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Gottes große Wende – spüren und sehen
Predigt zu Mk 8,22-26
für den 12. Sonntag nach Trinitatis, am 18. 8. 2013
(Predigtvorlage für Prädikantinnen und Prädikanten, verfasst von Pfr. Dr. Gerhard Schäberle-Koenigs)
und sie brachten zu ihm einen Blinden
Und sie kamen nach Betsaida. Und sie brachten zu ihm einen Blinden und baten ihn, dass er
ihn anrühre.
Und er nahm den Blinden bei der Hand und führte ihn hinaus vor das Dorf,
tat Speichel auf seine Augen, legte seine Hände auf ihn
und fragte ihn: Siehst du etwas?
Und er sah auf und sprach: Ich sehe die Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen.
Danach legte er abermals die Hände auf seine Augen.
Da sah er deutlich und wurde wieder zurechtgebracht, sodass er alles scharf sehen konnte.
Und er schickte ihn heim und sprach: Geh nicht hinein in das Dorf!
Berühren
Liebe Gemeinde,
Berühren, streicheln, umarmen, an der Hand nehmen, die Hände auflegen, segnen.
So viel Gutes können wir mit unseren Händen Anderen antun. Zärtlich sein, liebkosen,
streicheln. Kinder suchen körperliche Nähe. Kranke sind schon dankbar für einen
Händedruck. Sterbende können bei einer liebevollen Berührung ruhig werden. Unsere
Hände können Wunder wirken. Ein dankbares Leuchten der Augen können sie hervorrufen.
Tränen und Schluchzen stillen. Wärme und Geborgenheit geben.
Einige Leute brachten zu Jesus einen Blinden und baten ihn, dass er ihn anrühre. Das ist
wirklich rührend, wie sie ihrem Blinden etwas Gutes gönnen wollen. Vielleicht ist es ihr
Bruder, oder ihr Sohn oder Nachbar, ihr Spielkamerad von früher. Wir wissen nicht, woher
sie mit ihrem Blinden kamen. Halt so eine Begegnung im Vorübergehen. Aber er sollte doch
auch etwas haben von diesem besonderen Menschen, der in aller Munde war. Es wäre auf
jeden Fall ein großer Tag in seinem Leben gewesen. Es wäre ihm im Gedächtnis seiner Haut
hängengeblieben: ‚Ich hab Jesus gespürt. Wisst ihr noch, wann das war‘. Immer und immer
wieder hätte er von diesem Tag erzählt: ‚Damals, als Jesus hier durchzog. Er hat mich
berührt.‘
Jesus, der Arzt
Aber es kam anders. Ganz anders. Es ist eine Geschichte, die mit ganz, ganz wenigen Worten
auskommt. Es liegt eine große Ruhe und Stille über diesem Geschehen. Woher kommt sie?
Sie kommt daher, dass die Erwartungen der Menschen weit übertroffen wurden. Eine
Wohltat wollten sie ihrem Blinden gönnen. Und erleben mit etwas Abstand eine handfeste
Heilung. Nichts Spektakuläres, nichts Mirakelhaftes. Jesus heilt und man kann zuschauen,
jedenfalls von ferne. Er heilt mit seinen Händen, mit Spucke, mit intensiver Zuwendung. Mit
Nachfragen. Er ist ganz bei ihm. Er tut’s nicht um der Zuschauer willen. Er tut’s auch nicht,
um ein Zeichen zu setzen. Er tut’s nicht, um auf sich und seine Bestimmung hinzuweisen. Er
tut’s, als wäre es sein Beruf: Heilen. Fast als Selbstverständlichkeit.
Augen – vom Spektakulären gehalten
Wenig später, als Jesus mit seinen Jüngern wieder allein ist, fragt er sie: „Was sagen die
Leute, wer ich sei?“ Und sie zählen ihm auf, was so im Umlauf ist über ihn: Johannes der
Täufer, Elia, irgendein Prophet. Mich wundert, dass das Nächstliegende nicht darunter ist:
ein Arzt. So oft kamen doch Kranke zu ihm oder wurden zu ihm gebracht, und er heilte sie.
Ist das im öffentlichen Gerede über ihn untergegangen? War es nicht erwähnenswert?
Waren die Menschen nur empfänglich für das ganz große Spektakel: Johannes der Täufer,
von Herodes enthauptet, ist wieder auferstanden! Der alte Prophet Elia wieder vom Himmel
gekommen! Ist das Naheliegende zu unscheinbar? Zu belanglos für das Große und Ganze?
Auch wir kennen diesen Effekt. Unsere Augen und Ohren sind gehalten von den
spektakulären Meldungen in den Nachrichten und Zeitungen. Und die Nachrichtenindustrie
füttern das Sensationsbedürfnis mit völlig übertriebenen Überschriften, die selten halten,
was sie ankündigen: „Jahrhunderthochwasser!“, „Jahrhundertprozess!“, „Monsterkomet
bedroht Erde!“, „Geht die Welt morgen unter?“
Es ist gar nicht so leicht, die Augen von den übermäßig aufgeputschten Bildern abzuwenden
und die Sehschärfe auf das Nächstliegende einzurichten. Wie kommt die 90-jährige
Nachbarin zurecht, die zunehmend erblindet? Wer fragt nach der Familie, in der der Vater
erkrankt ist und seit Monaten nicht mehr arbeiten kann? Wer sieht das verhärmte Gesicht
der jungen Mutter, die seit Monaten so aussieht, als müssten ihr gleich die Tränen kommen?
Wenn Jesus einen kranken Menschen berührt und heilt, dann richtet er seine Augen ganz auf
diesen bedürftigen Menschen. So sehr, dass er diesen Blinden sogar zur Seite nimmt, abseits
von den andern Menschen, ganz für sich. Das große Ganze darf in den Hintergrund treten. Es
ist jetzt, in diesem Augenblick nicht das Wichtigste. Und dieser Augenblick darf auch länger
dauern. Alles andere kann warten. Das Augenlicht des Blinden kommt nicht schlagartig
wieder. Sondern erst mal unscharf, undeutlich „Ich seh Menschen, wie wenn Bäume
umhergehen würden“, sagt er zuerst. Da ist noch einmal eine intensive Berührung
notwendig, bis er alles scharf sehen kann. Wie wohltuend ist ein Arzt, der sich so viel Zeit
nimmt, wie eben nötig ist. Wohl dem Menschen, der einen solchen Arzt findet.
Sehende Augen für Gottes große Wende
Jesus wird uns in der Bibel häufig als Arzt vorgestellt. Er ist aber auch derjenige, der
Menschen in seine Nachfolge ruft, zuerst seine zwölf Jünger, die dann zu den Säulen der
Kirche wurden. Und er steht auch im öffentlichen Interesse. Er geht mit den Menschen um,
ob sie nun krank oder gesund sind. Und sie verhalten sich zu ihm, nehmen ihn wahr als einen
außergewöhnlichen Menschen. Er fasziniert, als ob er von den Toten auferstanden wäre.
Und er hat es mit mehr als körperlicher Blindheit zu tun. Gerade eben, also wohl kurz, bevor
sie in das Dorf Bethsaida kommen, kurz bevor der Blinde zu ihm geführt wird, muss er sich
mit der Blindheit seiner Jünger beschäftigen. „Ihr habt Augen und seht nicht. Habt Ohren
und hört nicht“. „Begreift ihr denn noch nicht?“ hält er ihnen fast verzweifelt vor.
Was sehen sie mit ihren doch wohl funktionierenden Augen, was dringt an ihre Ohren? Es ist
der Weltenumsturz, den sie miterleben. Die große Wende, die Gott einleitete, als er in
seinem Sohn Jesus von Nazareth Mensch wurde. Ganz nah sind sie dabei, und merken’s doch
nicht. Denn ihre Augen sind geeicht auf – ja auf was denn? Auf Feuer vom Himmel, auf Blitz
und Donner, auf Chaos und Verderben, offenen Höllenschlund, feuerspeiende Ungeheuer
und blendende Helligkeit vom Himmel – und auf das Brot, das sie vergessen haben,
einzukaufen.
Wessen Blick so hin- und hergerissen ist zwischen der mit Getöse und Schrecken
einstürzenden Welt und den einfachsten Dingen des alltäglichen Lebens, der ist blind. Blind
für den Weltenumsturz, der vor ihren Augen vor sich geht.
Lobe den Herren, der alle deine Gebrechen heilt
Jesus heilt. So geht die gewaltige Veränderung, die mit seinem Kommen angefangen hat, vor
sich. Um das zu sehen, braucht es gute Augen. Augen, die zwischen dem Spektakulären, das
in den Bann zieht, und zwischen dem Alltäglichen, das uns immer wieder unruhig macht,
noch Raum und Ruhe haben. Augen, die verweilen können. Zum Beispiel auf einer
hochbetagten Frau. Ihr Oberkörper ist von fortgeschrittener Osteoporose fast waagrecht
gebeugt. Trotzdem geht sie flinken Schrittes und mit Hilfe eines Stockes auf die Kirche zu.
Erklimmt die drei Stufen zur Kirchentür. Geht rein. Verharrt kurz, bis ihr Atem wieder ruhiger
wird. In der Kirche hängt ein Schmerzensmann. Von einem unbekannten Maler auf ein
grobes, ungesäumtes Fichtenbrett gemalt. Die natürliche Form des Brettes bildet die Gestalt
mit dem Purpurmantel ab. Auf dieses Bild geht sie zu. Sie kann nicht ganz hochsehen zum
Gesicht des Schmerzensmannes. Aber mit ihrer freien Hand berührt sie seine Füße. Streicht
darüber, über die Wunden. Nach einer Weile geht sie auf die gegenüberliegende Seite, setzt
sich in eine Bank, hebt mühsam den Kopf und schaut auf das ganze Bild. Und spricht
angesichts des leidenden Christus: „Lobe den Herren, meine Seele, und was in mir ist, seinen
heiligen Namen! Lobe den Herren, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan
hat: der dir alle deine Sünde vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben vom
Verderben erlöst, der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit.“
Man weiß in dem Dorf, dass diese Frau immer wieder diesen Weg geht. Sie darf das. Sie war
über viele Jahrzehnte eine Säule der Dorfgemeinschaft. Sie kannte sich aus in den Häusern,
in den Familien, auch in den Seelen der Menschen. Sie wusste von Abgründen und Not. Sie
hat geholfen, wo sie konnte. Jetzt erwartet sie nichts Spektakuläres mehr. Ihre täglichen
Bedürfnisse sind bescheiden, sie kann sie mit Wenigem befriedigen. Sie hat
Weltuntergangsereignisse erlebt. Sie hat den Nachthimmel rot glühend gesehen, als
Pforzheim nach dem Bombenangriff brannte. Sie hat Orkane erlebt, die Bäume knickten wie
Streichhölzer. Jetzt aber sehen ihre Augen in einer nie zuvor gekannten Klarheit. So, als ob
der Herr sie selbst berührt hätte. Sie sieht, was Jesu Jünger zu seinen Lebzeiten nicht sehen
konnten: Jesus, den Heiland, der Welten verändert hat, indem er alle Schmerzen und alle
Krankheit der Welt auf sich genommen, in seine Hände genommen hat.
Er gebe uns leuchtende Augen des Herzens
Um das zu sehen, liebe Gemeinde, braucht es Augen, die Weile haben. Hände, die berühren
können. Ohren, die auch leises Seufzen hören. Füße, die uns hintragen an die Orte, an denen
wir gebraucht werden. Gott gebe uns zu dem allem leuchtende Augen des Herzens.
Amen.
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