Erinnern und Vergessen: Wie funktioniert unser Gedächtnis? PD Dr. Thomas Schmidt Uni Gießen, Abteilung Allgemeine Psychologie 1 http://www.allpsych.uni-giessen.de/thomas Zeitliche Spezialisierung von Gedächtnisspeichern Lernen von Wortlisten Die ersten und letzten Wörter in der Liste werden besonders gut erinnert: Die ersten Wörter haben eine privilegierte Position im Langzeitgedächtnis, und die letzten sind noch im Kurzzeitgedächtnis gespeichert. Kurzzeitgedächtnis Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses: Gedächtnisspanne 8173494385 JMRSOFLPTZB Das Kurzzeitgedächtnis verfügt über 4 bis 6 „Fächer“, in denen Information kurzfristig abgelegt werden kann. Viele Demenzerkrankungen führen zu einer Reduktion dieser Verarbeitungskapazität. Die Kurzlebigkeit des Kurzzeitgedächtnisses Petersen-Aufgabe: • 3 Konsonanten merken • Dabei in Dreierschritten rückwärts zählen Ohne ständiges Vorsagen verblassen Inhalte im KZG sehr schnell! Chunking Erhöht die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses von ca. 4-6 Einzelitems auf 4-6 „Brocken“: FB ICIAN SAK GB FBI CIA NSA KGB Durch das „Chunking“ kann die Kapazität des KZG vervielfacht werden! Langzeitgedächtnis Trinity College, Dublin Der Patient H.M. • Bilaterale Entfernung von Strukturen im medialen Temporallappen (wegen Epilepsie) • Hippocampus und Amygdala beidseitig betroffen • Retrograde Amnesie (ca. 10 Jahre) • Massive anterograde Amnesie – Normales Kurzzeitgedächtnis – Keine Aufnahme von neuen Inhalten in das Langzeitgedächtnis • Normale Intelligenz Läsion von H.M. Prozedurales Gedächtnis: unabhängig von anderen Beeinträchtigungen Klassifikation von Gedächtnisarten Das Gedächtnis ist über das ganze Gehirn verteilt. Unterschiedliche Strukturen sind für verschiedene Arten des Gedächtnisses wichtig. Augenzeugengedächtnis: nachträgliches Editieren von Erinnerungen "How fast was the car going when it passed the STOP sign?“ "How fast was the car going when it passed the YIELD sign?“ False-Memory-Effekt PatientInnen erinnern sich in der Therapie plötzlich an lange zurückliegende Ereignisse Besonders dramatisch: Erinnerungen an Kindesmissbrauch „Memory Wars“: Sind diese Erinnerungen glaubhaft? Können sie als Zeugenaussagen eingesetzt werden? Vorsicht: Viele dieser Erinnerungen scheinen erst in der Therapie konstruiert zu werden, vor allem wenn suggestive Techniken wie Hypnose eingesetzt werden! Sie werden im Verlauf der Zeit immer weiter ausgeschmückt (auch im Verein mit Therapeuten und Selbsthilfegruppen) und sind am Ende von echten Erinnerungen nicht mehr zu unterscheiden. Einflüsse auf das Gedächtnis • Emotion: stark emotionale Erlebnisse werden besser behalten als neutrale (auch unangenehme!) Kurzfristiger Stress kann also die Erinnerung an das Ereignis stärken Langfristiger Stress (z.B. chronischer Schlafentzug) kann viele kognitive Leistungen stören, z.B. darunter auch das Lernen von Faktenmaterial • Während des Schlafes konsolidiert sich die Erinnerung an gelerntes Material Bessere Leistung bei Schlafperiode zwischen Lernen und Abruf Besonders wichtig dabei: der Tiefschlaf (wird durch Schlafmittel und Alkohol gestört) Schlafentzug vor einer Prüfung (die Nacht „durchpauken“) hilft höchstens als Notfallstrategie; langfristig wird weniger gelernt. Kontextabhängiges Gedächtnis Analog dazu: Zustandsabhängiges Gedächtnis Retrieval Cues („Abrufhilfen“) Free Recall: • Abruf von gelernten Items in beliebiger Folge, ohne Hinweisreize • schwierig Cued Recall: • Abruf mit Hinweisreizen • z.B. „paired associates“: „Hund-Baum“, „Buch-Jacke“… • leichter als Free Recall Ungeklärte Frage: Vergessen wir überhaupt etwas, oder fehlen uns nur die richtigen Abrufhilfen? Eine Merkstrategie: Pegword Mnemonic „A la récherche du temps perdu“ (1913-27) Marcel Proust bei einem Tennisspiel