Filmische Einführung in die Philosophie Wintersemester 2014 / 2015 Filmische Einführung in die Philosophie: Lektürematerial Vierte Sitzung (Lüge und Wahrheit) 1. Rashomon – Über Lüge und Wahrheit Holzfäller Lügner! Alles Lügner. Sowohl Tajomaru als auch die Frau. Zyniker So sind Menschen, sie lügen ständig. Sogar zu sich selber sind sie nicht ehrlich. *** Zyniker Ist mir egal, ob sie log oder nicht. Solang es eine gute Geschichte ist ... *** Zyniker Frauen betrügen immer mit ihren Tränen. Sogar sich selbst belügen sie. *** Zyniker Die Menschen verdrängen ihre Schuld. Sie glauben die eigenen Lügen, das macht es ihnen einfacher. *** Holzfäller Ich lüge nicht, alles ist wahr. Zyniker Jeder behauptet, die Wahrheit zu sagen. Mönch Wie schrecklich. Wenn wir uns nicht mehr glauben, sind wir in der Hölle. 2. Auszug aus: Wolfgang Künne, „Über Lug und Trug“ Die Mitglieder der Begriffsfamilie, auf die der Titel meines Aufsatzes mit einer vagen Geste verweist, spielen wichtige Rollen in der Philosophie der Sprache, des Geistes, der Handlung, der Moral und der Kunst. Doch nicht über diese Rollen werde ich hier sprechen, sondern über die Rollenträger selber. Ich verfolge dabei ein systematisches und ein philosophiegeschichtliches Interesse. Ich möchte diverse Begriffe von Lug und Trug explizieren und ihre Interrelationen klären. (Dabei geht es mir nicht um die moralische Bewertung von Lug und Trug.) Meine Begriffsexplikationen werden an Erklärungsversuche anknüpfen, die Bernard Bolzano zwischen 1810 und 1817 in Prag vorgetragen hat. Der große böhmische Mathematiker, der als Urgroßvater der analytischen Philosophie erst in den letzten Jahrzehnten späte Anerkennung gefunden hat, war damals Professor der Religionsphilosophie an der Universität Prag. Als Studentenpfarrer hatte er Sonntag für Sonntag eine sogenannte Erbauungsrede zu halten, und in diesen Reden finden sich die Erklärungsversuche, die ich Seite 1 / 6 Filmische Einführung in die Philosophie Wintersemester 2014 / 2015 heranziehen werde. Sie stellen an begrifflicher Prägnanz fast alles in den Schatten, was ich bei Philosophen des 20. und 2l. Jahrhunderts zu meinem Thema gefunden habe. Keine meiner Begriffsexplikationen ist identisch mit Bolzanos Erklärungen, aber fast jede steht auf seinen Schultern. 1. In mehreren Reden hat Bolzano sehr sorgfältig diverse Formen von Lug und Trug erörtert. Einer der Anlässe für eine Erörterung der einschlägigen Begriffe war gegeben, als er seine Zuhörer davon zu überzeugen suchte, daß es ein schändlicher Grundsatz sei, die Welt zu betrügen, weil sie betrogen sein will. Die „Welt“, so argumentiert Bolzano zunächst, will zwar manchmal getäuscht werden, – betrogen werden will sie ganz gewiß nicht. Denn Betrug und Täuschung sind sehr wohl zu unterscheiden. Beginnen wir mit der Frage: Was ist eine Täuschung? (Dieser Anfang wird sich im Folgenden auch der Sache nach bewähren; denn in der Begriffsfamilie, um die es hier geht, ist der Begriff der Täuschung basal.) Bolzanos Antwort lautet: Die Täuschung ist dasjenige Bestreben, mittelst welchem wir in einem anderen eine Vorstellung erzeugen, die der Wahrheit nicht gemäß ist. „Bestreben“ heißt hier so viel wie „absichtliches Tun“ oder „Handeln“. Für das, was in diesem Zitat mit „Vorstellung“ gemeint ist, finden wir im Text alsbald einen treffenderen (und zu Bolzanos späterem Sprachgebrauch in der Wissenschaftslehre viel besser passenden) Ausdruck: „Meinung“. Außerdem sollten wir schon an dieser Stelle berücksichtigen, was Bolzano bei der Analyse des Begriffs der Heuchelei selber betonen wird: Wer täuscht, erzeugt nicht immer eine falsche Meinung, – manchmal bewirkt er nur, daß eine falsche Meinung fortbesteht. Damit erhalten wir: (Definition T) x täuscht y genau dann, wenn für mindestens ein P gilt: (l) x bewirkt durch sein Handeln, daß y die Meinung P erwirbt oder behält; & (2) P ist falsch. Gemäß (Df. T) kann nur ein Akteur täuschen, und nur ein Meinungssubjekt kann getäuscht werden. Ein Wesen wird nur dann getäuscht, wenn es sich täuscht, d. h. sich irrt: Das Verbum „täuschen“ ist kontrafaktiv (wie das Wort „wähnen“). Das folgende Beispiel für eine (absichtliche) Täuschung scheint gegen diese Definition zu sprechen. Wo werden die feindlichen Truppen des Admirals X landen? fragt sich General Y. Er glaubt zunächst, daß sie an der Küste in der Nähe der Stadt A landen werden. Admiral X plant auch tatsächlich eine Landung bei A, sorgt aber durch gezielte Desinformation dafür, daß General Y den Glauben erwirbt, daß die feindlichen Truppen entweder bei der Stadt A oder beim Dorf B landen werden. De facto landen sie bei A. – Zwischenfrage: Der von General Y erworbene Glaube ist nicht falsch; aber liegt nicht dennoch eine Täuschung vor? […] Der ersten Klausel im Definiens von (Df. T) zufolge täuscht ein Wesen nur dann, wenn es handelt, also absichtlich etwas tut. Wenn ein kerngesundes Kind durch mehrfaches Seite 2 / 6 Filmische Einführung in die Philosophie Wintersemester 2014 / 2015 unbeabsichtigtes Niesen bei seiner besorgten Mutter die falsche Meinung hervorruft, es sei erkältet, oder sie in dieser Meinung bestärkt, so hat es sie nicht im Sinne von (Df. 1) getäuscht; denn sein Niesen ist unter keiner (korrekten) Beschreibung absichtlich. In dieser wie in den folgenden Definitionen ist „Bewirken durch Handeln“ in einem weiten Sinne zu verstehen: Zu dem, was einer durch sein Handeln bewirkt, gehört auch all das, was er zu verhindern unterläßt. Zwischenfrage: Wäre es sinnvoll, auch einen weniger anspruchsvollen Begriff der Täuschung zu definieren, der nicht bloß auf Handelnde zutrifft? Kann man eine solche Definition durch Modifikation der obigen geben? […] Aber auch nach dem anspruchsvollen Begriff, den (Df. T) erfaßt, ist nicht jede Täuschung unter der Beschreibung „Täuschung“ absichtlich. (Daß ein und dasselbe Tun in einer Hinsicht absichtlich und in einer anderen unabsichtlich sein kann, ist ein handlungstheoretischer Gemeinplatz: Ödipus‘ Heiratsantrag an die Witwe des Königs von Theben war ein Heiratsantrag an seine Mutter; aber der Antrag war nur unter jener, nicht unter dieser Beschreibung absichtlich.) Eine Täuschung im Sinne von (Df. T) kann in zweifacher Hinsicht unabsichtlich sein: (i) Der Akteur X beabsichtigt gar nicht, Y etwas Falsches glauben zu machen. Y mißversteht vielleicht die Ausführungen von X so sehr, daß Y durch sie zum Anhänger einer falschen und von X auch für falsch gehaltenen These wird. – Oder: X packt seinen Koffer (ein Beispiel von Kant). X gedenkt aber keineswegs, in Bälde zu verreisen (und er tut es auch nicht); er packt seinen Koffer nur, um herauszufinden, wieviel sich darin unterbringen läßt. Ohne es zu wollen, macht er Y durchs Kofferpacken aber glauben, er werde bald verreisen. Eine Täuschung im Sinne von (Df. T) kann auch in der folgenden Hinsicht unabsichtlich sein: (ii) Der Akteur X hält das, was er Y glauben macht, auch selbst für wahr. Es gelingt X, Y durch seine Ausführungen von einer These zu überzeugen, die er auch selber akzeptiert; aber diese These ist falsch. – Oder: X gedenkt, demnächst zu verreisen, und packt seinen Koffer. X will Y dadurch etwas glauben machen, was er auch selber glaubt, und das gelingt ihm. Aber aus der Reise wird nichts. Auch hier handelt es sich um unbeabsichtigte Täuschungen. Beide Hinsichten berücksichtigt Bolzano in seiner Erklärung des Begriffs der absichtlichen Täuschung: Wir täuschen jemanden absichtlich …, wenn wir mit Wißen und Willen so handeln, daß jener irriger Begriff [Glaube] bei ihm entsteht, und [wenn wir] auch die Irrigkeit desselben einsehen. Daß der Täuscher X einsieht (und mithin weiß), daß der falsche Glaube falsch ist, dürfte allerdings eine zu starke Forderung sein. X muß den falschen Glauben nicht einmal für falsch halten – es könnte ja auch auch sein, daß er ihn weder für wahr hält noch für falsch. Wir werden sehen, daß Bolzano dieser Möglichkeit bei seiner Erklärung des Begriffs der absichtlichen Selbsttäuschung auch selber Rechnung trägt. Wir können die Definition, die er m.E. intendiert hat, im Stil von (Df. T) kodifizieren: Seite 3 / 6 Filmische Einführung in die Philosophie Wintersemester 2014 / 2015 (Definition T1) x täuscht y absichtlich genau dann, wenn für mindestens ein P gilt: (l) x bewirkt durch sein Handeln, daß y die Meinung P erwirbt oder behält; & (2) P ist falsch; & (3) x beabsichtigt, durch sein Handeln zu bewirken, daß y die Meinung P erwirbt oder behält; & (4) x hält P nicht für wahr. Demgemäß ist eine Täuschung genau dann unabsichtlich, wenn die 3. oder die 4. Klausel oder beide nicht erfüllt sind. Vielleicht nehmen Sie nun schon seit einiger Zeit Anstoß an meinem (und Bolzanos) Gebrauch des Wortes „Täuschung“: Bedeutet „Täuschung“ (oder „deception“) nicht soviel wie „absichtliche Irreführung“? Wenn ja, so ist eine unabsichtliche Täuschung natürlich genauso ein Unding wie ein unabsichtlicher Mord. Wir brauchen uns darüber nicht zu streiten. Wenn Sie „Täuschung“ so verstehen, können Sie „x täuscht y“ in den Definitionen (T) und (Tl) durch „x führt y in die Irre“ ersetzen. Wer mit „Täuschung“ absichtliche Irreführung meint und von dem eben erwähnten trickreichen Vogel sagt, durch sein Ablenkungsmanöver täusche er das Raubtier, der attestiert dem Vogel Intentionalität zweiter Stufe: eine Absicht, die auf eine Meinung „gerichtet“ ist. Anhänger der Evolutionstheorie, die sogar beim Tagpfauenauge von absichtlicher Irreführung sprechen, schreiben der „Mutter Natur“ Intentionalität zweiter Stufe zu: sie will, daß die Angreifer des Schmetterlings eine irrige Meinung erwerben. Wer sogar der falsch gehenden Uhr im Ernst nachsagt, sie führe ihn absichtlich in die Irre, der ist panpsychistischer Umtriebe verdächtig oder ein Fall für den Psychiater (oder beides). […] Ein besonders komplexer und begrifflich sehr verwirrender Fall von absichtlicher Täuschung ist die absichtliche Selbsttäuschung. (Wir pflegen im Deutschen von Selbsttäuschung zu reden, wenn jemand sich selbst etwas vormacht, aber wir reden ja abwegiger Weise auch von Selbstmord: Bei Lichte besehen ist der sog. Selbstbetrug genausowenig ein Betrug wie der sog. Selbstmord ein Mord ist. Halten wir uns also lieber an Bolzanos Vokabel.) Wie kann man sich selbst täuschen?, fragt Bolzano in der ersten der beiden Reden, die er diesem Thema gewidmet hat. (Es geht nicht um die Möglichkeit des Irrtums: „X täuscht sich“ ist in Bolzanos Frage äquivalent mit „X täuscht X“, und der Zusatz „selbst“ soll das verdeutlichen.) Man mag – höre ich mir einwenden – wohl Andere täuschen können, doch nie sich selbst; man kann nicht machen, daß uns Etwas wahr scheine, weil man doch weiß und einsieht, daß es falsch sei (II: 41). Jean-Paul Sartre beschreibt die Situation so: Ich muß „als Täuschender die Wahrheit kennen, die mir als Getäuschtem verborgen ist“. Es handelt sich hier um ein Problem mit dem Begriff der Selbsttäuschung, das man als „Paradox of Belief“ bezeichnet hat. Das Problem tritt in zwei Varianten auf: Seite 4 / 6 Filmische Einführung in die Philosophie Wintersemester 2014 / 2015 Erstens. Wenn eine Person X eine andere Person Y absichtlich täuscht, so führt X eine Situation herbei, in der gilt: während X glaubt, daß nicht-p, glaubt Y, daß p. Um sich selber absichtlich zu täuschen, scheint X also eine Situation herbeiführen zu müssen, in der gilt: X glaubt, daß nicht-p, und X glaubt zur selben Zeit auch, daß p. Doch wie ist das möglich? Schließlich würde es sich hier nicht um einen versteckten Widerspruch im Corpus ihrer Überzeugungen handeln, sondern um einen logisch nur allzu offenkundigen. Zweitens. Wenn eine Person X eine andere Person Y absichtlich täuscht, so führt X eine Situation herbei, in der gilt: es ist nicht der Fall, daß X glaubt, daß p, aber Y glaubt, daß p. Um sich selber absichtlich zu täuschen, scheint X also eine Situation herbeiführen zu müssen, in der gilt: Es ist nicht der Fall, daß X glaubt, daß p, und es ist der Fall. Das aber ist sicher unmöglich; denn jetzt haben wir uns selber bei der Charakterisierung des doxastischen Zustands von X in einen Widerspruch verwickelt. Eine dritte Schwierigkeit wird in der Literatur als „Strategy Paradox“ bezeichnet. X kann eine andere Person Y nur absichtlich täuschen, wenn Y die Absicht von X nicht erkennt und die von X eingeschlagene Strategie nicht durchschaut. Wie sollte jemand dann gezielt und erfolgreich eine Strategie einsetzen können, um sich selber zu täuschen? Kein Wunder, daß Sartre vom Versuch der absichtlichen Selbsttäuschung sagt, es sei unausweichlich, daß man „bei diesem Unternehmen vollkommen scheitere“. Trotz all dieser konzeptuellen Schwierigkeiten glaubt Bolzano, daß nichts Unmögliches in dem Begehren liege, sich selbst in diesem oder jenem Stücke wißentlich zu täuschen (II: 41) und daß man beim Versuch, diese Absicht zu realisieren, durchaus nicht scheitern muß. […] 3. Keinem Mitglied der Begriffsfamilie, von der dieser Aufsatz handelt, haben Philosophen so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie dem der Lüge. Meist geht es ihnen letztlich um die Frage, ob es manchmal erlaubt sei zu lügen, und das ist bei Bolzano nicht anders; aber er beginnt auch hier, wie es sich für einen analytischen Philosophen gehört: Von deutlichen Begriffen auszugehen: das ist es, meine Freunde, worauf man zuerst bei aller Untersuchung zu achten hat. Auch heut, da wir über die Pflicht der Wahrhaftigkeit sprechen wollen, müssen wir also erst den Begriff festsetzen, den wir mit diesem Worte verbinden. Das ist hier um so nothwendiger, als sich die Menschen von dem, was Lüge heißt, und im Gegentheil was die Wahrhaftigkeit fordert, so schwankende, so äußerst unbestimmte und oft selbst unrichtige Vorstellungen bilden, daß sie nicht selten das, was wirklich Lüge ist, fiir ganz verträglich mit der Wahrhaftigkeit halten, und gegenseitig [umgekehrt] was mit der Wahrhafiigkeit sehr wohl bestehen kann, für eine Lüge ansehen. Der richtige und bestimmte Begriff, m. F., ist dieser: man lügt nur dann, dann aber auch immer, wenn man mit Wissen und Willen Gelegenheit gibt, daß unser Nebenmensch Etwas, was wir selbst für irrig halten, auf unser Zeugniß glaubt und annimmt. Wer sich dieß zu tun nie erlaubt, der ist wahrhaftig. Eine nähere Betrachtung der ... Bestandlheile dieses Begriffes wird ihm sein völliges Licht ertheilen. Seite 5 / 6 Filmische Einführung in die Philosophie Wintersemester 2014 / 2015 3. Fragen Zwei Fragen sind im Text grau markiert. Zudem sind folgende Fragen zu beantworten: a. Kann man widersprüchliche Überzeugungen haben? b. Kann man sich, wie Bolzano meint, selber absichtlich täuschen? Falls ja, wie würde das aussehen, und was ist mit den drei genannten Problemen? c Machen Sie sich Bolzanos Versuch klar, den Begriff der Lüge zu definieren. Ist er gelungen? d. Lügt man beim Erzählen einer Geschichte? Seite 6 / 6