3. ,,Fiction of memory“ als Gattungtypologie nach B. Neumann

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Zur Inszenierung von Gedächtnis in
der Novelle ,,Die Zeit der Stinte“
von Artur Becker
Inhaltsverzeichnis
1. EINLEITUNG ......................................................................................................................... 3
2. GEDÄCHTNISTHEORETISCHE KONZEPTE................................................................. 5
2.1 GEDÄCHTNISFORMEN NACH ALEIDA ASSMANN ................................................................. 9
2.1.1 Das individuelle Gedächtnis ........................................................................................ 9
2.1.2 Das Generationen Gedächtnis .................................................................................... 11
2.1.3 Das kollektive Gedächtnis.......................................................................................... 13
2.1.4 Das kulturelle Gedächtnis .......................................................................................... 16
3. ,,FICTION OF MEMORY“ ALS GATTUNGTYPOLOGIE NACH B. NEUMANN .... 18
3.1 ZUM AUTOBIOGRAPHISCHEN GEDÄCHTNISROMAN .......................................................... 18
3.2 ZUM AUTOBIOGRAPHISCHEN ERINNERUNGSROMAN ........................................................ 21
3.3 ZUM KOMMUNALEN GEDÄCHTNISROMAN ....................................................................... 23
3.4 ZUM SOZIOBIOGRAPHISCHEN ERINNERUNGSROMAN ........................................................ 26
4. ZUR RHETORIK DER ERINNERUNG............................................................................ 28
4.1 INFORMATIONEN ZUM AUTOR ARTUR BECKER ................................................................ 28
4.2 ZUM INHALT ...................................................................................................................... 29
4.3 ZUM TEXTANFANG ............................................................................................................ 32
4.4 ZUM ERZÄHLER ................................................................................................................. 34
4.4.2 Erzählanalyse nach Jürgen H. Petersen ...................................................................... 40
4.4.3 Erzählanalyse nach Gérard Genette ........................................................................... 42
4.4.3.1 Fokalisierung nach Gérard Genette ..................................................................... 48
4.4.4 Innenweltdarstellung .................................................................................................. 51
4.4.5 Darstellung der Figurenkonstellation anhand des Generationen-Gedächtnisses und
Täter-Opfer Gedächtnis ....................................................................................................... 53
4.4.6 Zeit ............................................................................................................................. 68
4.4.7 Ordnung ..................................................................................................................... 69
4.4.8 Textende ..................................................................................................................... 72
5. ZUSAMMENFASSUNG ...................................................................................................... 73
6. LITERATURVERZEICHNIS ............................................................................................. 76
2
Einleitung
Das Thema Erinnerung kann für jedes Individuum etwas anderes bedeuten. Die ältere
Generation assoziiert die vergangenen Erfahrungen mit dem zweiten Weltkrieg, dem
Hunger, Trauer und Leid. Aber wie werden diese Erinnerungen von der jungen
Generation empfangen? Haben sie noch Interesse sich mit der Vergangenheit zu
beschäftigen? Die junge Generation hat mit den Kriegserinnerungen in Schulen oder mit
Lesen von Büchern aus der vergangenen Zeit zu tun. Hat das aber einen größeren
Einfluss auf sie, anstatt die erzählten Geschichten von unserer eigenen Generation, an
die wir fixiert sind? Dieser Aspekt, wird mit Hilfe des Kommunikativen Gedächtnisses
analysiert. Man muss betonnen, dass die erzählten Erinnerungen oft als Bruchstücke
erscheinen. Durch diese Fetzen, kommt es zu einem Prozess, der die Geschichte jedes
mall anders darstellen kann. Der Fokus dieser Arbeit liegt auf den Erinnerungen der
Generationen bzw. dem Kollektiv der Gesellschaft. Es wird erläutert, auf welche Weise
die vergangenen Kriegserinnerungen
der
alten Generation
von
der jungen
aufgenommen und bearbeitet werden. In dieser Arbeit, wird die Novelle ,,Die Zeit der
Stinte“ von Artur Becker untersucht. Man stellt sich die Frage, welchen Einfluss die
erzählte Geschichte über das Täter – Opfer Gedächtnis auf das gegenwärtige
Individuum hat, ob es einen starken Einfluss auf es bewirkt oder auch nicht.
Demzufolge, am Anfang der Arbeit, wird der Theoretische Teil angeführt, also die zwei
Komponente des Kommunikativen Gedächtnisses und nach Birgit Neumann die
Fictions of Memory, eine Gattungsklassifikation untersucht und dargestellt. Im
Nächsten werden einige Informationen zum Autor eingegeben und der Inhalt der
Novelle kurz besprochen. Im Weiteren wird die Rhetorik der Erinnerung anhand der
Analyse untersucht. Dabei wird der erzähltheoretische Teil mit Hilfe der Elemente von
Franz K. Stanzel, Jürgen H. Petersen und Gérard Genette bearbeitet. Hierbei soll es
untersucht werden, wie das Prinzip des Gedächtnisses vs. Erinnerung von den Erzählern
narratologisch analysiert wird. Auch nicht ohne Bedeutung ist die Untersuchung,
welchen Einfluss die erzählte Geschichte auf das Individuum hat. Es sollte resultieren,
3
dass die Erinnerungen durch Kommunikation verfestigt werden.1 Das Täter – Opfer
Gedächtnis soll nicht nur in der ganzen Analyse vorkommen, aber besonders wird es in
der Figurendarstellung geprägt. Es werden Beispiele präsentiert, die darauf zeugen, dass
wir mit einem kollektiven Gedächtnis zu tun haben. Der zweite Aspekt, der in der
Analyse vorkommt, ist die Gliederung und Wahl um welche Gattung von Roman sich es
handelt. Dabei wird nach Neumann die Gattungstypologie eingeführt, die mit Hilfe der
ganzen Analyse ein Resultat bringen soll. In Betracht werden die Erinnerungen der
Protagonisten genommen und daraufhin analysiert. Nicht nur die Erinnerungen der
Figuren sollen jedoch Einfluss auf die Gattung haben, sondern auch solche Aspekte, wie
der Textanfang, Innenweltdarstellung, Fokalisierung, Zeit, Ordnung und das Textende.
Nach Neumanns Differenzierung, sollen die Gesichtspunkte helfen, die Gattung des
Textes zu klassifizieren. Am Ende sollte der Text ergeben, ob er sich wirklich um das
kulturelle oder das kommunikative Gedächtnis handelt. Also, ob es das individuelle
Gedächtnis bzw. das Individuum der jungen Generation mit den zugänglichen
Gedächtnissen, die auf dem kommunikativen gebaut sind, verbindet. Die Analyse des
Textes sollte mit einer Schlussbetrachtung abgerundet werden.
1
Assmann, Aleida / Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Stuttgart:
Deutsche Verlag-Anstalt. 1999. S. 36.
4
2. Gedächtnistheoretische Konzepte
Mit Harald Welzers Worten wird das Problem des Gedächtnisses vs. Erinnerung
begonnen.
,,Die Themen Gedächtnis und Erinnerung erfreuen sich seit gut zwei Jahrzehnten einer immer
noch
steigenden
Konjunktur
–
und
zwar
über
die
Grenzen
der
natur-
und
kulturwissenschaftlichen Disziplinen hinweg, bis in Alltagsdiskurse hinein.“
2
Dieses
Prinzip
lässt
solche
Komplexe
wie
Neurowissenschaften,
Geschichtswissenschaften, wie als auch die Psychosoziologie nicht in Ruhe. Das
reizende und rätselhafte Organ - Gehirn, hatte auch die Literaturwissenschaftler dazu
gezwungen, sich mit ihm zu befassen. Die Wissenschaftler sind zu der Schlussfolgerung
gekommen, dass wenn sie an Texten arbeiten wollen, müssen sie das Prinzip des
Gedächtnisses bzw. der Erinnerung erfassen. Bevor man also mit diesem Beitrag
anfängt, muss das Prinzip Gedächtnis vs. Erinnerung zuerst erläutert werden. Obwohl
das Prinzip des Gedächtnisses viele Wissenschaftler in Verwirrung bringt, trotzdem
wird eine enorme Zahl von Namen angegeben, die sich gerne mit dem Thema
beschäftigen möchte.
Kognitionswissenschaftler interpretieren das Gedächtnis des Individuums, also uns
Menschen, als eine Art Datenverarbeitungsmaschine, die wichtige Informationen
kodiert, aufbewahrt und abruft.3
Astrid Erll & Ansgar Nünnig in ihrem Beitrag
,,Literaturwissenschaftliche Konzepte von Gedächtnis: Ein einführender Überblick“,
stellen eine Frage, was die Literaturwissenschaft unter dem Begriff Gedächtnis
versteht? Die Antwort lautet ,,vieles- und viel Verschiedenes.“4 Schon hier kann man
feststellen, dass das Thema, nicht zu den einfachsten gehört. Weiterhin, wird das
Gedächtnis Prinzip differenziert und zwar in drei verschiedene Grundrichtungen
,,Gedächtnis der Literatur (als Symbol- und als Sozialsystem), Gedächtnis in der
2
http://www.wz.nrw.de/magazin/artikel.asp?nr=546&ausgabe=2004/1&magname=&titel=Erinnerung%5
Eund%5EGed%C3%A4chtnis. 26.04.2009. 19:52.
3
Vgl. Schacter. Daniel L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinberg bei Hamburg:
Rowohlt. 2001. S. 31.
4
Hrsg. Astrid Erll/ Ansgar Nünning: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: theoretische
Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Verlag: Gruyter. 2005. S. 1.
5
Literatur und Literatur als Medium des Gedächtnisses.“5 Um dennoch genauer diesen
Nexus zu untersuchen, wird es von Birgit Neumann das Gedächtnis folgend erläutert.
,,In den Kulturwissenschaften kursieren zahlreiche Begriffe, um die organisierte Dimension des
gemeinsamen Vergangenheitsbezugs zu beschreiben. Es ist vom sozialen Gedächtnis, von
invented traditions, vom kommunikativen und kulturellen Gedächtnis, von lieux de mémoire
oder cultural memory die Rede. Die Vielzahl bestehender Gedächtnisbegriffe verdeutlicht, dass
sich an diesem Forschungsfeld zahlreiche Disziplinen beteiligen, die unterschiedliche
Erkenntnisinteressen verfolgen und verschiedene Epochen und Kulturen ins Zentrum ihrer
Untersuchungen stellen. Trotz differenter Schwerpunkte liegen allen Gedächtnistheorien zweiwenngleich in unterschiedlichem Grade explizierte – zentrale Annahmen zugrunde. Sie betonen
erstens die Perspektivität und Konstruktivität auch kollektiver Erinnerungen und zweitens die
enge Verbindung zwischen kollektivem Erinnern und Identität. Die Praxis des gemeinsamen
Erinnerns, so die grundlegende Prämisse kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorien, bildet
zugleich den Ausganspunkt der Entstehung einer Kollektividentität. Durch die geteilte
Aktualisierung von vergangenen Erfahrungen in Geschichten, Riten oder Ritualen schaffen sich
Gruppen eine überindividuelle Identität.“6
Neumann beruft sich auf verschiedene Arten von Gedächtnis, die folgend von Maurice
Halbwachs, sowie Aleida Assmann und Jan Assmann im Weiteren besprochen und
logisch übermittelt werden. Als Gründungsvater der Disziplin, wird es von Maurice
Halbwachs
die
gegenwärtige
kulturwissenschaftliche
Gedächtnisforschung
ausschlaggebend bestimmt.7 Wenn man also über Maurice Halbwachs und seine
Theorie spricht, erfährt man, dass er stattdessen der neuralen und hirnphysiologischen
Basis des Gedächtnisses, sich mehr auf die sozialen Bezugsrahmen fokussiert, die seiner
Meinung nach, das individuelle Gedächtnis ohne diese Rahmen nicht bilden und
erhalten könnte.8 Halbwachs ist der Meinung, dass ein Individuum kein Gedächtnis
besitzen könnte, wenn es das Leben allein verbracht hätte. Das Innehaben eines
Gedächtnisses durch das Individuum, entsteht erst dann, wenn es in einem
Sozialisationsprozess teil nimmt.9 Dieser Ansicht ist auch Birgit Neumann, die
5
Hrsg. Astrid Erll/ Ansgar Nünning: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: theoretische
Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Verlag: Gruyter. 2005. S. 2.
6
Hrsg. Astrid Erll/ Ansgar Nünning: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: theoretische
Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Verlag: Gruyter. 2005. S. 159.
7
Vgl. Hrsg. Astrid Erll/ Ansgar Nünning: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: theoretische
Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Verlag: Gruyter. 2005. S. 159.
8
Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. In: Erwägen. Wissen. Ethik. 13/2002. S. 35.
9
Ebd. 2002. S. 35.
6
annimmt, dass eine Identitätsbildung ohne Erinnerungsvermögen einfach undenkbar ist.
Die Identität wird nicht nur in der synchronen, aber auch in der diachronen Dimension
verortet.
,,Erst die Erinnerung an Vergangenes ermöglicht die Bearbeitung temporaler Differenz und
damit die Stiftung von Kontinuität. Diese Spezifika individueller Erinnerungen und deren
Bedeutung für die Konstitution von Identität sind mittlerweile zum zentralen Gegenstand der
Kognitions- und Narrationspsychologie avanciert. Die Ansätze gehen davon aus, dass
Erinnerungen vergangene Erfahrungen nicht wiederaufleben lassen, sondern nach Maßgabe
gegenwärtiger Bedingungen rekonstruieren.“10
Die Gegenwart ist mit der Vergangenheit fixiert. Ohne die beiden Verfahren könnte
man bedauern, dass eine Erinnerung gebildet wäre. Demnach werden die Erinnerungen
berufen, aber mit einer hochen und sogar notwendigen Wahrscheinlichkeit wiederbelebt
und rekonstruiert. Carsten Gansel definiert das auf dieselbe Art und Weise. Nach ihm
wird ,,Vergangenes Geschehen aus dem Blickwinkel der Jetztzeit wahrgenommen und
rekonstruiert.“11 Das könnte man auch als Geschichte vom Gedächtnis bezeichnen,
dass sich mit ,,der Gegenwart der Vergangenheit im Bewußtsein
Gruppen und Nationen beschäftigt.“
12
von Individuen,
Halbwachs stellt eine Frage, wie Erinnerungen
entstehen. Um das zu erfassen, führt er den Begriff des kollektiven Gedächtnisses ein.
Er vertritt den Standpunkt, dass das Gedächtnis des Individuums durch ein kollektives
Gedächtnis geprägt wird. Er unterstreicht, dass das Kollektiv kein Gedächtnis besitzt,
aber es wird von ihnen das Gedächtnis der Mitglieder bestimmt. Erinnerungen sollen
nur unter einer Kommunikation und Interaktion im Rahmen sozialer Gruppen gebildet
werden. 13 Deswegen vertritt Halbwachs folgende Ansicht.
,,Wir erinnern nicht nur, was wir von anderen erfahren, sondern auch, was uns andere erzählen
und was uns von anderen als bedeutsam bestätigt und zurückgespiegelt wird. Vor allem erleben
wir bereits im Hinblick auf andere, im Kontext sozial vorgegebener Rahmen der Bedeutsamkeit.
Denn es gibt keine Erinnerung ohne Wahrnehmung.“14
10
Hrsg. Astrid Erll/ Ansgar Nünning: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: theoretische
Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Verlag: Gruyter. 2005. S. 150.
11
Gansel, Carsten: Gedächtnis und Literatur in den geschlossenen Gesellschaften des Real-Sozialismus
zwischen 1945 und 1989. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 2007. S. 7.
12
Assmann, Aleida/ Frevert. Ute: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Stuttgart:
Deutsche Verlag-Anstalt. 1999. S. 31.
13
Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. In: Erwägen. Wissen. Ethik. 13/2002. S. 36.
14
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. In: Erwägen. Wissen. Ethik. 13/2002. S. 36.
7
Er konstatiert, dass das Subjekt des Gedächtnisses und Erinnerung das Individuum
abhängig von Rahmen macht, die die implizierten Erinnerungen im Gehirn organisieren.
Es gibt einen Vorteil, der die Theorie der Erinnerung mit dem Vergessen erklären kann.
Wenn sich die Bevölkerung oder ein Individuum nur daran erinnern, was die
Vergangenheit in den Rahmen der Gegenwart rekonstruiert hat, dann vergisst das
Individuum das, was in der Gegenwart keine Bezugsrahmen besitzt. Mit anderen
Worten ,,baut sich das individuelle Gedächtnis in einer bestimmten Person kraft ihrer
Teilnahme an kommunikativen Prozessen. Also, sozialer Gruppen, von der Familie bis
zur Religions- und Nationsgemeinschaft“.15 Es wird nur daran erinnert, was auch
kommuniziert und in den Rahmen des Kollektivs bestimmt wird. Durch die
Erinnerungen wird ein unabhängiges System konstruiert, wo die existierenden Elemente
sich gegenseitig stützen, sowohl im individuellen Gedächtnis als auch im kollektiven
Gedächtnis.16
Dieser Punkt wird mit einem Zitat beendet, das eine kurze Definition des Gedächtnisses
vs. Erinnerung eingibt.
,,Das Gedächtnis speichert Gelerntes oder Erlebtes, indem es innerhalb von Stunden oder
Tagen so genannte Engramme bildet, also Erinnerungsspuren verfestigt. Wird dieser Prozess
der Konsolidierung gestört, etwa durch einen zünftigen Alkoholrausch, Medikamente oder
Stress, dann verfliegt die Erinnerung.“17
Der Fokus liegt hier an der Theorie Gedächtnis- Erinnerung-Vergessen. Man sollte
bewusst sein, dass die Oben erwähnten drei Termini, ohne sich nicht funktionieren
können. Das ist ein natürlicher Prozess, dass im Gehirn des Menschen oder auch des
Individuums geschieht. Es folg, dass wir nicht nur im Stande sind unsere ErinnerungenBewusstsein zu kodieren, aber auch zu modifizieren, drängen und sogar verlieren.
15
Ebd.2002. S. 36 f.
Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. In: Erwägen. Wissen. Ethik. 13/2002. S. 37.
17
Fried, Johannes: Gehirn macht Geschichte. Wie wahr sind Erinnerungen? In: Gehirn & Geist. Heft
5/2005. S.56.
16
8
2.1 Gedächtnisformen nach Aleida Assmann
2.1.1 Das individuelle Gedächtnis
Der ankommende Beitrag wird dem Begriff Gedächtnisdiskurs gewidmet, dass in
verschiedene Gedächtnisformen gegliedert wird.18 Wenn es von dem Gedächtnis
gesprochen wird, sollte man am Anfang Maurice Halbwach erwähnen, der den Begriff
des kollektiven Gedächtnisses eingeführt hat. Den Diskurs des Kollektivs haben aber
Aleida Assmann und Jan Assmann genauer recherchiert. Beide haben Ende der 1980er
Jahre den Begriff des kulturellen Gedächtnisses geprägt. Es wurde die Kultur mit dem
Gedächtnis systematisch verbunden ,,begrifflich differenziert und theoretisch fundiert
aufgezeigt.“19 Sie richteten den Fokus auf den Zusammenhang von kultureller
Erinnerung, kollektiver Identitätsbildung und politischer Legitimierung. Obwohl die
Assmanns oft zusammenarbeiten, hat jeder von ihnen eine verschiedene Meinung zu
dem kollektiven Gedächtnis. Jan Assmann stellt in seinen Untersuchungen das
kommunikative Gedächtnis oberhalb des kulturellen Gedächtnisses. Aleida Assmann
hingegen konstatiert das kulturelle Gedächtnis über das kommunikative Gedächtnis.
Die Wissenschaftlerin hat die Position geäußert, dass ohne die Erinnerung Menschen
keine Individuen wären und nicht mit Anderen kommunizieren könnten. Unsere
Erinnerungen sind die wichtigste Quelle, die wir besitzen. Das sind unsere eigenen
Erfahrungen, Beziehungen, ganz zu schweigen davon, dass sie unsere Identität bilden.
Neurologen
und
kognitive
Psychologen
entwerfen
ein
Bild
von
unserem
Gedächtnisvermögen. Ihrer Meinung gehören ,,Erinnerungen zum Flüchtigsten und zu
Unzuverlässigsten […].“20 In dem Kurzzeitgedächtnis schlummern Erinnerungen, die
eines Tages von dem Individuum geweckt werden können. In den verfügbaren und
unverfügbaren Erinnerungen birgt sich eine Art von Erinnerungen, die unzugänglich
und verschlüsselt sind, die als Verdrängung und Trauma dargestellt werden. Es ist
schwierig ohne Hilfe sie wieder in unser Bewusstsein herbeizurufen. Das individuelle
18
Assmann, Aleida. Frevert, Ute: Geschichtvergessenheit – Geschitsversessenheit. Stuttgart: Deutsche
Verlag-Anstalt. 1999. S. 36.
19
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart. Weimar: Metzler. 2005. S. 27.
20
Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik.
Verlag: C. H. Beck. München. 2006. S. 24.
9
Gedächtnis wird durch bestimmte Merkmale aufgerufen. ,,Erstens sind (die
Erinnerungen)
grundsätzlich
perspektivisch
und
darin
unaustauschbar
und
unübertragbar.“21 Gerade ist es die Erinnerungsfähigkeit, die uns dazu bringt Fragen zu
stellen, die den Menschen zu Menschen macht.22 Ohne sie wäre es undenkbar ein Selbst
des Individuums zu bauen.23 In dem Organ – Gehirn, stecken Erinnerungen, die
divergent
sind.
Diese
bilden
persönliche
Lebensgeschichten,
die
eine
Wahrnehmungsposition einnehmen. Die Geschichten der Individuen können deshalb
verschieden sein, weil jeder sein eigenes Selbst besitzt und die Geschichten aus der
eigenen Perspektive darstellt. Von daher lässt sich sagen ,,Erinnerungen existieren
zweitens nicht isoliert, sondern sind mit den Erinnerungen anderer vernetzt.“24
Infolgedessen lässt sich deuten, dass sogar die meist individuellen Erinnerungen, durch
eine Kommunikation sozialer bzw. kollektiver Gruppen entstehen.25 Mit dem Verbinden
und Überlappen haben diese Strukturen einen bedeutsamen Einfluss auf sich selbst.
Nicht nur der Zusammenhang und Glaubwürdigkeit, sondern auch Aspekte wie
Verbindung und Gemeinschaftsbildung wirken besonders hier. Daher ,,drittens sind
Erinnerungen für sich genommen fragmentarisch. d.h. begrenzt und ungeformt.“26 In
der Regel werden die Erinnerungen in nicht kohärente Bilder, Momente aufgeschnitten.
Nachhinein durch erzählen, erhalten sie eine stabile, logische Form. Was aber
bedeutend ist, dass die Erinnerungen viertens, als flüchtig und labil auftreten können.27
Im Fortgang der Zeit kommt es nicht nur zu Veränderungen der Erinnerungen, denn sie
können auch verblassen oder sogar verloren gehen. Die Relevanz und das
Bewertungsmuster ändern sich. Für eine Person können die wichtigsten Ereignisse an
ihrer Bedeutung verlieren. Durch das ständige wiederholen der Erzählungen, werden sie
dadurch am besten eingeprägt. Doch mit dem Tode eines Trägers, kommt es zu
verblassen der erzählten Geschichte. Daniel Schacter hat sich über das Verblassen von
Erinnerungen auf folgende Art und Weise geäußert.
21
Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. Erwägen. Wissen. Ethik. Jahrgang 13/2002. S.184.
Vgl. Welzer, Harald: Das soziale Gedächtnis: Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburger Edition.
2001. S. 103.
23
Vgl. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik.
Verlag: C. H. Beck. München. 2006. S. 24.
22
25
Vgl. Didi-Huberman, Georges: Die Ordnung des Materials. Akademie Verlag. 1999. S. 35.
Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. Erwägen. Wissen. Ethik. Jahrgang 13/2002. S. 184.
27
Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. Erwägen. Wissen. Ethik. Jahrgang 13/2002.
S. 184.
26
10
,,Kann man davon ausgehen, dass Erinnerungen dann verschwinden, wenn sie nicht in
Anspruch genommen werden; möglicherweise lösen sie die synaptischen Verknüpfungen der
entsprechenden Engramme auf, wenn die Erinnerung nie abgerufen wird.“28
Das Gedächtnis als eine Einheit der Erinnerungen des Menschen, wird mit der Sprache
konfrontiert, die genauso in die Person hineinwächst. Es ist zweifellos, dass die Sprache
als eine Stütze für das Gedächtnis ist. ,,Das Kommunikative Gedächtnis entsteht
demnach in einem Milieu räumlicher Nähe, regelmäßiger Interaktionen, gemeinsamer
Lebensformen und geteilter Erfahrungen.“29
Im Gegensatz zum individuellen Gedächtnis, besteht das Generationen-Gedächtnis, aus
einer größeren Menge von individuellen Mini-Gedächtnissen.
2.1.2 Das Generationen Gedächtnis
Im zweiten Aspekt wird von Aleida Assmann das Generationen-Gedächtnis
angesprochen. Sie betont, dass auf die Ausbildung der menschlichen Identität viele
Faktoren einen Einfluss ausüben. Zu diesen zählt man vor allem: den Familien- und
Bekanntenkreis. Darüber hinaus werden die autobiographischen Erinnerungen von den
Menschen beeinflusst, die wir nicht kennen. Oft sind das Persönlichkeiten, Vorgänge,
die von relevantem Belang sind.30
Nach der Position von A. Assmann, gehören die Individuen zu gemeinsamen
Erinnerungen der Gemeinde, ihrer Stadt und der ganzen Generation31. Durch das
Zeitvergehen verändert sich in einer natürlichen Weise das Gedächtnis mit der
heranwachsenden Gesellschaft, die das Erinnerungsprofil steuert. Nach einer gewissen
Periode verschieben sich die Erinnerungen und bestimmte Aspekte übernehmen den
Platz von den älteren, die nicht mehr so wichtig für diese Generation sind.
28
Markowitsch. Hans. J./ Welzer. Harald: Das autobiographische Gedächtnis. Stuttgart: Klett. 2005. S.
28.
29
Aleida Assmann geht hier auf Maurice Halbwachs zurück. ( Halbwachs. Maurice. Les cadres sociaux de
la mémoire. 1925 (Ndr. 1975, mit Vorwort von F. Chátelet. Archontes. Bd.5). 2002. S. 185.
30
Vgl. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik.
Verlag: C. H. Beck. München. 2006. S. 26.
31
Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. Erwägen. Wissen. Ethik. Jahrgang 13/2002. S.
185.
11
,,Dann stellt man rückblickend fest, daß sich mit dem Dominanzwechsel der
Generationen eine bestimmte Atmosphäre von Erinnerungen und Werten, Hoffnungen
und Obsessionen aufgelöst hat und neue Prägungen an ihre Stelle getreten sind.“32
Dennoch, ist das Rezipieren der Erinnerungen nicht nur von fremden Menschen
bedeutend. Die nächsten Verwandten können unser Gedächtnis, beziehungsweise
Erinnerungen auch lenken. Die persönlichen Erinnerungen existieren auch in einem
spezifischen Zeitraum. Diese Zeit wird durch verschiedene Generationen gebildet, die in
der Regel in drei oder auch in fünf auftreten. Es kommt zu einem Austausch von
Erfahrungen, Erinnerungen und Erzählgemeinschaften. Durch das Weitergeben der
Informationen, dehnt sich die Kapazität eigener Erinnerungen aus. Familienmitglieder
bekommen Erinnerungen der älteren Generation, die sich mit derer eigenen
Erinnerungen schräg übereinander schlagen. Von daher lässt sich sagen ,,dieses DreiGenerationen-Gedächtnis ist ein existenzieller Horizont für persönliche Erinnerungen
und entscheidend für die eigene Orientierung in der Zeit“. 33 Im Laufe der Zeit, werden
die erhaltenen Informationen in eine verschwommene Erinnerung geformt, die dazu
führt, dass sie sich langsam auflösen und Platz für die nachfolgende Generation machen.
Diese eingesammelten Erinnerungen, die langsam in Vergessenheit geraten, werden
immer noch durch Objekte wie Fotos, Möbel, etc. aufgerufen. Obwohl die Objekte für
das Individuum greifbar sind, sollte man auch betonen, dass es zu einen Punkt kommen
kann, wo gerade nicht der Gegenstand, sondern Erinnerungsfetzen, also einzelne
Erzählungen zu einen Erinnerungsbezug führen können z.B. zu einer früher gebildeten
Geschichte unserer Familie. So ist es konstatiert, dass es fast unmöglich ist, die schon
gebildeten Erinnerungen in der z.B. Kindheit mit anderen Details wie Bilder, die
eigentlich die Realität zeigen, zu ändern und sich bewusst zu werden, dass wir dieses
Bild mit anderen Augen früher gesehen haben.34 Jedes Individuum wird nicht nur mit
eigenen Erfahrungen kooperieren, sondern auch mit den Erinnerungen der Gesellschaft,
in der es sich befindet. In diesem Fall, versteht man, dass das individuelle Gedächtnis
nicht alleine existiert. Es wird auch von den Erfahrungen und Erinnerungen der
Generation bestimmt, in der es sich befindet. Man stellt fest, dass Menschen im Alter
von 12 bis 25 Jahren sehr aufnahmefähig für Erfahrungen sind. Diese eingeprägten
32
Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. 2002. S. 185.
Ebd. 2002. S. 185.
34
Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. Erwägen. Wissen. Ethik. 2002. S. 185.
33
12
Erinnerungen sind viel kräftiger verankert, im Gegensatz zu den Erinnerungen der
älteren Personen, die Schwierigkeiten haben, Informationen zu behalten. Sie haben
einen großen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung. Die Entwicklung der
Persönlichkeit,
ob
sie
gewollt
oder
auch
ungewollt
ist,
wird
mit
dem
Generationengedächtnis und der Generationen-Identität verflochten. Die Funktionen,
Rollen und Eigenschaften des Generationen-Gedächtnisses werden zum Teil
beibehalten, aber zum Teil im kollektiven Gedächtnis weggeworfen.35
2.1.3 Das kollektive Gedächtnis
In dem Artikel „Vier Formen des Gedächtnisses“ sprich Aleida Assmann noch den
Aspekt des kollektiven Gedächtnisses an. Nach der Wissenschaftlerin ist der Begriff des
kollektiven Gedächtnisses keine Illusion.36 Der Prozess von dem individuellen zum
kollektiven Gedächtnis, den Aleida Assmann beschreibt, gilt als ein komplizierter
Analogieschluss. Die Problematik besteht darin, dass die Grundlage des kollektiven
Gedächtnisses mit den Aspekten des individuellen sich nicht gleicht. Infolgedessen
verfügen
,,Institutionen und Körperschaften nicht über ein Gedächtnis nach der Art des individuellen
Gedächtnisses,
denn
es gibt
dort
nichts,
was
der
biologischen
Grundlage,
der
anthropologischen Disposition und den naturwüchsigen Mechanismen des Erinnerns
entspräche.‘‘37
Demzufolge entstand ein neues wissenschaftliches Fachgebiet, welches unter anderem
eine neue Methodologie etabliert hat, die mit dem Gedächtnis Phänomen verbunden ist.
Es soll auf tägliche ergreifende Erscheinungen aufmerksam machen. Man unterstreicht,
dass die beiden Gedächtnisse sich nicht gleichen. Dennoch gibt es unter denen, eine
gemeinsame Zusammenarbeit. Institutionen und Körperschaften, die kein Gedächtnis
besitzen, machen sich eines, und das durch beziehungsweise Zeichen, Texte, Bilder,
Riten, Orte, etc. Dadurch wird das Individuum auf bestimmte Gedächtnisinhalte
eingeschworen und zu einem Träger des kollektiven Gedächtnisses gemacht. Dieser
35
Ebd. 2002. S. 185.
Vgl. Hillenbrand, Anne-Katrin: Erinnerung Und Raum: Friedhöfe und Museen in der Literatur.
Königshausen & Neumann. 2001. S. 11.
37
Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. Erwägen. Wissen. Ethik. Jahrgang 13/2002. S. 186.
36
13
Prozess
bildet
den
Institutionen
und
Körperschaften
eine
Identität.
Signifikant werden drei Strukturen des kollektiven Gedächtnisses von dem
individuellen unterschieden. Nach Aleida Assmann ist das Gedächtnis ,,nicht auf
Vernetzung, Anschlußfähigkeit und gegenseitige Bestätigung angelegt, sondern tendiert im
Gegenteil eher zur polemischen Gegenkonstruktionen zu bestehenden anderen kollektiven
Gedächtnissen.“38 Die bewusste und logische Relevanz des kollektiven Gedächtnisses
entsteht erst durch Erzählungen, Mythen und Legenden, die eine bestimmte narrative
Struktur diesem Phänomen liefern. Im Gegenteil zu dem individuellen Gedächtnis,
stützt sich das kollektive Gedächtnis auf tägliche Symbole, die in dem Bewusstsein der
Menschen fixiert und über Generationen überliefert werden. Im Gegenteil zum
Generationen-Gedächtnis wird das kollektive Gedächtnis von Trägern unterstützt, die
bestimmte Erinnerungen in der Folgezeit fixieren. Die neue Generation wird durch
gewisse Symbole, Monumente, Denkmäler und Riten dazu verpflichtet, sich zu
erinnern. Durch diese tastbaren Embleme und kontinuierliche Wiederholung der
Feiertage, wird im Bewusstsein des Menschen und der neuen Generationen das Erinnern
fest verankert. Es werden aber auch Gemeinsamkeiten dieser Gedächtnisaspekte betont.
Beide, das individuelle genauso wie das kollektive Gedächtnis werden perspektivisch
organisiert. Sie nehmen nicht Beliebiges auf, sondern sind eher wählerisch. Das
Phänomen des Vergessens, das mit Gedächtnis genauso, wie Erinnern verbunden ist,
zählt als ein konstitutiver Teil des individuellen, wie als auch des kollektiven
Gedächtnisses. Somit stützt sich Aleida Assmann auf die Worte von Nietzsche, der den
Begriff, Horizont‘ einführt. Er interpretierte das, als eine Ansicht verbundene
Eingrenzung des Sichtfeldes. Ein anderer Aspekt den Nietzsche artikuliert, ist die
sogenannte plastische Kraft des Gedächtnisses. An dieser Stelle wollte er erläutern und
hervorheben, dass es eine Grenze zwischen dem Erinnern und Vergessen gibt. Sie filtert
das was wichtig vom unwichtigen für unser Bewusstsein ist. Ohne diesen Prozess,
würde es nicht zu einer Identitätsbildung und Handlungsorientierung kommen. Aus
seiner Ansicht, zu viele Informationen verursachen, die in dem Wissensspeicher
verlagert sind, eine Aufweichung des Gedächtnisses, was zu einem Schaden und Defizit
eigener Identität führen kann.39 Im weiteren Aspekt wird von Assmann das kollektive
mit dem nationalen Gedächtnis konfrontiert. Es geht um ein Bild, dass eher die
positiven Ereignisse prägt, anstatt auch über die traumatischen Erinnerungen zu
38
39
Ebd. 2002. S. 186.
Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. 2002. S. 186.
14
sprechen. Die von Assmann
erwähnten Sieger- und Verlierer Gedächtnisse
immunisieren gegen alternative Wahrnehmungen von Geschichte.40
Unter diesen
entstandenen Umständen, bildet die Nation ihre Identität auf der Opfer-Bewusstsein
Grundlage. Die Erinnerungen bleiben immer wach, weil sie mit einem erlittenen
Unrecht verwurzelt sind. Die Erscheinung des kollektiven Gedächtnisses wird von
Markowitsch und Simon folgendermaßen resümiert. ,,Egal, wer die wirklichen Täter
oder Anstifter waren, das Gedächtnis der Nation kristallisiert sich schließlich um die
Achse von Unrecht und Opfererfahrung.“41 Man sollte mit dem Opferbegriff bedacht
sein, auf Grund der falschen Interpretation, kann es zu einem Missverständnis kommen.
Opfer bedeutet nicht Sieger. So sollte man diese Begriffe unterscheiden können, dass
das Gegenteil von Opfer der Täter ist, und für die Besiegten, Sieger sind. Diese
Aufteilung der Gruppen, ist sehr bedeutungsvoll, weil sie bestimmten Formen von
Erinnerungen gleichen.42 Man muss bewusst sein, dass sich der Vergleich einer
Entwicklung des Opfer- und Tätergedächtnisses deutlich von einander unterscheidet. Es
war immer einfacher über Opfer und die traumatischen Ereignisse zu sprechen, als mit
den Tätern von ihnen über den begangenen Mord. Beispielsweise im Beitrag von Harald
Welzer ,,Kriege der Erinnerung“
43
erwähnt er, dass die ältere Generation, als sie in
einem Projekt, als Antisemiten oder sogar Kriegsverbrecher dargestellt wurde und eine
Geschichte aus dieser Perspektive erzählten, wurde die Geschichte trotzdem von der
jungen Generation umgedreht und Oma und Opa als Helden dargestellt. Meistens, in
diesen Geschichten haben sie sich zu heroischen Gestallten verwandelt. Die jüngere
Generation, die keine eigenen Erinnerungen aus dieser Zeit besitzt, glaubt und ist sogar
stolz auf Großmutters heldenhafte Haltung. Hiermit kommt es zu einer Fixierung der
erzählten Erinnerungen, die stark im kollektiven Gedächtnis verankert werden. Im
weiteren Abschnitt, wird das kollektive Gedächtnis Folgens dargelegt.
,,Erst allmählich bilden sich Formen einer kollektiven Erinnerung, die nicht mehr in die Muster
einer nachträglichen Heroischen und Sinnstiftung fallen, sondern auf universale Anmerkung
von Leiden und Überwindung lähmender Nachwirkungen angelegt sind. Damit verbunden
40
Vgl. Assmann, Aleida. Frevert, Ute: Geschichtvergessenheit – Geschitsversessenheit. Stuttgart:
Deutsche Verlag-Anstalt. 1999. S. 42.
41
Andrei S. Markovits, Siemon Reich: Das Deutsche Dilemma. Die Berliner Republik zwischen Macht und
Machtversicht. Berlin. 1998. 41.
42
Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. Erwägen. Wissen. Ethik. 2002. S. 187.
43
Welzer, Harald: Kriege der Erinnerung. Wie wahr sind Erinnerungen? In: Gehirn & Geist, Heft 5/2005.
S. 44 f.
15
kommt es auch zu einer neuen Bearbeitung der Schuld der Täter in der Erinnerung der
Nachkommen, die die dunklen Kapitel ihrer Geschichte nicht mehr mit Vergessen übergehen
können, sondern für diese Verantwortung übernehmen, indem sie sie im kollektiven Gedächtnis
stabilisieren und ins kollektive Selbstbild integrieren.“44
Man kann feststellen, dass die grammatischen Regeln des kollektiven Gedächtnisses
sich mehr ausgedehnt haben.
,,Das Prinzip der Auswahl und Horizontbildung, gilt weiterhin, doch ist die Scheidenlinie, die
das Lebensdienliche vom nicht Lebensdienlichen sonderte, als alleinig herrschendes
Auswahlkriterium problematisch geworden.“45
In der Zukunft wird es verlangt, dass das neue Bewusstsein die Erinnerungen mit
anderen Augen betrachten soll. Also das Erinnern soll zwischen dem Opfer und Täter zu
einer friedlichen Koexistenz führen. Es kann aber der Fall sein, dass die Dichotomie
Opfer-Täter das kollektive Gedächtnis übersteht und ins kulturelle Gedächtnis
transportiert wird. Was Assmann unter dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses
versteht, wird im Folgenden darzustellen versucht.46
2.1.4 Das kulturelle Gedächtnis
Im nächsten Punkt beschäftigt sich Aleida Assmann mit dem kulturellen Gedächtnis,
dass sich oberhalb des kollektiven Gedächtnisses befindet. Gleicherweise hat es
dieselben Aufgaben, sich mit den Erfahrungen und Wissen der alten Generation zu
befassen und der jungen Generation ein Langzeitgedächtnis über diese Ereignisse zu
bilden. Im Gegenteil zu dem kollektiven Gedächtnis ,,stützt sich das kulturelle
Gedächtnis der Industrienationen auf externe Datenspeicher und Institutionen der
Gedächtnispflege und Wissensvermittlung.“47 Das kulturelle Gedächtnis bedient sich
der Datenspeicher wie Buch und Film, aber auch mit einem Überlieferungsbestand, das
aus Artefakten, Texten, Bildern, Architektur, Landschaften, Festen, Skulpturen,
Brauchtümern und Ritualen besteht. Durch sie, wird der Überlieferungsbestand
44
Assmann, Aleida. 2002. S. 188.
Ebd. 2002. S. 188.
46
Vgl. Assmann, Aleida. 2002. S. 188 f.
47
Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. Erwägen. Wissen. Ethik. Jahrgang 13/2002. S.189.
45
16
verschlüsselt, der ,,im historischen Wandel einer beständigen Deutung, Diskussion und
Erneuerung bedarf, um ihn jeweils mit den Bedürfnissen und Ansprüchen der jeweiligen
Gegenwart zu vermitteln.“48 Währenddessen das kollektive Gedächtnis ein Problem mit
der Vereinheitlichung und Instrumentalisierung hat, kämpft das kulturelle Gedächtnis
mit seiner Auslagerung, die dazu bringt, dass es zu einer Entfernung von lebendigem
Bewusstsein kommt. Die Prämisse für das kulturelle Gedächtnis ist eine Konservierung
und Pflege der Bestände. Aber das wird von dem kulturellen Gedächtnis erst gelungen,
wenn es durch ,,individuelle Wahrnehmung, Wertschätzung und Aneignung“49 erreicht.
Im Gegenteil zum kulturellen Gedächtnis, ermöglicht das kollektive Gedächtnis den
Bürgern, in langfristiger historischer Perspektive überlebenszeitlich in einer Interaktion
mit anderen zu sein. Man muss auch erwähnen, dass das kulturelle Gedächtnis im
Gegensatz zu dem kollektiven sich der Engführung widersetzt. ,,Die Bestände des
kollektiven
Gedächtnisses
lassen
sich
nicht
vereinheitlichen
und
politisch
instrumentalisieren.“50 Ein Prozess des Aktivierens und Vergessens von Inhalten des
kulturellen Gedächtnisses, differenziert Aleida Assmann in zwei Schichten: das
Funktions- und Speichergedächtnis. Das Funktionsgedächtnis wird anders als das
bewohnte Gedächtnis bezeichnet. Das Funktionsgedächtnis
,,besteht aus bedeutungsgeladenen Elementen, die zu einer kohärenten Geschichte konfiguriert
werden
können
und
sich
durch
Gruppenbezug,
Selektivität,
Wertbindung
und
Zukunftsorientierung auszeichnen. Das Speichergedächtnis hingegen ist das unbewohnte
Gedächtnis, eine amorphe Masse ungebundener, bedeutungsneutraler Elemente, die keinen
vitalen Bezug zur Gegenwart aufweisen.“51
Bestimmte Artefakte, die durch eine Pflege und Auseinandersetzung nicht ganz
verstummen, können von jeder Generation neu vernommen und aufgenommen werden.
Es ist besonders wichtig, dass bei dem kulturellen Gedächtnis die Grenzen zwischen
dem Funktionsgedächtnis und dem Speichergedächtnis nicht hermetisch sind, sondern
in
beiden
Richtungen
überschritten
werden
können.
Elemente
die
im
Funktionsgedächtnis an Interesse verlieren, werden im Archiv gespeichert und andere
aus dem Speichergedächtnis ins aktive Funktionsgedächtnis
wieder zurück
48
Assmann, Aleida. Frevert, Ute: Geschichtvergessenheit – Geschitsversessenheit. Stuttgart: Deutsche
Verlag-Anstalt. 1999. S. 49f.
49
Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. Erwägen. Wissen. Ethik. Jahrgang 13/2002. S.189.
50
Ebd. 2002. S. 189.
51
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart, Weimar: Metzler. 2005. S. 31.
17
transportiert. Durch solche Aspekte, wie das Erinnern und Vergessen, Bewusstsein und
Unbewußtsein, Manifest und Latent, ist das kulturelle Gedächtnis ungleich und
wandlungsfähiger, aber auch fraglicher und umstrittener als das kollektive Gedächtnis.52
3. ,,Fiction of memory“ als Gattungtypologie nach B. Neumann
3.1 Zum autobiographischen Gedächtnisroman
Fictions of Memory präsentieren ein enormes Spektrum literarischer Repräsentationen
von Erinnerung und Identität. Um die Aspekte der Fictions zu verstehen, werden die
Formen gattungstypologisch differenziert.
Neumann konstatiert, dass es gewisse
Indizien in der Rhetorik der Erinnerung gibt, die zu einer Gliederung literarischer
Erinnerungs-
und
Identitätsentwürfe
führen
können.
Demnach
deutet
die
Differenzierung zwischen dem Erinnerungs- und Identitätsentwurf einen Zeitbezug der
Fictions of Memory, die mit der Relationierung der Erzählebene verbunden ist. Sie
notiert, dass während das Dargestellte von Gedächtnis in der Vergangenheit und die
diegetische Ebene in einem zurückliegenden Text oder Handlung Beziehung findet,
erscheint die Präsentation von Erinnerungen in der Gegenwart und auf der
extradiegetischen Ebene einer Erinnerungselaboration.53 Durch die gemeinschaftliche
Stiftung und der rivalisierenden Aushandlung von Vergangenem, wird die
Differenzierung zwischen geschlossenen und offenen Perspektivenstrukturen erreichbar.
Unterdessen
werden
,,Fictions
of
Memory
durch
eine
geschlossene
Perspektivierungstruktur ausgezeichnet, sie veranschaulichen die Kommunalität der
Erfahrung
einander
ergänzender
Ausblickspunkte
auf
ein
geteiltes
Gruppengedächtnis.“54 Solche Gattungsausprägungen inszenieren eine Differenz um
52
Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. Erwägen. Wissen. Ethik. Jahrgang 13/2002.
S.190.
53
Vgl. Neumann, Birgit: Fictions of Memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen
Gegenwartsromanen. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht (XXXVII/4/2004). Würzburg: Verlag
Königshausen & Neumann GmbH, S.342.
54
Neumann, Birgit: Fictions of Memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen
Gegenwartsromanen. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht (XXXVII/4/2004). Würzburg: Verlag
Königshausen & Neumann GmbH, S.342.
18
die Deutung der kollektiven Vergangenheit.55 Dadurch werden vier Formen der Fictions
of Memory in vier Komponente differenziert: der autobiographische Gedächtnisroman,
der autobiographische Erinnerungsroman, der kommunale Gedächtnisroman und der
soziobiographische Erinnerungsroman.
Im autobiographischen Gedächtnisroman steht die Vergangenheitserfahrung des
erzählenden/ erzählten Ichs im Zentrum.56 Dabei wird die persönliche Vergangenheit
des Protagonisten durch sinnstiftende Erzählakte in ein stabiles Gedächtnisnarrativ
vereinigt.57 Mit Hilfe von Rückblenden, kommt zu einer Geschlossenheit und
Chronologie vergangener Erlebnisse.
,,Im erinnernden Rückblick schlägt das erzählende Ich eine bedeutungsstrukturierende Brücke
zwischen den im Laufe der Zeit eingetretenen Veränderungen und bringt die komplexen
Transformationen zwischen dem ,,self that was’’ und dem ,,self that is” in eine plausible und
aneignungsfähige Form.”58
In dem autobiographischen Gedächtnisroman verlaufen die Rückblenden chronologisch.
Es entsteht eine Ausdehnung des Bogens von dem Beginn der erzählten Geschichte bis
zum Zeitpunkt des gegenwärtigen Rückblicks
und damit wird die Vergangenheit
kontinuitätsstiftend an die gegenwärtige Zeit des Erzählenden Ichs verbunden.59
Dadurch scheint ,,die gegenwärtige Identität so fast folgerichtig und zwangsläufig aus
den vergangenen Ereignissen hervorzugehen”.60 Die Darstellung des entstandenen
Individuums findet in der Vergangenheitsorietierung, also auf der diegetischen Ebene
der laufenden Geschichte einen Niederschlag. In diesem Beispiel von Roman liegt der
Akzent zeitlich rückblendend, wo das erzählende Ich die mit seinen eigenen Ereignissen
55
Vgl. Neumann, Birgit: Fictions of Memory: Erinnerung und Identität
Gegenwartsromanen. 2004. S. 342.
56
Ebd. 2004. S. 342.
57
Ebd. 2004. S. 343.
58
Neumann, Birgit: Fictions of Memory: Erinnerung und Identität
Gegenwartsromanen. 2004. S. 343.
59
Vgl. Neumann, Birgit: Fictions of Memory: Erinnerung und Identität
Gegenwartsromanen. 2004. S. 344.
60
Neumann, Birgit: Fictions of Memory: Erinnerung und Identität
Gegenwartsromanen. 2004. S. 343.
in englischsprachigen
in englischsprachigen
in englischsprachigen
in englischsprachigen
19
auf der autodiegetischen Ebene liegt, in ein abgeschlossenes Erlebniszusammenhang
überführt wird.61 Dementsprechend
,,wird die Ebene des Erinnerungsabrufs nur minimal ausgestaltet, so dass der konstruktive
Charakter von retrospektiver Sinnstiftung kaum zutage tritt und die Ebene der Handlung als von
gegenwärtigen Dispositionen des Erzählers unabhängig erscheint. Unterstützt wird diese
Authentizitätssuggestion durch die dominant interne Fokalisierung des Vergangenen und die
damit verbundene Inszenierung von field of memories, die den Eindruck einer episodenhaften
Unmittelbarkeit der Vergangenheit evozieren.”62
Unter dem Begriff Detailrealismus, wird die Glaubwürdigkeit der nacherzählten
Geschichte durch gewisse Prinzipien angedeutet. Damit das funktioniert, müssen Orte
und Zeiten aus der Vergangenheit, wie auch die Verwendung von Temporal- und
Lokaleiktika beschrieben werden.63 Die diegetische Ebene, die die erlebten Erfahrungen
des erzählten Ichs besitzt, liefert ihm die Antwort oder erklärt auch das Gewordensein
seiner Identität.64 Hiermit werden ,,der Anfang der Lebensgeschichte, ihre Höhe- und
schicksalhaften Wendepunkte vor dem Hintergrund eines bereits bekanntes Endes
gedeutet.”65 Neumann bezeichnet das als ,,retrospektive Teleologie”66, wo die
Handlung der Geschichte als eine geschlossene Plotstruktur auszeichnet ,,die dem
Dargestellten ein besonders hohes Maß an Plausibilität verleiht und die temporal und
sinnstiftende Kluft zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem überbrückt.”67 In
diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass der Detailrealismus und die
retrospektive Teleologie dual agieren um der sinnstiftenden Vergangenheitskonstruktion
und der Identitätskonstitution gemäß Erinnerung zu verstärken.68 Demnach wird ,,die
konstitutive Dualität von erzählendem und erlebendem Selbst im autobiographischen
Gedächtnisroman durch den gelungenen Sinnstiftunsprozeß aufgehoben”.69 In diesem
61
Vgl. Neumann, Birgit: Fictions of Memory:Erinnerung und Identität in englischsprachigen
Gegenwartsromanen. 2004. S. 343.
62
Neumann, Birgit. 2004. S. 343.
63
Vgl. Neumann, Birgit. 2004. S. 343.
64
Ebd. 2004. S. 343.
65
Neumann, Birgit. 2004. S. 343.
66
Ebd. 2004. S. 343.
67
Ebd. 2004. S. 343.
68
Vgl. Neumann, Birgit 2004. S. 343.
69
Neumann, Birgit. 2004. S. 343.
20
Zusammenhang, wo ein strukturierendes Erzählen vorkommt, verleiht es der Figur
stabile Identität und bewirkt eine autobiographische Kohärenz.70
3.2 Zum autobiographischen Erinnerungsroman
Der autobiographische Erinnerungsroman problematisiert aktuelle Bedingungen von
Sinnstiftung.71 Im Zentrum dieses Romans steht eine Offenheit eines situativ gerahmten
Erinnerungsprozesses. Auf diese Weise wird eine Verlagerung des Akzents verbunden,
die von der diegetischen Ebene des Erinnerten auf die extradiegetische Ebene der
Erinnerungselaboration
fixieren.72
Daraufhin
nutzen
autobiographische
Erinnerungsromane
,, die Rhetorik der Erinnerung und Identität dazu, die Konstruktivität sowie die Grenzen der
Sinnstiftung selbstreflexiv offen zu legen und die Prozesse der Vergangenheitsaneignung in den
Vordergrund zu rücken. Sie kombinieren involvierte Erinnerunsperspektiven mit kritischreflektierenden und erheben damit das ,,Wie” des Erinnerns zum zentralen Gegenstand.”73
Darüber hinaus, lotet in der Vergegenwärtigung der zurückliegenden Erfahrung, der
homodiegetische Erzähler die Konnotation des Vergangenen erst aus und sucht nach
prägenden Mustern. Durch das Verlagern des Akzents auf der Ebene des
Erinnerungsabrufs, geht für diese Gattung der Romane eine Tendenz einher,
Vergangenes extern zu fokalisieren.
Die observer memories inszenieren, dass die
sinnstiftende Instanz, die Erinnerungen von gegenwärtigen Handlungsanforderungen sie
überformt. Deswegen werden ,,in metamnemonischen Reflexionen die Perspektivität
und Konstruktivität von Erinnerungen zudem explizit thematisiert.”74 Charakteristisch
für den autobiographischen Erinnerungsroman ist das, dass die Chronologie des
faktischen Ereignisablaufs zugunsten der verknüpfenden Funktionsweise von
Erinnerungen aufgebrochen wird, so dass unterschiedliche Zeitebenen nebeneinander
stehen. Das ständige Schwanken zwischen dem Jetzt des Erinnerungsabrufs und den
70
Vgl. Neumann, Birgit. 2004. S. 343 f.
Ebd. 2004. S. 345.
72
Ebd. 2004. S. 345.
73
Neumann, Birgit. 2004. S. 345.
74
Ebd. 2004. S. 346.
71
21
differenten Dimensionen der Vergangenheit erklärt die Schwierigkeit, die Heterogenität
der
vergangenen
Erfahrungen
der
Realität
in
einen
kohärenten
und
kontinuitätsstiftenden Zusammenhang zu überführen. Auch solche Ereignisse, die
Mehrfachthematisiert werden, weisen auf eine Polyvalenz bzw. eine Unverfügbarkeit
der eigenen Vergangenheit des Individuums nach. Deshalb verweisen Divergente
,,zumeist widersprüchliche Elaborationen der gleichen Begebenheit auf die Perspektivität von
Sinnstiftung und zeigen, dass Erinnerungen niemals endgültige Antworten auf die Frage nach
dem Gewordensein der individuellen Identität liefern. Die temporal Diskontinuität und
narrative Inkohärenz lassen die inszenierte Lebensgeschichte als einen Prozeß des
Interpretierens
und
Reinterpretierens
vergangener,
identitätsrelevanter
Begebenheiten
erscheinen.”75
Im autobiographischen Erinnerungsroman fungiert der Handlungsverlauf durch seine
nicht-teleologische, offene Plotstruktur. ,,Vergangenes und gegenwärtiges Ich bleiben
einender fremd, wodurch die individuelle Identität als instabiles und immer nur
vorläufig Konstrukt erscheint.”76 Anschließend resultiert
,,aus der grundsätzlichen Standortgebundenheit eines in das vergangene Geschehen
emotional
einschließenden
Erzählinstanz
eine
Affinität
beziehungsweise
eine
Wesensverwandschaft des autobiographischen Erinnerungsroman zu Formen von
unreliable narraton.’’77
Unreliable Narration schildert, in welchem Maβe Erinnerungen von idiosynkratrischen
Interessen geprägt sind und problematisiert den engen Grad, der zwischen einer Findung
und Erfindung von Vergangenem liegt. Es entstehen Fragen nach dem Wahrheitsgehalt
in dem autobiographischen Erinnerungsroman. Wie es A. Assmann betont, geht es bei
dem Erinnern
,,nicht primär um das, was war [geht], sondern um das was im autobiographischen Prozeß
daraus gemacht wird und stellt damit die Vorstellung einer einzigen, wahren Lebensgeschichte
in Frage. Inszeniert wird der Eindruck der grundlegenden Perspektivität von Erinnerungen in
75
Ebd. 2004. S. 346.
Ebd. 2004. S. 346.
77
Ebd. 2004. S. 346.
76
22
zahlreichen autobiographischen Erinnerungsromanen durch Verfahren der strukturellen
Multiperspektivität.”78
Durch die intertextuelle bzw. intermediale Referenz werden kontradiktorische
Perspektiven importiert, die die Vergangenheit, die von der Erzählinstanz präsentiert
wird, kritisch perspektiviert und die Vorläufigkeit jedes einzelnen Sinnstiftungsversuchs
unterstrichen. In dem autobiographischen Erinnerungsroman werden Sinn- und
Identitätsstiftung zu krisenhaften und prekären Phänomenen, die sich durch einen
offenen, provisorischen und unabschließbaren Charakter auszeichnen.79
3.3 Zum kommunalen Gedächtnisroman
Nach der Besprechung des autobiographischen Erinnerungsromas, geht Neumann in
ihrem Beitrag zu dem kommunalen Gedächtnisroman über. Sie ist der Meinung, dass
das Gedächtnis nicht nur auf individueller, aber auch auf der kollektiven Ebene Identität
stiftet. Das gemeinsame Anwenden der Vergangenheitsaneignung erzeugt einen
Ausgangspunkt, dass zu der Entstehung eines überindividuellen Gedächtnis führt, das
kollektive Identitätsmuster und Selbstverständnisse rahmt.80 Sie betont, dass diese
Gedächtnisse, die zum Kollektiven gehören, die nach einer innen Gemeinschaft stiften,
werden auf der Ebene der Gesellschaft mit weitreichenden politischen Interessen und
Geltungsansprüchen verbunden. Das Besitzen von Erinnerungen, die zu einer
gruppenspezifischen Vergangenheit gehören, werden
für viele zum Ansatzpunkt
politischen Agierens, deren Erfahrungen in einem öffentlichen Gedächtnisraum nicht
oder nur verkürzt repräsentiert werden.81 Das, was den kommunalen Gedächtnisroman
besonders auszeichnet, ist dass im Zentrum solcher Gattung eine Aktualisierung und
Aneignung einer kollektiven Vergangenheit steht. Im Anschluss an solche Romane, die
zu dieser Gattungsausprägung gehören
78
Brockmeier 1999: 25. zit. nach Neumann, Birgit. 2004. S. 346.
Vgl. Neumann, Birgit. 2004. S. 346.
80
Ebd. 2004. S. 349.
81
Ebd. 2004. S. 349.
79
23
,,inszenieren sie den Versuch einer partikularen Gruppe, durch eine Struktur von geteilten
Vergangenheitsreferenzen in z.B. Geschichtne, Riten oder Ritualen ein überindividuelles
Gedächtnis zu konstituieren und auf diese Weise vormals Vergessens zu revitalisieren.“82
Es handelt sich oft bei dem Gedächtniskollektiv um eine kulturelle Minderheit, deren
Gruppenidentität, die durch Erfahrungen einer gesellschaftlichen Marginalisierung
beschädigt wurde. Bei dem Kommunalen Gedächtnisroman werden fiktionale
Privilegien der Selektion benutzt, um den verdrängten Erinnerungen Gehör zu
verleihen, um sie in die Kultur der Erinnerung zu fixieren. Diese Gattung von Roman,
mit Hilfe von literarischen Mitteln konstituiert ein imaginatives Gegengedächtnis, das
Vergangenheitsdeutungen kritisch perspektiviert und daraufhin die etablierte Grenze,
die zwischen dem Erinnern und dem Vergessen steht in Frage stellt.83 Neumann stützt
sich mit dem Begriff communal voice84
und meint, dass die zurückliegenden
Erfahrungen mit ,,diesem” Begriff reaktiviert werden, also von einer Erzählinstanz, die
als Sprachrohr einer Gedächtnisgemeinschaft auftritt und deren Erfahrungen,
Werthierarchien und Identitätskonzepte zur Geltung bringt. Die communal voice tritt in
zwei unterschiedlichen Ausprägungen.
,,Zum einen kann sie sich in heterodiegetischen Erzählungen in der alternierenden
Fokalisierung der geteilten Vergangenheit, also in der Darstellung sich wechselseitig
ergänzender Perspektiven manifestieren.”85
Die
Kommunalität
der
gemeinsamen
Vergangenheit
wird
durch
kollektive
Fokalisierung inszeniert. Hier macht die Innendarstellung gemeinsame Erfahrungen und
Sinndeutungen einer Gedächtnisgemeinschaft deutlich. Der andere Aspekt, der von
Neumann angeführt wird, ist das communal voice, dass als ein homodiegetischer
Erzähler im Text erscheint, der seine
,,Erfahrungen als exemplarischen Ausblickspunkt auf das Kollektivgedächtnis einer Gruppe
inszeniert und in struktureller Hinsicht einem Wir-Erzähler ähnelt. Individuelle Erinnerungen
werden von der communal voice als paradigmatisch für das Gedächtnis eines bestimmten
Kollektivs repräsentiert.”86
82
Neumann, Birgit. 2004. S. 349.
Vgl. Neumann, Birgit. 2004. S. 349.
84
Lanser 1992: 21. Zit. Nach Neumann, Birgit. 2004. S. 349.
85
Neumann, Birgit. 2004. S. 349.
86
Ebd. 2004. S. 349 f.
83
24
Gleichermaßen zeichnet sich der kommunale Gedächtnisroman, wie als auch der
autobiographische Gedächtnisroman durch einen dominanten Vergangenheitsbezug aus.
Auf der Figurenebene werden die vergangenen Erfahrungen in Form von
reaktualisierten Gedächtnisbeständen dargestellt. Das schwache Beleuchten der
extradiegetischen Ebene führt dazu, dass sich der konstruktive Charakter der
Sinnstiftung verschleiert und eine Authentizität vom gegenwärtigen Interessenlangen
unabhängige Vergangenheit suggeriert.87 Die typische interne Fokalisierung des
kommunalen Gedächtnisromans akzentuiert die anhaltende, emotionale Virulenz der
Erinnerungen. Deswegen vertritt Assmann folgende Ansicht.
,,Neben den gruppenkonstitutiven Erfahrungen gelangt auf der Handlungsebene ein bereits
Spektrum Gedächtnis- und gemeinschaftsstiftender Praktiken zur Anschauung: Dialoge der
Figuren über die geteilte Vergangenheit, die Darstellung von Gedenkfeiern, Riten und Ritualen
gehören in dieser Gattungsausprägung zu den zentralen Strategien, um die gruppenspezifische
Vergangenheit ,überlebensblos’ (J.Asmann) präsent zu halten. Intertextuelle und medialeReferenzen spielen gruppenspezifische Gedächtnisbestände ein und leisten einen Beitrag zur
Kontinuierung des Kollektivsgedächtnisses.”88
Der kommunale Raum wird durch Semantisierungsstrategien zu einem symbolischen
Ausdrucksträger des gruppenspezifischen Gedächtnisses stilisiert, der die Präsenz der
Vergangenheit verstärkt.
Diese Semantisierung verleiht der Forderung nach
Repräsentation, nach einem legitimen Platz in öffentlichen Gedächtnisraum Ausdruck.
Neumann
unterstreicht,
dass
die
Merkmale
in
der
Gattung
von
Roman
zusammenwirken, um die Kommunalität der Erfahrung darzustellen und die
Anerkennung des gruppenspezifischen Gedächtnisses einsetzen.89
87
Vgl. Neumann, Birgit. 2004. S. 350.
Neumann, Birgit. 2004. S. 350.
89
Vgl. Neumann, Birgit. 2004. S. 350.
88
25
3.4 Zum soziobiographischen Erinnerungsroman
Im Gegensatz zu dem kommunalen Gedächtnisroman schildert der soziobiographische
Erinnerungsroman, dass die Vergangenheitsgliederung nicht nur Gemeinschaft stiftet,
sondern auch als Anlass veritabler Erinnerungskonflikte gesehen werden kann. In
diesem Roman geht es nicht um eine gemeinschaftliche Tradierung, sondern um die
konkurrierende Aushandlung von Vergangenem.90 Die Romane stellen zur Verfügung
einen
einfachen
Einblick
in
die
Mehrheit
gesellschaftlich
kursierender
Sinnstiftungsversuche und kollektiver Identität. Im Gegensatz zu dem kommunalen
Roman, der die Authenzität in Vergessenheit eines Gedächtnisfundus insinuiert, legt der
soziobiographische Roman die aktuellen Bedingungen von kollektiver Erinnerung bloß
und entschleiert sie in ihrer Konstruktivität und Kontingenz. Wenn es bei dieser Gattung
von Roman zu einer multiperspektivischen Verfahrung kommt, lösen die Verfahren die
Vergangenheit in eine Pluralität verschiedener Erinnerungsversionen auf, die in der
jeweiligen Gegenwart um Deutungshoheit konkurrieren. Neumann unterstreicht, dass
sich
bei
den
soziobiographischen
Erinnerungsromanen
die
inszenierten
Vergangenheitsdeutungen unvereinbar und einander wechselseitig perspektivierend
gegenüberstehen. Darauf folgt, dass diese Form von Gattung das Interesse lenkt auf
subjektive und gruppenspezifische Brechungen aber auch auf das agonale, denkbar
gemeinschaftszersetzende Moment von Erinnerungen. Die kollektiven Erinnerungen
werden als zweckgebundene Bedeutungskonstrukte angesehen, die zugleich viel
Aufschluss über gegenwärtige Sinnbedürfnisse und Wertevorstellungen transportieren
wie über die Vergangenheit selbst.91 Im weiteren Aspekt meint Neumann, dass die
Romane sich durch ihre Gegenwartsgebundenheit charakterisieren.
,,Sie problematisieren die gegenwärtigen Bedingungen der Vergangenheitsaneignung und
zeigen,
welche
aktuellen
Herausforderungslagen
die
Konstruktion
bestimmter
Erinnerungsversionen motivieren. Die Offenlegung der Sinnstiftungsprozesse stellt die
Polyvalenz vergangener Erfahrungen heraus und zeichnet Vergangenheitsversionen und die
daraus hervorgehenden Identitätsmuster als präsentische Konstrukte aus, die die Spuren der
Zwecke ihrer Konstruktion tragen.”92
90
Ebd. 2004. S. 353.
Ebd. 2004. S. 353.
92
Neumann, Birgit. 2004. S. 353
91
26
Die Ebene des Erzählens führt zu einem Oszillieren zwischen der Vergangenheit und
Gegenwart, was dazu beiträgt, dass die Geschehnisse fragmentiert und inkohärent
erscheinen. Es kommt zu einer Grenze der Sinnstiftung, weil die temporalen
Diskontinuitäten und narrative Brüche dazu beitragen und auch zeigen, dass es nicht
möglich ist, eine Gemeinschaft geltende Vergangenheitsdeutung zu bilden. Im weiteren
Aspekt meint Neumann, dass mit der Gegenwartsorientiertheit des Romans eine
Tendenz der Metaisierung des Erinnerten einhergeht. ,,Der soziobiographische
Erinnerungsroman nutzt die Rhetorik der Erinnerung und Identität zur selbstreflexiven
Problematisierung der Modalität von Sinnstiftung.“93 Sie ist der Meinung, dass
explizite Thematisierungen der Besonderheiten und Funktionsweisen von kollektiver
Erinnerung genauso zu Textrepertoire dieser Gattungsausprägung gehören, wie auch die
Reflexionen über gruppen- und epochenspezifische Bedingtheit der Sinnstiftung.94
Anschließend schreibt Neumann, dass metamnemonische Reflexionen den Blick auf die
Konstruktion
und die Ausschlusskriterien von Kollektivgedächtnissen richten und
unterstreichen, dass die Erinnerungen angesichts ihrer unauflöslichen Verwobenheit mit
gruppenspezifischen Geltungsansprüchen einer Synthetisierung zu einem Gedächtnis
entziehen.95 Es wird hervorgehoben, dass der Streit um die Deutung der Vergangenheit
des Kollektivs in solcher Gattung von Roman, sich durch zahlreiche intertextuelle und
intermediale Referenzen auf Gedächtnismedien beobachtbar macht. Im weiterem betont
A. Assmann.
,,Verfahren der Intertextualität Einblick in das synchrone und diachrone Spektrum
gesellschaftlich kursierender Gedächtnismedien liefern und verdeutlichen, dass die Frage
welche Vergangenheiten überhaupt erinnerbar sind, von medialen Stützen abhängig ist.”96
Die intertextuelle und intermediale Referenzen werden von dem soziobiographischen
Erinnerungsroman benutzt, um eine wirklichkeitskonstutierende Macht von Medien zu
reflektieren und Erinnerungskonkurrenzen als ein Streit um mediale Repräsentation im
offenen Raum zu problematisieren.97
93
Ebd. 2004. S. 353.
Vgl. Neumann, Birgit. 2004. S. 353.
95
Ebd. 2004. S. 354.
96
Neumann, Birgit. 2004. S. 354.
97
Vgl. Neumann, Birgit. 2004. S. 354.
94
27
4. Zur Rhetorik der Erinnerung
4.1 Informationen zum Autor Artur Becker
.
Der Autor, der analysierten Novelle ,,Die Zeit der Stinte“ Artur Becker wird am 7.05.
1968 im polnischem Bartoszyce (Masuren) geboren. Becker kommt aus einer deutschpolnischen Familie. Als junger Mann zieht Becker nach Deutschland um. Er wohnt in
Verden an der Aller. Seit 1985, ist er als Schriftsteller tätig. Er spezialisiert sich für
Prosa, Lyrik, Aufsätze und Erzählungen. Darunter hinaus arbeitet er als Übersetzer.98
Auf der polnischen Literaturszene, debütiert er 1984 in der Gazeta Olszyńska als
Lyriker. In den Jahren 1989 entschied er sich für die Deutsche Sprache, in der er bis
heute seine Werke verfasst. Beckers Schreiben, kann man nicht nur in der Frankfurter
Rundschau und Rheinischen Merkur finden, aber auch in vielen anderen Zeitschriften.
Zu seinen bekanntesten Werken zählt der Roman ,,Der Dadajsee“ (1997), die Novelle
,,Die Zeit der Stinte“ (2006), der Schelmenroman ,,Das Herz von Chopin“ (2006).
,,Wodka und Messer. Lied vom Ertrinken“ (2008), ist sein neuester Roman, der große
Interesse bei den Kritikern weckte.99
Spricht man dennoch von der kontroversen Novelle ,,Die Zeit der Stinte“, muss man das
Interview Beckers mit Christiane Nowak zitieren:
,,Wie sind sie auf die Idee zu dem Buch gekommen? Wer oder was hat sie dazu gebracht, diese
Geschichte zu schreiben? Ich kannte die Geschichte schon lang und nachdem der letzte Roman,
„Kino Muza“, fertig war, erzählte mir mein Vater die Geschichte noch einmal und dann fand
ich, dass es jetzt soweit ist. Jetzt möchte ich sie erzählen, weil sie sich tatsächlich auch so
abgespielt hat, mit diesem Flugboot, mit dieser Hinrichtung. Ich wusste, ich brauchte dafür
noch einen Rahmen von heute. Ich wollte das unbedingt so machen, dass die Enkelkinder
darüber nachdenken und das erzählen, um einen Zugang zur Gegenwart zu haben und um so
die Vergangenheit zu sehen. Die Geschichte hat mich einfach fasziniert, weil sie faszinierend ist
und ich finde auch faszinierend, dass ich so etwas in meinem Leben habe, solche Geschichten,
98
99
Vgl. http://kulturalny.blox.pl/html/1310721,262146,21.html?194011. 03.06. 3009. 20:18.
Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Artur_Becker_(Schriftsteller). 03.06. 2009. 20:29.
28
die sich an einem See abgespielt haben, wo ich meine Kindheit verbracht habe. Die Geschichte
gehört zu mir, das ist meine Geschichte.”100
Obwohl der Ausschnitt viel zu denken gibt, werden wir nicht in der Analyse auf das
Problem eingehen. Trotzdem ist es gut zu erwähnen, dass wahrscheinlich diese
Geschichte stattgefunden hat. Im weiteren Aspekt, fragt die Journalistin ob die
verlassene
Heimat
Polen
eine
Spur
an
dem
Autor
hinterlassen
hat:
,,Das Besondere ist folgendes: Es gibt Autoren, die schreiben über das Jetzt und es gibt
Autoren, die sich vollkommen auf die Vergangenheitsbewältigung konzentrieren und ich
glaube, ich bin solch ein Autor, der zu der zweiten Sorte gehört. Ein so genannter
Kindheitsautor, der im Grunde genommen verarbeiten muss, was gewesen ist. Zusätzlich
komme ich aus einem Gebiet, das eine sehr, sehr geschichtsträchtige Vergangenheit hat. Es
gehört eigentlich niemandem, weder den Deutschen noch den Polen, sondern nur den baltischen
indianischen Stämmen, die im Zuge der Christianisierung entweder
vernichtet oder
aufgenommen wurden in die christliche Gesellschaft, von den Litauern und später auch von den
Polen. Das ist ein Gebiet, in dem es unheimlich viele Sprachen und Religionen, Vorstellungen
gab. Das wirkt sich auf das literarische Gemüt, das literarische Schreiben und
Geschichtenerzählen aus. Außerdem ist es eine Landschaft, die sehr urtümlich ist, sehr, wie sagt
man, indianisch, archaisch, mit der Natur verbunden - wobei ich mir keinen Pantheismus
vorwerfen lassen würde. Ich suche keinen Gott in der Natur, dazu bin ich zu katholisch, der
Gott muss schon eine Individualität sein. Ich könnte auch Steine und Bäume verehren, das kann
man in einem Gedicht machen, man kann darüber schreiben, das hat aber mit Pantheismus
nichts zu tun, glaube ich. ‘‘101
4.2 Zum Inhalt
Chrystian Brodd, der Protagonist in der Novelle von Artur Becker ,,Die Zeit der Stinte”,
ist ein Spätaussiedler, der mit seiner Familie, als er ein Kind noch war, nach Bremen
umgezogen ist. Seine Eltern lebten in den Masuren, in der Stadt Iława, namens DeutschEylau. Der Umzug war für ihn kein traumatisches Ereignis, weil Chrystian in einer
100
101
http://www.arturbecker.de/Presse/varia/artikel008.html. 03.06. 2009. 20:22.
http://www.arturbecker.de/Presse/varia/artikel008.html. 03.06. 2009. 20:23.
29
zweisprachigen Familie aufgewachsen ist. Seine Mutter Danusia, war Polin, die Gustaw
Brodd, einen Deutschen heiratete. Chrystian hatte sich nie Gedanken gemacht, warum
seine Eltern aus den wunderschönen Masuren ausgezogen sind. Diese Geschichte
schildert ihm Erwin, sein Onkel, der Bruder seines Vaters. Seine Mutter hatte
beschlossen nach Bremen mit der ganzen Familie auszuwandern, nicht nur weil sie ein
schwieriges Leben in Polen hatten, sonder sie wollte vor der Liebe, die Erwin zu ihr
hatte, wegrennen. Chrystian ist in einem Wohnblock aufgewachsen, wo sein Vater als
Hausmeister angestellt ist. Man könnte sagen, dass er ein ganz gewöhnlicher junger
Mann ist, der sein Magisterstudium abgeschlossen hat und Katharina geheiratete.
Dennoch, war etwas falsch in Chrystians Leben. Seine Frau hat ihn verlassen, sie nahm
ihren Sohn Boreas mit und Chrystian ist alleine in Klein-Brooklyn geblieben. Er sollte
eine geheimnisvolle Krankheit haben, die er von seinem Opa, der mütterlicher Seite
bekommen hat. Die Krankheit zwang ihn manchmal das Haus zu verlassen und z.B. auf
dem Bahnhof mit den Obdachlosen zu leben, um neue Erfahrungen zu sammeln.
Chrystians Schwächen, waren auch Frauen, die seine Ehe zerstörten. Demzufolge verlor
er irgendeinen Sinn zu leben. Er war arbeitslos, seine Frau hatte einen anderen,
deswegen wozu sollte er noch auf dieser Erde sein? In den Augen seines Vaters war er
ein Verlierer und seine geliebte Mutter lebte nicht mehr. Sie starb tragisch. Am Gustaws
Geburtstag, ging sie in den Keller und irgendwie ist sie gestolpert und hat sich das
Genick gebrochen. Jedes Jahr, wenn seines Vaters Geburtstag kam, hatten die beiden
Schuldgefühle gehabt. Eines Tages hatte sein Vater einen Brief von seinem Bruder
Erwin bekommen. Der Brief erzählte, dass eine jüdische Journalistin, Mona Juchelka
nach Europa kommt, mit einigen Fragen an die Vergangenheit ihres Großvaters Gerald
Juchelka, der wahrscheinlisch Richard Schmidtke, den KZ-Lager Besitzer in den Jahren
1947 ermordet hat. Chrystians Vater wollte damit nichts zu tun haben. Er wollte schnell
wie möglich sich Mona loswerden. Er hatte Chrystian dazu verpflichtet, Mona vom
Flughafen
abzuholen.
Und
hier
beginnt
die
Geschichte
für
Chrytian.
Da Chrystian eine Schwäche für Frauen hatte, hatte es sehr schnell zwischen den Beiden
gefunkt. Mona Juchelka kam um eine Recherche über dieses Ereignis zu machen. Das
bedeutete für sie nicht nur mit Gustaw zu sprechen, sondern auch nach Polen zu fahren,
sich mit Erwin zu treffen und Stutthof, die kleine Stadt bei Danzig, wo das KZ-Lager
war zu erkunden. Mona versuchte Chrystian zu überreden, mit ihr nach Polen zu fahren,
doch er hatte abgesagt. Sie hatte noch einige Sachen in Leipzig zu erledigen, deswegen
in dieser Zeit hatte Chrystian beschlossen sie zu überraschen. Zwischen Mona und
30
Chrystian kam es zu einer brennenden Affäre. Chrystian war für diese aufregende Reise
dafür. Er wollte nur noch so schnell wie möglich weg von seiner Frau, von seinen
Problemen, alles nur noch vergessen und mit Mona zu sein. Da er pleite war und sein
VW diese lange Strecke nicht machen würde, hatte ihm sein bester Freund Rudi diese
Probleme erleichtert. Die beiden sind nach Polen gefahren um Chrystians Onkel Erwin
zu besuchen. Mona wollte so gut wie möglich die korrekte Geschichte hören.
Das grausame Erlebnis für beide Seiten, also für den Täter und die Opfern war sehr
bitter. Die Geschichte war über drei ehemalige Häftlinge des KZ-Lagers, dass
Schmidtke führte, als er verstand, dass er zu alt war um mit den Nazis gemeinsam zu
kämpfen. Nach dem Krieg hatte sich Schmidtke im Wald versteckt, weil er Angst
bekam, dass jemand sich an ihm rechen könnte. Er lebte in diesem Wald, hatte sich
schon daran gewöhnt mit den Bäumen zu sprechen. Jeden Tag, kam Johann Brodd,
Schmidtkes Koch, der im KZ-Lager die Häftlinge gefüttert hat, ihm Essen zu bringen.
Eines Tages kam er zu Schmidtke um ihn zu warnen, dass drei Männer mit einem
Flugboot auf dem Geserichsee gelandet sind und nach ihm gefragt haben. Sie hatten
Schmidtkes Mutter verprügelt um Informationen zu bekommen wo sich Schmidtke
versteckt. Richard Schmidtke war ,,ganz ruhig“, aber in demselben Moment sehr
gestresst. Er hatte sich gefragt, wie würden sie ihn töten. Eines wollte er nicht, vergast
zu werden. Als die Männer sein Versteck fanden, wollten sie Schmidtkes Urteil sehr
langsam durchführen. Sie wollten, dass er genauso leidet wie tausende Häftlinge des
KZ-Lagers. Eine lange Zeit hatten sie ihn geprügelt und beschimpft. Danach hatten sie
einen Strick um seinen Hals gewickelt und ihn aufgehengt. Nach der Ermordung von
Schmidtke, sind die ,,Täter “ zum Geserichsee zurückgekehrt und
weggeflogen.
Mona und Chrystain sind zu Onkel Erwins Haus angekommen. Mona hat beschlossen
sich Schmidtkes KZ-Lager anzusehen. Leider war sie enttäuscht. Auf dem alten KZLager war eine ,,Agroturystyka “ entstanden. Mona hatte begriffen, dass alles sich
verändert und vielleicht war es keine gute Idee nach Polen zu kommen. Auch der alte
Friedhof, der Deutschen war verdorben. Man konnte die Namen und Daten der
Deutschen Bürger nicht lesen können. An Schmidtkes Grab war sein Name, aber unter
der Geburt und Tod waren keine Daten gewesen. Mona hatte andere Erwartungen von
dieser Reise. Nach diesem Urlaub in den Masuren, wo Mona eine Vorstellung über die
Leute bekam, hatte sie verstanden, dass ihr Recherche Weg zu Ende kam. Eines Tages,
als Chrystian aufwachte, war Mona Juchelka weg. Er konnte sie nirgendswo finden.
Mona war genauso wie die Stinte in dem Geserichsee. Sie erschien sehr schnell und
31
genauso war sie fort. Chrystian war wieder alleine. Sein Leben war zu demselben Punkt
gekommen, wie es am Anfang war. Dennoch hatte Chrystian Monas Worte nicht
vergessen, die ihm Hoffnung gaben: ,,Ich bin geduldig!“ 102
4.3 Zum Textanfang
Im Folgenden soll das Prinzip des Textanfangs in der Novelle ,,Die Zeit der Stinte“
analysiert werden um später die Deixis der Erzählung exakt zu erfassen. Um einen
Textanfang zu bestimmen, werden von Carsten Gansel vier Varianten präsentiert:103ab
ovo; in medias res; in ultimas res; invocatio.104 Der Anfang der Novelle von Artur
Becker beginnt in medias res:
,,Es war die Zeit der Stinte, die durch die Wesser zogen und sich vermehrten. Als Chrystian
Brodd mittags mit einem Auge erwachte, war er wie erschlagen: Heute hatte sein Vater
Geburtstag, am 4. April 2003, er wurde sechzig; außerdem kam es Chrystian so vor, als ob
irgendjemand, der sehr mächtig sein musste, an seinem Leben herumschnipselte wie mit einer
Schere. Ihm fehlten plötzlich mehr Tage und Nächte als je zuvor, und das, was blieb, war auch
nicht mehr in sicherer Hand: hier am Steintor, in seinem Wohnviertel, das er auf den Namen
>>Klein Brooklyn<< getauft hatte – im Gegensatz zu >>Klein-Manhattan<<, wo sein Vater
Gustaw wohnte.“105
102
Vgl. Becker, Artur: ,,Die Zeit der Stinte”. Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München.
2006
103
Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder Und Jugendliteratur, ein Praxishandbuch für den Unterricht.
Cornelsen Verlag Scriptor GmbH & Co. KG, Berlin. 1999. S. 74.
104
,,ab ovo“: Der Beginn gibt eine Einstimmung auf die folgenden Ereignisse sowie einen Einstieg in die
Handlung. Die Variante tauch meist in der Gattung der Märchen auf (,,Es war einmal…“); ,,in medias
res“: Als Einstieg wird ein Zeitpunkt mitten in der Geschichte gewählt und von hier aus wird die
Handlung weiter fortgeführt. Der Leser durchschaut die Handlung nicht. Erst am Ende ist er in der Lage,
Ereignisse chronologische zu verknüpfen und Zusammenhänge zu erschließen; ,,in ultimas res“: Der Text
beginnt mit dem Ende der Geschichte beziehungsweise kurz vor dem Ende. Der Leser erkennt erst am
Schluss die Zusammenhänge der jeweiligen Handlungsstränge. Das besondere an diesem Textanfang ist
die Übereinstimmung der erzählten Zeit mit der Erzählzeit; ,,invocatio“: In der Einleitung als ,,Invocatio“
kann der Leser eine Begründung oder eine Legitimation erfahren, die in Form einer Widmung, Einleitung
und Rahmenerzählung auf die Geschichte unter bestimmten Geschichtspunkten hinführt. /
Wiederhold, Bernadette: Zur Darstellung von Kindheit im Werk von Benno Pludra. GRIN Verlag. 2008. S.
52.
105
Becker, Artur. 2006. S. 7.
32
Bevor jedoch man sich auf die Bedeutung des Textanfangs einlässt, sollte man auf den
ersten Satz Rücksicht nehmen ,,Es war die Zeit der Stinte“106, der überhaupt nicht zu
dem weiterem im Text passt. Man könnte das als einen gestimmten Raum interpretieren,
der schon am Anfang der Historie eine Atmosphäre einbringt. Das was im Text
dargestellt wird, beziehungsweise die Welt im gestimmten Raum, wird als Innbegriff
von
psychognomischen
Ausdruckscharakteren
erfasst.107
Folgend,
zeugt
der
Textabschnitt darauf hin, dass die Geschichte in einem bestimmten Zeitpunkt beginnt.
Das wird ebenfalls durch das Datum illustriert. Der Leser befindet sich in einem
konkreten Zeitpunkt, der darauf hinweist, dass es um medias res geht. Die Geschichte
fängt an, wo Chrystian, die Hauptfigur, den Rezipienten mit dem Geburtstag seines
Vaters konfrontiert. Man weiß nicht genau, worüber die Geschichte sein wird. Erst im
Verlauf, beginnt der Leser das Erzählte zu verstehen. Es wird am Ende der Novelle eine
Chronologie der Ereignisse zusammengestellt. Dies führt zu dem, dass der Leser die
ganze Geschichte zu begreifen beginnt.108 Was bedeutend für medias res ist, so Carsten
Gansel, ist es mit einem anachronischen Erzählen verbunden. Es wird durch
Rückwendungen geprägt, wobei die unklaren für den Leser Informationen nachgeliefert
werden. Schon an der ersten Seite kommt es zu einer Analepse:
,,Dass er sie nicht mochte, lag daran, dass Chrystians Opa Johann, als er noch lebte, fast
täglich irgendwelche Straßenköter nach Hause angeschleppt hatte. Allerdings war das vor
langer Zeit gewesen, als sie noch in Iława wohnten, das früher Deutsch-Elyau hieß.“109
Das Einführen in die Geschichte, das in medais res beginnt, wird mit einer aufbauenden
Rückwendung110 gestiftet. Warum ist diese Information wichtig? In dieser Novelle
kommt es zu einer Binnenerzählung. Der Leser kann irritiert sein, weil er die
Informationen nicht zusammen fixieren kann. Deswegen wird eine Exposition
106
Ebd. 2006. S. 7.
Vgl. Paetzold, Heinz: Ästhetik der neuron Moderne: Sinnlichkeit Und Reflexion In der konzeptionellen
Kunst der Gegenwart. Franz Steiner Verlag. 1990. S. 29.
108
Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder Und Jugendliteratur, ein Praxishandbuch für den Unterricht.
Cornelsen Verlag Scriptor GmbH & Co. KG, Berlin. 1999. S. 74.
109
Becker, Artur. 2006. S. 7 f.
110
Lämmert, Eberhard: Bauformen des Erzählens. 9. Aufl., Stuttgart/Weimar: Verlag J.B. Metzler 2004
(1955). S. 104-108.
107
33
nachgeliefert, mit deren Hilfe die unklaren Hintergründe einer unvermittelten Situation
entwickelt werden.111 Erst am Ende, wird alles entschlüsselt:
,, Als das Flugboot, eine Do 24, vom Geserichsee abhob, war Richard Schmidtke seit einer
Viertelstunde tot. Gerald Juchelka saß im Cockpit, öffnete die Flasche und nahm einen Schluck.
[…] >> Sehen Sie sich das an, dieses weiße Meer<<, sagte Gerald Juchelka. >>Es ist so
still.<<“112
Nicht nur die aufbauende Rückblendung ist für medias res von Bedeutung, sondern
auch eine auflösende Rückblendung113, die für das Ende der Geschichte relevant ist. Sie
befindet sich am Ende der Story, wo das lückenhaft Erzähltes Geschehen ergänzt, so das
was bislang rätselhaft war, aufgeklärt wird.114 Damit beginnt der Leser die Geschichte
erst zu verstehen, er verbindet alle unklaren Informationen und daraufhin wird eine
Chronologie gebildet.
4.4 Zum Erzähler
4.4.1 Erzählanalyse nach Franz K. Stanzel
Der Erzählforscher Franz K. Stanzel hat für den Bereich narrativer Texte eine
Typologie des Vermittlungsvorganges (Erzählsituationen) aufgegriffen und danach
übertragen.115
Er gliedert die Erzählsituationen in drei Typen: die auktoriale
Erzählsituation
bzw.
auktorialer
Erzähler;116
personale
Erzählsituation
bzw.
Personaler Erzähler;117 Ich-Erzählsituation bzw. Ich-Erzähler.118
111
Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: Verlag C.H. Beck.
2007. S. 36.
112
Becker, Artur. 2006. S. 200.
113
Lämmert, Eberhard: Bauformen des Erzählens. 9. Aufl., Stuttgart/Weimar: Verlag J.B. Metzler. 2004
(1955). S. 108-112.
114
Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: Verlag C.H. Beck.
2007. S. 36.
115
Vgl. Martinez/Scheffel. 2007. S. 89
116
Die auktoriale Erzählsituation bzw. auktorialer Erzähler: hier kann die Erzählinstanz ,,über die Auβenwie die Innenwelt der Figuren verfügen, aber letztlich bleibt der Blick auf die Bewusstseinszustände von
außen bestimmt und daher begrenzt. Deshalb ist die Rede vom ,,allwissenden” Erzähler relative und
irreführend.”116 Ebenfalls ist es: ,,für den auktorialen Erzähler wesentlich, dass er als Mittelsmann der
Geschichte einen Platz sozusagen an der Schwele zwischen der fiktiven Welt des Romans und der
Wirklichkeit des Autors und des Lesers einnimmt.” Gansel, Carsten: Moderne Kinder- Und
34
In dem Werk von Artur Becker kann man von einem personalen Erzähler sprechen, der
ebenfalls wie bei Genette, unbeteiligt ist und sich nicht in die Erlebnisse der Figur
einmischt. Daraufhin muss man feststellen, dass der Autor nicht die Position des
erzählenden Ich eingenommen hat. Der personale Erzähler, also das erzählende Ich
sollte nicht als ein erlebendes Ich definiert werden. Wie schon es erwähnt wurde, ist der
personale Erzähler unbeteiligt, also er kann nicht als eine allwissende Instanz
erscheinen. Das was kennzeichnend ist, ist der ,piont of view‘,119 wo die erzählende
Instanz in dem Text sehr oft eine Position einnimmt, die aus der Sicht einer Figur bzw.
Chrystians dargestellt wird. Die Erinnerungen von Chrystian Brodd haben eher mit
seiner Kindheit zu tun. Er erscheint als die dritte Generation, also er hat keine eigenen
Erinnerungen aus dem Krieg. Sie werden ihm im Laufe der Geschichte durch die
Mittglieder seiner Familie erzählt. Wenn man sich jedoch an den Protagonisten
konzentriert, an seine Identität, stellt man fest, dass der erzählende aus einer Mitsicht
erzählt und sie dadurch liefert:
,, Aber die Angst saß Chrystain weiter im Nacken. Sie war unbeweglich, still, gemein […]
Warum war er Chrystain Brodd, nicht ein kleiner Stint geworden?“120
Die Angst, die ihm von dem Anfang bis zum Ende der Geschichte begleitet, wird von
der Erzählinstanz nicht kommentiert. Chrystian erscheint als eine sehr schwache Figur.
Er ist nicht selbstsicher. Die Erinnerungen an seine Kindheit haben eher ein positives
Erinnerungsbild. Dagegen, die Gegenwart, also die Zeit in der, Chrystian als ein
erwachsener Mann leben muss, wird von ihm mit pessimistischen Bildern und Ängsten
kreiert. Der Misserfolg, der ihn begleitet, hat einen großen Abdruck an seiner Identität.
In diesem Abschnitt bekommt er nicht nur Angst von einer Sache, er hat mehrere
Jugendliteratur: Ein Praxishandbuch für den Unterricht. Cornelsen Verlag Scriptor GmbH & Co. KG, Berlin
1999. S. 30 und Martinez/Scheffel 2007. S. 90.
117
Die personale Erzählsituation bzw. Personaler Erzähler: hier dagegen verzichtet der Erzähler an
Kommentare. Der Leser bekommt das Gefühl in einer Illusion zu sein: ,,er befände sich selbst auf dem
Schauplatz des Geschehens oder er betrachte die dargestellte Welt mit den Augen einer Romanfigur, die
jedoch nicht erzählt, sondern in deren Bewusstsein sich das Geschehen gleichsam spiegelt. Damit wird
diese Romanfigur zur Persona, zur Rollenmaske, die der Leser anlegt.” Martinez/Scheffel 2007. S. 90.
118
Die Ich-Erzählsituation bzw. Ich-Erzähler: hier stellt man fest, dass der Erzähler zu der Geschichte, der
Welt der Figuren gehört. Deswegen wird es betonnt, dass: Er selbst das Geschehen erlebt hat, miterlebt
oder beobachtet, oder unmittelbar von den eigentlichen Akteuren des Geschehens in Erfahrung
gebracht. Auch hier herrscht die berichtende Erzählweise vor, der sich szenische Darstellung
unterordnet.” Ebd. Martinez/Scheffel 2007. S. 90.
119
Vgl. Fricke, Harald. Braungart, Georg. Grubmüller, Klaus. Weimar, Klaus. Müller, Jan-Dirk:
Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Walter de Gruyter. 1997. S. 510.
120
Becker, Artur. 2006. S. 13.
35
Furchten, die der personale Erzähler nicht kommentiert. Nach Stanzel tritt der Erzähler
hinter die Figur, wo er manchmal sie aus ihrer Innenperspektive darstell.121 Das was
kennzeichnend ist, ist der ,point of view‘,122 wo die erzählende Instanz in dem Text sehr
oft eine Position einnimmt, die aus der Sicht einer Figur dargestellt wird:
,,Ich bin ein stolzer Vater und Opa- obwohl mein Sohn vom Kapitalismus nichts begriffen hat.
Vielleicht ist es sogar besser, dass sich meine Liebe Danusia nicht anschauen muss, was aus
unserem Sprössling geworden ist. Ein überqualifizierter Bengel, der kein Geld verdient.”123
Dieses Zitat verdeutlicht, dass der Protagonist die Stellung des Erzählers übernimmt und
als eine auktoriale Instanz das Leben seines Sohnes beschreibt. Die Erinnerungen und
Erfahrungen von Gustaw, der als die zweite Generation hier erscheint, unterscheiden
sich diametral von dem was Chrystian erlebt hat. Meistens haben politische Geschichten
keinen Sinn um über sie zu sprechen. Jede Generation sieht sie mit ihren eigenen Augen
und versteht sie auf ihre eigene Art und Weise, was oft die ältere Generation irritieren
kann. Chrystians Erinnerungen waren eher sorgenfrei. Er hatte studiert und auf diese
Weise, also passive, über Geschichte gelernt. Der nach Stanzel personale Erzähler,
ermöglicht ihm bzw. hat für Gustaws Verhalten Verständnis. Das Phänomen wird als
ein nichtdiegetischer Erzähler bzw. Reflektor bezeichnet, der den Standpunkt einer
Figur einnimmt.124 In einigen Passagen kann der Leser einen Eindruck bekommen, dass
der personale Erzähler als sehr neutral erscheint. Nach Carsten Gansel, der über
Stanzels Erzähltypen in der Kinder und Jugend Literatur schreibt, wird es folgend
betont.
,, Die Hinweise auf das Erzähltwerden sind kaum noch erkennbar, der Erzähler tritt nicht mehr
als persönlicher Sprecher in Erscheinung, Leseanreden, Kommentare, Reflexionen über das
Erzählen entfallen zumeist. Wiedergegeben wird das Geschehen von einer Instanz, die anonym
und neutral bleibt, was es schwer macht, die Erzählinstanz als solche zu identifizieren.”125
121
Vgl. Stanzel 1995, 16; Ludwig 1995, 95. zit. nach Gansel, Carsten. 1999. S. 32.
Vgl. Fricke, Harald. Braungart, Georg. Grubmüller, Klaus. Weimar, Klaus. Müller, Jan-Dirk:
Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Walter de Gruyter. 1997. S. 510.
123
Becker, Artur. 2006. S. 16.
124
Vgl. Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie. Verlag: Walter de Gruyter. 2008. S. 139.
125
Gansel, Carsten. 1999. S. 32.
122
36
Diese Hinweise, werden an einigen Stellen des Textes deutlich. Während des Lesens,
bekommt der Rezipient einen Eindruck, dass das Erzählte nicht nur von der personalen
Instanz vorgestellt werden könnte, wie als auch von der Figur, aber auch von jemandem
anderen, der schwer zu identifizieren ist:
,,Sie verzichteten auf ein langes Bad, legten sich auf das Sofa und hörten dem Regen zu. Es war
dunkel in der Wohnung, die Stereoanlage spielte Streichquartette von Beethoven, nur über dem
Spülbecken brannte Neonlicht.“126
Es ist nicht einfach hier den Erzähler zu klassifizieren. Man könnte vermuten, dass er
als allwissend erscheint, aber genauso könnte man einen Eindruck bekommen, dass es
von jemand anderen, neutralen erzählt wird. Es werden keine Reflexionen oder
Kommentare angewendet, was dem Leser ein Gefühl gibt, dass er mit einer anderen
Erzählinstanz zu tun hat.
Ein
anderer
Aspekt,
der
für
den
Erzähler
von
Bedeutung
ist,
ist
die
Perspektivenstruktur, die in zwei Aspekten interpretiert wird: monoperspektiwisches
Erzählen, wo der Erzähler sich auf die Innensicht einer Figur konzentriert und
multiperspektivisches Erzählen, wo der Erzähler sich auf die Innensicht mehrerer
Figuren fokussiert.127 In Anlehnung an Carsten Gansel, ist er der Ansticht.
,,Für das personale Erzählen kennzeichnend, steht im vorliegenden Ausschnitt nicht der Bericht
von
Handlungen
und Ereignissen im
Mittelpunkt,
sondern
die
Präsentation
von
Bewusstseinsprozessen. Die Gedanken und Gefühle, Ängste und Hoffnungen der Reflektorfigur
werden unkommentiert präsentiert, sodass ein direkter Einblick in die Innenwelt der
reflektierenden, denkenden, fühlenden Figur gegeben scheint.”128
Dementsprechend hat man hier mit einem monoperspektivischen Erzählen zu tun. Der
Erzähler konzentriert sich auf Chrystian, der ein Problem hat, mit seinem Leben zu
Recht zu kommen. Chrystian spricht ständig von seinen Gefühlen, Ängsten, wie
beispielsweise von der Trennung mit seiner Frau oder, dass er kein Geld hat und
arbeitslos ist. Aber die größte Angst hat er vor dem Tod. Er hat Herzprobleme, eine
geheimnisvolle Krankheit, die er wahrscheinlich von seinem Großvater geerbt hat:
126
Becker, Artur. 2006. S. 100.
Vgl. Gansel, Carsten. 1999. S. 34.
128
Gansel, Carsten. 1999. S. 35.
127
37
,,Dann, als er das Lenkrad mit beiden Händen anfasste – der Motor lief bereits -, spürte er ein
heißes Stechen in der Brust. Ihm wurde plötzlich kalt, und der unvermeidliche Schweißausbruch
kam gleich hinterher. Der Schwächeanfall dauerte immer nur einige Sekunden, aber danach
war er erschöpft, als hätte er schwere, körperliche Arbeit geleistet.“129
Obwohl Chrystian immer wieder Angst in solchen Situationen bekommen hat, wollte er
versuchen normal zu leben, als ob die Krankheit nicht wichtig ist. Dennoch muss man
feststellen, dass er sich selber betrügt hat. Die Furcht war immer da. Der personale
Erzähler hatte nie eingegriffen. Es wurden keine Kommentare von ihm gegeben.
Das, was Oben Carsten Gansel erwähnt hat, richtet den Leser mehr an den
,Bewusstseinprozess’ der Figur an. Anstatt sich Fragen zu stellen wer Schmidtke war,
ob sie ihn wirklich getötet haben, wird es versucht den Leser an das Innere von
Chrystian zu binden. In den dominierenden Kapiteln über Chrystian, werden nur kleine
Momente fixiert, die über die Geschichte der KZT Juden erzählen:
,, Mona hakte sich bei Chrystian (…), aber er schwieg. Engel, dachte er, als sie das Weserufer
erreichten und sich auf Steine setzten, Engel, die mit einem Flugboot auf dem Wasser landen,
können gut oder böse sein. Gerald kam als Richter zu Schmidtke. Seine Botschaft war die
Todesstrafe. Aber wer ist Mona Juchelka? Ist sie wie ein Stint, der sich einmal blicken lässt,
verliebt und danach wieder verschwindet? Oder ist sie wie ein Stint, der sich rächt und der
mordet?”130
Die Geschichte von dem tragischen Ereignis, wurde Chrystian erst jetzt erzählt.
Deswegen kann man nicht von seinen eigenen Erinnerungen hier sprechen. Er hat ein
anderes Bild für das. Obwohl man von einer gewissen Analepse sprechen könnte, muss
man
unterstreichen,
dass
es
keine
Felderinnerungen,
wie
als
auch
Beobachtererinnerungen sind. Der personale Erzähler kommt mit einer Mittsicht vor. Er
kann leider auf die Fragen keine Antwort geben. Dagegen, wenn man sich auf die
Gegenwart des Protagonisten konzentriert, stellt man fest, dass der Bewusstseinprozess
in folgender Passage zum Vorschein kommt:
,,Bevor Rudi Cafébesitzer wurde, war er einige Jahre im Ausland gewesen- auf einer langen
Weltreise. Gleich bei ihrer ersten Begegnung hatte er Chrystian auf den Kopf zugesagt: Angst
essen Seele auf! Du bist ein Angsthase, Brodd! Glaub mir! Ich kann es riechen! Rudi hatte sich
129
130
Becker, Artur. 2006. S. 23.
Ebd. 2006. S. 45.
38
von Anfang an wie der Boss aufgeführt, und Chrystian fürchtete immer, von seinem Freund
versklavt zu werden- im Namen der Freundschaft.”131
Mit diesen Sätzen stellt man fest, das Chrystian nicht selbstsicher ist. Das traurige daran
ist, dass er es bestätigt Angst zu haben. Die auktoriale Figur-Rudi, spricht über seinen
Freund Chrystian, dass er ein Feigling ist und diese werden es nicht in der heutigen
Welt überleben können. Wiederum wird die Initiative von der Figur übernommen,
anstatt des personalen Erzählers, der neutral hinter Chrystian steht. In einem anderen
Abschnitt sieht man, wie sich Chrystian Gedanken macht, was seine Ex-Frau denken
wird. Er erscheint als ein schwacher Mann:
,, Chrystian hatte Angst vor dem unausweichlichen Ärger mit Katharina. Er beschloss, Mona
als Schutzschild einzusetzen, und bat sie, mit nach oben zu kommen. In ihrer Gegenwart würde
Katharina sich vielleicht zügeln. Am Ende war es dann gar nicht so schlimm- und zwar
deshalb, weil Michail da war.”132
Obwohl Chrystian nicht mehr mit seiner Frau lebte, hatte er immer noch ein Gefühl von
Verantwortung. Sie hatten doch ein gemeinsames Kind. Chrystian wiederholte ständig,
dass er sie nicht mehr lieben würde, aber trotzdem, gab es immer noch ein Hauch von
Eiversucht und verdrängten Gefühlen, Gedanken, die er aber nicht raus lassen wollte.
Sein einziger Wunsch war, über diese misslungene Ehe zu vergessen, zu fliehen weit
aus Bremen. Auch hier sieht man, dass der Erzähler auf die Innensicht der Figur sich
konzentriert. Er steht hinter ihr, bekommt zu wissen was Chrystian fühlt in diesem
Moment, aber trotzdem, kommt keine Hilfe von ihm, kein Kommentar, Ironie, etc.
Man muss allerdings erwähnen, dass in einigen Momenten der Handlung, eher ein
auktorialer Erzähler ins Vorschein kommt. Beispielsweise, das oben erwähnte Zitat aus
dem Buch, kann darauf zeugen, dass die Instanz sich ändert. Ersten erfahren wir, dass
Chrystian eine große Angst vor Katharina hat, deswegen nimmt er Mona mit sich mit,
die als ein Schutzschild stehen sollte. Der Erzähler ist jedoch nicht allwissend, weil er
nicht weiß, wie seine Frau reagieren wird. Dennoch am Ende der Passage kommentiert
er, dass es gar nicht so schlecht war, weil Michael da war.133 Ein anderes Zitat, dass als
auktorial bezeichnet werden kann, ist ein Moment, wo die Figur nicht ahnt, dass der
Erzähler genaue Angaben von dem Gebäude gibt, wo Chrystian lebt:
131
Ebd. 2006. S. 13.
Ebd. 2006. S. 114.
133
Vgl. Becker, Artur. 2006. S. 114.
132
39
,,Das Miethaus stammte aus dem Anfang des 20.Jahrhunderts. Es war im Krieg nicht zerbombt
worden, obwohl es zum alten Stadtkern gehörte. Es hatte gesunde Mauern, hohe Decken und
kaputte Heizkörper, die singen und pfeifen konnten.“134
Man sieht, dass es von dem Erzähler kommt. Er hat ein Wissen nicht nur über das Haus,
aber auch dem Krieg. Er ermöglicht dem Leser ein genaueres Bild zu kreieren. Der
auktoriale Erzähler besitzt einen gewissen Wissenshorizont, der einen Flashback in die
Vergangenheit macht. Also er spricht von Erinnerungen, die wahrscheinlich auf dem
kommunikativen Gedächtnis gebaut wurden. Solche Abschnitte, werden oft als eine
Nullfokalisierung bezeichnet, wo die Instanz als auktorial erscheint.
4.4.2 Erzählanalyse nach Jürgen H. Petersen
Um das Erzählverhalten Petersens, das er von Stanzel benutztes Termini Erzählsituation
umgetauscht hat
zu bestimmen, wird durch ihn die Erzählform
differenziert:
a) Er-Erzähler (Er-Erzählform b) Ich-Erzähler (Ich-Erzählform). Im weiterem Ablauf
bespricht er das Verhalten des Erzählers zum Erzählten wo er drei Typen vorstellt:
a) auktoriale, b) neutrale, c) personale.135 Unter dem Begriff Erzählverhalten, mein
Petersen das ,,Verhalten des Narrators zum Erzählten”.136 Nach Carsten Gansel wird es
noch unterstrichen. ,,Um den Weg von einer Alltagserzählung hin zu einer literarisch
gestalteten Geschichte (,Story’) mit einer entsprechenden Erzählergestaltung bewusst
zu machen, erweist sich handlungsorientiertes Arbeiten als besonders produktiv.”137 Im
weiteren Aspekt wird der Standort von ihm (Nähe oder Ferne) und (zeitlicher Abstand)
der Erzählinstanz in: a) allwissend olympisch, b) begrenzt bestimmt und auch die
Erzählperspektive der Außen- und Innensicht, wie als auch die Erzählhaltung (neutral,
bejahend, kritisch, humorvoll, ironisch, zynisch und parodistisch) besprochen.138
In Beckers Novelle wird der personale Erzähler deutlich. Er berichtet die Geschichte
aus der Er-form:
134
Becker, Artur. 2006. S. 24.
Vgl. Gansel, Carsten. 1999. S. 35
136
Petersen 1993, 68. zit. nach Gansel, Carsten. 1999. S. 35
137
Waldmann/Bothe. 1992 . zit. nach Gansel, Carsten. 1999. S. 36
138
Vgl. Gansel, Carsten. 1999. S. 36
135
40
,,Sein Vater hatte in Iława in einer Fabrik gearbeitet, er war Dreher gewesen […]. Und auf dem
besagten Foto aus Gustaws Familienalbum war Folgendes zu sehen: Sein Vater steht vor dem
Eingangstor des KZs, raucht lässig eine Zigarette, grient und schüttelt einem Kollegen die Hand
– zum Abschied.”139
Der Erzähler steht hinter der Figur und beschreibt eine Geschichte aus der
Vergangenheit, wo sein Vater immer noch ein Foto im Album aus dem Ausflug hat. Ein
problematisches Thema erscheint erst dann, wo Chrystian nicht mehr als ein Kind
denkt, sondern es mit Augen eines erwachsenen Mannes sich anschaut. Dieses Foto
sollte eher ein Witz sein, doch als kleiner Junge hatte er eine andere Geschichte erstellt.
Erst dann, als er mit sechzehn Jahren ein Plattencover von Pink Floyd sieht, beginnt er
zu verstehen was für eine Übertragung das Foto hatte. Sein Vater war für ihn ein Held,
jetzt würde er am liebsten das Foto wegschmeißen und das Ereignis vergessen. Doch
wie er es selber begründet, das ist seine Vergangenheit, also seine Erinnerungen, die er
so einfach nicht entfernen kann.
Im nächsten Punkt, wenn man den Standort beschreiben möchte, muss man feststellen,
dass der Erzähler eher als ,begrenzt‘ erscheinen wird. Chrystian und Mona fahren nach
Polen. Es wird beschrieben, wie Chrystian den Weg gut kennt. Doch der Erzähler kann
es nicht sagen, was sie am Zielort erwartet. Es folgt ein Beispiel: ,,Den Weg zu Onkel
Erwins Haus fand er ohne Mühe. Als hätte er Iława nie verlassen.”140 Der Erzähler
weiß so viel, wie die Figur ihm sagt oder laut denkt. Er kann es nicht sagen ob die
beiden den Mord von Schmidtke klarstellen oder ob Onkel Erwin sie nicht vergessen
hat und auf sie wartet. Die Erzählperspektive wird eher von der Innensicht geprägt. Der
Narrator ist im Stande die Gefühle, Gedanken und Ängste von Chrystian zu zeigen:
,,Und dann begriff er: Mona Juchelka war fort, und er konnte es förmlich riechen. Wo bist du?
Komm zurück! […] Danach würde er losfahren, aber wohin? Zurück auf die Autobahn? Aber
welche? Richtung Leipzig, Bremen oder New York? Oder Stutthof? Solche Autobahnen gab es
nicht.”141
Der Leser fühlt nicht nur, dass Chrystian sehr verliebt ist, aber auch, dass es
hoffnungslos ist, Mona zu suchen. Das folgt mit einer Wehmut und Angst. Chrystian
bleibt wieder allein. Er war arbeitslos, verlor seine Familie und jetzt seine Liebe. Die
139
Becker, Artur. 2006. S. 123
Ebd. 2006. S. 127
141
Ebd. 2006. S. 194
140
41
einzige Person, die ihm in dieser schweren Zeit geholfen hat, hat ihn verlassen ohne ein
Wort zu sagen. Wieder muss Chrystian sein Leben mit eigenen Händen packen, weil der
Erzähler ihm nicht helfen kann.
Die Erzählinstanz ist ein Teil der Figur, aber ohne ein Recht etwas zu sagen. Er
kommentiert nicht, nur Chrystian führt einen Monolog:
,, Er wird mir zuhören. Ich muss ihm sagen, dass ich nicht einmal ihre New Yorker Adresse und
Telefonnummer habe. Ich habe sie mir nicht aufgeschrieben. Ich weiß über dieses Mädchen so
gut wie nichts, Rudi. […] Was soll ich jetzt tun? Wo soll ich sie suchen?’’142
Das Verlieren der jüdischen Frau, bleibt durch den Erzähler neutral bewertet. Er mischt
sich nicht ein. Chrystian sucht nach Hilfe, aber sogar der Narrator gibt ihm die nicht.
Chrystian braucht jemanden, der ihn bejaht, kritisiert oder einfach sagt, was er machen
soll oder was er falsch gemacht hat. Er selbst antwortet und hofft, dass sein Freund Rudi
ihm einen Ratschlag gibt: ,,Weder im Himmel, mein Lieber, noch in Nirwana, würde
Rudi antworten. Such auf der Erde. Bum Shankar!”143 Aber das sind seine
Behauptungen. Es ist nicht klar, ob Rudi das sagen würde. So bleibt Chrystian ohne
Hilfe der Erzählinstanz, wie als auch der Hilfe Rudis alleine.
4.4.3 Erzählanalyse nach Gérard Genette
Gérard Genette unterscheidet in seiner Erzähltheorie ,Personen‘ (Erzähler), die in der
narratologischen Analyse eine enorme Bedeutung spielen.
Infolgedessen, werden nach Genette zwei Kategorien von Erzähler klassifiziert: der
homodiegetischer
Erzähler
und
der
heterodiegetische
Erzähler.
Die
beiden
Konstellationen werden in vier andere Gruppen zerteilt, die später besprochen werden.
Als eine homodiegetische Instanz können wir einen Erzähler erst nennen, wenn er in der
erzählten von ihm Geschichte als eine Figur auftritt und als die erste Person dominiert.
Hier erscheint die Person in zwei unterschiedlichen Rollen des Ichs: ein erzählendes und
142
143
Ebd. 2006. S. 194
Ebd. 2006. S. 194
42
ein erzähltes bzw. ein erlebendes Ich.144 Dagegen wenn es um den heterodiegetischen
Erzähler geht, zählt er nicht zu den Figuren der Geschichte und tritt als die dritte Person
auf. Es ist erkennbar, dass hier nur um das erzählende geht, wahrscheinlich gar nicht
fassbare Ich-Instanz der Erzählrede.145 Geht man weiter mit der Gliederung der
Erzählinstanz, bekommt man vier Erzähltypen: extradiegetisch-heterodiegetische, wo
der Erzähler erster Stufe eine Geschichte erzählt, wo er nicht auftretet; extradiegetischhomodiegetische, wo der Erzähler erster Stufe seine eigene Geschichte erzählt;
intradiegetisch-heterodiegetische, wo der Erzähler der zweiten Stufe eine Geschichte
erzählt, wo er nicht auftretet und intradiegetisch-homodiegetische, wo der Erzähler
zweiter Stufe seine eigene Geschichte erzählt.146
Geht man auf die Analyse der Novelle ,,Die Zeit der Stinte“ zu, sieht man schon am
Anfang der Geschichte, dass der Erzähler als eine heterodiegetische Instanz erscheint,
die mit der extradiegetischen Ebene sich verbindet:
,,Als Chrystian Brodd mittags mit einem Auge erwachte, war er wie erschlagen: Heute hatte
sein Vater Geburtstag, am 4.April 2003, er wurde sechzig; außerdem kam es Chrystian vor, als
ob irgendjemand, der sehr mächtig sein musste, an seinem Leben herumschnipselte wie mit
Einer Schere.“147
Im Rahmen des Erzählten, wird die dritte Person in den Vordergrund gesetzt. Auf dieser
Ebene der Erzählung, wird durch den Erzähler der ersten Stufe eine Geschichte erzählt,
in der er nicht vorkommt. Der Narrator erzählt über Chrystian, den Protagonisten, dass
heute sein Vater Geburtstag hat. Also, wie Genette schon früher betont hat, wird in der
extradiegetische-heterodiegetische Erzählung eine Geschichte erzählt, in der der
Narrator nicht vorkommt:148
144
Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung In die Erzähltheorie. München: Verlag C.H. Beck.
2007. S. 81
145
Ebd. Martinez/Scheffel. 2007. S. 81
146
Ebd. Martines/ Scheffel. 2007. S. 81
147
Becker, Artur: Die Zeit der Stinte. München: Verlag Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG.
2006. S. 7
148
Vgl. Schmitz, Barbara. Prophetie und Königtum: eine narratologisch-historische Methodologie
entwickelt an den Königsbüchern. Mohr Siebeck. 2008. S. 26.
43
,,Gustaw, der ältere Brodd, war Hausmeister in einem Hochhaus und instruierte aus dem
Küchenfenster im Erdgeschoss die Mieter darüber, was ihnen gestattet war oder nicht. Seine
wichtigsten Widersacher waren allerdings nicht die Menschen, sondern Hunde”149
Es wird stark ausgeprägt, dass es in einer ,,Er-Erzählung”150 geschrieben wird. Der
Erzähler ist nicht in das Leben der Figur involviert. Die Geschichte über die Hunde,
lenkt Chrystian in die Vergangenheit zurück, genauergesagt in seine Kindheit. Er
erinnerte sich an die Tage, wo sein Großvater Straßenköter oft nachhause mitgebracht
hat. Er liebte sie, doch Gustaw hat bis zum heutigen Tag ein Problem mit ihnen.
Der Protagonist Chrystian, wird eher als ein Versager in der Novelle dargestellt. Sowohl
mit seinem Leben, wie als den Materiellen Gütern hat er ein Problem. Der primär
nichtdiegetische Erzähler151 beschreibt die zwei Wohnviertel, nämlich Gustaws und
Chrystians, trotzdem zieht er sich von Kommentaren zurück:
,,Ihm fehlten mehr Tage und Nächte als je zuvor, und das, was blieb, war auch nicht mehr in
sicherer Hand: hier am Steintor, in seinem Wohnviertel, das er auf den Namen ,Klein-Brooklyn’
getauft hatte- im Gegensatz zu ,Klein Manhattan’ , wo sein Vater Gustaw wohnte.”152
Man könnte die Namen, die er den Wohnvierteln gegeben hat, als Metaphern einer
Kritik interpretieren, die er selber bestätigt hat. Wie schon Gérard Genette erwähnt hat,
wird der Erzähler als ,,Unbeteiligter Erzähler’’153 in der heterodiegetischen Ebene
präsentiert. Also, er mischt sich in das Leben oder Ereignisse der Figuren nicht ein. Er
gibt keine Ratschläge, und kann genauso viel wissen, wie der Leser, dem die Geschichte
von der Figur vorgestellt wird. Trotzdem, muss man bedenken, dass der Erzähler als
auktorial bezeichnet werden kann. Er muss sich nicht unbedingt einmischen um
auktoriale Zeichen zu geben. Er kann es auch durch eine Übersicht zeigen. Dass es
keinen Beweis für subjektive Kommentare des Erzählers erster Stufe gibt, wird durch
den heterodiegetischen Sprecher im folgendem Zitat vorgestellt:
,,Der letzte Schluck Jelzin hatte Gustaw die Zunge gelöst […] Juchelka! So hieß der Mann aus
New York, der 1947 mit zwei Freunden und einem Flugboot auf dem Geserichsee landete. Die
149
Becker, Artur. 2006. S. 7
Vgl. Fludernik, Monika: Erzähltheorie: Eine Einführung. Darmstadt: Verlag
Buchgesellschaft. 2008. S. 42
151
Vgl. Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie. Walter de Gruyter. 2005. S. 87.
152
Becker, Artur. 2006. S. 7
153
Vgl. Martinez/Scheffel. 2007. S. 82
150
Wissenaschaftliche
44
drei Männer, ehemalige Häftlinge aus dem Konzentrationslager Stutthof, purzelten aus dem
Himmel, um den Gutsbesitzer Richard Schmidtke hinzurichten […] Mein Bruder Erwin war
damals sieben Jahre alt. Er kann sich noch an alles erinnern”154
Es wird stark ausgeprägt, dass die Geschichte von der Figur- Gustaw erzählt wird. Der
Unbeteiligte Erzähler deutet auf einem höheren Standpunkt zu sein, wo er ruhig zusieht,
ohne zu involvieren. Diese Erinnerungen gehören zu der Figur. Es kommt zu einer
Analespse, auf die der heterodiegetische Erzähler keinen Einfluss hat. Gustaw erzählt
was vor vielen Jahren geschah, aber mit dem letzten Satz möchte er eher unterstreichen,
dass seine Familie rein ist. Eine gewisse Unsicherheit kann der Leser spüren. Wie es
Birgit Neumann in ,,Fictions of Memory” betont ,,steht das Gedächtnis für das Vermögen,
sich erinnern zu können, so wie das Buch im populären Verstande ein stilles Vermögen an
eingeschriebenen Gedanken darstellt, das im Akt der Lektüre (der Er-Innerung) seine
Produktivkräfte entfalten kann.”155 Sie ist der Ansicht, dass unsere Erinnerungen durch
einem Prozess aktiviert werden, der von ,,bestimmten Erlebnissen, Erfahrungen und
erworbener Wissensbestände, die nicht dem jeweils aktuellen Handlungszusammenhang
entstammen.”156
Durch das Prinzip von Genette, wird es bestätigt, dass der extradiegetischheterodiegetische Erzähler unbeteiligt ist, auch wenn die Figur erzählt und erinnert.
Sehr oft, hat die Novelle mit einer Binnenerzählung zu tun. In diesem Fall, wird es
bewiesen, dass das Buch eine Erzählung in der Erzählung besitzt. Davon aus, können
wir nach Genette den heterodiegetischen- intradiegetischen Erzähler einführen. Um es
genauer zu erläutern, geht man aus dem extradiegetisch-heterodiegetischen Erzähler, wo
er das Erzählte spezifiziert, auf den intradiegetsichen Erzähler hin zu, wo sich nicht nur
die Zeit und Ort der Geschichte ändern, aber auch der sprechende Erzähler. 157 Für ein
gutes Beispiel, dient der zweite Teil des Buches:
,, Es war die Zeit der Stinte, die durch den See zogen und sich vermehrten. 1947. Richard
Schmidtke hatte den Wald seit zwei Jahren nicht mehr verlassen. Draußen an den Ufern des
Geserichsees lauerte die Rache auf ihn. Es gab nur zwei Menschen, die ihn nicht umbringen
154
Becker, Artur. 2006. S. 18
Harth 1991b, S. 31. zit. nach Neumann, Birgit: Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie
und Funktionen kanadischer Fictions of Memory. Berlin u.a.: de Gruyter. 2005. S. 22 f
156
Rusch 1991, S. 270. zit. nach Neumann, Birgit: Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie
und Funktionen kanadischer Fictions of Memory. Berlin u.a.: de Gruyter. 2005. S. 23
157
Vgl. Martinez/ Scheffel. 2007. S. 75.
155
45
wollten: seine Mutter und der Koch Johann Brodd, der ihm jeden zweiten Tag etwas zu essen
brachte. Aber er hatte keinen Hunger mehr. Seit das Flugboot auf dem See gelandet war, pisste
er Blut und Rasierklingen.“158
Damit der Wechsel offensichtlich wird, wird ein kurzer Schnitt des beendeten, ersten
Kapitels angeführt: ,,(Chrystian) Das Herz wurde ruhig und schlug wieder normal.
Okay, Rudi, dachte er. Ich ruf dich an.“159 Es kommt zu zwei Erzählebenen. Auf der
extradiegetischen Ebene, wird die intradiegetische gebaut, die eine neue Geschichte in
die Erzählung einbringt. Dieser Sprung wird als eine Rückblendung order auch, nach
Genette, als eine Analepse bezeichnet. Die Geschichte von Schmidtke unterbricht das
Lesen des Rezipienten. Er ist irritiert, ist sich nicht sicher, ob die frühere Geschichte
schon zu Ende ist und diese als eine neue erscheint, oder gehört sie zu der ganzen
Geschichte des Buches. Dasselbe passiert mit der Zeit. Der Leser wird in die
Vergangenheit gebracht, genauer zu sagen in das Jahr 1947. Nach Genette, ist es
selbstverständlich, dass die beiden Ebenen sich zeitlich unterscheiden werden. Wir
werden aus der gegenwärtigen Erzählung, also aus dem Leben des Protagonisten
Chrystian und seinen Abenteuern in die Vergangenheit gesetzt, wo das primäre Thema,
nicht Liebe oder die Suche nach eigener Identität ist, sondern das große Problem der
Nachkriegszeit, des Antisemitismus, Rache und Leid war. Es ist nicht das einzige
Beispiel, dass in der Novelle vorkommt. In den Kapiteln der Gegenwart erfährt der
Leser nicht nur über Chrystians und Monas Fahrt nach Polen, aber auch, wird die
Binnenerzählung mit geringen Abschnitten durchgeflochten. Das eigentliche, primäre
Problem der Erzählung, sollte das grausame Geschehenen bzw. der Mord von
Schmidtke, den Kommandanten des KZ-Lagers in den Masuren sein. Dennoch
überwiegt die extradiegetische Ebene in der Erzählung. Ein beachtliches Beispiel dafür
ist, das schon Oben einmal erwähnte Zitat, das aber nur unter der extradiegetischen
Ebene besprochen wurde:
,, Und? Wer ist diese Frau? fragte Chrystian. Sein Vater sank auf den Stuhl. Sein Gesicht wurde
blass. Ich weiß es nicht…, murmelte er. […] Er schaute sich die Postkarte an und begann zu
erzählen: Juchelka! So hieß der Mann aus New York, der 1947 mit zwei Freunden und einem
Flugboot auf dem Geserichsee landete. Die drei Männer, ehemalige Häftlinge aus dem
158
159
Becker, Artur. 2006. S. 55.
Ebd. 2006. S. 53.
46
Konzentrationslager Stutthof, purzelten aus dem Himmel, um den Gutsbesitzer Richard
Schmidtke hinzurichten. […] 160
Der Abschnitt zeugt darauf hin, dass die Erzählungen der beiden Erzähler, sich
kategorial unterscheiden. Erstens, befindet sich der Leser in Gustaws Wohnung, wo er
mit Freunden und Familie seinen Geburtstag feiert, dann wird die Feier mit der
geheimnisvollen Geschichte unterbrochen. Solche Aspekte kommen oft in dem Buch
vor. Sie erscheinen unerwartet, was natürlich den Leser durcheinander bringt. Das zeugt
darauf hin, dass die Novelle auch mit der zweiten Ebene, der intradiegetischen zu tun
hat. Ein weiterer Grund, der über den intradiegetischen Erzähler deutet, wird der fünfte
Teil, der letzte, in der Novelle sein. Das vierte Kapitel endet mit Chrystians nicht
erfüllter Liebe. In der Nacht, hatte Mona ihn verlassen. Der Kapitel endet mit den
Worten: ,,Ich bin geduldig!“161 Man bedenkt, dass die Geschichte zu Ende ist, ein
Offenes Ende. Doch der Leser wird in einen Irrtum gesetzt. Die Geschichte, wird weiter
von dem intradiegetischen Erzähler übernommen. Man erfährt, dass die Geschichte im
zweiten Kapitel nicht zu Ende war:
,, Als das Flugboot, eine Do 24, vom Geserichsee abhob, war Richard Schmidtke seit einer
Viertelstunde tot. Gerald Juchelka saß im Cockpit, öffnete die Flasche und nahm einen Schluck.
Der Wodka brannte in seinem Mund, er brannte in seinem Magen, und Gerald Juchelka, der
noch nie Alkohol getrunken hatte, übergab die Flasche an Jake, den er in Frankfurt angeheuert
hatte. Jake war Pilot der Air Force und würde bald ein reicher Mann sein: Für den Flug nach
Polen hatte ihm Gerald Juchelka eine astronomische Summe geboten, und für das
Schweigen.“162
Nochmals, wird die intradiegetische Ebene in Erscheinung gebracht. Der Leser ist zu
dem Endepunkt gekommen, wo er eigentlich das Ende der gegenwärtigen Geschichte
erfahren wollte. Leider wie es deutlich wird, bleit die mit einem offenen Ende gelassen.
Dagegen, die intradiegetiche Geschichte, der Vergangenheit, verrät nur dem Leser die
wahren Ereignisse, die am Geserichsee 1947 geschahen. Der Erzähler kommentiert und
belehrt das Verhalten der Opfer nicht, die in dem Moment mit Schmidtke zu Tätern
wurden. Nichtmal Mona konnte das Wahre über ihren Großvater erfahren, obwohl sie
sogar nach Polen gereist ist. Man kann das fixieren der beiden Ebenen zweierlei
160
Ebd. Becker. Artur. 2006. S. 18.
Ebd. Becker. Artur. 2006. S. 194.
162
Ebd. Becker. Artur. 2006. S. 195.
161
47
interpretieren. Also, es könnte von einer starken Fixierung der Ebenen gesprochen
werden, aber genauso, könnte man es als schwach interpretieren. Obwohl die
Erinnerungen aus der Vergangenheit durchgeflochten werden, kann es passieren, dass
die Figuren aus der Gegenwart geringe oder sogar gar keine Beweise enthüllen.163
4.4.3.1 Fokalisierung nach Gérard Genette
Seit den 60-er Jahren hatte man zahlreiche neue Termini und Systeme für die
Narratologie in Texten entwickelt. Gérard Genette hatte ein Modell vorgelegt, das in der
Literaturwissenschaft Anerkennung fand.164 Es folgt ein Zitat. ,,[…] Genette lenkte die
Aufmerksamkeit auf Strukturen und Techniken der Fiktion, die zuvor nicht
wahrgenommen wurden oder deren Bedeutung nicht erkannt worden sei.“165 In dem
folgenden Punkt wird der Diskurs der Erzählung nach Gérard Genette erfasst und
differenziert. Genette teilt die Erzählung in zwei Faktoren,166 nämlich in die ,Stimme‘
und ,Fokalisierung‘, die mit zwei Fragen vorkommen:167,,Wer sieht“ und ,,Wer
spricht“.168 Mann sollte dennoch erwähnen, dass dieser Diskurs durch viele
Literaturwissenschaftler immer noch unter einem Fragezeichen steht. ,,Insbesondere die
Analyse der Erzählrolle und die damit verbundene Frage, mit welchen Mitteln diese Instanz
Leserlenkung Hinsichtlich der Mentalitäten
betreibt, wurde bislang nicht erschöpfend
beantwortet.“169 Insbesondere, das nach Stanzel Model der Erzählsituationen, wo er sich
mit dem Modus, Person und Perspektive auseinander setzt,170 wird immer noch nicht
von den Narratologen als vollständig angesehen. Deshalb konzentriert man sich umso
öfter an Genettes Perspektivierung, die auch als Fokalisierung bezeichnet werden kann.
163
Vgl. Martinez/ Scheffel. 2007. S. 75 f.
Vgl. Wergin, Janine: Franz Kafkas ,,in der Strafkolonie“- eine Analyse nach dem erzähltheoretischen
Ansatz von Gerard Genette. GRIN Verlag. 2007. S. 3.
165
Wergin, Janine: Franz Kafkas ,,in der Strafkolonie“- eine Analyse nach dem erzähltheoretischen
Ansatz von Gerard Genette. GRIN Verlag. 2007. S. 3.
166
Vgl. http://www.icn.unihamburg.de/images/download/perspektivierung_und_fokalisierung_ioana_vultur%20.pdf. 17:39.
18.05.2009.
167
Vgl. Blödorn, Andreas; Langer, Daniela; Scheffel, Michael: Stimme(n) im Text: narratologische
Positionsbestimmungen. Verlag: Walter de Gruyter. 2006. S. 83.
168
Vgl. Martinez/ Scheffel. 2007. S. 64.
169
Papke, Kaja: Heinrich Manns Romane Die Jagd nach Liebe und Zwischen den Rassen: Mentalitäten,
Habitusformen und ihre narrative Gestaltung. Verlag: Martin Meidenbauer. 2007. S. 81.
170
Vgl. Stanzel, Franz, K. Theorie des Erzählens. Goettingen. 1991. S. 76.
164
48
Es
werden
drei
Typen
der
Fokalisierung
von
Genette
besprochen,
a)
Nullfokalisierung,171 b) Interne Fokalisierung172, c) Externe Fokalisierung.173
In dieser Novelle ist es schwierig sich einen Typ von Fokalisierung auszusuchen. Man
könnte eigentlich von zwei Typen sprechen, nämlich von der Nullfokalisierung, wie als
auch von der Internen Fokalisierung. Sie sind meistens in der Handlung
durchgeflochten. Das erste eingeführte Beispiel fungiert als eine Interne Fokalisierung:
,,Mona hakte sich bei Chrystian (…), aber er schwieg. Engel, dachte er, als sie das Weserufer
erreichten und sich auf Steine setzten, Engel, die mit einem Flugboot auf dem Wasser landen,
können gut oder böse sein.“174
Der Protagonist wird mit einem Pronomen dargestellt, was darauf hinweist, dass es um
den zweiten Typ Genettes der Fokalisierung sich handelt. Die Instanz hat eine Mitsicht,
also er ist nicht im Stande mehr als die Figur weiß zu sagen. Chrystian geht wieder mit
seinen Gedanken an die schreckliche Tat, in die Vergangenheit zurück. Obwohl es nicht
seine Erinnerungen sind, kann er sie sehr gut rekonstruieren. Man kann sogar sagen,
dass der Leser einen Eindruck bekommen kann, dass Chrystian wohl am Ort des
Geschehens war. Aber das ist nicht möglich. Die Geschichte ist aus der Kriegszeit und
Chrystian erscheint als die junge Generation, die nur das Schreckliche aus Büchern,
Familie und anderer Gesellschaft erfahren hat. Wie es Genette erwähnt hat, kann das
Erzählte eng an die Wahrnehmung des Protagonisten fixiert werden:175
,,Im Fahrstuhl roch es wie in einem chinesischen Restaurant. Ein Geruch, den man nicht so
leicht vergaß. Irgendetwas sehr Kostbar ist noch aus der DDR erhalten geblieben, dachte er,
der süße Duft der Unterhemde und der Deodorants.“176
Chrystian erinnert sich nicht nur an die Zeiten, wo er als Junge die DDR erlebt hatte,
sondern auch an den Geruch, der typisch mit der Zeit assoziiert wurde. Der
heterodiegetische Erzähler hat eine Einsicht in Chrystians Gedanken, aber im Gegensatz
zu dem auktorialen Erzähler wird der Wahrnehmungshorizont von ihm nicht
171
Nullfokalisierung (auktorial)- der Erzähler hat eine, Übersicht’: ,,er weiß bzw. sagt mehr, als
irgendeine der Figuren weiß bzw. wahrnimmt.” Martinez/ Scheffel. 2007. S. 64.
172
Interne Fokalisierung (aktorial)- der Erzähler besitzt eine Mitsicht: er sagt nicht mehr, als die Figur
weiß. Martinez/ Scheffel. 2007. S. 64.
173
Externe Fokalisierung (neutral)- der Erzähler hat eine, Außensicht’: er sagt weniger, als die Figur weiß.
Martinez/ Scheffel. 2007. S. 64.
174
Becker. Artur. 2006. S. 45.
175
Vgl. Martinez/ Scheffel. 2007. S. 65.
176
Becker, Artur. 2006. S. 85.
49
überschritten. Ein anderer Aspekt, der ein Durcheinander einführen kann, ist der
Ausschnitt, wo Chrystian über die Reise nach Polen dachte. Er war eher skeptisch
eingestellt und hatte keinen Grund gesehen um nach Iława zu fahren, wo alles seiner
Meinung so sei, wie früher:
,,Iława, sein Geburtsort, war eine Stadt, die jemand anders wieder entdecken und ausgraben
würde: Iława, dieser Friedhof namens Deutsch-Eylau, dessen letzter Bewacher Onkel Erwin
hieß, war für ihn verloren. Mona wusste nicht, dass er unterwegs zu ihr war. Er hatte auf einen
Anruf verzichtet.“177
In diesem Abschnitt sollten zwei Sachen konstituieret werden. Wie schon erwähnt, ist es
der Ort seiner Kindheit, aber auch das wie Chrystian in dem Moment Iława wahrnimmt.
Der zweite Punkt dagegen, der von großer Bedeutung ist, zeugt daraufhin,
dass
am
Ende
wahrscheinlich
eine
Nullfokalisierung
erscheint.
Der
Wahrnehmungshorizont von Mona wird überschritten. Die Figur hat keine Ahnung,
dass der Narrator und Chrystian wissen, dass sie Besuch haben wird. Dementsprechend
muss man feststellen, dass die Novelle auch eine Nullfokalisierung hat. Diese Art von
Fokalisierung wird mit einer ,Übersicht‘ konstituiert. In einem Abschnitt spricht der
Erzähler über die Figuren, die angeln gegangen sind: ,,Sie warfen ihre Angeln mit
übertriebenem Schwung aus wie kleine Jungen, wenn sie messen wollen, wer am weitesten
pinkeln
kann.“178
Aus
der
Position
des
Narrators
wird
nicht
nur
der
Wahrnehmungshorizont überschritten, aber auch ein Kommentar erstellt. Die Figuren
haben keine Ahnung, dass sie von jemandem beobachtet werden. Der Vergleich der
Figuren zu kleinen Jungen bestätigt nur, dass die Instanz als auktorial bezeichnet
werden kann. Der Erzähler muss nicht immer unbedingt kommentieren bzw. belehren.
Er kann auch von Sachen sprechen, die die Figuren nicht wahrnehmen:
,,Monas Studentenheim, am Rande von Leipzig gelegen, war ein Denkmal der sozialistischen
Baukunst. Das Gebäude war so hoch wie ein Wolkenkratzer und stand an einer Hauptstraße,
die an einer Plattenbausiedlung entlangführte. Ein paar Satellitenschüsseln verstärkten das
ohnehin triste Erscheinungsbild der Betonblöcke. Hier wohnten die Nachfahren des Homo
sowjeticus (wie sein Vater sage würde). Menschen, die Chrystian aus seiner Kindheit bestens
bekannt waren.“179
177
Ebd. 2006. S. 80.
Ebd. 2006. S. 72.
179
Ebd. 2006. S. 82.
178
50
Der heterodiegetische Erzähler spricht über historische Baukünste. Es ist klar, dass er
eine Übersicht besitzen muss. Er vergleicht auch die Entstehungszeit der Gebäude mit
Chrystians Kindheit. Und das ist nicht das Ende was er berichtet, er ist sich sicher, dass
Chrystians Vater es bestätigen würde. Auch hier, wird die Genettes Perspektivierung
verteidigt, hauptsächlich mit Beckers Sätzen. Bei der Nullfokalisierung wird es deutlich,
dass der übersichtige Erzähler die Initiative ergreift. Er unterstreicht, dass was die Figur
nicht wahrnimmt:
,,Gegen Mittag wurde es sogar heiß, wie an einem dieser nicht enden wollenden Julitage. Der
Badestrand war menschenlehr, die Sonne brannte erbarmungslos über dem jenseitigen Ufer, die
Spiegelungen auf dem Wasser erzeugten silberne Flächen, und der Himmel und der Geserichsee
verschmolzen zu einem breiten Strom wie dem Mississippi oder der Wolga.“180
Das Prinzip der Nullfokalisierung konzentriert sich auf das auktoriale. Die
Wahrnehmung hier, wird an keine der Figuren gebunden. Der heterodiegetische
Erzähler hat ein breiteres Wissen von den Protagonisten.181 Solche Pausen, die der
Erzähler benutzt, erscheinen sehr oft in dem Buch: ,,Das sonnige Wetter war vorbei, es
wurde kalt, aber solange es nicht regnete, ließ es sich draußen am See und im Wald gut
aushalten.“182 Das Erscheinen Genettes, des Fokalisators, fokussiert den Rezipienten an
Informationen im Text, die das Wissen der anwesenden Figuren übersteigen.183
4.4.4 Innenweltdarstellung
Die
Innenweltdarstellung,
die
nach
Gedächtnisses‘184
bezeichnet
Felderinnerungen
(field-memories)
wird,
Schacter
greift
und
auch
zwei
als
,Blickwinkel
Erinnerungsformen
Beobachtererinnerungen
des
auf:
(observer-
memories).185 In der Novelle von Becker haben wir mit den Felderinnerungen zu tun.
Das wird durch die interne Fokalisierung geprägt, die mit dem Protagonisten Chrystian
180
Ebd. 2006. S. 142.
http://www.li-go.de/definitionsansicht/prosa/nullfokalisierung.html. 21.05.2009. 19:16.
182
Becker, Artur. 2006. S. 182.
183
http://www.li-go.de/definitionsansicht/prosa/nullfokalisierung.html. 21.05.2009. 19:27.
184
Vgl. Schacter, Daniel L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg:
Rowohlt. 2001. S. 45.
185
Vgl. Erll, Astrid. Nünning, Ansgar. Birk, Hanne: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft:
theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Walter de Gruyter. 2005. S. 138.
181
51
verbunden ist. Mehrmals geht Chrystian mit seinen Gedanken in die Vergangenheit
zurück, genauergesagt in seine Kindheit. Das Erinnerte Ich benutzt Analepsen um seine
Erinnerungen aufzurufen. Ein Beispiel dafür, ist das folgende Zitat:
,,Die Weser war kein gewöhnlicher Fluss mehr. Sie war jetzt so groß wie der Hudson und so
gefährlich wie der Geserichsee.“186
Chrystians Erinnerungen drehen sich um den Geserichsee. Er kann sich nicht nur an ihn
erinnern, aber auch, dass der See sehr gefährlich war. Das Adjektiv ruft die Angst
hervor, die ihn in der Kindheit und auch immer noch im erwachsenen Leben begleitet.
Die interne Fokalisierung besitzt eine Fähigkeit, die die vergangenen Erfahrungen des
Protagonisten so darstellt, dass er keine Kritik ausübt.187 Der Wissenshorizont ist eher
hinten. Chrzstians Erinnerungen, die mit Polen, genauergesagt mit Masuren zu tun
haben, werden nicht in der gegenwärtigen Zeit modifiziert. Die Felderinnerungen
bewirken, dass die Gefühle, die er mit dem Geschehen oder dem Standort verbindet,
sich im Laufe des erwachsen werden nicht ändern. Darauf folgt eine Passage:
,, […] sondern ausgerechnet in Vaters heiligem Keller, wo er nicht selten, meist im Augenblick
der totalen Herzensschwäche, auf dem 25-Kilo-Kartoffelsack sitzt wie in seinem begrabenen
Deutsch-Eylau, und seiner Danusia nachweint, in allen Himmeln nachweint.“188
Wieder werden von Chrystian Gefühle mit der Stadt Deutsch-Eylau assoziiert. Das
Erinnerte Ich verwendet eine Rückwendung. Wahrscheinlich, als er noch klein war, gab
es Situationen, die ähnlich zu den gegenwärtigen sind. Die Erscheinung der
Felderinnerungen bewirkt, dass die damaligen Erinnerungen reaktualisiert werden.189 In
der ganzen Novelle, werden Pausen verwendet, die den Rezipienten unbewusst in die
Vergangenheit schicken. Es ist ein Satz, der über die Stinte, die Fische im Geserichsee
Leben erzählt. Diese Erinnerungen hat auch das Erinnerte Ich, dass in der folgenden
Passage hervorgehoben werden:
186
Becker, Artur. 2006. S. 45 f.
Vgl. Neumann, Birgit: Erinnerung-Identität-Narration: Gattungstypologie Und Funktionen kanadischer
fictions of Memory. Walter de Gruyter. 2005. S. 173.
188
Becker, Artur. 2006. S. 47.
189
Vgl. Neumann, Birgit: Erinnerung-Identität-Narration: Gattungstypologie Und Funktionen kanadischer
fictions of Memory. Walter de Gruyter. 2005. S. 173.
187
52
,,Chrystian liebte die Stinte. Sie waren so schlau wie die Aale und so königlich wie die Gezeiten
und das Meer und die zahllosen Flussmündungen, aus denen sie stammten.“190
Solche Aspekte erscheinen in diesem Buch sehr oft. Chrystians Erinnerungen, die mit
seiner Kindheit verbunden sind, werden stark von den Felderinnerungen geprägt. Was
von Bedeutung ist, dass die Erfahrungen, die er gesammelt hat, von ihm nicht
Kommentiert oder evaluiert werden. Ein anderer Flashback, der in der Handlung zum
Vorschein kommt, ist Chrystians Ankunft in seine Vergangenheit bzw. sein Vaterland.
Die Innenweltdarstellung wird in der folgenden Passage illustriert:
,,Den Weg zu Onkel Erwins Haus fand er ohne Mühe. Als hätte er Iława nie verlassen. Die
grüne Dämmerung kannte er natürlich auch, sie würde sich nie ändern […].“191
In einen Augenblick, war das Erinnerte ich in der Vergangenheit wieder. Es war
genauso, wie er es erinnerte. Die Euphorie, die ihm begleitete, hatte dieselbe Intensität,
wie früher. Diese Komponente (interne fokalisierung und field memories) suggerieren,
dass es sich um einen Gedächtnisroman handelt.
4.4.5 Darstellung der Figurenkonstellation anhand des
Generationen-Gedächtnisses und Täter-Opfer Gedächtnis
Um die Figurenkonstellation zu erfassen, muss man sich an den Ebenen fokussieren: a)
Figurenkonzeption bzw. Figurenaufbau; b) Figurencharakteristik. Der erste Punkt
,,unter der Figurenkonzeption kann man die Konventionen fassen, die dem Aufbau der
Figur zu Grunde liegen und die in der strukturellen Beziehung zwischen Figur und
Handlung/Zustand zum Ausdruck kommen.“192 Dagegen die ,,Figurencharakteristik
betrifft die Form der Informationsvergabe, die die Figur
später im Text
präsentiert.“193
190
Becker, Artur. 2006. S. 70.
Ebd. 2006. S. 127.
192
Gansel, Carsten: Moderne Kinder Und Jugendliteratur, ein Praxishandbuch für den Unterricht.
Cornelsen Verlag Scriptor GmbH & Co. KG, Berlin. 1999. S. 38.
193
Pfister, Manfred: Das Drama. München. 1997. S. 240 ff.
191
53
In Beckers Novelle werden einige Figuren unter die Lupe genommen und im Weiteren
analysiert.
Johann Brodd- war Chrystians, der Hauptfigur, Großvater. Er erscheint hier als eine,
in gewissem Sinne verschwommene, rätselhafte Figur. Es wird nicht viel über ihn
erfahren. Er war der Koch bei Schmidtkes Familie. Der Leser ist nicht im Stande die
Figur zur bestimmten Ebenen zu klassifizieren. In einem Abschnitt erfährt der
Rezipient, dass: ,,Johann Brodd hatte ihn gewarnt, dass sie jeden Moment bei ihm
anklopfen könnten.“194 Man spekuliert, ob Johann ein guter Mensch, oder ähnlich wie
Schmidtke ein kalter Mörder und ein propagierender Nazi gewesen war. Als Mona
Juchelka eine unpassende Frage an Gustaw, den Vater von Chrystian stellt, ist er sehr
empört:
,,Haben Sie jemals einen Menschen getötet?“ Sagt er: ,,Nein mein Mädchen. Und Johann,
mein Papa, hat auch niemanden getötet. Selber der Schmidtke nicht. Das ist das Unerklärliche
dabei. Obwohl es so viele Tote gab.“195
Der Leser kann hier verwirrt sein. Obwohl die Familie Brodd ihren Verwandten im
guten Licht darstellt, bekommt man ein Gefühl eines Fragezeichens. Der Abschnitt
zeugt darauf hin, dass es zu einer Tradierung von Geschichtsbewusstsein in der
deutschen Familie gekommen ist.196 Die zweite Generation, also Gustaw Brodd, konnte
wahrscheinlich, die Bruchteile der erzählten Geschichte seines Vaters in eine eigene
Version komponieren. Diese Familiengeschichte konnte von Generation zu Generation
erzählt und verändert werden. Der Satz ,,Das ist das Unerklärliche dabei. Obwohl es so
viele Tote gab.“197 kann man als absurd bezeichnen. Gustaw lässt die schrecklichen
Taten offen. Wer war also der Mörder? Man kann nur annehmen, dass vielleicht Johann
Brodd, der Koch, manchmal Schmidtkes Helfer gewesen sein konnte. Aber das wird
leider nicht in dem Buch erläutert.198 Wenn man mit den Augen von Chrystian, der
194
Becker. Artur: Die Zeit der Stinte. 2006. S. 55.
Ebd. 2006. S. 41.
196
Vgl. Koch, Lars. Wende, Waltraud: Krieg Und Gedächtnis: ein Ausnahmezustand im Spannungsfeld
kultureller Sinnkonstruktionen. Verlag: Königshausen & Neumann. 2005. S. 58.
197
Becker, Artur. 2006. S. 41.
198
Vgl. Koch, Lars. Wende, Waltraud: Krieg Und Gedächtnis: ein Ausnahmezustand im Spannungsfeld
kultureller Sinnkonstruktionen. Verlag: Königshausen & Neumann. 2005. S. 59 f.
195
54
dritten Generation, den Großvater Johann Brodd sieht, hat man schon mit anderen
Erinnerungen zu tun:
,,Dass er ( Gustaw) sie nicht mochte, lag daran, dass Chrystians Opa Johann, als er noch lebte,
fast täglich irgendwelche Straßenköter nach Hause angeschleppt hatte. Allerdings war das vor
langer Zeit gewesen, als sie noch in Iława wohnten, das früher Deutsch-Eylau hieß.“199
Chrystian kennt Opa nur aus seinen kindlichen Erinnerungen. Die Geschichte, dass er
für Schmidtke gearbeitet hatte, war für ihn ohne Bedeutung. Der Generationswechsel
spielt hier eine große Rolle. Wenn Chrystian erinnert, dann nur aus der kindlichen
Perspektive.
Für
ihn
war
Großvater,
ein
alter
Mann,
der
Hunde
liebte.
In einer anderen Passage, wo Chrystian seinen Vater über die Juchelka Geschichte
fragt, kommt es zu einem sehr wichtigen Fokus:
,, Mein Bruder Erwin war damals sieben Jahre alt. Er kann sich noch an alles erinnern. Und
unser Vater Johann floh in den Wald, als der Juchelka und die beiden anderen auf dem Hof von
Schmidtke erschienen. Johann hatte Angst, dass sie ihn auch umbringen würden. Er hat sich
ganz unnötig Sorgen gemacht. Er war bei Schmidtke als Koch und Knecht angestellt. Die
Häftlinge kriegten einmal am Tag warme Rübensuppe. Wir Brodds brauchen uns nichts
vorzuwerfen. Unser Gewissen ist rein. Aber was die Frau von uns will, die meinem Erwin einen
Brief geschrieben hat, würde ich gerne erfahren!“200
Wieder erfährt der Rezipient nicht viel über die eigentliche Figur, also Johann. Der
Protagonist lautet hier als statisch. Er verändert sich innerhalb des Buches nicht. Es
werden zu wenige Informationen geschildert, die einen genaueren Einblick in die Figur
eingeben würden. Wie es in der Figurendarstellung folgt, wird Johann als
Eindimensional bezeichnet. Im Grunde, kann man sicher über ein Merkmal sprechen der Koch.201 Der Abschnitt zeugt darauf hin, dass wahrscheinlich Gustaw die korrekte
Geschichte kennt oder auch nicht. Man kann vermuten, dass er sie von Erwin gehört hat
und sie mit seiner eigenen Vorstellung umgestaltet hat. Eine quälende Frage: warum ist
Johann in den Wald geflohen und warum hatte er Angst, dass sie ihn umbringen
würden, wenn er nur als Koch arbeitete? Ist es vielleicht, weil er im Gegenteil zu dem
was Gustaw erzählte tat, dass er keine Rübensuppe den Häftlingen gegeben hat? Man
könnte vermuten, dass Johann Angst hatte, dass die Opfer, die zu Tätern wurden, ihn
199
Becker, Artur. 2006. S. 7 f.
Ebd. 2006. S. 18 f.
201
Vgl. Gansel, Carsten. 1999. S. 38.
200
55
erinnern und für das mager Essen, das viele Menschen vor Hunger tötete, ihn hinrichten
würden. Eine andere Frage ist, woher weißt denn Gustaw, dass sein Vater jeden Tag so
gutherzig war und den Häftlingen Nahrung gegeben hat? Gustaw war klein, kann sich
nicht an die Zeit erinnern, also es kommt zu einer Behauptung, dass er sich das einfach
ausgedacht hat. Dagegen der letzte Abschnitt ,, […] würde ich gerne erfahren!“202
klingt eher als ob Gustaw Angst hat, dass irgendwelche schmutzigen Sachen über
seinen Vater herauskommen würden, die darauf zeugen würden, dass die Familie Brodd
leider kein ,,reines Gewissen besitzt.“203 Obwohl die Figur Johann Brodd nicht
genügend beschrieben wurde, ist es schon möglich einige Spekulationen zu bauen,
besonders mit der Hilfe des Generationen Gedächtnisses.
Gustaw Brodd- ist der Vater von der Hauptfigur Chrystian. Gustaw, gilt als die
zweite Generation der Familie Brodd. Was die Figurencharakteristik ausprägt, ist, dass
im Zentrum der Figur, ein Name steht, dem Merkmale zugeordnet werden. 204 Ein
weiterer Aspekt, der mehr über die Gestalt sagt, ist: ,,Heute hatte sein Vater Geburtstag,
am 4.April 2003, er wurde sechzig […].“205 Um den Krieg zu erinnern, war er zu klein.
Er kann sich nur an einige Fetzen aus der Vergangenheit erinnern, aber diese
Geschichten sollten eher mit einem augenzwinkernd betrachtet werden. Ob die Figur zu
einem Typ klassifiziert werden kann, ist fraglich. An einer Passage, könnte man
feststellen und ihn bezeichnen, als einen ,,stolzen Vater.“206 Doch im Weiteren, klingt
es mehr, als wäre er nicht glücklich und stolz auf seinen Sohn: ,,Ein überqualifizierter
Bengel, der kein Geld verdient.“207 Gustaw war ein Deutscher, der die Polin Danusia
geheiratet hat. Für einige Menschen in den Masuren, war es ohne Bedeutung ob es einen
Nationalunterschied zwischen den beiden Personen gab. Sie haben neben sich gelebt
und im gewissen Sinne auch akzeptiert. Die Familie Brodd war aus Masuren, der Stadt
Iława nach Bremen ausgezogen, um ein neues Leben zu beginnen. Dadurch dass
Gustaw ein Deutscher war, konnten sie ohne Problem umziehen. Gustaw zählt zu einer
202
Becker, Artur. 2006. S. 18 f.
Ebd. 2006. S. 18 f.
204
Vgl. Jannidis, Fotis: Figur Und Person: Beitrag zu einer historischen Narratologie. Verlag: Walter de
Gruyter. 2004. S. 109.
205
Becker, Artur. 2006. S. 7.
206
Ebd. 2006. S. 16.
207
Ebd. 2006. S. 16.
203
56
statischen Gestalt. Man erfährt schon am Anfang der Novelle, dass Gustaw ,,der ältere
Brodd, war Hausmeister in einem Hochhaus und instruierte aus dem Küchenfenster im
Erdgeschoss die Mieter darüber, was ihnen gestattet war oder nicht.“208 Die
Beschreibung der Figur, kann nur eines bedeuten, dass ,,klein Manhattan“209 zu seinem
Leben geworden ist. Es wird nicht erzählt, dass er z.B. nach Polen, zu seinem Bruder
Erwin gereist war. Gustaw zählt eher zu den Typen, die es mögen bequem im Haus zu
haben. Jeden Tag macht er dasselbe. Er bleibt als Eindimensional betrachtet. Man weiß
nur, dass Gustaw ,,ein hagerer Mann mit einem Tatarenschnurrbart“210 war. Der
Rezipient ist nicht im Stande ein volles Bild zu kreieren. Er kann nur vermuten, wie das
Individuum aussieht. Die Figurencharakteristik, wird nicht nur durch äußerliche
Aspekte gebaut, sondern ein wichtiger Fokus liegt besonders im sozialen Milieu. Das
wird dementsprechend durch das Kollektiv geformt, in diesem Beispiel, von der
Generationen-Familie. Das primitive erscheint in der Passage, wo Chrystian über das
wahre Denken von Gustaw schildert:
,, Gustaw hat Angst, dass du durch deine Recherchen etwas Ungeheures ans Licht bringen
könntest, und ein Schandflecken auf seiner Ehre würde ihn empfindlich treffen wie ein Torpedo,
sein Untergang wäre dann eine beschlossene Sache. Er sorgt sich immer darum, was die Leute
über ihn und seine Familie sagen. Er hat mich vor dir gewarnt. Er ist kein Dummkopf.
Manchmal denkt er sich die Welt kleiner, als sie in Wirklichkeit ist. Und eine Jüdin hat nach
seiner Vorstellung hier in Bremen, in seiner Welt, nichts verloren.“211
Erstens, wird das primitive Denken Gustaws in den Vorschein gestellt. Er hat Angst,
dass irgendwelche schlimmen Sachen ans Tageslicht kommen. Man könnte vermuten,
dass es eher ihm um seine Person geht, und nicht um die Familie. Natürlich, im
gewissen Sinne auch um die Familie, aber das ist mit ihm fixiert. Er war immer als ein
guter Mensch betrachtet worden, der eine Polin geheiratet hat, was bedeuten würde,
dass er und ,,seine Familie“ eine große Toleranz für Ausländer prägen. Aber das scheint
nicht so zu sein, weil er Mona, als eine Jüdin bezeichnet, die nichts zu suchen in
,,Europa“ hat. Es würde eine Katastrophe sein, wenn eine jüdische Frau auf die Spur
gekommen wäre, dass sein Vater ein Mörder war. Die Geschichte über Schmidtkes
Mord, die er Chrystian erzählt, klingt doch, als hätte er einige Details vergessen zu
208
Ebd. 2006. S. 7.
Ebd. 2006. S. 7.
210
Ebd. 2006. S. 11.
211
Ebd. 2006. S. 105.
209
57
erwähnen. Die Figur fungiert besonders mit seinem Alter, als Geschlossen. Er möchte
sich nicht entwickeln, obwohl er eine Chance darauf hätte, weil der Erzähler ihn nicht
lenkt. Der Rezipient bekommt stark zu fühlen, dass er ein alter Mann ist, der weiß wo
sein Platz ist und keine Abenteuer mehr braucht.
Chrystian Brodd- 37 Jahre alt, ist die Hauptfigur der Geschichte. Obwohl Chrystian
am Anfang der Novelle als eine statische Figur erscheint, so muss man im Laufe der
Geschichte feststellen, dass er sich wesentlich entwickelt. Chrystian ist ein Träumer, der
ausgebildet ist, aber trotzdem ohne Job. Er verliert seine eigene Familie. Seine Frau
verlässt ihn, weil er ein Versager ist. Alles was Schlimmste, passiert ihm. Er sieht
keinen Ausweg, möchte nur wegrennen, wo seine ex-Frau und andere Probleme ihn
nicht erreichen können. Das Problem liegt auch in dem, dass Chrystian Vater ist. Er
möchte ein verantwortungsbewusster Vater für Tobias sein, aber ohne Job und keine
Wohnung, die geeignet für seinen Sohn ist, kann das nicht wirklich funktionieren. Das
verursacht, eine negative Kommunikation zwischen dem Vater und Sohn. Das macht
Chrystian auch fertig. Dadurch kann man ihn als einen Melancholiker bezeichnen, der
mit Hilfe von Mona Juchelka wieder eine Hoffnung im Leben sieht. Man sollte dennoch
mit der Herkunft der Brodds beginnen, um Chrystian, die Figur genauer kennen zu
lernen. Wie es in dem Abschnitt der Novelle steht: ,,Die Brodds waren Kinder des
Nordens. Sie waren alle dort, im tiefen Norden Polens, geboren.“212 Chrystians Eltern
sind nach Bremen ausgezogen. Das hier erwähnte Ereignis zeugt darauf hin, dass er
Mehrdimensional ist, weil im Laufe seines Lebens vieles geschah. Er ist halb Pole halb
Deutscher. Seine Relation zwischen seinem Vater und ihm war nicht zu letzt gut. Es
wird ein Zitat eingeführt: ,,Aber der Kapitalismus hat aus meinen Sohn kein gefräßiges
Raubtier gemacht. Ich hoffe, er würde anders werden als sein Vater.“213 Chrystians
Vater ist nicht von seinem einzigen Sohn begeistert. Chrystians Person, bedeutet für die
meiste Umgebung, in der er lebt, dass er ein Verlierer ist. Das ist nicht das einzige
Merkmal, dass der Rezipient über das Individuum erfährt. Es wird sein Äußeres
beschrieben:
212
213
Ebd. 2006. S. 10.
Ebd. 2006. S. 17.
58
,,Aber einen Zopf und einen Schnurrbart und eine Jeansjacke tragen mindestens eine
Million Männer. Ja, aber Ihr Gesicht ähnelt erstaunlicher dem von Johnny Depp,
insofern war es ganz leicht.“214
In diesem Abschnitt, bekommt der Leser ein deutliches Bild von Chrystian. Er ist nicht
mehr anonym für ihn. Wir sind im Stande uns Chrystian vorzustellen. So wie es früher
gedeutet wurde, ist Chrystian am Anfang der Novelle eher statisch und eindimensional.
Aber als er Mona Juchelka kennenlernt, ändert sich alles. Er selbst kapiert es endlich in
einem Moment:
,, Rudi, ich muss nach Leipzig! Zu Mona. Sie ist mein Rettungsring. Wenn ich jetzt versage,
kriege ich nichts mehr auf die Reihe. Meine Mutter Danusia hat immer gesagt, dass ein Mann
selten auf die Frau seines Lebens trifft.“215
Er begreift, dass sein Leben keine Bewegung mehr hat. Um sie zu bekommen, muss er
etwas ändern. Stattdessen Mitleid an seinem Leben zu haben, ist bereit ein Risiko zu
nehmen. Und so beginnt Chrystians Wandlung. Sobald er jede Stunde mit Mona
verbringt, geht seine Traurigkeit weg. Er ist total an Mona und ihre Gefühle fokussiert
und sieht Hoffnung. Chrystians Figur ist nicht an die Geschichte seiner Familie
interessiert. Er möchte nur mit Mona sein. Natürlich mag er sich an seine Kindheit zu
erinnern, die er in Iława verbracht hatte, aber diese Erinnerungen haben nichts mit der
Geschichte zu tun, die Mona recherchieren möchte. Der geheimnisvolle Mord, trifft ihn
so strak, dennoch ist er nicht dieser Situation bewusst. Chrystian träumt:
,,Er sah in seinen Träumen den Geserichsee und das Flugboot im grauen Nebel landen. Gerald
Juchelkas Kameraden aus dem KZ, zwei Litauer, schwiegen, als sie den Anker ins Wasser
ließen. Gerald hatte einen Strick im Rucksack. Im Gänsemarsch gingen sie über die feuchte
Wiese, auf der Kühe grasten. Sie überquerten einen Sandweg und gelangten auf den Hof von
Schmidtke, wo sie seine Mutter antrafen. Die Milchkanne, die die alte Frau in der rechten Hand
trug, war voll. Sie wusste sofort, dass die Piloten des Flugboots ihren Sohn hinrichten wollten.
[…] Ihr Sohn versteckte sich seid 1945 im Wald. In einer verlassenen Holzhütte. Dort hängten
sie ihn und flogen noch am selben Morgen zurück, damit die polnische Miliz sie nicht schnappte
[…]“216
214
Ebd. 2006. S. 28.
Ebd. 2006. S. 73.
216
Ebd. 2006. S. 33.
215
59
Es wird rätselhaft für den Leser, weil man sich die Frage stellt, woher Chrystian über
die Einzelheiten weiß, die am Geserichsee geschahen? Natürlich hatte er die Geschichte
von seinem Vater gehört, aber nicht so genau. Kommt es hier zu einer Benutzung der
erzählten Geschichte, einiger Pfetzen und Chrystians Fantasie, die alle erwähnten
Erinnerungen vermischen und eine neue Geschichte darauf hin bauen? Wie es früher
unterstrichen wurde, das Kollektiv der Generation, übermittelt Informationen den
andreren, dagegen die wieder jemandem anderen, aber in diesem Moment schon mit
eigenen persönlichen Bildern, die sich vermischen und eine bunte Story konstituieren.
Einen anderen, wichtigen Aspekt, der dem Rezipienten nicht entgehen sollte, ist der
Schluss der Novelle, wo der Leser von dem Individuum-Chrystian verlangt, offen und
Mehrdimensional zu bleiben. Doch das Ende sieht leider für ihn nicht optimistisch aus,
was eine Behauptung geben kann, dass Chrystian sich wieder zurückzieht, in seine
Eindimensionale, Statische Welt. Diese Welt wird oft durch den inneren Monolog der
Figur im Text präsentiert. Der Empfänger könnte bereits früher auf eine Konklusion
kommen, dass Chrystian sich nicht entwickelt, dass er sich in der Innenwelt nur bewegt.
Das wird besonders charakteristisch durch das ,,Ich-Thema“217, wo die Figur eine
passive Einstellung kennzeichnet, ein Beobachter, der sich innerhalb der Innenwelt mit
Reflexionen und psychischen Konflikten herumschlägt.218 Es wird ein Beispiel figuriert:
,,Egal, ich muss jetzt sofort mit jemandem sprechen […]. Was soll ich jetzt tun? Wo soll
ich sie suchen?“219 Das ist nicht das einzige Zitat, wo Chrystian über seine Ängste,
Schwächen und Machtlosigkeit spricht. Die Figur gibt nach. Der Text endet mit diesen
Worten: ,,Ich bin geduldig!“220, was darauf hinweist, dass die passive Einstellung
gewonnen hat und Chrystian nicht auf den Sprung kommt, sich zu entwickeln. Das Fazit
ist, dass Chrystian Brodd eine Chance hatte, mit Hilfe der Liebe zu Mona Juchelka seine
Person weiter zu entfalten, doch das geschieht in der Novelle nicht.
217
Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder Und Jugendliteratur, ein Praxishandbuch für den Unterricht.
Cornelsen Verlag Scriptor GmbH & Co. KG, Berlin. 1999. S. 39.
218
Ebd. 1999. S. 39.
219
Becker, Artur. 2006. S. 194.
220
Ebd. 2006. S. 194.
60
Gerald Juchelka- Die nächste Figur, die besprochen wird, ist Gerlad Juchelka, der zu
der zweiten Familie in der Novelle gehört. Die Figurencharakteristik zählt nicht zu den
einfachsten. Auf der Ebene des Discourse erster Linie, kommt es zu einer Verbindung
zwischen
der
Figur
und
Information,
die
durch
die
Grammatik
(Name,
Personalpronomen, usw.) im Satz die Informationen zuordnen.221 Gerlad Juchelka,
obwohl er im Text als Erinnerung vorkommt, erscheint er mit einem Namen, den der
heterodiegetische Erzähler dem Leser nicht vorenthält. Er, als die dritte Generation,
spielt eine relevante Rolle in der Geschichte. Aber um alle Aspekte zu schildern, wird es
erstens mit Geralds Herkunft begonnen. Gerald Juchelka war jüdischer Herkunft. Die
wahre Geschichte schildert Mona Juchelka, seine Enkelin:
,,Ich bin Jüdin, begann sie und löste ihren um die Hüften gewickelten Pullover. Meine Eltern
stammen aus Bromberg – Bidgoschtsch. Sie sind Jiddische, keine Orthodoxen. Das einzige Fest,
das sie feiern, ist Jom Kippur. Wir hießen früher Goldbaum. Die neuen Papiere, ausgestellt auf
den Namen Gerlad Juchelka, haben meinem Opa Samuel trotzdem nichts geholfen. Er wurde
nach Stutthof verfrachtet. Die Nazis hielten ihn für einen Kommunisten oder Homosexuellen –
ich hab keine Ahnung. Im KZ wurde er verschont und wanderte 1945 aus. Er fand in New York
seine Schwester wieder, der Glückspilz!“222
Kennzeichnend wird das wahre Präsentieren der Identität Juchelkas. Mit Hilfe von
Mona, bekommt der Leser eine größere Einsicht in und über den ehemaligen KZGefangenen. Es wird klar, dass sein eigentlicher Name, der sehr wichtig für eine
Figurencharakteristik ist, Samuel Goldbaum war. Das Erwähnen der Figur – Mona
Juchelka ist nicht ohne Bedeutung. Mona ist eine Journalistin. Sie möchte über die
Geschichte ihres Großvaters recherchieren. Der Leser sollte jedoch vorsichtig mit den
Tatsachen, die Mona erzählt sein. Sie könnten durchaus halb fiktiv sein, weil sie nur das
Erzählte von ihrer Familie kennt. Was unterstrichen wird, ist der Generationswechsel,
der hier eine bedeutende Rolle spielt.
,,Wir erleben gegenwärtig einen Generationswechsel, bei dem die lebendigen Erinnerungen an
den Holocaust mit den Zeugen und Zeitgenossen aussterben. Unsere Kinder werden in einer
Welt leben, die keinen lebendigen Kontakt zu den Ereignissen des nationalsozialistischen
Massenmords mehr hat. […] Mit dem Generationswechsel ändert sich auch der Gegenstand der
221
Vgl. Jannidis, Fotis: Figur Und Person: Beitrag zu einer historischen Narratologie. Verlag: Walter de
Gruyter. 2004. S. 198.
222
Becker, Artur. 2006. S. 87.
61
Betrachtung. Aus der erfahrungsgesättigten, gegenwärtigen Vergangenheit der Überlebenden
wird eine
reine Vergangenheit, die sich der Erfahrung entzogen hat. […] Mit der
ausstrebenden Erinnerung wird die Distanz nicht nur größer, sondern verändert sich auch ihre
Qualität. Bald sprechen nur noch die Akten, angereichert durch Bilder, Filme, Memoiren.“223
Es wird markiert, dass es eine Schwierigkeit gibt, die Erinnerungen wieder zu beleben.
Die spielenden Figuren in der Novelle, haben es nicht einfach das Wahre zu erfahren,
nur der Leser bekommt von dem Erzähler die Möglichkeit mehr über Gerald zu lernen.
Das wird durch eine Binnenerzählung im Text erreicht.
Im weiterem folg eine
Auffassung.
,, Einen nicht kleinen Teil der Zuschreibungen machen bereits die Angaben zur raumzeitlichen
Lokalisationen von Figuren aus. Zusammenfassend soll als Folge all dieser Zuschreibungen im
discours von der Bindung von Informationen an die Figur in der erzählten Welt die Rede
sein.“224
Dadurch kann man sagen, dass mit der Figur Gerlad, die raumzeitliche Lokalisation,
das KZ-Lager in Stutthof ist. Der Leser wird durch das Lager ihn assoziieren. Ob die
Figur als Eindimensional oder Mehrdimensional gilt, wird auch bestätigt und zwar
durch einige Passagen im Text. Es gibt keine Rede, wie Juchelka aussehen konnte, aber
der Leser ist sich bewusst, dass die Figur den Krieg überstanden hat und danach in die
Staaten ausgezogen war:
,,Sie erzählte ihm, dass ihr Opa, der besagte Gerald Juchelka, in Amerika eine Karriere als
Immobilienmakler gemacht hätte. Er sei Anfang der Achtziger verstorben. Ihre Familie sei
wohlhabend, bis zum heutigen Tag, und ihr älterer Bruder würde bald die Geschäfte
übernehmen.“225
Wie den meisten Juden, ist es auch Juchelka gelungen sich ein wohlhabendes Leben
nach dem Schrecklichen Ereignis zu bauen. Schon hier wird es deutlich, dass er eher als
Mehrdimensional fungiert. Diese Merkmale sind jedoch nicht genügend um sich sicher
zu sein, dass es von einer offenen und mehrdimensionalen Figur gesprochen wird. Der
Höhepunkt der Wandlung erscheint erst in dem zweiten Kapitel und am Ende der
223
Kobylińska, Ewa. Lawaty, Andreas: Erinnern, vergessen, verdrängen: polnische und deutsche
Erfahrungen. Harassowitz Verlag: Wiesbaden. 1998. S. 110.
224
Vgl. Jannidis, Fotis: Figur Und Person: Beitrag zu einer historischen Narratologie. Verlag: Walter de
Gruyter. 2004. S. 198 f.
225
Becker, Artur. 2006. S. 32.
62
Novelle, wo der heterodiegetische Erzähler Gerald eine Stimme gibt. Hier kommt es zu
einer gewaltigen Entwicklung der Figur:
,,Der Anführer goss ihm kaltes Wasser ins Gesicht, eine Schöpfkelle voll, und sagte: Mein Name
ist Gerald Juchelka. Und du, Richard Schmidtke, bist erlöst. Wir werden uns die Hände nicht an
dir dreckig machen.“226
Die Figur erscheint hier eher als indefinit auktorial.227 Durch das Zitat bekommt man
einen Eindruck, dass die Figur eine strake Persönlichkeit besitzt. Im Laufe der
Geschichte werden andere Aspekte geschildert, die das Opfer- Juchelka zu einem Täter
verändern:
,,Du wirst dich an uns erinnern, sagte Gerald Juchelka, das verspreche ich dir. Du wirst deine
Erinnerung herausschreien, weil du ein Feigling bist – nicht einmal ein richtiger Mörder,
sondern ein Feigling, Schmidtke!“228
Der Abschnitt zeugt darauf hin, dass die Rollen sich umgetauscht haben und Gerald,
Schmidtke jetzt zeigen kann, wie Leid, Erniedrigung und Machtlosigkeit sich anfühlen.
Durch diese Interpretationen der Figur, kann man feststellen, dass es um einen
Erinnerungsroman geht. Die Suche nach der Wahrheit unterstreicht, dass unsere
Erinnerungen niemals eine Konkrete Antwort auf die Frage des Gewordenseins des
Individuums liefern.229
Mona Juchelka- ist die Enkelin von Gerald Juchelka. Sie (Journalistin), kommt zu
den Brodds aus USA, um über den Mord von Schmidtke zu sprechen. Sie ist auf der
Spur nach dem Wahrheitsbezug des Mordes, den vermutlich ihr Großvater an
Schmidtke vollstreckt hat. Mona zählt zu einer offenen-mehrdimensionalen Figur:
,,Mona Juchelka hatte schmale Lippen. Ihr Haar war gewellt, rostfarben und kurz. Sie hatte nur
eine Umhängetasche und einen Samsonite-Aluminiumkoffer auf Rollen mit, der allerdings
226
Ebd. 2006. S. 61.
Vgl. Zimniak, Paweł: Nachbarn literarisch- Zu Polenbildern In der neusten deutschen Literatur.
Warszawa. 2007. S. 204.
228
Becker, Artur. 2006. S. 67.
229
Vgl. Neumann, Birgit: Fictions of Memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen
Gegenwartsromanen. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht (XXXVII/4/2004). Würzburg: Verlag
Königshausen & Neumann GmbH, S. 346.
227
63
riesig war. Er sah in ihre Augen, die ihm an diesem Abend hellbraun schien.“230
Der Leser bekommt einen besseren Eindruck, wie Mona aussieht und wer sie ist. Im
Weiteren Aspekt wird es klar, dass sie eine Jüdin ist. Also man stellt fest, dass diese
Informationen, die sie über Stutthof hat, müssen mit dem zweiten Weltkrieg,
Konzentrationslagern und Hinrichtung zu tun haben. Mona beschreibt was Liebe für sie
ist:
,,Sie sagte, Liebe sei etwas für
Menschen mit einer Biographie. […] Du bist noch
erbarmungsloser als ich, sagte Rudi. Hast du eine Biographie? Nein. Nur der Krieg gibt uns die
Chance, wirklich zu lieben- wenn man so will: das Leid. Dann entsteht eine Biographie, weil
wir Schmerzen spüren oder selber jemandem einen Schmerz zufügen. In friedlichen Zeiten
erschaffen wir uns künstliche Leiden, dieses Verhaltensmuster ist uns angeboren.“231
Monas Weltanschauung ist breiter von Chrystians. Sie kann Dinge differenzieren und in
derselben Zeit sie vergleichen. Sie ist eine sehr offene Person, die selbstbewusster von
Chrystian Brodd ist. Mona bestimmt, dass es eine Parallele zwischen Leid und Liebe
gibt. Nach Carsten Gansel folgt. ,,Es ist nicht immer sinnvoll, nach der Nationalität
eines Opfers zu fragen, den das Leid hat keine Nationalität.“232 Der Mensch ist gleich,
obwohl es Täter und Opfer gab, jeder kann in einigen Momenten seines Lebens dasselbe
fühlen. Die Journalistin, die nur ihre Erinnerungen über die Familie aus den
Erzählungen besitzt, versucht eine stärkere Verbindung mit dem Ort Iława zu haben als
Chrystian. Sie ist allerdings an die Vergangenheit gebunden, er dagegen im gewissen
Sinne auch, aber genauergesagt an seine Kindheit und nicht an das schreckliche
Geschehen. Das wird prägnant in einer Passage:
,,Jetzt bin ich endlich hier, wo alles begann, sagte Mona und machte eine Atemübung, die sie
wohl in einem Yogakurs gelernt hatte. Jetzt sind wir in dem Land, wo unsere Mütter geboren
wurden.“233
Sowohl wenn es kein immanentes Gedächtnis an diesem Ort innewohnt, hat die
Konstruktion kultureller Erinnerungsräume prägnante Bedeutung. Sie fixieren und
230
Becker, Artur. 2006. S. 26.
Ebd. 2006. S. 39.
232
Gansel, Carsten. Zimniak, Paweł: Reden Und Schweigen In der deutschsprachigen Literatur nach 1945
– Statt lines Vorwortes. Verlag: Neisse. 2006. S. 12.
233
Becker, Artur. 2006. S. 126.
231
64
beglaubigen nicht nur die Erinnerung, die sehr stark im Boden verankert ist, sondern es
wird auch Kontinuität der Dauer durch sie personifiziert, die die vergleichsweise
kurzphasige Erinnerung von Individuen, Epochen und Kulturen übersteigt. 234 Man
bedenkt, dass die junge Generation, wie z.B. Mona nichts mit der Geschichte antut,
doch das Individuum ist sehr ehrgeizig:
,,Sie habe wissen wollen, ob der Stall auf Schmidtkes Hof noch in Betrieb sei, landwirtschaftlich
in Betrieb, versteht sich. Und wo man den Schmidtke beerdigt habe, das habe sie am meisten
interessiert.“235
Man stellt fest, dass die Geschehnisse des Holocaust, sogar mit der Zeitdauer nicht
farbloser und blasser geworden sind, sondern noch stärker sich genährt haben und
konkreter geworden sind.236 Und das wird besonders an der dynamischen Figur Mona
Juchelka fassbar.
Richard Schmidtke- zählt zu den primären Figuren in der Novelle. Man könnte sich
eine Frage stellen, warum es sich lohnt, näher das Individuum kennen zu lernen?
Richard Schmidtke wird nicht nur zu den zwei Konstellationen, der Täter-Opfer
Gedächtnis, sondern auch zum Generationsgedächtnis zugeschrieben. Richard
Schmidtke war der Kommandant des Außenlagers in Stutthof. Mit eigenen Händen
hatte er das KZ-Lager gegründet. Durch die Kriegsjahre hatte er fortwährend Menschen
getötet, verhungern lassen. Ein unmenschliches Verhalten folgt in einer Passage der
Novelle:
,,Es war nichts einfacher, als zu sterben. Er hatte selbst Hunderte in den Tod geschickt und es
niemals bereut. Was soll’s, hatte er sich immer gedacht, sie müssen sowieso irgendwann
abkratzen. Ob gestern oder heute? Ich kann ihnen dabei helfen. Und deswegen hatte er an
diesem Morgen kein Mitleid mit sich selbst.“237
234
Vgl. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. C.
H. Beck. 2006. S. 299.
235
Becker, Artur. 2006. S. 141.
236
Vgl. Kobylińska, Ewa. Lawaty, Andreas; Erinnern, Vergessen, Verdrängen. Verlag: Harrassowitz.
Wiesbaden. 1998. S. 111.
237
Becker, Artur. 2006. S. 55.
65
Obwohl in der Analyse zu einer Reflektion kommt, ob Schmidtke zu statischen Figuren
zählt oder zu den offenen, stellt man fest, dass er eher als statisch bezeichnet werden
soll. Wie es gedeutet wird, ist die Figur innerhalb des Textes von Beginn
festgelegt.238Über das Äußere der Figur wird es währenddessen nicht viel erfahren. Es
werden kleine Aspekte angegeben, die aber dem Rezipienten nicht weiter helfen, eine
Figur im Gedächtnis zu bilden. Das einzige klare, ist der Wald und die Hütte, wo sich
Schmidtke für Jahre versteckt hatte. Unter der Charakteristik der Figur, dominiert die
auktoriale Technik. Die explizite Charakteristik von Schmidtke, wird durch den inneren
Monolog sichtbar:
,,Sein Adamsapfel zuckte mehrmals, und er dachte: So wollen sie es also tun, leise und ohne
Eile. Ich werde auf den Stuhl steigen, nackt wie ich bin, nur in Unterhosen – meine Kleider habe
ich auf ihren Befehl hin ablegen müssen. Der dicke Eichenbalken wird nicht nachgeben.“239
Der Erzähler verleiht Schmidtke eine Stimme. Unter der Anführung von Gerald
Juchelka, den Großvater von Mona, kommt es zu einer Selbstjustiz.240 Durch den
inneren Monolog, wird die Täter-Perspektive hervorgehoben.241 Das epische
Medium242, verfügt über eine Übersicht in die Innenwelt von Schmidtke. Sie rückt ihn
dazu, ein KZ-Lager zu bauen. Die Täterfigur bekommt sogar Verständnis von dem
Erzähler selbst: ,,Er war zu Hause geblieben, als der Krieg anfing. Er war ja kein
junger Mann mehr. Er hatte eine andere Methode gefunden, sich nützlich zu
machen.“243 Der heterodiegetische Erzähler lässt Schmidtke reden, er mischt sich in die
Weltanschauung der Figur nicht ein. Ein anderes Beispiel dafür ist, wo Schmidtke durch
einen inneren Monolog den Rezipienten in seine Gedanken einführt:
,, Er fragte sich, ob er sich an sie erinnern würde. Bestimmt nicht. Und er ärgerte sich, dass sie
noch am Leben waren. Was war in Stutthof passiert? Waren sie geflohen? Wie hatten sie nur …
vergessen werden können? Welcher Dummkopf hat diese drei Häftlinge entkommen lassen? Sie
238
Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder Und Jugendliteratur, ein Praxishandbuch für den Unterricht.
Cornelsen Verlag Scriptor GmbH & Co. KG, Berlin. 1999. S. 38.
239
Becker, Artur. 2006. S. 62.
240
Vgl. Zimniak, Paweł. Nachbarn literarisch – Zu Polenbildern In der neusten deutschen Literatur.
Warszawa. 2007. S. 204.
241
Ebd. 2007. S. 204.
242
Petersen, H. Jürgen/ Wagner-Egelhaaf, Martina: Einführung in die neuere deutsche
Literaturwissenschaft. Ein Arbeitsbuch. Erich Schmidt Verlag GmbH & Co., Berlin. 2006. S. 47.
243
Becker, Artur. 2006. S. 204.
66
sollten doch schon seit mindestens zwei Jahren tot sein. Niemand würde dann mehr wissen, was
aus ihren Leichen geworden war. Niemand würde sie identifizieren können.“244
Der unmittelbare Erzähler kennzeichnet, dass Schmidtke sich an die Häftlinge nicht
erinnern kann. Es wird erwiesen, dass er als Statisch in der Geschichte sich bewegt.
Durch die Sätze, die er ausspricht, betonnt er nur persönlich, dass er ein Täter war und
immer bleibt. Das offensichtliche ist wiederum, dass der Erzähler keine Stellung
einnimmt. Die auktoriale Figur disponiert mit einen freien und sehr offenen Feld, wo sie
seine eigene Meinung unterstreichen kann. Dennoch in diesem Kapitel, der als eine
Binnenerzählung fungiert, kommt es zu einem Rollentausch. Das Genozid, dass nicht
nur an jüdischen Opfern verübt wurde, sondern, wie es bewiesen wurde, auch an
solchen Völkern, wie den Deutschen, entspricht nur dem, dass das Täter-Opfer
Phänomen sich auch umtauschen kann.245 Der langsame Tod Schmidtkes, den der
Anführer Gerald Juchelka durchführt, zwingt Richard sich in seiner Innenwelt zu
verschließen, wo der heterodiegetische Erzähler nur hineinschaut:
,,Er war aber wach. Er schlief doch nicht mehr, seit dem I. September hatte er kaum eine Nacht
durchgeschlafen. Und er war für seine Häftlinge immer da gewesen, hatte sich doch um sie
gekümmert. Und was wollten sie jetzt noch von ihm? Warum waren diese drei Männer hier?
Um der Gerechtigkeit willen? Welche Gerechtigkeit vertraten sie? Warum mussten sie sich
rächen? Er hatte doch nichts Böses gewollt, als er auf seinem Hof das Außenlager baute.“246
Richard Schmidtke zählt zu den Figuren, die sich nie ändern werden, die keine Chance
haben, offen zu werden oder Mehrdimensional, etc.247 Eine Konklusion, die am Ende
des Punktes unterstrichen sollte, ist dass die beiden Konstellationen, also das
Generationengedächtnis und das Täter-Opfer Gedächtnis sehr viel gemeinsam haben.
Die Geschichte, die hier von den Figuren erzählt wird, wird in einer kollektiven Weise
weiter ausgerichtet. Ohne das Generationengedächtnis, wäre es besonders schwer das
schreckliche Geschehen, Genozid zu erfahren. Im Grunde, kann man das in zwei
Punkten darstellen, weil das Ganze was passiert, nur der Rezipient weiß. Er hat den
Einblick in beide Historien. Dagegen die Figuren, bis heute haben keine Gewissheit,
244
Ebd. 2006. S. 56.
Vgl. Uhl, Heidemarie: Zivilisationsbruch und Gedächtniskultur. Das 20 Jahrhundert in der Erinnerung
des beginnenden 21 Jahrhunderts. Innsbruck et al.: Studien Verlag. 2003. S. 199.
246
Becker, Artur. 2006. S. 63.
247
Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder Und Jugendliteratur, ein Praxishandbuch für den Unterricht.
Cornelsen Verlag Scriptor GmbH & Co. KG, Berlin. 1999. S. 39.
245
67
wer Schmidtkes Täter war. Deshalb muss man unterstreichen, dass der Mechanismus
des Empfangs der Identifikation mit dem Opfer und der Abwehr der Täterassoziation
scheitern kann, besonders wenn die Erinnerungen in der Vergangenheit sich rasch
wechseln und eine ganz neue Perspektive einnehmen. Daraus folgt.
,,Ein Teil einer Strategie, die der Gefahr begegnen will, dass die Einmütigkeit in kollektiver
Abscheu, Trauer und Erinnerung [zugleich] eine bequeme Übernahme der Opferperspektive
[bedeutet] und die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit [gerade verhindert].“248
4.4.6 Zeit
Der folgende Punkt, soll die Erscheinung der Zeit und andere Aspekte, die mit ihr fixiert
sind, berücksichtigen. Der Literaturwissenschaftler Günter Müller, hatte in die
Erzähltheorie zwei Begriffe ,,erzählte Zeit und Erzählzeit“249 eingeführt, die den Text
unter dem Terminus Zeit, narratologisch bearbeiten sollen.250 Die Relation der beiden
Konstellationen, kann man nach Genette anhand dreier Prinzipien analysieren:
Ordnung, Dauer und Frequenz.251 Bevor jedoch man sich auf sie einlässt, wäre es nötig
die Novelle von Artur Becker anhand narrativer Zeitverhältnissen zu analysieren.252
Unter der Erzählzeit wird die Summe der unterschiedlichen langen Zeit beachtet. Also
in dieser Hinsicht haben wir mit 199 Seiten in der Novelle zu tun. Demgegenüber, die
erzählte Zeit, die aus der Summe der Zeitspannen von Stunden, Jahren, Monaten, etc.
konstituiert ist, entspricht sie in Beckers Novelle ungefähr 30 Tagen.253 Das wird im
jedem Kapitel von dem heterodiegetischen Erzähler hervorgehoben: ,,Heute hatte sein
248
Lampig, Dieter: Identität Und Gedächtnis In der jüdischen Literatur nach 1945. Erich Schmidt Verlag
GmbH &. 2003. S. 167.
249
Die erzählte Zeit ist die Dauer der erzählten Geschichte, wohin gegen die Erzählzeit die Zeit meint, die
ein Erzähler für das erzählen seiner Geschichte benötigt. Hermand, Sita: Erzählanalyse der
Kurzgeschichte „der Tunnel“ von Friedrich Dürrenmatt. GRIN Verlag. 2008. S. 4.
250
Vgl. Martinez / Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 2007. S. 31.
251
Vgl. Hermand, Sita: Erzählanalyse der Kurzgeschichte „der Tunnel“ von Friedrich Dürrenmatt. GRIN
Verlag. 2008. S. 4.
252
Vgl. Ackermann, Susanne. Die Ordnung der Zeit bei Gérard Genette und Eberhard Lämmert: Ein
Vergleich. GRIN Verlag. 2008. S. 8.
253
Vgl. Reidel-Schrewe, Ursula. Die Raumstruktur des narrativen Textes: Thomas Mann, ‘’Der
Zauberberg”. Königshausen & Neumann. 1992. S. 8.
68
Vater Geburtstag, am 4. April 2003 […].“254 Das Datum ist eine große Hilfe für den
Leser, denn dadurch und einige andren Passagen kann er sich ein Bild über das
Zeitverhältnis bauen: ,,Im Radio sagte der Nachrichtensprecher gerade: >> Heute ist
Donnerstag der 16.April…<<, […].“255
Von großer Bedeutung ist auch die Binnenerzählung, die in zwei separaten Kapiteln
erscheint. 1947, war das Jahr wo Gerald Juchelka nach Stutthof kam um Schmidtke zu
töten. Die erzählte Zeit dauert einen Tag, beziehungsweise einige Stunden. Ein Zitat
folgt: ,, […] war Richard Schmidtke seit einer viertel Stunde tot.“256 Hier könnte man
von einer heterodiegetischen-internen Analepse sprechen, weil sie ,,den diegetischen
Inhalt betrifft, der sich von der Basiserzählung unterscheidet.“257 Wenngleich wir von
zwei divergenten Geschichten erzählen, haben sie dennoch etwas Gemeinsames.
Chrystian Brodd verbindet sie dadurch, dass er und Mona Juchelka nach Polen fahren
um das rätselhafte Ereignis zu enthüllen. Doch man sollte unterstreichen, dass nur die
Figuren der Gegenwart, die zwei separaten Geschichten verbinden versuchen. Dennoch,
wenn man die Geschichten separat anschaut, dann wird es eher von einer nichtteleologischen, offenen Plotstruktur der Handlung gesprochen.258
4.4.7 Ordnung
Im Folgenden, soll der Begriff der Ordnung anhand der Novelle erläutert werden. Was
für diesen Aspekt von Bedeutung ist, dass der narrative Text zeitlich nacheinander
konstitutiv sein soll.259 Wie schon erwähnt, setzt die Erzählung in medias res, was
darauf deutet, dass wir mit einem nicht chronologischen, sondern anachronischen
254
Becker, Artur. 2006. S. 7.
Ebd. 2006. S. 117.
256
Ebd. 2006. S. 195.
257
Nottelmann, Nicole. Trategie des Erfolgs: narratologische Analysen exemplarischer Romane Vicki
Baums. Königshasen & Neumann. 2002. S. 309.
258
Vgl. Neumann, Birgit: Fictions of Memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen
Gegenwartsromanen. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht (XXXVII/4/2004). Würzburg: Verlag
Königshausen & Neumann GmbH, S. 346.
259
Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung In die Erzähltheorie. München: Verlag C.H. Beck.
2007. S. 32.
255
69
Erzählen zu tun haben.260 Die von Lämmert eine Rückwendung beziehungsweise von
Genette die Analepse, kommt in dem ersten Kapitel ins Vorschein:
,,Als kleiner Junge hatte er dem Heiligen Bartholomäus, der in der roten Backsteinkirche in
Iława thronte, geschworen, keine Sünden zu begehen, […].“261
Chrystians Erinnerungen, werden in Form einer Analepse nachträglich dargestellt.262
Die Zeitdehnung, die aus der Gegenwart sich spannt, hat einen Umfang von ungefähr
30 Jahren. Jedes Kapitel hat mit Analepsen zu tun. Die Frage ist jedoch, ob die
Handlung mit der primären Geschichte sich fixiert? In dieser Novelle kommt es zu einer
Differenzierung zweier Geschichten, die dennoch sich durch die Erinnerungen der
Figuren verbinden. Deswegen sollte man nicht nur über die 30 Jährige Zeitdehnung
sprechen, sondern auch über die ungefähr 56 Jährige Dehnung der ganzen Geschichte,
beziehungsweise der Einzelerzählung. Wie folgt, haben wir mit zwei divergenten
Analepsen zu tun. Also erstens, mit einer langen (komplette) und zweitens mit einer
kurzen (partielle) Analepse.263 Die komplette, wird ohne Kontinuitätsbruch an die
Basiserzählung zurückgebunden.264 Diese erscheint eher nicht. Dagegen können wir von
der partiellen Analepse sprechen. Es werden mehrere Zitate berücksichtigt, die darauf
hinweisen, dass diese Art von Analepse, die Basiserzählung nicht erreicht hat.265 Ein
Beispiel dafür ist:
,,Er hatte viel zu lange von einer Doktorandenstelle geträumt und dabei etwas Wesentlich
übersehen: das er gar kein Lehrer werden wollte. Seine Mutter war Lehrerin gewesen, eine
Lehrerin der Hauptschule Nr.4 in Iława.“266
Die von dem Protagonisten Erinnerungen und träume, werden nie erreicht. Ein anderes
Beispiel für Analepse ist, wo Mona Juchelka ihre Familiengeschichte recherchieren
möchte. Sie geht mit den Erinnerungen zurück: ,,Gerlad Juchelka und Richard
260
Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder Und Jugendliteratur, ein Praxishandbuch für den Unterricht.
Cornelsen Verlag Scriptor GmbH & Co. KG, Berlin. 1999. S.
261
Becker, Artur. 2006. S. 8.
262
Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung In die Erzähltheorie. München: Verlag C.H. Beck.
2007. S. 33.
263
Vgl. Bliedtner, Nadine: Eine Erzählanalyse anhand von „schlechtes Gewissen“ von Thomas Bernhard.
GRIN Verlag. 2007. S. 9 f.
264
Ebd. Vgl. 2007. S. 9.
265
Ebd. Vgl. 2007. S. 9.
266
Becker, Artur. 2006. S. 20.
70
Schmidtke sind aber keine erfundenen Figuren. Ihre Geschichte ist wahr.“ 267 Obgleich,
das ihre Worte sind, ist die erzählte Zeit bzw. der Wahrnehmungshorizont, an die Figur
nicht gebunden. Die zweite Geschichte in der Novelle, also die wo Schmidtke eine
Stimme bekommt, hat auch eine Analepse, die aber aus einer ganz anderen Perspektive
geschildert wird: ,,Er hatte selbst Hunderte in den Tod geschickt und es niemals
bereut.“268 Es kommt zu einem starken Unterschied der beiden Erzählebenen. Die
Handlung, die in der Gegenwart fungiert, unterstreicht ganz andere Geschehnisse, oder
besser gesagt, von einer anderen Perspektive. Dagegen, die von Schmidtke, ist mit den
Kriegstaten stärker eingesaugt. Diese Beispiele zeugen daraufhin, dass das behandelnde
Geschehen
in
der
Hauptgeschichte
nicht
zu
dem
Zeitabschnitt
gehört.
Dementsprechend, können wir hier von einer externen Analepse sprechen. Das
Phänomen der Analepsen, bewies, dass wir mit einem Erinnerungsroman zu tu haben.
Die Chronologie der Ereignisse in dieser Sorte von Roman, wird durch Erinnerungen
aufgebrochen, sodass verschiedene Zeitebenen neben sich unverbunden stehen.269
Ein wichtiger Punkt, der mit der Ordnung verbunden ist, ist auch die Inszenierung von
Erinnerung.270 In dieser Novelle hat man mit vielen Analepsen zu tun, die am Ende der
Geschichte eine Chronologie bilden. Da die Geschichte in medias res beginnt, muss
man von einem anachronischen Beginn sprechen. Es ist offensichtlich, dass die
Inszenierung von Erinnerung, die hier in Form einer Analepse erscheint, die
Erinnerungen des Protagonisten erst später die Ereignisse in einer chronologischen
Abfolge erzählt.
267
Ebd. 2006. S. 29.
Ebd. 2006. S. 55.
269
Vgl. Neumann, Birgit: Fictions of Memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen
Gegenwartsromanen. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht (XXXVII/4/2004). Würzburg: Verlag
Königshausen & Neumann GmbH, S. 346.
270
Vgl. Erll, Astrid. Nünning, Ansgar. Birk, Hanne: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft:
theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Walter de Gruyter. 2005. S. 126.
268
71
4.4.8 Textende
Wenn es um das Textende geht, sollte man eher zwei Arten von Enden berücksichtigen.
Erstens, die primäre Handlung, die in der Gegenwart erscheint, wird mit einem offenen
Ende beendet.271 Ein Beispiel dafür ist der Textausschnitt:
,,Was soll ich jetzt tun? Wo soll ich sie suchen? Weder im Himmel, mein Lieber, noch im
Nirwana, würde mir Rudi dann antworten. Such sie auf der Erde. Bum Shankar! Ich bin
geduldig!“272
Die Figuren, also Chrystian und Mona befanden sich in einer bestimmten Stelle der
Handlung. Sie waren auf der Spur nach der Wahrheit. Genauergesagt, Mona wollte
wissen, ob ihr Großvater ein Mörder war. Die Situation, die sich in dem Zweiten
Weltkrieg abspielte, war eine traumatische Erfahrung, nicht nur für die Jüdische
Bevölkerung, aber auch für andere Nationen. Der Ort, das Verhalten der Bewohner der
Polnischen Stadt und die Nichtachtung, die am Platz des Geschehens existierte, waren
wahrscheinlich für Mona zu viel. Vielleicht hatte sie sich gedacht, dass sie hier nichts
verloren hat und es keinen Sinn mehr bringt weiter zu suchen. Das andere, was auch
eine Ursache sein könnte, dass Mona ihrer Gefühle zu Chrystian nicht sicher war.
Deswegen, ihrer Meinung nach, war es besser für sie ihn zu verlassen. Obwohl Mona
nicht als die Hauptfigur erscheint, ist es sie, die unter unerklärten Umständen
verschwindet.273 Man kann nur vermuten, wie der Weg, der Figuren sich weiter
entwickelt. Nehmt man Chrystian in Betracht, könnte man von einer Wiederkehr des
Immergleichen sprechen. Also, es kann geschehen, dass Chrystian wieder zum alten
wird, oder einen neuen Weg sich aussucht.
Der zweite Aspekt, der besprochen werden muss, ist das Ende der Erzählung in der
primären Geschichte. Hier wird eher von einem geschlossenen Ende gesprochen. 274 Es
Folgt ein Zitat: ,,Sehen Sie sich das an, dieses weiße Meer, sagte Gerald Juchelka. Es ist so
271
Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder Und Jugendliteratur, ein Praxishandbuch für den Unterricht.
Cornelsen Verlag Scriptor GmbH & Co. KG, Berlin. 1999. S. 64.
272
Becker, Artur. 2006. S. 194.
273
Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder Und Jugendliteratur, ein Praxishandbuch für den Unterricht.
Cornelsen Verlag Scriptor GmbH & Co. KG, Berlin. 1999. S. 64.
274
Ebd. 1999. S. 65.
72
still.“275 Richard Schmidtke wurde von den Tätern umgebracht. Das wird schon am
Anfang des Kapitels klar. Man hatte eine Vermutung, dass es zu diesem schrecklichen
Ereignis kommen wird. Der Erzähler berichtet über diese Tat. Diese Art von Ende, ist
für den Rezipienten klarer. Es gibt keine Missverständnisse. Obwohl die beiden
Geschichten diametral verschieden sind, verbinden sie sich und geben dem Rezipienten
einen breiten Wissenshorizont über die ganze Handlung. Wenn man entscheiden muss
zu welcher Gattung das Ende gehört, sollte man es ersten differenzieren und Angaben
einführen. Erstens, das Ende in der primären Handlung kann eher als ein
Erinnerungsroman bezeichnet werden. Die Plotstruktur ist im diesem Fall nicht
geschlossen. Zweitens, die Erzählung in der Erzählung wird eher mit einer Plotstruktur
dargestellt. Doch wenn man noch das Wissen des Rezipienten und die Informationen
der Novelle aus der Vergangenheit, die als Flashbacks in der Primären Geschichte
erscheinen in Betracht zieht, kann die Analyse für einige umstritten sein. Einige
Komponente zeugen davon, dass es die Rede von einem Gedächtnisroman ist. Andere
dagegen, die überwiegen, würden es eher als ein Erinnerungsroman bezeichnen.276
5. Zusammenfassung
Die Oben dargestellte Arbeit, wurde unter den theoretischen, wie als auch
narratologischen Aspekten analysiert. Die in dem narratologischen Punkt dargelegten
Komponenten, haben in der Untersuchung einen primären Bestandteil abgespielt. Die
Analyse der Novelle, zählt nicht zu den einfachsten. Einige Aspekte können vielseitig
erklärt werden. Die Modelle der Narratologie, haben bewiesen, dass wir mit einem
kommunikativen Gedächtnis zu tun haben. Das wird von den analysierten Punkten
verteidigt. Die Erzähler Instanz, hatte in einigen Punkten bewiesen, dass das Individuum
mit dem Generationen Gedächtnis gestärkt wird. Die schwebenden Erinnerungen der
alten Generation, werden mit der jungen unbewusst verbunden. Es kommt zu einem
natürlichen Prozess, der selbstverständlich verantwortlich für eine Übergabe der
Erinnerungen ist. In der Einleitung hatte man sich einige Fragen gestellt, wie die
275
Becker, Artur. 2006. S. 199.
Vgl. Neumann, Birgit: Fiction of Memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen
Gegenwartsromanen. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht, Heft 4/2004. S. 343 ff.
276
73
Erinnerungen von der jungen Generation aufgenommen werden und ob sie überhaupt an
sie interessiert sind. Es wird bewiesen, dass durch den natürlichen Prozess der
Weiterleitung von Erinnerungen, das kommunikative Gedächtnis, dass mit der
Generation verbunden ist, ein bestimmtes Milieu präsentiert, dass Erfahrungen, Werte,
Hoffnungen und Obsessionen zwischendurch auflöst.277 Das wird besonders an dem
drei-Generationen Model deutlich, dass im Laufe der Zeit immer wieder das Gedächtnis
und Erinnerungen schwächt und eine neue Dimension der erzählten Erinnerungen
bildet. Es wird auch bewiesen, dass ein kollektives Gedächtnis in der Novelle erscheint.
Das wird jedoch nicht mit den eigenen Erinnerungen des Individuums verknüpft. Diese
Erinnerungen dagegen werden ihm durch die Generation dargelegt. Das prägnante Täter
– Opfer Gedächtnis, wird eher mit der Vergangenheit fixiert, dass in Rahmen von
Rückblenden erscheint. Dies wird durch die Binnenerzählung geprägt, die in einigen
narratologischen Punkten eingeführt wird. Das Besondere daran ist, dass es zu einem
Umtausch von Tätern und Opfern kommt. Es kommt zu einer Verbindung des
Kollektivs mit dem Gedächtnis. Das ist ein separater Punkt, der ein Bild zweier
Nationen darstellt. Im Gegensatz zu dem Kommunikativen Gedächtnis, das eine
Fähigkeit zur schnellen Auflösung hat, ist das Gedächtnis eher mit der Identität der
Nation stark verbunden und daraufhin bildet es ein Gedächtnis.278 Also, im Grunde kann
man das zweierlei verstehen. Erstens, werden die erzählten Erinnerungen der
Generation im Laufe verändert. Das wird von der neuen, jungen Generation verursacht,
die aber das unbewusst macht. Zweitens, das kollektive Gedächtnis prägt Erinnerungen,
die mit dem Krieg und Nationen verbunden sind. Objektiv gesehen, können diese
Erinnerungen nie sterben. Sie sind mit einem wichtigen Ereignis verbunden, dass immer
wieder in den Gegenwärtigen Zeiten auftauchen und analysiert wird.279
Der Letzte Aspekt, der berücksichtigt wird, sind die Fictions of Memory von Birgit
Neumann. Hier dagegen kam es zu einer umstrittenen These. Einige Modelle aus dem
Gedächtnisroman, weisen darauf hin, dass wir mit dieser Gattung zu tun haben. Doch
wenn man die Aspekte des Erinnerungsroman darstellt, kann es genauso von dieser
Gattung gesprochen werden. Demzufolge muss man klarstellen, dass die Analyse sich
nicht geprüft hat. Beispielsweise, im Gedächtnisroman werden fields memories sehr
277
Vgl. Assmann, Aleida / Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Stuttgart:
Deutsche Verlag-Anstalt. 1999. S 37.
278
Ebd. 1999. S. 41 f.
279
Vgl. Assmann, Aleida / Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Stuttgart:
Deutsche Verlags-Anstalt. 1999. S. 36 ff.
74
stark geprägt, die sehr gut zu dem Individuum der Geschichte passen. Dagegen der
Erinnerungsroman bevorzugt die observer memories, die leider keine Verbindung hier
finden. Ein anderer Unterschied ist, dass in dem Erinnerungsroman, die Chronologie mit
verschiedenen Zeitebenen dargestellt wird, die kein kohärentes Ergebnis bilden. Also es
kommt zu unverbundenen Geschichten, die nebeneinander stehen. Das wird eher mit
der Novelle assoziiert. Dagegen der Gedächtnisroman bildet eine geschlossene
Chronologie, die im Rahmen von Rückblenden, die zeitlich geordneten Erinnerungen
am Ende logisch fixiert. Man könnte hier gemischte Gefühle bekommen. In dieser
Novelle hat man mit einer Binnenerzählung zu tun, deswegen könnten die Thesen doch
einen Weg finden und beweisen, dass wir mit einem Gedächtnisroman zu tun haben.
Die Erzähler Analyse, besonders nach Genette, hat auch eine große Bedeutung. Wir
sprechen von den homo- wie als auch heterodiegetischen Erzählern, die jeder Roman
einen anderen prägt. Auch die intra- oder extradiegetischen Ebenen, werden separat von
denen benutzt. Demzufolge muss man unterstreichen, dass in der Novelle der
heterodiegetische Erzähler erscheint und eher eine intradiegetische Ebene geprägt wird.
Es wird deutlich, dass die Modelle sich verbinden. Es ist nicht einfach eine Gattung
auszusuchen, deswegen muss man unterstreichen, dass diese Ebene der Analyse sich
nicht erfüllt hat.280
280
Vgl. Neumann, Birgit: Fictions of Memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen
Gegenwartsromanen. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht, Heft 4/2004. S. 342 ff.
75
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