Christoph Schweikardt. Die Entwicklung der Krankenpflege zur staatlich anerkannten Tätigkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert: Das Zusammenwirken von Modernisierungsbestrebungen, ärztlicher Dominanz, konfessioneller Selbstbehauptung und Vorgaben preußischer Regierungspoli. München: Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung GmbH & Co. KG, 2008. 340 S. (broschiert), ISBN 978-3-89975-132-1. Reviewed by Bettina Blessing Published on H-Soz-u-Kult (May, 2009) C. Schweikardt: Krankenpflege im 19. und frühen 20. Jahrhundert Die vorliegende Studie von Christoph Schweikardt liefert einen wertvollen Beitrag zur Geschichte der Krankenpflege, die sich in den letzten Jahren zu einem innovativen Forschungsfeld entwickelt hat. Bisher gibt es zwar eine Reihe von Einzeluntersuchungen zur Geschichte der Pflege, ein themenübergreifender Zugriff aber fehlt. Gegenüber bereits vorliegenden Publikationen zeichnet diese Arbeit aus, die Entwicklung der Krankenpflege über einen gut hundertjährigen Zeitraum in Preußen nachzuzeichnen und unterschiedliche Pflegeinstitutionen in den Blickwinkel zu rücken. Vor allem aber findet das von der Forschung noch vollkommen vernachlässigte Verhältnis von Staat und Krankenpflege Berücksichtigung. Erklärtes Ziel der Studie ist es, die Entwicklung der Krankenpflege zu einer staatlich anerkannten und somit auch zu einer qualifizierten Tätigkeit zu untersuchen und hierbei die politischen Rahmenbedingungen in den Fokus zu rücken. Im 19. Jahrhundert waren es vor allem die religiösen Genossenschaften, die katholischen Kongregationen und die evangelische Diakonie, die sich in der Krankenpflege engagierten. Sowohl ihre Arbeitsaskese als auch ihre materielle Enthaltsamkeit entwickelten sich zu einem günstigen Finanzierungsmodell für den Staat bzw. ließen ihn nicht in die Verantwortung treten. Allerdings hatte die kirchliche Krankenpflege auch Gegner. Zu ihren Widersachern gehörte in Preußen z.B. Rudolf Virchow, der der Ansicht war, Leitung und Oberaufsicht der Krankenpflege bedürften keiner religiösen Institutionen. Als Vorbild diente ihm das von Florence Nightingale eingeführte englische Krankenpflegesystem. Wenngleich er die Leistung der katholischen Orden anerkannte, hielt er das Gedeihen der Krankenpflege nur durch eine Initiative der Bürger für möglich. Sein Ziel war es, die bürgerliche ” Frau“ für die Krankenpflege zu gewinnen. Virchows Reformentwurf war jedoch wegen mangelnder Attraktivität zum Scheitern verurteilt. Er hielt an den christlichen Christoph Schweikardt verschafft dem Leser zu- und humanitären Dienstidealen fest und forderte keine nächst einen kurzen Überblick über das Medizinalwesen Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Preußens im 17. und 18. Jahrhundert und beschreibt das Hospitalwesen sowie die Situation der Krankenpflege am Mit der Herausbildung der Rotkreuzschwesternschaft Ende des 18. Jahrhunderts. Besondere Aufmerksamkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der das kirchschenkt er der Institutionalisierung der Krankenpflege- liche Mutterhaussystem als Vorbild diente, wurde aber schule an der Charité (1832), die bis zum Ersten Weltkrieg dahingehend eine Veränderung in die Wege geleitet, dass die einzige war, die der preußischen Regierung unmittel- die Motivation zur Ausübung der Krankenpflege nicht bar unterstand. mehr allein auf der christlichen Liebestätigkeit“ be” ruhte. Die Rotkreuz-Krankenpflege wurde als ärztlicher 1 H-Net Reviews Hilfsberuf mit Schwerpunkt auf praktischen Tätigkeiten und mit einer begrenzten theoretischen Qualifikation ” mit hauswirtschaftlicher Kompetenz definiert.“ (S. 273) Zwar führte das Mutterhaussystem weiterhin zu einer strengen Kontrolle der Schwestern und schränkte ihre Freiheiten erheblich ein (S. 89), aber Lohnzahlung und Einführung einer Pensionsanstalt bildeten erste Voraussetzungen für die Verberuflichung“. ” Erst nach der Jahrhundertwende wurde die Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands (B.O.K.D.) als freier“ Verband zur Wahrnehmung der be” ruflichen Interessen der Mitglieder gegründet. Sie orientierte sich an dem Krankenpflegesystem in England und Amerika. Die B.O.K.D. verfolgte das umfassendste Professionalisierungsprogramm aller Verbände. Wie die Geschichte der Krankenpflege zeigt, war die Einführung von Kursen an der Hochschule für Frauen“ in Leipzig ” eine Pionierleistung. pflegerischen Standesvertretung gefördert. Anhand der von Christoph Schweikardt herangezogenen Statistiken wird zudem deutlich, dass sich die Krankenpflege im 19. Jahrhundert nicht zu einem bürgerlichen Beruf entwickelte. Erwähnenswert ist, dass in Preußen, wo nur ein Drittel der Bevölkerung der katholischen Religion anhing, die Katholiken den größten Anteil des Pflegepersonals stellten. 1876 belief sich der Anteil der Mitglieder der katholischen Krankenpflegeverbände auf 65,2 Prozent; am Ende des Jahrhunderts noch auf 47,5 Prozent. Die Diakonie sowie die übrigen Genossenschaften, etwa die der Rotkreuzschwestern, spielten demgegenüber nur eine untergeordnete Rolle. Eine absolut marginale Rolle nahmen jedoch die frei“ prakti” zierenden Krankenpfleger und Krankenpflegerinnen ein. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts lag ihr Anteil noch unter 10 Prozent, wenn auch, wie Christoph Schweikardt zu Recht anmerkt, nicht alle Krankenwärter und Krankenwärterinnen in den Statistiken erfasst wurden. Das Verdienst Christoph Schweikardts besteht nicht darin, die einzelnen Einrichtungen anhand von Primärquellen untersucht zu haben, hier beruft er sich auf bereits erschienene Arbeiten, wie etwa von Relinde Meiwes Relinde Meiwes, Arbeiterinnen des Herrn“. Katho” lische Frauenkongregationen im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2006; dies., Katholische Frauenkongregationen und die Krankenpflege im 19. Jahrhundert, in: L’ homme 19 (2008), S. 39-60. und Dieter Riesenberger Dieter Riesenberger, Das Deutsche Rote Kreuz. Eine Geschichte 1864-1990, Paderborn 2002. , sondern er vergleicht einen Teil der daraus zu gewinnenden Erkenntnisse, um einen Überblick über die gesellschaftlichen und politischen Handlungsmuster zu erhalten. In diesem Kontext stellt er dann die zentrale Frage seiner Studie, nämlich welche Leistungen der preußische Staat zur Etablierung der Krankenpflege erbrachte. Als Erklärung für den geringen Prozentsatz der in der freien“ Krankenpflege tätigen Menschen beruft sich ” der Autor auf die in der Forschung allgemein anerkannten Gründe, wie Ansteckungsgefahr, Arbeitsüberlastung, mangelnde Arbeitszeitregelungen usw., und legt dar, dass diese Voraussetzungen für die bürgerliche Frau nicht attraktiv waren. Als problematisch erweist es sich meines Erachtens jedoch, ohne Bezugnahme auf entsprechendes Quellenmaterial, die Krankenwärter und Krankenwärterinnen dem Proletariat zuzuordnen (S. 126-129) sowie auch einen Teil der Mitglieder der B.O.K.D. als Eli” te unter dem Krankenpflegepersonal“ zu bezeichnen (S. 159, 171). Hier wäre eine Begriffsdefinition ratsam gewesen. Für die Geschichte der Pflegeforschung ist es natürlich auch von Interesse, welche politischen GestaltungsWährend des ganzen 19. Jahrhunderts blieb die Kran- und Mitwirkungsmöglichkeiten die Pflegenden selbst kenpflege, wie die Untersuchung zeigt, ein Stiefkind der ausübten. Ausführlich beschäftigt sich der Autor mit ” Gesundheitspolitik“ in Preußen. Weder die Einigungs- diesem Aspekt und resümiert, dass das Gestaltungsbekriege noch der Kulturkampf oder gar die verheerende dürfnis der Krankenpfleger und Krankenpflegerinnen Choleraepidemie führten zu einer Veränderung. Das Kul- sehr gering ausgeprägt war. Sieht man einmal von der tusministerium versuchte den Eindruck zu erwecken, es B.O.K.D. ab, vertrat das Pflegepersonal seine politischen bestehe kein Handlungsbedarf, und sah die Versorgung Belange nicht selbst. Aber auch die B.O.K.D. spielte für durch die konfessionellen Verbände als ausreichend an. das Zustandekommen eines staatlichen Examens nur eiDie Ausbildung oblag den Genossenschaften, vereinzelt ne ganz untergeordnete Rolle. Für die katholischen Konden Kommunen, eine Institutionalisierung der Kranken- gregationen führte der preußische Episkopat die Verpflegeausbildung an staatlichen oder kommunalen Kran- handlungen mit dem preußischen Ministerium, für die kenhäusern war jedoch weitgehend unterblieben. Die Diakonie das Präsidium der Kaiserswerther GeneralkonUntätigkeit des Staates hinsichtlich der Ausbildung wur- ferenz. Das Rote Kreuz wurde von den Ärzten des Kriegsde unter anderem aber eben auch durch das Fehlen einer ministeriums vertreten. Die schwächste Position nahmen 2 H-Net Reviews jedoch die Wärter und Wärterinnen ein. Ihnen gelang keine einheitliche Interessenvertretung. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es zur Regulierung der Krankenpflegeausbildung. 1907 wurde in Preußen das Krankenpflegeexamen eingeführt; der ErAnschaulich legt Christoph Schweikardt dar, wie lass zeichnete sich aber nicht durch eine Festschreibung auch von Seiten der Ärzte alles daran gesetzt wurde, verbindlicher Standards in der Krankenpflege aus. Die dass aus der Krankenpflege dem ärztlichen Betätigungs- Entwicklung des Berufsstandes lag in fremden“ Händen ” feld keine Konkurrenz erwuchs. Seit den 1890er-Jahren und eben nicht in der Verantwortung der in der Pflege bemühten sich die Mediziner darum, die Krankenpflege tätigen Menschen. Erreicht worden war ein Minimal” wissenschaftlich voranzutreiben. Da ihnen aber die wis- ziel“, nämlich eine Unterscheidung zwischen dem Pflegesenschaftliche Weiterentwicklung allein überlassen war, personal, das eine Prüfung ablegte und somit eine Min” führte dies dazu, dass sie ihr nur die Rolle eines aus- destqualifikation“ besaß, und denjenigen ohne Examen führenden Organs zuwiesen. Allerdings verfügten auch (S. 288). nur die Ärzte über die notwendigen Netzwerke, um die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse in den KrankenZuletzt sei noch der flüssige Stil des Autors erhäusern einzuführen. Ihre Position wurde zudem noch wähnt; Christoph Schweikardt bedient sich keiner Wortdadurch gestärkt, dass sie die Referenten in der Medi- hülsen, sondern formuliert die zu benennenden Thezinalabteilung des preußischen Kulturministeriums so- matiken in einer klaren Sprache. Allerdings hätte man wie im kaiserlichen Gesundheitsamt und im Reichsge- sich manchmal anstatt einer chronologischen Darstelsundheitsrat stellten. Gebremst wurde der ärztliche Ein- lung mehr Analyse gewünscht, den Ergebnissen tut das fluss anscheinend nur durch die religiösen Institutionen, aber keinen Abbruch. Der vom Autor gewählte Ansatz die durch die Einmischung der Ärzte um ihre Autorität bietet künftigen Forschern ein breites und gut vorbereibangten. Schwesternschaften, bürgerliche Frauenbewe- tetes Terrain, um detaillierten Fragestellungen genauer gung und Gewerkschaften hatten hingegen keinen Zu- auf den Grund zu gehen und darüber hinaus die gewontritt zum Zirkel der inneren Macht. nenen Erkenntnisse mit anderen Staaten zu vergleichen. If there is additional discussion of this review, you may access it through the network, at: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ Citation: Bettina Blessing. Review of Schweikardt, Christoph, Die Entwicklung der Krankenpflege zur staatlich anerkannten Tätigkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert: Das Zusammenwirken von Modernisierungsbestrebungen, ärztlicher Dominanz, konfessioneller Selbstbehauptung und Vorgaben preußischer Regierungspoli. H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews. May, 2009. URL: http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=24946 Copyright © 2009 by H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial, educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact [email protected]. 3