Prof. Dr. Kazimierz Rynkiewicz Die epistemische Koexistenz von Theorie und Wissen - aus wissenschaftstheoretischer Perspektive Vorlesung Ludwig-Maximilians-Universität München WS 2016/17 2 3 Vorlesung 14 (01.02.2017) 2.3. Natur und Praxis 2.4. Natur und Ethik 2.5. Der Fall „Kognitionswissenschaft als Wissenschaft“ 2.6. Exkurs: Kritik am Naturalismus mit dem Blick auf Kant Darüber hinaus schreibt Habermas: „Kommunikativ nenne ich die Interaktionen, in denen die Beteiligten ihre Handlungspläne einvernehmlich koordinieren; dabei bemisst sich das jeweils erzielte Einverständnis an der intersubjektiven Anerkennung von Geltungsansprüchen. Im Fall explizit sprachlicher Verständigungsprozesse erheben die Akteure mit ihren Sprechhandlungen, indem sie sich miteinander über etwas verständigen, Geltungsansprüche, und zwar Wahrheitsansprüche, Richtigkeitsansprüche und Wahrhaftigkeitsansprüche je nachdem, ob sie sich auf etwas in der objektiven Welt […], auf etwas in der gemeinsamen sozialen Welt […] oder auf etwas in der eigenen subjektiven Welt […] Bezug nehmen. Während im strategischen Handeln einer auf den anderen empirisch, mit der Androhung von Sanktionen oder der Aussicht auf Gratifikationen einwirkt, um die erwünschte Fortsetzung einer Interaktion zu veranlassen, wird im kommunikativen Handeln einer vom anderen zu einer Anschlusshandlung rational motiviert, und dies kraft des illokutionären Bindungseffekts eines Sprechaktangebots.“ (Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt am Main 1983, 68) Aus dem Zitat ergibt sich, dass die Kommunikation für Habermas als Projekt kommunikativen Handelns einzig entscheidend ist, weil sie den Raum für rationale Motivation schafft. Im Gegensatz zum strategischen Handeln, das sich in performative Widersprüche verwickelt, weil es doch die intersubjektive Anerkennung von Geltungsansprüchen voraussetzt, die aber im strategischen Handeln von Anfang an verneint werden, bringt das kommunikative Handeln eine Menge von pragmatischen Vorteilen, welche vor allem zur Stabilisierung von interpersonalen Relationen beitragen. Die Pragmatik des kommunikativen Handelns, die bei Habermas im Rahmen des Konzepts der Universalpragmatik auftritt, wird darum zu einem zentralen Ansatzpunkt, von dem her die objektive, die soziale und die subjektive Welt erst verstanden werden kann. Dies ist vor allem deshalb wichtig, weil die Philosophie heute nicht mehr in der Lage ist, in monologischer Systematik die 4 Identität der Gesellschaft zu begründen und zu stabilisieren. Die Identität der Gesellschaft ist nur in der Prozedur des kommunikativen Handelns auf der moralischen Basis der Diskursethik möglich. Der im kommunikativen Handeln fundierte Theorierahmen kann durch hermeneutische Dimension der Sprache erheblich gestützt werden, insbesondere dann wenn diese Dimension transzendental ausgerichtet ist. Wie dies vor sich gehen könnte, zeigt uns etwa K.O. Apel. Seine transzendentale Sprachpragmatik lässt sich zum einen von der Transzendentalphilosophie Kants her begreifen: Dass sich Leute schon verstehen, miteinander reden und kommunizieren können, setzt voraus, dass sie ein gemeinsames Vorverständnis haben oder – mit Wittgenstein gesprochen – die Regeln eines Sprachspiels anerkennen. Jede Kommunikationsgemeinschaft hat also Bedingungen der Möglichkeit ihrer Kommunikation. Da sich alles Erkennen, Denken und Handeln im Rahmen von Kommunikation vollzieht, so ist nach den Bedingungen der Möglichkeit realer Kommunikation zu fragen, welche alle Menschen voraussetzen müssen, um überhaupt kommunizieren zu können. Das bedeutet, dass die Sprechakte hermeneutisch und pragmatisch interpretiert und dann transzendental - auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit hin hinterfragt werden. Zum anderen bezieht sich die transzendentale Reflexion Apels nicht wie die Kants monologisch auf die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis im Subjekt, sondern auf die Bedingungen der Möglichkeit von Sprechhandlungen in der Kommunikationsgemeinschaft. Die sprachlich und pragmatisch orientierte Verknüpfung von Natur und Praxis fördert in der Naturwissenschaft zunächst den internen Modus der Entdeckung. Alle Entdeckungen, die das Prädikat „naturwissenschaftlich“ beanspruchen, müssen von der Naturwissenschaft legitimiert werden und legitimierbar sein. Denn sonst haben wir es nur mit Magie, Scharlatanerie, Esoterik, ScienceFiction usf. zu tun. Darüber hinaus gibt es den externen Modus des Erkenntniszuwachses in den Naturwissenschaften, was gleichsam den Fortschritt erzeugt. Und der Fortschritt erlaubt uns bekanntlich, das naturwissenschaftliche System nicht nur zu stabilisieren, sondern es auch gleichermaßen durch die Einbindung der Zeit als ein sich vorwärts Bewegendes zu glauben. Der Modus des Erkenntniszuwachses, der auch über die Naturwissenschaften hinausgeht, produziert aus seiner Beschaffenheit heraus sowohl die nächste Erkenntnis als das Konzept des Zuwachses als auch das Konzept der Frage, das aber seinerseits das Konzept der Antwort nach sich zieht. Die ethische Dimension ist dabei auch entscheidend. 5 Natur und Ethik Im Vorangehenden haben wir versucht, das Verhältnis zwischen Natur und Praxis zu beschreiben, allerdings nicht aus ontologischer oder metaphysischer Sicht, sondern aus sprachtheoretischer. Sowohl die Natur als auch die Praxis werden als Begriffe betrachtet, die durch einen umfassenden propositionalen Gehalt gekennzeichnet sind. In beiden Fällen weist der propositionale Gehalt eine Reihe von miteinander verflochtenen Aspekten auf. Während für die Natur deren Aspekte wie Existenz, Substanz und Wesen grundlegend sind, sind es für die Praxis die Entitäten wie Subjekt, Handlung und Ethik. Im Folgenden wollen wir allerdings nur Ethik aufgreifen, um das Verhältnis zwischen Natur und Praxis zu vertiefen. Es soll im Hinblick auf Norm und Pflicht geschehen. In dem Kontext stellt sich zuvor die Frage nach der Funktion von Norm und Pflicht in den Naturwissenschaften. Inwiefern sind diese beiden Begriffe für die Naturwissenschaft relevant? Kann eine Wissenschaft auf Norm und Pflicht verzichten? Es muss nicht speziell betont werden, dass dies undenkbar sei. Auch die Naturwissenschaften sind auf Normen angewiesen und haben ihre „wissenschaftliche Pflicht“ zu erfüllen. Die Funktion von Norm und Pflicht besteht also darin, dass sie Naturwissenschaften beim Erfüllen ihrer Aufgaben unterstützen, genauer gesagt beim Erzielen wissenschaftlicher Resultate. Während die Norm die Wegrichtung von den Naturwissenschaften weist, stellt die Pflicht hingegen eine Art Motor dar, der die Naturwissenschaften auf ihrem Weg antreibt. Erklären wir zunächst die Wirkung und Notwendigkeit von Normen. Normen werden grundsätzlich mit den Begriffen wie Regel, Maßstab, Vorschrift usf. in Verbindung gebracht und haben eine grundlegende Funktion nicht nur in der praktischen Philosophie, sondern auch dort, wo es um die Gewinnung theoretischer Erkenntnisse geht. Wo immer menschliches Tun sich selbst und seine Gegenstände gesetzlich ordnet, findet Normierung statt. Für Naturwissenschaften ist die Normierung zumindest in zweierlei Hinsicht wichtig: logischer und wissenschaftlicher. Die logischen Normen bestimmen in den Naturwissenschaften folgerichtiges und widerspruchsfreies Reden, die wissenschaftlichen Normen konstituieren dagegen in ihren terminologischen und methodischen Festsetzungen den Rahmen für ein mögliches System kognitiv-wahrer Aussagen über einen bestimmten Gegenstandsbereich, der auch von den Naturwissenschaften untersucht werden kann. Dann zeigt sich, dass die Normen auch pragmatisch fundierte Anweisungen methodischer Naturbeherrschung darstellen. 6 Normen sind also Regeln, die in sozialen Gebilden gelten und einen intersubjektiven Charakter haben. Das gilt sowohl für die sittlichen Normen als auch für die Rechtsnormen, die als Gesetze bezeichnet werden. Wie Rechtsnormen von ihrer Durchsetzbarkeit leben, so leben sittliche Normen von ihrer sozialen Akzeptanz. Sittliche Normen sind Elemente eines sozialen Ethos, einer gemeinsamen Orientierung, einer objektiv geltenden sittlichen Ordnung sozialer Gebilde. Während Gewissensüberzeugungen subjektiv im je eigenen Gewissen verpflichten, sind das soziale Ethos und seine Normen etwas durchaus Empirisches, Objektives, der soziologischen Forschung Zugängliches. Individuelle Gewissen und Normen des sozialen Ethos sind also aufeinander bezogen und bestimmen sich aneinander. Einerseits leben die Normen von der Akzeptanz, die sie im Gewissen finden. Sie normieren nur, sofern sie zu Gewissensüberzeugungen internalisiert sind. Andererseits bilden und entwickeln sich die Gewissen in Auseinandersetzung mit den Normen des sozialen Ethos. So entsteht ein dialektisches Verhältnis zwischen der Dynamik der Gewissen (=Gewissensbildung) und der Dynamik des Ethos (=Wertewandel). Daraus ergibt sich, dass die Normen für die Dialektik des Gewissens notwendig sind. Zudem sind sie für die Herausbildung und Funktionierung einer humanen Gesellschaft erforderlich. Denn nur auf der Basis einer gemeinsam anerkannten sittlichen Normativität können gesellschaftliche Institutionen human lebbare Gestalten konkreter Freiheit sein. Dass das dialektische Verhältnis zwischen Gewissen und Normen auch für die Naturwissenschaften bedeutsam ist, leuchtet zumindest schon dann ein, wenn man die Aktivität epistemischer Subjekte vor Augen hat, die Naturwissenschaften betreiben. Die epistemischen Subjekte müssen sich bei der Bewältigung naturwissenschaftlicher Aufgaben zum einen an geltende Normen halten, zum anderen dürfen sie ihrem Gewissen folgen. Diese Konstellation wirkt sich letzten Endes auf wissenschaftliche Resultate aus. Dennoch ist dabei zu betonen, es reicht nicht aus mit Hilfe von Normen zu wissen, welcher Weg in den Naturwissenschaften zu gehen ist, sondern man muss ihn auch effizient gehen (wollen). Dazu trägt das Phänomen der Pflicht erheblich bei. So kann es durchaus vorkommen, dass sich die Naturwissenschaftler – man denke hier etwa an die Mediziner – trotzdem verpflichtet wissen, ihren Aufgaben sorgfältig nachzugehen, auch wenn sie von deren Effizienz aufgrund vorhandenen Wissens nicht mehr überzeugt sind: Obwohl ein Arzt z.B. weiß, dass der Patient, den er seit langem behandelt, bald sterben werde, hat er die Pflicht, den Patienten bis zum Ende gewissenhaft zu behandeln. 7 Das Agieren menschlicher Subjekte auf dem naturwissenschaftlichen Gebiet wird also stets von der Pflicht begleitet, dass sie ihre Aufgaben gut erfüllen und ihre Ziele möglichst effizient verfolgen. In dem Kontext ist der formale Standpunkt Kants anzusprechen, und zwar in dem Sinne, dass sich das kantische Sollen auf dem Terrain der Naturwissenschaften weder sachlich noch strukturell offenbart, sondern eher begleitend und motivierend. Als Erscheinungsform der Pflicht ist vor allem der kategorische Imperativ anzusehen. Kant schreibt: „Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. […] Weil die Allgemeinheit des Gesetzes, wonach Wirkungen geschehen, dasjenige ausmacht, was eigentlich Natur im allgemeinsten Verstande (der Form nach), d.h. das Dasein der Dinge, heißt, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist, so könnte der allgemeine Imperativ der Pflicht auch so lauten: handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum ALLGEMEINEN NATURGESETZ werden sollte“ (GMS B, 421). Nach Kant kann also unser Handeln nur dann moralisch sein, wenn wir es einem notwendigen und allgemein gültigen, d.h. einem unbedingt verbindlichen Gesetz unterstellen. Ein unbedingt verbindliches Gesetz ist ein Gesetz, dessen Gültigkeit nicht von den Umständen abhängt, in denen gehandelt wird. Die Existenz eines notwendigen und allgemein gültigen, d.h. apriorischen Moralgesetzes stellt für Kant ein unbestreitbares Faktum der Vernunft dar. Moralisch, d.h. aus Pflicht zu handeln bedeutet, eine Handlung rein aus Vernunftgründen vollziehen. Und das höchste moralische Gesetz in den Menschen, das sie zu unbedingtem sittlichen Wollen antreibt, ist kein undefinierbares Sollen, sondern ein genau formulierbares, apriorisches Gesetz der praktischen Vernunft. Dieses Gesetz wird von Kant der kategorische Imperativ genannt. Der kategorische Imperativ überprüft die Maximen, d.h. subjektive praktische Grundsätze, die eine allgemeine Bestimmung des Willens enthalten. Die Maximen werden in der moralischen Überlegung einzelnen Handlungsmöglichkeiten zugrunde gelegt (vgl. KpV A, 56f.; GMS B, 402f.). Wenn wir den kategorischen Imperativ Kants direkt mit den Naturwissenschaften in Verbindung setzen, dann zeigt sich der fundamentale Unterschied zwischen Naturgesetz und Moralgesetz (sittlichem Gesetz). Wenn wir ihn aber auf die Naturwissenschaften nur indirekt beziehen, d.h. so dass er für sie als „Antriebsfaktor“ gilt, dann ergibt sich eine wissenschaftstheoretisch zulässige Konstellation; zudem bringt Kant selbst den Begriff „Natur“ ins Spiel. Diese Konstellation wird auch dann nicht aufgehoben, wenn manche Denker von einer Provokation sprechen, wie dies etwa bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Kant und Schiller der Fall ist. 8 So fragt z.B. Otfried Höffe, ob bei Kant Pflicht kontra Neigung stehe, und antwortet, dass dies nicht der Fall sei. Dass es keinen Menschen gibt, der sich nie von seinen Neigungen verführen lässt und beispielsweise selbst unter Lebensgefahr zuverlässig moralisch handelt, weiß Kant durchaus. Indessen verstehen manche Kant-Kritiker den Begriff der Pflicht rein funktional als die Aufforderung, eine beliebige Aufgabe zu erfüllen, ohne den Rang der Aufgabe zu beachten. Kant vertritt aber weder einen funktionalen und fremdbestimmten (heteronomen), oder sogar autoritären Pflichtbegriff, noch einen als „pietistisch“ zu denunzierenden Gehorsam. Im Rahmen der Selbstbestimmung enthält der Begriff vielmehr die schwerlich zu bestreitende Einsicht, dass Menschen – wider besseren Wissens - nicht immer so handeln, wie sie moralisch handeln sollen. Wegen ihres natürlichen Interesses am eigenen Wohl, also aus einem durchaus anthropologischen Grund, hat die Moral den Charakter des Sollens. Für den Menschen, ein sinnliches Vernunftwesen, tritt es in Form eines uneingeschränkt gültigen, kategorischen Imperativs auf. Abschließend ist festzustellen, dass auch die Naturwissenschaftler nicht immer so handeln bzw. forschen (können), wie sie handeln bzw. forschen sollen. Insofern kann sie der kategorische Imperativ Kants durchaus positiv motivieren. Der Fall „Kognitionswissenschaft als Wissenschaft“ Dass die Naturwissenschaften ihre Resultate in komplexen Zusammenhängen gewinnen, leuchtet schon aufgrund der Analyse naturwissenschaftlicher Dynamik ein. Zwar gilt dabei stets die Natur in ihrer vielfältigen Gestalt in erster Linie als Gegenstand der Analyse, dennoch ist ferner auch die ganze strukturelle Komplexität des Gewinnungsprozesses zu beachten. Diese beiden Aspekte werden auf dem Gebiet der Kognitionswissenschaft plausibel repräsentiert, die als Wissenschaft mit dem breit angelegten Untersuchungsspektrum betrachtet wird. Kognitionswissenschaft ist also die interdisziplinäre Wissenschaft zur Erforschung von geistigen Prozessen: Denken, Sprechen, Lernen, Wahrnehmen, Erkennen u.ä. All diese Prozesse sind aber stets naturhaft bzw. materiell fundiert. Daher ergibt sich folgendes Schema: 9 Kognitionswissenschaft Psychologie Linguistik Philosophie Neurowissenschaft Anthropologie Künstliche Intelligenz Kognitionswissenschaft (engl. Cognitive Science) umfasst also (zumindest) folgende Disziplinen: Philosophie, Neurowissenschaft, Psychologie, Linguistik, Anthropologie, Künstliche Intelligenz, wobei den zwei ersteren Disziplinen (d.h. Philosophie und Neurowissenschaft) eine besondere wissenschaftliche Funktion zukommt, weil sie das Verhältnis zwischen dem Mentalen und Materialen auf personal-menschlicher Ebene bestimmen. Darüber hinaus ist hier zu betonen, dass die Philosophie als einzige Disziplin vom Menschen ausgeht, insofern er Denkender (d.h. menschliches Subjekt) ist. Andere naturwissenschaftlich geprägte Disziplinen wie die Neurowissenschaft oder die Psychologie betrachten den Menschen hingegen in erster Linie als Objekt. Alle Disziplinen befassen sich - in der jeweils eigenen Weise - mit der Frage nach dem kognitiven Vermögen von Erkenntnissubjekten, indem sie klassische epistemologische Begriffe (wie Denken, Erkennen, Wahrnehmen usf.) aufgreifen und mit verschiedenen, teilweise pragmatischen Akzenten versehen. Als derartige Subjekte können sowohl Lebewesen als auch künstliche Strukturen gelten. Bei menschlichen Lebewesen, bei denen auch das Vernunftvermögen miteinbezogen wird, erlangt diese Frage eine besonders komplexe Struktur. Zum einen ergibt sich diese Konstellation daraus, dass sich das menschliche Erkenntnisvermögen selbst in einem mehrfach strukturierten Prozess abspielt. Zum anderen werden von den Menschen immer präzisere künstliche Systeme entworfen, welche nicht nur nachahmend über zahlreiche menschenartige Erkenntnismerkmale verfügen, sondern auch über diese in vielerlei Hinsicht hinausgehen. Im Computerzeitalter, in der Zeit der neuen „Schöpfungswissenschaft“, sind es insbesondere künstliche Intelligenz und künstliches Bewusstsein. Sie gelten als prinzipielle neuronal-künstliche Untersuchungsgegenstände der Kognitionswissenschaft, allerdings in einem breiteren Rahmen, in dem auch andere wissenschaftliche Aspekte mit beachtet werden: psychologische, philosophische, anthropologische, linguistische usw. Die naturwissenschaftliche Relevanz der Kognitionswissenschaft wird schon dann sichtbar, wenn wir ein paar einfache Fragen stellen: * Was ist künstliches Bewusstsein? 10 * Können wir die elementaren Typen der bei den Menschen feststellbaren Aktivitäten wie Rechnen, Sprechen, Singen usw. auch mit dem künstlichen Bewusstsein problemlos in Verbindung setzen? * Ist ein künstliches Bewusstsein überhaupt möglich? * Können Artefakte (Computer, Automaten, Roboter, künstliche systemische Vernetzungen) so gefertigt werden, dass sie Qualia besitzen? Wäre dies möglich, dann müssten wir ihnen auch bewusstes Erleben zuschreiben. Um aus diesem Fragenlabyrinth herauszukommen, müssen wir innerhalb der Kognitionswissenschaft unbedingt zwischen dem künstlichen Bewusstsein (KB) und der künstlichen Intelligenz (KI) unterscheiden. Mit der KI ist die Fähigkeit von Maschinen gemeint, funktionale (logische, mathematische, grammatische, übersetzungstechnische usw.) Operationen auszuführen, für die sie programmiert werden. In diesem Sinne „rechnet“ der Computer ebenso wie die alte Rechenmaschine, nur eben in weit komplexeren Kalkülen. Dabei verwenden wir einen funktionalistisch reduzierten Intelligenzbegriff, der allerdings von den philosophischen Begriffen wie Intellekt, Vernunft usf. zu unterscheiden ist. Wenn wir daher nach der Möglichkeit von dem KB fragen, dann wollen wir wissen, ob die Komplexität maschinenartiger Artefakte einen Grad erreichen kann, auf dem diese Artefakte mentale Zustände (Qualia) entwickeln. Die Antwort auf diese Frage hängt jeweils von dem bewusstseinsphilosophischen Standpunkt ab: (1) Neigt man zum naturalistischen Reduktionismus, so reduziert man die Qualia physikalistisch auf materielle Gehirnprozesse. Dadurch hat man keine besonderen Probleme, hochkomplexen künstlichen systemischen Vernetzungen Bewusstsein und Geist zuzuschreiben, da beide Begriffe so reduziert sind, dass ihr intuitiver Gehalt eliminiert ist; (2) Hält man dagegen an der eigenständigen, nichtreduzierbaren Bedeutung dieser Begriffe fest, so wird man künstliches Bewusstsein für unmöglich halten, da bewusst-geistiges Erleben auf einer prinzipiell anderen Ebene liegt als sämtliche mechanische Prozesse, gleichgültig wie komplex, rückgekoppelt oder vernetzt diese auch sein mögen. Die Aufgliederung des Untersuchungsgegenstands der Kognitionswissenschaft in die künstliche Intelligenz und das künstliche Bewusstsein hebt den naturwissenschaftlichen Aspekt dieser Disziplin ganz deutlich hervor. Dies wird noch deutlicher, wenn wir zwischen drei verschiedenen Phasen der Entwicklung der Kognitionswissenschaft unterscheiden. In der ersten Phase, die man als „Beginn der strukturellen Modellierung“ bezeichnen kann, kommt es zur Etablierung der Kybernetik, die sich bekanntlich mit der Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der 11 Maschine befasst. Diese Phase ist dadurch gekennzeichnet, dass Verknüpfungen (vornehmlich) neurobiologischer Wissensbestände mit logischen Operationen unternommen werden. So werden erste kybernetische Modellierungs- und Simulationsansätze neuronaler Netzwerke ermöglicht. Im 1943 erschienenen Aufsatz „A logical calculus of ideas immanent in nervous activity“ von McCulloch/Pitt finden wir bereits das programmatische Neuronenmodell der Neuroinformatik. Beide Autoren greifen auf die logischen Operationen (der Booleschen Algebra) zurück, welche die Eigenschaften der logischen Partikeln UND, ODER, NICHT über die Eigenschaften der mengenalgebraischen Verknüpfungen Durchschnitt, Vereinigung, Komplement rekonstruieren. Um dies für eine künstliche neuronale Modellierung zu nutzen, wird die Binarität der Wahrheitswerte logischer Wahrheitsfunktionen auf die Modellierung neuronaler Funktionen übertragen. Dabei werden für die Modellierung eines Neurons folgende Parameter bestimmt: (1) The activity of the neurons is an all-or-non process. (2) A certain fixed number of synapses must be excited within the period of latent addition in order to excite a neuron at any time, and this number is independent of previous activity and position on the neurons. (3) The only significant delay within the nervous system is synaptic delay. (4) The activity of any inhibitory synapse absolutely prevents excitation of the neurons at that time. (5) The structure of the net does not change with time. Auf der Basis der obigen Parameter lassen sich Neurone als Schwellenelemente terminologisch bestimmen. Da sie jeweils entweder nur aktiv oder inaktiv sind, sollen sie als binäre Eigenschaft die logischen Werte wahr und falsch darstellen. Ab dem Jahr 1956 beginnt sich die zweite Phase abzuzeichnen und wird als „Generierung einer funktionellen Modellierung“ aufgefasst. Entscheidend sind dabei zwei wissenschaftliche Konferenzen, die 1956 in Cambridge und Dartmouth stattfanden. Zum ersten Mal werden hier die Hypothese eines kognitivistischen Paradigmas und die Begriffe funktioneller Symbolverarbeitung und Künstlicher Intelligenz formuliert. Symbolverarbeitung und Intelligenz gelten als wesentliche Merkmale von Kognition und werden als Struktureigenschaften digitaler Systeme aufgefasst, die sich als symbolische Repräsentationen mittels künstlicher Rechnerarchitekturen simulieren und modellieren lassen. Für die Hypothese kognitivistischen Paradigmas ist einerseits die Konzeption der sogenannten Von-Neumann-Architektur bedeutsam, andererseits die dadurch 12 gegebene Möglichkeit der funktionellen Modellierung bestimmter Heuristiken in Form implementierbarer Algorithmen. Die Von-Neumann-Architektur besteht aus vier Funktionskomponenten: * dem Steuerwerk, * dem Rechenwerk, * dem Speicher und dem Ein- und * Ausgabewerk. Diese Komponenten werden über ein Datenbussystem miteinander verbunden. Und die dritte Phase wird schließlich als „Kombinierung funktioneller und struktureller Modellierung zwecks Erzeugung emergenter Eigenschaften“ aufgefasst. Dabei geht es um alternative Ansätze kognitiver Symbolmanipulation. Ab den späten 1970er Jahren werden strukturelle Modellierungskonzepte bei der Analyse des Bewusstseins kognitionswissenschaftlicher Forschungsperspektiven eingesetzt. Für diese Phase sind vor allem zwei folgende Faktoren relevant: die physikalisch unterbaute Selbstorganisation und die nicht-lineare Mathematik. Die nicht-linearen Prozesse mit selbstorganisierenden Eigenschaften sind für die Kognitionswissenschaft insofern wichtig, als sie sowohl neue Möglichkeiten bieten als auch zudem bestimmte Defizite des Kognitivismus aufzeigen können: (1) Die im Algorithmus fundierte Einschränkung, weil die algorithmische Prozedur keine große Effizient aufweist, und (2) die Anfälligkeit der Systeme für Störungen, wenn ein Element des Systems ausfällt. Diese Defizite lassen sich dann vermeiden, wenn man von einer prozeduralen Operationsweise zu einer Parallelverarbeitung übergeht. Als Beispiel können hier die Vorgänge neuronaler Verarbeitung des Gehirns gelten. Exkurs: Kritik am Naturalismus mit dem Blick auf Kant Wenn die Naturwissenschaften Natur zum Gegenstand ihrer Analyse haben, dann müssen sie sich ebenfalls mit der äußeren Erfahrung und Naturgesetzen befassen. Kognitionswissenschaft, deren Struktur, Leistungen und geschichtliches Profil im Vorangehenden beschrieben wurden, liefert uns ein umfassendes Paket von Instrumenten, damit die äußere Erfahrung wissenschaftlich analysiert werden kann. Für die äußere Erfahrung, so behauptet etwa Kant, sind aber Naturgesetze konstitutiv. Deshalb schreibt er in der Anmerkung zur dritten Antinomie, dass die Naturgesetzlichkeit zum Merkmal empirischer Wahrheit gehört, welches 13 Erfahrung vom Traum unterscheidet (vgl. KrV B 479). Darüber hinaus behauptet Kant im Anschluss an die drei Analogien der Erfahrung, dass die Objektivität in der Einsicht gründet, dass die Natur (=die Außenwelt) einen Zusammenhang nach empirischen Gesetzen bildet (vgl. KrV B 520f.). Diese das empirische Element hervorhebende Konstellation verführte jedoch einige angesehene Philosophen (z.B. Quine) zu einem naturalistischen Standpunkt, oder kurz zum Naturalismus. Es ist die Ansicht, dass die empirische Erkenntnis ausschließlich auf natürliche, empirisch zu erforschende Sachverhalte zurückzuführen sei. Der Naturalismus besteht als solcher aus einer Reihe von Ansichten, die sich nicht nur epistemologisch, sondern auch wissenschaftstheoretisch auswirken. So gibt es etwa den genetischen Naturalismus (GN), der in einer allgemeinen und einer besonderen Form auftritt: (1) Der allgemeine GN befasst sich mit der Erkenntnis überhaupt und erklärt ihre Entstehung lediglich aus natürlichen Faktoren, etwa gewissen Anlagen und Keimen, die sich im Laufe der Phylo- und Ontogenese entwickeln. Dabei ist der Beitrag von Kognitionswissenschaften nicht zu übersehen; und (2) Der besondere GN wird auch als Psychologismus bezeichnet, konzentriert sich nicht auf die Rechtfertigung von Aussagen, sondern auf die Beziehungen zwischen Meinungszuständen empirischer Subjekte, und ist mit den alltäglichen Meinungen eng verbunden.