Dunkle Materie

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Proseminar Astroteilchenphysik
Wintersemester 2010/2011
Dunkle Materie - Evidenzen und Kandidaten
11.01.2011
Thomas Heinemann
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Was ist Dunkle Materie?
Dunkle Materie ist eine hypothetische Form der Materie. Sie wird postuliert, um Phänomene zu
beschreiben, die mit der uns bekannten Materie allein nicht zu erklären sind. Man geht heute davon
aus, dass der Großteil der Dunklen Materie aus massereichen, langsamen, elektrisch neutralen,
farbladungslosen und extrem schwach wechselwirkenden Teilchen besteht. Ein solches Teilchen ist
nicht im Standardmodell der Teilchenphysik enthalten. Den Anteil der Dunklen Materie an der
heutigen Energiedichte des Universums nimmt man zu ca. 22% an. Ihre genau Natur gilt aber bis
dato als unbekannt.
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Hinweise auf Dunkle Materie
Die Annahme einer Dunklen Materie findet ihre Motivation sowohl in der Astronomie, der Kosmologie, als auch in der modernen Teilchenphysik. Dabei sucht man nach einer gemeinsamen Erklärung für alle beobachteten Effekte, wobei für die einzelnen Phänomene durchaus mehrere Einflüsse
und alternative Konzepte in Frage kommen. Die ersten Hinweise auf die Existenz einer dunklen
Materieform kamen aus der Astronomie, wobei dabei der Begriff „Dunkelheit“ nicht so streng
betrachtet wurde wie heute in der Teilchenphysik. Im astronomischen Sinn entspricht „dunkel“ zunächst einmal „nicht detektierbar“, was auch eine dunkle Form der baryonischen Materie zulässt.
Durch Messungen der kosmischen Hintergrundstrahlung geht man allerdings davon aus, dass der
Großteil der Dunklen Materie nicht-baryonisch ist. Die Eigenschaften ladungsfrei und farbladungslos ergeben sich direkt aus dem teilchenphysikalischen Verständnis von „Dunkelheit“, und werden
sowohl durch (Nicht-)Beobachtungen sowie Modellrechnungen zur Entwicklung des Universums
gestützt. Diese implizieren auch, dass die Dunkle Materie kalt, also extrem nicht-relativistisch ist.
Mit anderen Worten: Die Teilchen sind langsam.
2.1
Galaktische Rotationskurven und Virialtheorem
Der eleganteste „Beweis“ für die Existenz Dunkler Materie findet sich wohl in den Rotationskurven von Spiralgalaxien. Für die Geschwindigkeitsverteilung der Sterne in der galaktischen
√ Scheibe
würde man nach den Keplerschen Gesetzen annehmen, dass diese nach außen hin wie 1/ r abfällt
(siehe Abb. 1). Die Beobachtung widerspricht dieser Annahme (siehe Abb. 2). Stattdessen bleibt
die Rotationsgeschwindigkeit der Sterne nach außen hin nahezu konstant. Dies impliziert eine sphärische Materieverteilung, die so nicht sichtbar ist. Dabei handelt es sich offenbar um einen Halo
aus Dunkler Materie, der bisweilen viel größer ist als die Galaxie selbst. Derartige Untersuchungen
wurden bei vielen Galaxien durchgeführt, insbesondere auch bei der Milchstraße. Es zeigt sich,
dass diese aus bis zu 95% Dunkler Materie besteht (siehe Abb. 3).
Allein die Geschwindigkeitsverteilung einer Spiralgalaxie deutet auf Dunkle Materie hin! Denn
obwohl die sichtbare Materie sich in der galaktischen Scheibe befindet, implizieren die gemessenen
Geschwindigkeiten eine sphärische Verteilung. In anderen Galaxieformen, die ohnehin eine sphärische Verteilung aufweisen, ist diese Argumentation nicht möglich. In solchen Systemen misst man
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v#r$ !v#R$"
1.0
0.8
0.6
0.4
0.2
2
4
6
8
10
r !R"
Abbildung 1: Geschwindigkeitsverteilung nach Kepler. Innerhalb einer homogenen
Zentralmasse
√
mit Radius R steigt die Umlaufgeschwindigkeit an, außerhalb fällt sie mit 1/ r ab.
Abbildung 2: Gemittelte Rotationskurven einiger Beispielgalaxien. Nach außen hin bleibt die Rotationsgechwindigkeit nahezu konstant - dies ist mit der sichtbaren Materiedistribution nicht erklärbar.
Abbildung 3: Einzelne Beiträge zur Geschwindigkeitsverteilung am Beispiel der Milchsstraße. Nach
außen hin gewinnt der dunkle Halo immer mehr an Bedeutung.
2
die kinetischen Energien der Bestandteile und vergleicht diese mit dem aus der sichtbaren Materie
abgeleiteten Gravitationspotential. Dies sollte dem Virialsatz für ein gravitativ gebundenes System
entsprechen:
Epot = −2Ekin
Es zeigt sich jedoch, dass die sichtbare Materie auch hier nicht ausreicht, um die hohen Einzelgeschwindigkeiten zu erklären. Dieses Verfahren lässt sich auf alle gravitativ gebundenen Systeme
anwenden, so auch Galaxiencluster und Galaxien-Super-Cluster. Im Vergleich der Galaxien zeigt
sich, dass sich tendenziell in Zwerggalaxien die größte Konzentration an Dunkler Materie findet.
2.2
Das Paradebeispiel: Der Bullet-Cluster
1E 0657-558, genannt „Bullet-Cluster“, besteht aus zwei interagierenden Galaxien-Haufen, die sich
vor etwa 100 Mio. Jahren gegenseitig durchdrangen. Er befindet sich im Sternbild „Kiel des Schiffes“
und ist ca. 3,35 Mio. Lichtjahre von uns entfernt. Untersuchungen in verschiedenen Spektralbereichen ergaben, dass durch die Kollision eine starke Trennung der einzelnen Komponenten der
Galaxienhaufen stattfand. So durchflogen sich die einzelnen Sterne und Galaxien nahezu wechselwirkungsfrei, während die Gaswolken, welche die Hauptmasse eines Galaxienhaufens ausmachen,
deutlich miteinander interagierten. Dies stellt soweit keine Besonderheit dar, denn die einzelnen
Objekte der Galaxien haben im Vergleich zu ihrem Abstand nur eine sehr geringe Ausdehnung.
Der Abstand zwischen einzelnen Sternen ist selbst bei der Kollision ganzer Galaxienhaufen einfach
zu groß, als dass sie sich treffen würden. Anders sieht es bei den nahezu homogen verteilten Gaswolken aus. Beim Bullet-Cluster interagierten diese deutlich und erzeugten so das heute sichtbare
Geschoss-Bild.
Erstaunlich am Bullet-Cluster ist jedoch die Bestimmung der Gravitationspotentiale mit Hilfe
des Gravitationslinseneffekts. Dabei zeigt sich, dass sich der Großteil der Materie auf der Position
der Galaxien befindet, und nicht wie erwartet bei den viel massereicheren Gaswolken (siehe Abb. 4).
Daraus interpretiert man eine Dunkle Materie, die, obwohl innerhalb der Galaxien wahrscheinlich
ebenso homogen verteilt wie die Gaswolken, bei der Kollision nicht mit sich selbst oder den anderen
Bestandteilen der Galaxien-Haufen wechselwirkte. Dies limitiert die Wechselwirkungsraten der
Dunklen Materie.
Abbildung 4: Gravitationspotential des Bullet-Clusters und sichtbare Materieverteilung. Offensichtlich liegen die Maxima des Gravitationspotentials nicht auf den Maxima der sichtbaren Materiedichte. Es muss also einen zusätzlichen dunklen Materiebeitrag geben.
2.3
Strukturbildung im Universum
Auch wenn wir versuchen, die Entwicklung des Universums zu verstehen und die Bildung kosmologischer Strukturen nachzuvollziehen, stoßen wir auf Hinweise auf Dunkle Materie. Die großräumige
Struktur unseres heutigen Universums ist netzartig. Sie besteht aus Filamenten aus Galaxienhaufen
und großen, leeren Zwischenräumen, sogenannten „Voids“ (siehe Abb. 5).
Simulationen zeigen, dass diese heutige Struktur nur entstehen konnte, wenn man die Gravitationseffekte Dunkler Materie mit einbezieht (siehe Abb. 6). Dabei zeigt sich, dass die Bestandteile
3
Abbildung 5: Struktur des Universums, beobachtet von der Erde. Erkennbar ist eine netzartige
Struktur, bestehend aus Filamenten und Voids.
Abbildung 6: Simulation zur Strukturbildung des Universums mit einem Beitrag Dunkler Materie.
der Galaxien (baryonische Materie) sich bereits im frühen Universum an lokale Gravitationspotentiale geheftet haben müssen. Dies impliziert eine Form der Dunklen Materie, die noch vor der
baryonischen Materie ausgefroren sein muss und zum Zeitpunkt der Kondensation baryonischer
Materie bereits abgekühlt war.
3
Der heißeste Kandidat ist kalt
Es gibt viele verschiedene Ansätze, die Natur der Dunklen Materie zu erklären. Der Ansatz baryonischer Dunkler Materie (z.B. MACHOs) hat zwar auf galaktischen Skalen eine gewisse Berechtigung,
scheitert aber an den Anforderungen zur Strukturbildung im frühen Universum. Ebenso können
sehr schnelle Teilchen die heutigen Strukturen nicht befriedigend erklären. Dies schließt beispielsweise einen wesentlichen Anteil leichter Neutrinos zur Dunklen Materie aus. Einen direkten Blick
auf die Vorgänge im frühen Universum können wir durch Messungen der kosmischen Hintergrundstrahlung erlangen. Dabei zeigt sich, dass unser Universum zu ca. 22% aus nicht-baryonischer
Dunkler Materie besteht, während der Anteil baryonischer Materie lediglich ca. 4,3% ausmacht.
Die Dunkle Materie muss also in irgendeiner Art und Weise aus Teilchen bestehen, die
• ladungsneutral (keine elektrom. Wechselwirkung)
• farbneutral (keine starke Wechselwirkung)
• eventuell schwach wechselwirkend
• massereich
• kalt
• stabil (mindestens 13,7 Mrd. Jahre)
sind.
Ein derartiges Teilchen sucht man im Standardmodell der Teilchenphysik vergeblich.
4
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WIMPs
Eine Gruppe mögliche Kandidaten bezeichnet man als „WIMPs“ (Wheakly Interacting Massive
Particles). Ein solches hypothetisches Teilchen, dass alle Anforderungen erfüllt, könnte beispielsweise das leichteste super-symmetrische Teilchen (LSP) sein. In den meisten Modellen handelt es
sich dabei um das leichteste Neutralino, eine Linearkombination der supersymmetrischen Partner
des W- und B-Bosons, sowie der zwei neutralen SuSy-Partner des Higgs-Bosons.
! + α2 W
"3 + α3 H
! 10 + α4 H
! 20
χ
!01 = α1 B
Dieses Konzept wird heute als sehr vielversprechend angesehen. Über die thermischen Reaktionen im frühen Universum können wir die Parameter eines solchen WIMPs genauer spezifizieren. Die
Anzahldichte eines solchen Teilchens im frühen Universum wird durch die Boltzmann-Gleichung
beschrieben:
#
$
dn
ȧ
= −3 n − #vσ$ · n2 − n2eq
dt
a
Dabei ist n die Anzahldichte, a der Skalenfaktor der Raum-Zeit-Geometrie, v die Geschwindigkeit
und σ der Annihilations-Wechselwirkungsquerschnitt (siehe dazu Abb. 7). Letzterer ist insofern
wichtig, als dass Neutralinos Majorana-Fermionen, also selbst ihre eigenen Antiteilchen sind und
sich beim Aufeinandertreffen auslöschen.
Abbildung 7: Thermische Entwicklung und Freeze-Out. Im frühen Universum gehorchte die Anzahldichte der Boltzmann-Verteilung, bis die Annihilationsrate kleiner als die Expansionsrate des
Universums wurde. Von da an blieb die Gesamtanzahl nahezu konstant.
Die Lösung der Boltzmanngleichung lautet:
3
3 · 10−27 cm
1
s
Ωχ! ≈
≈ 0.22
2
h0
#vσ$
Die rechte Seite der Gleichung ergibt sich, da unser Universum aus 22% Dunkler Materie besteht.
Daraus kann man u.a. für das Neutralino eine Masse ableiten, die in der Größenordnung 100-1000
GeV liegt. Dies sollte in zukünftigen Experimenten (wie derzeit am LHC am CERN) nachweisbar
sein.
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Weitere Kandidaten und Alternativen
Die WIMPs ergeben sich zwanglos aus vielen Erweiterungen des Standardmodells der Teilchenphysik - sie lösen das Problem der Dunklen Materie quasi so nebenbei. Es gibt jedoch auch noch
viele andere Teilchen, die durch verschiedene Theorien postuliert werden und prinzipiell als Kandidaten für Dunkle Materie in Frage kommen. Die populärsten unter ihnen sind das Gravitino,
das Axion, sowie das Axino. All diese Konzepte haben sich bis jetzt gegenüber den WIMPs als
problematischer erwiesen. Es gibt jedoch auch Ansätze, die völlig ohne neue Teilchen arbeiten und
verschiedene Teilaspekte der Dunklen Materie völlig anders zu erklären versuchen. So geht die
von Mordehai Milgrom vorgeschlagene „Modifizierte Newton’sche Dynamik“ (MOND) davon aus,
dass es weit weniger Dunkle Materie gibt als angenommen, dafür jedoch das zweite Newton’sche
Gesetz für sehr langsame Beschleunigungen (wie sie auf sehr großen Skalen herrschen) nicht exakt
ist und modifiziert werden sollte. Eine weitere Idee, die in letzter Zeit immer mehr Anhänger findet, beinhaltet verschiedene Formen zusätzlicher, aufgerollter Dimensionen verschiedener Größen
und Anzahl. Auch damit ließen sich einige Aspekte, die heute der Dunklen Materie zugeschrieben
werden, erklären. Viele dieser Theorien postulieren eigene WIMP-Kandidaten, andere versuchen
die Dunkle Materie zu erklären, indem die Gravitation „Abkürzungen“ durch große, aufgerollte
Dimensionen nehmen kann.
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Fazit
Wir wissen nicht, was die Dunkle Materie ist. Wir glauben aber zu wissen, was sie alles nicht ist.
Daher können wir gut begründen, wo wir nach Kandidaten für Dunkle Materie suchen müssen.
Die Zukunft wird zeigen, wie weit wir dieses Rätsel lösen können. Jedoch scheint klar, dass jede
neue übergeordnete Theorie auf der TeV-Skala (u.a. sämtliche Großen Vereinheitlichungen) in
irgendeiner Form eine Erklärung für die Effekte der Dunklen Materie enthalten muss.
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