerhin möglich, dass Ihr Sohn am 26.1.1945 oder
kurz danach in Gefangenschaft geriet und in Polen blieb.“ (S. 203)
Diese Mitteilung bestätigt die These, dass Johannes das Schicksal vieler junger Männer
teilte. Er selbst sah sich als einer der vielen anderen, als Mitglied einer Gruppe,
deswegen auch in Briefen an Schwester verwendete er wechselhaft die Ich- und WirForm.
„´Bibsi, ich werde gerade noch mal im Vogtland geschundet! Soll ich Dir sagen,
wie es hier aussah, als wir ankamen? Ein Saal nur mit Strohsäckchen auf dem
Boden, ringsum Sodom und Gomorrha. Uns nimmt ja keiner ernst! Bis der
Arbeitsdienst aus Schillbach abhaut, bleiben wir hier. Ich kann in der Zeit das
Leistungsabzeichen machen, aber 7,5 Meter Kugelstoß schaffe ich nie. Halte mir
beide Daumen – sonst muss ich Dich bei Gelegenheit, wenn wir uns wieder
sehen, kalt machen!“ (S. 205)
In seinem kurzen, nichtsdestotrotz wichtigen Brief beschreibt der Junge schwere
Bedingungen unter denen er leben musste. Johannes Erfahrungen stehen grundsätzlich
im Zusammenhang mit den Erfahrungen seiner Kommilitonen. Aleida Assmann
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Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
behauptet, dass Generationen „eine Gemeinsamkeit der Weltauffassung und
Weltbemächtigung“178 teilen. Mit dem Text stimmt das überein. Johannes, und mit ihm
seine ganze Familie, erlebten das, was für tausende von Menschen, die in dieser Zeit
lebten, kennzeichnend war.
Alles was der Leser von Johannes Kindheit weiß, erfährt er aus Erinnerungen der
Protagonistin. Die Informationen über sein weiteres Schicksal, also seit der Einberufung
in die RAD - Einheit liefern seine Postkarten und Briefe aus dem Kriegfeld oder die
Mitteilungen verschieden Ämter. Diese Figur ist ein Beweis für die Kraft des
Gedächtnis, denn Marthas Worten nachgehend: „Wer nicht registrier wird, fällt aus
jedem Gedächtnis“ (S. 256)
4.2.9. Zur Analyse des Erzählschlusses
Das Ende jedes Werkes ist so wichtig wie der Anfang, oder noch wichtiger. Eben
deswegen ist auch in der erzähltheoretischen Forschung angebracht diesen Aspekt
gründlich zu erfassen. Gansel differenziert zwischen offenem, d.h. die Geschichte hat
keinen endgültigen und eindeutigen Schluss, und dem geschlossenem Ende. Im zweiten
Fall wird die Geschichte mit einer harmonischen Lösung beendet, z.B. mit Heirat oder
Happyend.179 In „Siehdichum“ stellt das Ende des Romans das Ende Marthas Reise und
somit der Suche nach dem verschollenem Bruder und dem Ort Siehdichum. Sie ist
erschöpft und will sich damit nicht weiter beschäftigen. Offensichtlich ist:
„Viel zu spät steht Martha vor dem Gebäude, in dem jener Herr, den Krzysztof
Jaworski empfiehlt, sein Amt ausübt. Sie würde ihn gerne sehen, denn er ist sein
Freund, aber bitte nichts von ihm hören! Es ist nun genug. Es gibt
SIEHDICHUM, das nicht zu finden ist, und die treuen Berichte derer, die es
gesehen haben – und Brüderlichkeit. Diesen Zustand, dass man unverbrüchlich
verbunden bleibt, ohne auch nur, das Geringste zu erwarten, und
entgegennimmt, was der andere schenkt.“ (S. 298)
Die Erklärung des heterodiegetischen Erzählers scheint den Gedanken Marthas
entnommen zu sein. Das signalisiert wenigsten das Ausrufezeichen. Martha verzichtet
auf die weitere Suchaktion, fühlt sich aber entschuldigt, denn die brüderliche Liebe ist
unverbrüchlich. In diesem Sinne kann man diesen Schluss als geschlossen bezeichnen.
178
179
Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses, a.a.O., S. 186.
Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, a.a.O., S. 64f.
68
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Zwar hat Martha sich nach dem Schicksal des Bruders nicht erkündigt, aber sie hat vor
sich selbst bezeugt: ´Es ist schon genug.´ Die Reise der älteren Person hatte zum Ziel
die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, mit eigenem Gewissen. Zu ihrem
Lebensabend versuchte Martha ihre eigene Ruhe zu finden. Indem sie aufgegeben hat,
hat sie höchstwahrscheinlich auch ihre Ruhe gefunden. Die Feststellungen betreffs der
weiteren unfruchtbaren Nachforschungen ist jedoch nicht das endgültige Ende des
Romans. Martha hat sich entschieden Warschau zu verlassen und nach Koblenz zu
kehren. Zum Abschied hat sie Krzysztof Jaworski ins jüdische Restaurant eingeladen.
„Jetzt trinken sie hellen Wein, vorab. Im strahlend weißen Raum steht ein
schwarzer Flügel wie ein Bräutigam im Frack. Ein Pianist und eine Flötistin
beginnen zu spiele. Die Kerbelsuppe kommt und die beiden alten, von ihren
Brüdern früh verlassenen Menschen essen sie mit Genuss. Bevor der Hauptgang
aufgetragen wird, ist Martha versucht, Fotografien ihrer Kinder und Enkel aus
der Brieftasche zu ziehen, sie hat ihm noch nichts davon gezeigt, aber die Hand
zögert, er hat ja nichts dergleichen, es könnte ihn schmerzen.
Die Klößchen aus Mehl und geriebenen Mandeln sind auf dem Tisch, und
Wild und gebackene Äpfel. Krzysztof Jaworski weist mit einer kleinen Geste auf
eine Sängerin, welche die Flötistin ablöst. Martha hört gut. Ein polnischjüdisches Lied?
Vorgetragen von einer klaren, dennoch schwebenden Stimme. Die beiden am
Tisch lauschen und schweigen noch nach dem Ende des Vortrags.“ (S. 300)
Der Text bricht in diesem Moment ab. Der Leser kann nur vermuten, dass Martha am
nächsten Tag abfährt, und dass sie sich mit Krzysztof noch mal am Flughafen trifft. Es
wurde auch nichts darüber ausgesagt, ob das ihr letztes Treffen war oder nicht. Der
Leser kann nur vermuten was ihnen die Zukunft bringt. Es gibt also mehrere alternative
Schlüsse. Dieses Enden kann man jedoch nicht nur als offen einordnen. Für den Leser
der auf 300 Seiten der Bekanntschaft der beiden älteren Leute folgte, war das ein
erwartetes Finale180. Krzysztof, ihr geistiger Begleiter während des ersten Aufenthalts in
Polen, wurde nun zum Gastgeber während des zweiten Besuchs in Warschau. Krzysztof
verstand sie besser als jemand anderer, denn er hat, so wie sie, seinen Brüder während
des Weltkrieges verloren. Es wundert als nicht, dass sie ihn noch vor der Abfahrt zur
Abschiedsfeier eingeladen hat.
180
Gansel führt neben dem offenen und geschlossenen Ende noch die Unterscheidung zwischen
erwartetem und unerwartetem Schluss. Im ersten Fall wird die Spannung bzw. das Konflikt aufgelöst, alle
Zusammenhänge sind logisch und verständlich. Beim unerwarteten Ende bricht der Text ohne logische
Erklärung ab. Die Zusammenhänge können nicht nachvollzogen erden. (vgl. Gansel, Carsten: Moderne
Kinder- und Jugendliteratur, a.a.O., S. 65f).
69
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
4.3. Einordnung in die Gattungstypologie
Die durchgeführte Analyse erlaubt die eindeutige Einordnung des Romans
„Siehdichum“ zu der Subgattung des Gedächtnisromans. Als einer der wesentlichsten
Faktoren, der diese Klassifizierung ermöglicht, ist die Vergangenheitsorientierung. Der
Roman ist angereichert mit Vergangenheitsschilderungen und Rückwendungen. Auf
etwa 300 Seiten, ausgenommen die jeglichen Erinnerungen und Zeitsprünge, sind nur
einige Wochen aus Martha Lenders Reise nach Polen, als gegenwartsbezogene
Handlung zu lesen. Der Rezipient lernt die Protagonistin schon während ihrer dritten
Station kennen. Das was sie in Warschau und in Krakau recherchiert hatte, erfährt man
aus Rückwendungen.
Es werden nicht nur fragmentarische Schilderungen Marthas Reise in den Text
involviert, sondern es wird auch ihr Lebensgeschichte präsentiert, wie es z.B. in diesem
Textabschnitt zu lesen ist: „Im November 1944 […] Martha war Pflichtjahrmädchen,
leistete ihren Dienst in einer Familie, deren Männer im Felde standen.“(S. 33) bzw. ihr
Erwachsenenleben:
„Ins Leben verflochten blieb sie bislang, weil sie rechtzeitig vor dem Ende ihres
Grafikerinnen- und Hausfrauendaseins eine Arbeit nur für sich selbst erfand […]
Damals schickte sie zweiundzwanzig Minuten Schmalspurfilm einer neu
gegründeten Fachhochschule zu. […] Immerhin, sie hatte Menschen
beeindruckt. Das war ihr gelungen, obwohl sie die Regeln, wie man filmisch
Eindrücke schafft, nicht kannte.“ (S. 14)
Zum Ausdruck kommen auch die Erfahrungen von Nebenfiguren. Die Geschichte von
der Freundin von Krzysztof Jaworski oder die Erinnerungen des Ehepaars im
Altenheim. Nicht zu unterschätzen sind auch die immer wieder vorkommenden
Zeitzeugenberichte und Briefe. Die Dominanz der intradiegetischen Ebene ist somit
nicht zu widerlegen. Der Übergang von der Gegenwart zur Vergangenheit ist oft kaum
zu merken. Es geschieh ohne richtige Einleitung, plötzlich und unkontrollierbar. Diese
häufige Durchbrechung der Chronologie kann dem Rezipienten beim Lesen Probleme
bereiten und das Verstehen erschweren, denn man hat den Eindruck, die Protagonistin
kann eigene Gedanken nicht beherrschen. Beispielsweise im Zuhause von Krzysztof
Jaworski, wo der Blumenduft ihre Erinnerungen auslöste. Offensichtlich ist:
„Im kleineren Zimmer, das ihr besonders gefällt, weil da zwei Fenster aus zwei
verschiedenen Himmelsrichtungen dem Licht freie Bahn geben, steht ein
70
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Blumenstrauß. `Das musste sein`, sagt der Hausherr. Anemonen, Szilla und
Lerchensporn. Martha möchte die Blumen aus der Vase reißen und sich unter die
Nase
halten.
Buschwindröschen
und
Bach-Vergissmeinnicht;
Sumpfdotterblumen und Wiesenschaumkraut; Maiglöckchen und Zaugen: Wie
sie rannten und kletterten, sich unter Zäunen hindurchzwängten und an
Felswände schmiegten: Der Mutter den Strauß – hier! Von mir! Und immer das
bange Warten, ob sie sich umdreht – und lächelt.“ (S. 273)
Diese Erinnerung, diese Gedanke taucht ohne jeglichen Grund oder Ziel. Sie dient
keinem Zweck, bleibt unvollständig und unkommentiert, also stellt ein typischer Fall
von individuellen Erinnerungen, die ´fragmentarisch, flüchtig und labil´ sind. Wie es zu
bemerken ist, wichtig ist trotz all dem nicht der Prozess des Erinnerns, denn dieser ist
kaum zu spüren, sondern der Gegenstand der Erinnerung. Die Rückwendungen sind oft
durch die aktuelle Situation ausgelöst und durch diese bedingt. Diese Reize gehören
immer zu der Basiserzählung, d.h. sie befinden sich auf der extradiegetischen Ebene.
Als Beispiel könnte man noch die Erinnerungen an Kindheitsspiele und an die Ferien
bei den Großeltern nennen, die
die nächtliche Beobachtung des Hofes aus dem
Hotelfenster in Gang setzte.
Die rekonstruierten Ereignisse sind oft aus der Perspektive schon bekannten Endes
dargeboten. Das sieht man genau im vorliegenden Zitat: „In jener Silvesternacht, als
noch niemand wusste, dass Johannes fünfzehn Tage später `einrücken` musste, blies
unten im Dorf wer Trompete.“(S. 33) Darüber hinaus betrachtet Martha ihre
Kindheitserinnerungen durch Spiegel der gelebten Jahre. Dies veranschaulicht die
Erinnerung an den Streit mit dem Bruder, und Marthas Aussage: „Veilleicht besaß er
wirklich selbst einen, Fallschirmseide konnte man irgendwoher ergattern, aber wir
haben uns den Schal gegenseitig von Hals gerissen.“ (S. 214) In dem Dialog zwischen
Martha und Ewa zeigen sich die Vergangenheitseindrücke stabil und kohärent. Sogar
die interne Fokalisierung, also die im Roman vorherrschende Sicht des Erzählers als
einer beteiligten Figur, ist als ein charakteristisches Merkmal des Gedächtnisromans zu
nennen.
Kennzeichnend für „Siehdichum“ als ein Gedächtnisroman ist der grundsätzlich
authentische Charakter der Vergangenheitsschilderungen. Neben genauen Orts- und
Zeitangaben, vor allem bei der Schilderung des Schicksals jungen Leute aus der Einheit
3/401, so steht es im Text: „Die Einheit 3/401 Adelnau bewegte sich am 21.1.1945
gegen 14 Uhr von Adelnau aus westwärts, die Panzerspitze der Russischen Armee kam
71
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
von Kalisch über Ostrowo und Krotoschin hörbar näher“, enthält er auch intertextuelle
Referenzen, wie z.B. zahlreiche Tagebüchereinträge oder Briefe, die Martha Hinweise
für die Brudersuche liefern sollten. Beispielsweise der Brief Marthas Vaters, aus dem
man entschlüsseln konnte, dass Johannes sich in polnischer Gefangenschaft befand.
„23. Mai 1950, an das Deutsch Rote Kreuz […] durch die hiesige
Gemeindeverwaltung wurde uns im Juni oder Juli 1947 mitgeteilt: Laut amtl.
poln. Gefangenenlisten befindet sich ihr Sohn Johannes Mertens, geb. am
16.6.1928, in polnischer Kriegsgefangenschaft.“ (S. 81)
Zu diesem Thema befindet sich im Roman noch ein Zeitungsartikel zum einen als ein
Nachweis der Authentizität des Briefes für Martha Lenders, zum anderem auch für die
Leser als außertextuelle Referenz. Offensichtlich ist: „Rzeczpospolita plusminus, Maj
1996, die Kultur-Beilage einer polnischen Tageszeitung. Hören Sie: `Nach dem Krieg
waren in Polen deutsche Gefangene Realität`.“ (S. 256)
Außer dem gibt es im Text kurze Sätze, manchmal nur stichwortartige Äußerungen, die
auch auf den Eindruck der Authentizität Einfluss ausüben. Man könnte das sogar als
Hinweise für einen Regisseur betrachten, als allgemeine und kurze Beschreibung der
Situation: „Das Wetter ist gut, der Flug ruhig, die Ankunft pünktlich: […]“ (S. 268)
oder „Ewas besuch ist für Martha ein Geschenk des Himmels, und sie kommt obendrein
mit Geschenken: […]“ (S. 255), „Ewa strahlt: […] Ewa ist dabei: […]“ (S. 253)
„Warszawa: […]“ (S. 136)
Alle diese Elemente veranschaulichen die Tatsache, dass „Siehdichum“ sich auf die
Wiedergabe von Vergangenheit konzentriert und nicht auf der Darstellung des
Erinnerungsprozesses. Wichtig ist nicht die gegenwärtige Situation der Protagonistin,
sondern ihre Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
5. Schlussbetrachtung
Vorliegende Arbeit ist von dem Leitgedanken geprägt, dass die deutsche
Gegenwartsliteratur von dem ´Gedächtbnisboom´ beeinflusst wurde. Am Beispiel des
Romans von Anne Dorn wurde gezeigt, mithilfe welcher narratologischen Verfahren
die Gedächtnisbestände in fiktionalen Texten ihre Aufnahme finden. Nun soll noch die
Frage, wie das Erinnern im Roman funktioniert, beantwortet werden.
72
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
In diesem Gedächtnisroman geht es grundsätzlich um die Präsentation der individuellen
Memoiren von Martha Lenders. Die 75-jährige Frau ist an den Punkt ihres Lebens
angelangt, in dem sie ihr Leben revidieren muss. Sie versucht hier ihre eigene
Lebensgeschichte zu verstehen und sie kohärenter erscheinen zu lassen. Neben den
individuellen bzw. autobiographischen Erinnerungen, die hier fragmentarisch und
perspektivisch
erscheinen,
kommen
in
dem
Roman,
durch
Vermittelung
narratologischer Verfahren, auch die Elemente des kollektiven und kulturellen
Gedächtnisses zum Ausdruck.
Die Ergründung einzelner narratologischer Praktiken, die die Autorin Anne Dorn in
„Siehdichum“ benutzt, zeigte, welche Rolle sie bei der Inszenierung von Erinnerungen
spielen. Fundamental für die Analyse war die anachronische Zeitstruktur des Romans.
Da die Ereignisse nicht chronologisch dargeboten werden, signalisiert schon der Beginn
des Romans. Der Anfang in medias res bringt mit sich eine Voraussetzung für das
Nachholen früherer Ereignisse. Die Erinnerungen gelingen zur Darstellung mithilfe
zahlreicher Analepsen. Die Reichweite und der Umfang dieser Rückwendungen sind
unterschiedlich. Einerseits holt der Erzähler die Zeit Marthas Aufenthalts in Warschau
und Krakau nach, und in diesem Fall beschränkt sich die Reichweite höchstens auf
einige Wochen. Andererseits kehrt er mithilfe von Rückwendungen zu Marthas
Kindheit und zur Kriegszeit zurück. Die Reichweite dieser Schilderungen beträgt sogar
über 60 Jahre. Die Analyse der Frequenz zeigt, dass es sich hier grundsätzlich um
singulative
Erzählungen
handelt.
Die
Iteration
beschränkt
sich
auf
die
Kindheitserinnerungen der Protagonistin und hat einen generalisierenden Charakter.
Die Dominanz der intradiegetischen Ebene, die mit den retrospektiven Erzählungen eng
zusammenhängt, ist einer der Komponente, die die Einordnung des Romans zu der
Subgattung der fiction of memory - dem Gedächtnisroman - ermöglicht. Zu den anderen
Faktoren, die solche Systematisierung möglich machen, zählen: die Vergegenwärtigung
der Vergangenheit aus der Perspektive des bekannten Endes; Dialoge und zahlreiche
Briefe, die den Einblick in Marthas Lebensgeschichte gewährleisten; Erinnerungsreize,
die sich auf der extradiegetischen Ebene befinden; der Eindruck der Authentizität, der
den genauen Zeit- und Ortsangaben, sowie den intertextuellen Referenzen zu verdanken
ist; und schließlich die interne Fokalisierung, sowie die Konzentration des
heterodiegetischen Erzählers auf den erinnerten Inhalten und nicht auf dem
Erinnerungsprozess.
73
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
Die Einführung von intertextuellen und metatextuellen Elementen, wie Gedichte,
Märchenfragmente und Hinweise auf andere literarische Werke, weisen auf den
monumentalen Modus und das kulturelle Gedächtnis hin. Die Zeitzeugenberichte und
der Übergang vom Speicher zum Funktionsgedächtnis hängen dagegen mit dem
historisierenden Modus zusammen. Sogar durch Auswahl bestimmter Räume stiftet die
Autorin verschiedene Gedächtnistypen. Die Handlungsorte können nämlich gleichzeitig
verschiedenen
Raumtypen
Gedächtnisinhalte
zugeordnet
transportieren.
Der
werden
Wald
ist
und
der
dabei
Ort
des
verschiedene
individuellen
Erinnerungsabrufs. Die historischen Plätze in Warschau, die als Aktions- und
Anschauungsraum des Romans gelten, könnte man als Erinnerungsort des polnischen
kollektiven Gedächtnisses klassifizieren.
Der Untersuchung wurde auch Johannes Martens unterzogen, denn diese Figur erscheint
im Roman indirekt. Marthas Bruder existiert nur auf der intradiegetischen Ebene. Er ist
also eine statische Figur181, ein Gedächtniskonstruk, das keinem Wandel mehr
unterliegen kann. Marthas Erinnerungen an den Bruder sind zum einen durch Fotos und
Briefe gestützt, also durch Medien des kommunikativen Gedächtnisses, zum anderen
sind sie durch gegenwärtige Situation beeinflusst und erscheinen als Inhalte des
individuellen Mich-Gedächtnisses. Die Erinnerung an den Bruder als Element des IchGedächtnisses kommt zur Sprache in den Dialogen der Protagonistin mit anderen
Nebenfiguren, vor allem Ewa Biniewicz. Es wurde auch bewiesen, dass Johannes als
Vertreter seiner Generation gilt. Unter zahlreichen Dokumenten, anonymen Berichten,
Tagebucheinträgen zeigt sich seine Person als konkretes Beispiel für die damaligen
Zeiten.
Die hier angedeuteten Komponenten lassen „Siehdichum“ als ein Gedächtnisroman
wahrnehmen, der auf alle Assmannsche Gedächtnisforme reflektiert. Das individuelle
Gedächtnis wird direkt geschildert, dagegen die anderen Gedächtnistypen finden ihren
Ausdruck indirekt in den erzählerischen Techniken.
181
Carsten Gansel bezeichnet als ´statisch´ Figuren, die von Beginn festgelegt sind. (Vgl. Gansel,
Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, a.a.O., S. 38).
74
Zur Inszenierung von Erinnerung im Roman „Siehdichum“ von Anne Dorn
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