Der nackte Wahnsinn

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Kiloschmelze auf, hinter und vor der Bühne
Geordnetes Chaos mit Fischvergiftung: Michael Frayns „Der nackte Wahnsinn“ im
Schauspielhaus Düsseldorf
Viel Spielraum bleibt Amèlie Niermeyer bei der Inszenierung des Stücks nicht, damit alles
stets dort steht, wo es nicht hingehört. Vielmehr sind absolute Detailtreue und Disziplin der
Schauspieler Voraussetzung dafür, dass die Farce überhaupt funktioniert. Jede Menge Türen
bzw. Fenster müssen im richtigen bzw. falschen Moment geöffnet, geschlossen oder eingeschlagen werden. Ebenso gilt es nicht wenige Requisiten immer richtig bzw. falsch zu platzieren. Tür auf, Treppe runter, Sporttasche mitnehmen, Tür zu, Zeitung liegenlassen, Fenster einschlagen, Whiskeyflasche verstecken und immer wieder diese Teller mit den Sardinen.
Stopp. Unterbrechung. Durchatmen.
„Der nackte Wahnsinn“, das ist Theater im Theater. In drei Akten studiert eine Schauspielgruppe das Stück „Nackte Tatsachen“ ein und führt es auf. Im ersten Akt sehen wir das Bühnenbild von vorne und erleben eine total chaotische Generalprobe, die ständig unterbrochen
wird, weil einfach nichts funktioniert. Türen klemmen, die Schauspieler vergessen ihren Text
und wo zum Teufel ist der Teller mit den Sardinen jetzt schon wieder hin? Bei jeder Unterbrechung wechseln die Düsseldorfer Akteure blitzschnell in ihren zweiten Bühnencharakter. Hier
kommt das ganze Talent zum Vorschein, das der fiktiven Truppe so gänzlich abgeht.
Besonders beeindruckend ist die Verwandlung der Anna Kubin von Brooke Ashton in Vicki.
Gerade sucht die zerbrechliche Brooke mit leichten X-Beinen mal wieder ihre Kontaktlinse.
Plötzlich setzt Studio-54-Musik ein, das Licht schaltet von hell beleuchteter Probebühne auf
puffiges Rosa um und Vicki präsentiert uns eine sexy Tanz- und Gesangseinlage. Geschmeidig schmust sie sich in ihrem kurzen Unterkleidchen die Treppe hinauf. Ihre verführerischen
Blicke gelten Roger Tramplemain am Fuße der Treppe, der jedoch mal wieder mit den Sardinen beschäftigt ist. Wie eine Balletttänzerin streckt Vicki ihr langes Bein aus, hakt den Fuß in
Rogers Sporttasche ein und zieht ihn daran akrobatisch zu sich heran. Weil den Darstellern
von „Nackte Tatsachen“ so starker Ausdruck und Rollenbeherrschung glücklicherweise völlig
fremd sind, erleben wir noch weitere rasante Szenen.
Im zweiten Akt werfen wir den Blick hinter die Kulissen. Aus dieser ungewöhnlichen Perspektive sind wir Teilnehmer an einer der ersten Aufführungen. Zur allgemeinen Unfähigkeit
der fiktiven Truppe gesellen sich nun auch noch Liebes- und Eifersuchtsszenen der verschiedenen Charaktere untereinander.
Nachdem wir wissen, wie es hinter der Bühne zugeht, sehen wir das Bühnenbild im dritten
Akt wieder von vorne und wohnen der letzten Aufführung des Stücks bei. Jetzt geht wirklich
alles schief.
„Der nackte Wahnsinn“ ist ein schnelles Stück mit jeder Menge Bewegung. Mit anzusehen,
wie die Schauspieler vor und hinter der Bühne schwitzend versuchen, zwischen Prügeleien
und Requisitendurcheinander immer noch pünktlich die richtige Tür zu erreichen, lässt auch
den Zuschauer vor der Bühne, der zusätzlich noch von regelmäßigen Lachanfällen geschüttelt
wird, in Schweiß ausbrechen. So verdampfen im Laufe der Vorstellung wohl etliche Kilos bei
sämtlichen Beteiligten. Dass bei so einem herrlichen Kuddelmuddel auch mal eine Pointe verloren geht, das ein oder andere Wort genuschelt wird und der Zuschauer dadurch manchmal
im Geschehen verloren zu gehen droht, ist spätestens verziehen, wenn Roger gegen Ende des
Stücks das Chaos wieder ordnet, indem er entgeistert auf den gefüllten Fischteller guckt und
ruft: „Die Sardinen, sie sind weg!“
Matthias Kemmerling
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