11.4.3 DAS CHRISTLICHE MENSCHENBILD – ILLUSION, IDEAL, (IR-)RELEVANT ? Das Denken des Menschen kreist immer wieder um die Frage: Wer bin ich? bzw.: Was ist der Mensch? Naturwissenschaftlich könnte man fragen: Wodurch unterscheidet sich der Mensch wesentlich von einem Schimpansen oder von einem heutigen (künftigen) Computer? Die Antwort auf diese Fragen (also unser "Menschenbild" beeinflusst die Antworten auf viele wichtige gesellschaftliche, politische und kulturelle Fragen wie ethische Fragen (z. B. Schutz des Embryos? Euthanasie?), Erziehungsfragen (z. B. Freiheit? Zwang? Schuld?), Sinnfragen (z. B. Sinn des Leides? Sinn der Sexualität? Sinn des Lebens?). Das christliche Menschenbild sieht zunächst fünf Spannungsbögen Zwischen Verdanktheit und Autonomie: Der Mensch ist Geschöpf, und gerade darin ermächtigt zu Eigenständigkeit und Verantwortlichkeit. Zwischen Individualität und sozialer Verwiesenheit: als leiblich-geistiges Wesen ist jeder Mensch auf Mitmenschen hingeordnet, kann sich nur in Gemeinschaft mit anderen entfalten . Sozialität und Individualität gehören notwendig zusammen. Das bedeutet: Der Mensch ist ein Individuum, ein einmaliges Einzelwesen, er ist Person und Subjekt. Er besitzt Ich-Bewusstsein und (einen individuellen) Geist. Er hat Selbstzwecklichkeit, d. h. er ist sich Selbstziel und Selbstzweck und ist nicht Mittel oder Zweck für etwas anderes. Er ist Subjekt, nicht Objekt. Er soll sich selbst verwirklichen und ist dabei bezogen auf Gemeinschaft mit anderen Personen sowie auf Werte und - für den Christen - auf Gott. 1 Zwischen Beziehungsfähigkeit und Beziehungsbedürftigkeit: Sozialität ist Befähigung und Bedürftigkeit zugleich; personale Identität kann sich nicht losgelöst von Beziehung und Körperlichkeit entfalten. Der Glaube an die Menschwerdung Gottes (Inkarnation) erschließt die besondere Würde dieser leibgebundenen Existenz Zwischen verantwortlicher Freiheit und Schuldanfälligkeit: Der Mensch besitzt Freiheit und ist zu freiem, wertendem, zielorientiertem, schöpferischem Handeln fähig. Er erfährt sich in der Ambivalenz der Praxis: Spannung von Gelingen und Schuld wird religiös ausgelegt als Spannung von Sünde und Erlösung. Zwischen Selbstüberschreitung und Sterblichkeit: Menschen sind sich ihrer Endlichkeit bewusst und können sich ihr Sterben-Müssen vor Augen führen; in dieser Perspektive wird das menschliche Leben als ganzes fraglich => Frage nach Sinn, Ursprung und Ziel als Überschreiten der Grenze dieses Lebens => Transzendenz(fähigkeit). Fazit: Es kommt darauf an, die Spannungen zu halten, nicht darauf, sie nach einem Pol hin aufzulösen! In diesen Spannungen kommt zum Ausdruck, was der Begriff der Menschenwürde meint. Jedem Menschen kommt „Menschenwürde“ zu. Das bedeutet Folgendes: Jedem Menschen muss als Person prinzipiell und unabhängig von seinen Leistungen eine unaufhebbare Würde zuerkannt werden, die zu achten und zu schützen ist. Er ist nicht als Objekt, sondern als freies Subjekt zu sehen. Die „Unproduziertheit“ bzw. „Selbstzweckhaftigkeit“ des Individuums, d.h. der Mensch ist nicht zu einem Zweck geschaffen worden und er darf nicht von anderen zu einem Zweck geschaffen werden, z.B. durch gentechnische Menschenzucht als organisches „Ersatzteillager“ er soll so angenommen und bejaht werden wie er ist. Das gilt auch für behinderte Menschen. Es ist schwierig festzulegen, ab wann jemandem diese Menschenwürde zusteht. Besitzt bereits die befruchtete Eizelle Menschenwürde (sie gehört biologisch zur Art homo sapiens)? Ist ein Embryo schützenswert oder darf an ihm geforscht werden? Besitzt ein menschliches Lebewesen ohne die Fähigkeit zu geistiger Vernunft, Freiheit und Verantwortung Menschenwürde (Säugling ohne Großhirn, gehirntoter lebender Körper)? Aus christlicher Sicht gründet die Menschenwürde auf der besonderen Liebe und dem Ja Gottes zu jeder menschlichen Person. Nur mit dieser religiösen Sichtweise kann man letztlich eine prinzipiell unantastbare Würde des Menschen begründen. Eine rein innerweltliche Sichtweise, die den Menschen letztlich nur als zufälliges Evolutionsprodukt sieht, tut sich in der Begründung der Menschenwürde schwerer. Die Frohbotschaft des Evangeliums Jesu ruft in ihren Konsequenzen zum absoluten Schutz der Würde und Freiheit der menschlichen Person auf. Aus der Personalität und Würde des Menschen ergeben sich die „Menschenrechte“. Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit (im Einzelnen z. B. das Recht auf Freiheit des Glaubens, Gewissens, der Rede, der Kunst und Wissenschaft, der Entfaltung der Persönlichkeit, das Recht auf Bildung, das Recht auf Gleichheit aller vor dem Gesetz, das Recht auf Arbeit, Erholung und Freizeit, das Recht auf Eigentum, das Recht auf soziale Sicherheit, das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung). Die Menschenrechte sind vor- und überstaatliche Rechte. Ihre geistige Grundlegung haben sie vor allem in der christlichen Naturrechtslehre und der biblischen Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. 2 Im Buch Genesis 1,27 heißt es: Gott schuf den Menschen nach seinem Ebenbild. Für das christliche Menschenbild bedeutet diese Aussage, dass das Dasein des Menschen letztlich in einem liebenden Ja Gottes zu ihm begründet ist, dass der Mensch offen für eine Beziehung zu einem über die Welt hinausgehenden Gott ist und dass der Mensch ein Ziel über den Tod hinaus hat, nämlich seine Vollendung in einer Liebesgemeinschaft in Gott. Gott zeigt sich im (Mit-)Menschen und in der Liebe der Menschen zueinander. Der Mensch ist (von Gott) auf Transzendenz angelegt, d. h. er besitzt Offenheit für „Metaphysisches“ (siehe z. B. seine Fähigkeit, sich im Gebet auf Gott hin auszurichten). Der Mensch ist fähig, etwas zu denken und zu erahnen, was über den Bereich der sinnlichen Erfahrung und Erkenntnis hinausgeht. Dieses Transzendente liegt nicht im Machbarkeitsbereich des Menschen, sondern kann nur entgegengenommen werden, wenn sich der Mensch entsprechend öffnet. Auch aufgrund dieser Offenheit für Transzendenz sucht der Mensch nach einem Zustand, in dem seine Lebens- und Sinnfragen letztendlich beantwortet sind und er sich endgültig angenommen und geborgen fühlt und weiß (er sucht „Heimat“, „Erlösung“, „Vollendung“). Da der religiöse Mensch von der Existenz Gottes ausgeht, ist der Mensch In seinem Handeln letztlich auch Gott verantwortlich. Durch Handeln gegen das eigene Gewissen entsteht Schuld bzw. Sünde. Gewissensbildung sollte deshalb für den Christen eine dauernde, lebenslange Aufgabe sein. Echte Schuld eines Menschen wird wirklich nur aufgehoben durch die Liebe eines anderen, insbesondere des geschädigten oder innerlich verletzten Menschen, der Verzeihung gewährt. Im Letzten geschieht Vergebung nur durch die Liebe Gottes (Geschenk, Gnade) zum Menschen (vgl. Gleichnis vom barmherzigen Vater). Im Christentum kann es deshalb nicht um Bestrafung gehen, sondern um die Möglichkeit, ein anderer, besserer und glücklicher Mensch zu werden, der im Einklang mit sich, mit dem Mitmenschen und mit Gott lebt. Diskutieren Sie die Frage nach der Relevanz des christlichen Menschenbilds anhand eines oder mehrerer Beispiele und formulieren Sie Ergebnisse. (Hilfen:)Wert und Würde menschlichen Lebens (z. B. Abtreibung und Euthanasie), Umgang mit sozialen Randgruppen (Behinderte, Obdachlose, Alte), Biotechnologie und Gentechnik, Kapitalismus und Hunger auf der Welt, der Umwelt belastende und Ressourcen verbrauchende Lebensstil der Menschen in einer Spaß-, Erlebnis- und Konsumgesellschaft... 3