1. Ausgangspunkt und Ziele „Es gilt, die Ungleichheitsdiskussion wieder aufzunehmen, die für die moderne arbeits- und beschäftigungsbezogene Bildungsforschung konstitutiv war – Ungleichheit verstanden als die ungleiche Verteilung von Lebenschancen und -risiken im Bereich von Bildung und Arbeit. Denn Ungleichheit im Zugang zu ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcen ist weiterhin konstitutiv für die gesellschaftliche Strukturierung“ (Bolder, Heinz & Rodax 1996).1 Gegenstand dieser Untersuchung ist die soziale Herkunft von Doktorandinnen und Doktoranden an deutschen Universitäten. Allerdings kann eine solche soziologische Arbeit über Promovierende nicht für sich beanspruchen eine gänzlich neue Thematik zu behandeln. Denn die vielfältigen Vorteile von Bildung haben die Frage, wie dieses knappe Gut auf die Bevölkerung aufgeteilt wird und welche Ungleichheiten daraus resultierten, ins Zentrum soziologischer Bildungsforschung gerückt. Theoretisch werden die Mechanismen, die für die ungleiche Verteilung von Bildung verantwortlich sind, kontrovers diskutiert. Gegen die angeführte Position, dass ungleiche Bildungserfolge aus der unterschiedlichen genetischen Ausstattung mit Intelligenz resultieren (vgl. Young 1963, Herrnstein 1974) hat der Soziologe Pierre Bourdieu die strukturierende Bedeutung sozialer, kultureller und ökonomischer Faktoren aufgezeigt (vgl. Bourdieu 1982). Darüber hinaus ist seit Beginn der neunziger Jahre ein zunehmendes Interesse an sozialwissenschaftlichen Untersuchungen über die langfristigen Folgen der Bildungsexpansion für die Reproduktion der Sozialstruktur und den Abbau sozialer Ungleichheiten zu beobachten (vgl. Krais 1996). Die empirischen Ergebnisse zeigen, dass von der Auflösung der Klassengesellschaft und vom Verschwinden strukturierter sozialer Ungleichheiten keine Rede sein kann (vgl. exemplarisch Berger & Kahlert 2005). Die Frage nach der sozialen Herkunft von Akademikern ist mittlerweile praktisch zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Sozialund Bildungsforschung geworden.2 1 Die Zitate wurden der geltenden Rechtschreibung angepasst. Bildungsforschung bezeichnet eine multidisziplinäre Fachrichtung, welche parallel von Pädagogen, Psychologen, Soziologen, Politik- und Rechtswissenschaftlern, Ökonomen, Philosophen und Historikern betrieben wird. Einen Überblick über die möglichen Facetten einer interdisziplinären Bildungsforschung bietet der von Rudolf Tippelt herausgegebene Sammelband (Tippelt 2002). 2 Alexander Lenger, Die Promotion Copyright by UVK 2008 13 „Allerdings hat sich die Frage nach der sozialen Herkunft kaum auf jene Gruppe der Hochschulabsolventen gerichtet, die nach dem Studium die akademischen Weihen einer Promotion erreicht, mit der innerhalb wie außerhalb der Wissenschaft möglicherweise eine besondere Privilegierung in den Berufschancen verbunden ist“ (Enders & Bornmann 2001: 40). Dies überrascht nicht, würden doch die Produzenten von Wissenschaft selbst ins Blickfeld der Untersuchung rücken und zum „Erkenntnissubjekt“ werden. Ein solches Unterfangen der Selbstanalyse ist stets heikel. „Denn sich als Zauberlehrling ‚für die Zauberei des eigenen Stammes und dessen Fetische’ zu interessieren, anstatt ‚in fernen Tropen den beruhigenden Reizen einer exotischen Magie nachzugehen’ ist mit dem Risiko verbunden, Reize zu entfesseln, die sich gegen den Zauberlehrling selbst kehren“ (Bourdieu 1988: 36; zitiert nach Engler 2001: 16). Die kritische Reflexion ist jedoch gerade in den Sozialwissenschaften unabdingbar, bildet doch die Beschaffung und Analyse von aussagekräftigen Daten zur Ungleichheit der Bildungs- und Lebenschancen eine vorrangige Aufgabe der (Bildungs-)Soziologie. Für unsere Fragestellung genügt es an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass für den Zusammenhang von sozialer Herkunft und akademischer Profession ein allgemeines (sozial-) wissenschaftliches Thematisierungstabu gilt (vgl. Burkart 2003). Generell stellt der Glaube an leistungsbezogene Kriterien und meritokratische Prinzipien gerade im wissenschaftlichen Betrieb ein elementares Selbstverständnis dar (Engler 2001: 453). Die Vorstellung, der Berufsverlauf könnte durch die soziale Herkunft determiniert sein, missfällt vielen Wissenschaftlern (Burkart 2003: 12). Daher ist es kaum verwunderlich, dass sich bisher eher wenige Sozialforscher intensiv mit den Lebensläufen und der sozialen Herkunft des wissenschaftlichen Nachwuchses beschäftigt haben. So konzentrieren sich die meisten bisherigen Arbeiten im Themenfeld Promovierende entweder auf die wissenschaftlichen Mitarbeiter und ihre weitere akademische Laufbahn innerhalb des Hochschulsystems oder untersuchen die außeruniversitäre Bedeutung der Promotion für einzelne Fächer bzw. Berufsgruppen.3 Eine systematische, fachbereichsübergreifende Abhandlung zur sozialen Herkunft von Doktorandinnen und Doktoranden wurde bislang nicht vorgelegt. Überhaupt waren methodische Beiträge über den wissenschaftlichen Nachwuchs bis Mitte der achtziger Jahre äußerst selten. Erst verschiedene Studien, vor allem zu Fragen der Chancen und Probleme der Nachwuchsförderung (Czock & Wildt 1985; Holtkamp, Fischer-Bluhm & Huber 1986), dem beruflichen Verbleib des akademischen Mittelbaus (Bochow & Joas 1987), der Überalterung der Nachwuchswissenschaftler (Wissenschaftsrat 3 Zum gegenwärtigen Stand der Forschung über die Doktorandenausbildung und die beruflichen Werdegänge von Promovierten vgl. Enders (2005: 36-40). 14 Alexander Lenger, Die Promotion Copyright by UVK 2008 1988) und seiner Beschäftigungssituation (Kaddatz 1987; Enders 1990), legten umfangreiches und empirisch fundiertes Material vor. Erstmals wurde auch kritisch formuliert, dass die prekäre soziale und finanzielle Lage sowie die unsicheren Zukunftschancen der Nachwuchswissenschaftler zu einem Exodus qualifizierter Kandidaten aus den Hochschulen führen (vgl. Wissenschaftsrat 1982; Karpen 1986; Kossbiel, Helfen & Flöck 1987). Knapp zehn Jahre später erschienen dann einige neuere Publikationen zur Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses. Im Mittelpunkt standen dabei die Personalstruktur und Qualifizierung des wissenschaftlichen Nachwuchses (Wissenschaftsrat 2001a) sowie die Chancen und Probleme der Promotionsphase (Berning & Falk 2005). Erst kürzlich wurden die Ergebnisse einer bundesweiten Doktorandenbefragung präsentiert (Gerhard, Briede & Mues 2005). Vor dem Hintergrund der hier genannten Untersuchungen wurden zunehmend die Funktionsleistungen der Hochschulen auch im Hinblick auf die Doktorandenausbildung kontrovers diskutiert. Insbesondere die quantitative Zunahme der Promotionen seit Anfang der achtziger Jahre, die innerhalb eines Jahrzehnts nahezu zu einer Verdopplung der Promotionsprüfungen geführt hat, schärften offenbar den kritischen Blick auf die Chancen und Probleme der Promotionsphase. Gleichzeitig wurden deutliche Veränderungen in den beruflichen Einsatzorten, außerhalb der traditionellen Arbeitsmärkte für promovierte Akademiker in Hochschule, Forschung und öffentlichen Dienst, registriert. Trotzdem lagen bis vor kurzem kaum Untersuchungen über promovierte Wissenschaftler in außeruniversitären Beschäftigungsverhältnissen vor – exemplarisch sei auf die Abhandlungen zur Karriere promovierter Wirtschaftswissenschaftler (Brüggestrat 1988) und zu den Arbeitsmarktproblemen promovierter Geisteswissenschaftler (Schlegelmilch 1987) verwiesen – welche allerdings keine fächervergleichende Perspektive ermöglichten. Erst Jürgen Enders und Lutz Bornmann führten Ende der neunziger Jahre am Wissenschaftlichen Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung (Universität Kassel) eine fächerübergreifende Untersuchung zur Ausbildung, Berufsverlauf und Berufserfolg von Promovierten durch (Enders & Bornmann 2001). Fast zeitgleich legte der Darmstädter Elitenforscher Michael Hartmann eine erste umfassende Studie vor, welche die positionale und wirtschaftliche Verwertbarkeit des Doktortitels thematisierte und klassische Themen des relativen Stellenwerts von sozialer Herkunft und Bildungsleistung in den Vordergrund rückte (Hartmann 2002). Die beiden letztgenannten Studien behandeln den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Promotion. Waren die bisherigen empirischen und theoretischen Arbeiten wenig geeignet, um umfangreiche Aussagen über die Selektions- und Reproduktionsmechanismen einer Promotion treffen zu können, lagen nun konkrete Untersuchungen zu dieser Fragestellung vor. Beide Untersuchungen zeigen zunächst erwartungsgemäß, dass Promovierte Alexander Lenger, Die Promotion Copyright by UVK 2008 15 im Vergleich zu nicht promovierten Hochschulabsolventen eine der sozialen Herkunft nach privilegierte Gruppe bilden. Jedoch stehen die Analysen in einem überaus ambivalenten Verhältnis zueinander und kommen zu teilweise gegenläufigen Ergebnissen. Während Enders und Bornmann der Promotionsphase eine vergleichsweise hohe soziale Offenheit zuschreiben, kommt Hartmann zu dem Schluss, dass „sich die Promotion selbst bereits als sozial sehr selektiv erweist“ (Hartmann 2002: 366-367). Und während Enders und Bornmann zu dem Resultat kommen: „Der lange Arm der sozialen Herkunft erreicht den Berufserfolg nach der Promotion nicht“ (Enders & Bornmann 2001: 197), resümiert Hartmann: „Trotz der scharfen sozialen Auslese durch das Bildungssystem erfolgt bei der Besetzung von Führungspositionen in der Wirtschaft eine zweite vom Bildungstitel [Promotion, Anm. d. Verf.] vollkommen unabhängige soziale Selektion“ (Hartmann 2002: 367). Diese Differenz gilt es aufzulösen. Allerdings sind die bisherigen Forschungsergebnisse aufgrund fehlender Daten und der schematischen Konzentration auf einzelne Promotionsfächer wenig geeignet, um adäquate Aussagen über die soziale Herkunft von Doktorandinnen und Doktoranden zu treffen. Eine systematische Arbeit über die soziale Herkunft von Promovierenden über alle Fachbereiche hinweg steht noch aus. Um diese Lücke zu schließen, habe ich im April 2006 eine empirische Befragung von Promovierenden durchgeführt. Im Zentrum der Untersuchung stand dabei die Frage nach der sozialen Herkunft von Doktoranden. Ziel der hier vorliegenden Abhandlung ist es, die Wechselwirkungen zwischen der Kapitalausstattung und der Sozialstruktur von Doktorandinnen und Doktoranden zu analysieren. Dabei wird sich zeigen, dass der analytische Blick mit Rückgriff auf Bourdieus Theorie der sozialen Welt entscheidend erweitert und geschärft wird. Die zugrunde liegende Fragestellung könnte man auch folgendermaßen formulieren: Beeinflusst die soziale Herkunft die Möglichkeit zur Promotion und – falls dem so sein sollte – welche Mechanismen liegen diesem Prozess zu Grunde? Die Argumentation werde ich in fünf Kapiteln entwickeln: Im zweiten Kapitel stelle ich zunächst die Konzeption der empirischen Studie vor. Es ist auf den „vorgreifenden“ Charakter dieses Kapitels hinzuweisen, da erste Befunde meiner empirischen Untersuchung erst in Kapitel 4.3 herangezogen werden. Trotzdem erschien mir die Platzierung an dieser Stelle sinnvoll, um Brüche im weiteren Verlauf der Argumentation zu vermeiden. Das dritte Kapitel verfolgt einige Bildungssoziologische Vorüberlegungen zur Vergewisserung der in der vorliegenden Untersuchung angewendeten Methode. Zunächst werde ich kurz Theorien und Denkansätze über den Stellenwert, die Funktion und die Bedeutung von Bildung für die Gesellschaft skizzieren, die mir später als Bezugspunkt meiner Analyse dienen werden. 16 Alexander Lenger, Die Promotion Copyright by UVK 2008 Anhand der Entwicklungen im Bildungswesen werde ich aufzeigen, dass eine Untersuchung über Promovierende sinnvollerweise anhand Bourdieus Gesellschaftstheorie zu führen ist. Im vierten Kapitel werde ich die Situation von Promovierenden in Deutschland darstellen, um Aussagen über die soziale Stellung von Doktorandinnen und Doktoranden treffen zu können. Dazu werden die strukturellen Rahmenbedingungen und die Entwicklung der Promotionsabschlüsse von Promovierenden in Deutschland erläutert. Dabei werde ich zeigen, dass eine Analyse der Situation von Doktorandinnen und Doktoranden nur Sinn machen kann, wenn ein Bewusstsein über die Autonomie des wissenschaftlichen Feldes erreicht wird. Das fünfte Kapitel, welches den Kern dieser Abhandlung darstellt, spannt den Bogen zurück zu dem Erkenntnisgegenstand Promovierende und die Illusion der Chancengleichheit. Zunächst werde ich die Illusion des Leistungsparadigmas als Mythos entlarven. Daran anknüpfend wird die soziale Herkunft von Doktorandinnen und Doktoranden dargelegt. Da sich in den Promotionsmotiven, soviel sei hier vorweggenommen, die Hierarchie der Fächer manifestiert, wird ein kurzer Exkurs zu Bourdieus „Streit der Fakultäten“ den theoretischen Rahmen erweitern. Abschließend werden ausführlich die Positionen von Promovierenden im sozialen Raum dargestellt. Das sechste Kapitel Die Promotion: Ein Reproduktionsmechanismus sozialer Ungleichheit fasst die Ergebnisse zusammen. Alexander Lenger, Die Promotion Copyright by UVK 2008 17