Abklärung der Ursachen aggressiven Verhaltens Oft haben Hunde und deren Besitzer, wenn sie bei uns im Hundezentrum landen, bereits eine lange Odyssee durch verschiedene Hundeschulen hinter sich, haben sich auf ausgetrampelten Pfaden bewegt und sich in diesen irgendwann festgefahren und sind darin stecken geblieben. Das liegt daran, dass die Flut an fertigen Patentrezepten im Umgang mit einem aggressiven Hund schier unendlich ist, und diese Patentrezepte, wenn sie dem unbedarften und verzweifelten Hundebesitzer überzeugend vorgetragen werden, eine einfache und schnelle Lösung des Problems versprechen. Vergessen wird dabei schnell, dass es die Aggression genauso wenig gibt, wie die Lösung. Dafür sind Hunde viel zu individuell, ebenso wie die Ursachen, die der Aggression zugrunde liegen. Exemplarisch sei hier jeweils ein und derselbe Hund mit der jeweiligen Empfehlung / Lösung eines Trainers dargestellt: Es handelt sich um Rollo, einen ängstlichen und sehr distanzierten Fundhund, der über die Tierheimvermittlung bei einer Familie landete. Anfangs fiel Rollo nur durch seine stark ausgeprägte Ängstlichkeit auf, aggressiv oder bissig zeigte er sich in dieser Zeit nie. Doch je länger Rollo in seiner Familie lebte, je mehr Selbstvertrauen er bekam, desto größer wurde seine Neigung zu aggressivem Verhalten. Am Anfang war es nur ein drohendes Knurren, nach und nach steigerte sich das gezeigte Verhalten zu immer intensiver werdenden Scheinangriffen gegen als bedrohlich empfundene Personen, und mit der Zeit entwickelten sich daraus erste bissige Attacken. Die darauf folgenden Besuche der Besitzer bei verschiedenen „Experten“ ergaben folgende Aussagen, die die Besitzer im Umgang mit ihrem Hund verständlicherweise nur weiter verunsicherten: Patentrezepte taugen wenig! Als erstes wurde eine Tierpsychologin konsultiert, die folgende Einschätzungen gab: Patentrezept I (das Dominanz- Problem): „Wissen Sie, ich beobachte Ihren Hund jetzt schon eine ganze Weile, dem schaut die Dominanz aus den Augen heraus! Der Hund muss unbedingt von seiner dominanten Position herunter geholt werden! Der knurrt ja sogar mich an, obwohl ich gar nichts von ihm will.“ Nach dieser Einschätzung von Rollo, ohne vorherige intensive Verhaltensüberprüfung, bekam die Familie die Empfehlung umgehend die Haltungsbedingungen zu ändern. Ab sofort keine erhöhten Positionen mehr für Rollo. Außerdem bekam Rollo sein Futter nur noch nach der Erfüllung bestimmter Gehorsamsleistungen. Wenn Rollo zu Hause bei einem Familienmitglied Streicheleinheiten einforderte, musste er weggeschickt werden, gestreichelt werden durfte er nur noch, wenn er von den Besitzern dazu heran gerufen wurde. Durch die Tür ging fortan immer zuerst der Besitzer, bevor der Hund folgen durfte. Die Haltung der Besitzer dem Hund gegenüber sollte bei sozialen Kontakten gebeugt sein, um den Hund von oben herab dominieren zu können. Die Schlussworte der Trainerin: „Nur wenn Sie alle Empfehlungen auch in die Tat umsetzen, kann es zu einer Besserung des Verhaltens kommen. Ihrem Hund muss klar werden, dass er nicht länger den Boss spielen kann. Wenn sein Rang auf einem niedrigen Level liegt, traut er sich nicht mehr, fremden Leuten aggressiv zu begegnen.“ Was war die Folge der strikten Umsetzung der Empfehlungen? Rollos Verhalten verschlimmerte sich. Er war durch die „neue Hausordnung“ sichtlich verunsichert, unruhiger, zitterte zeitweise am ganzen Körper und wirkte selbst in seinem Körbchen liegend nervös und unausgeglichen. Das Schlimmste war aber, dass sich sein aggressives Verhalten gegenüber fremden Personen bei Spaziergängen verstärkte. So konnte es nicht weiter gehen... Also wurde ein Verhaltenstherapeut aufgesucht, der immerhin im Gegensatz zu der Tierpsychologin einen Hausbesuch machte, um sich Rollo im häuslichen Umfeld anzuschauen. Er kam zu folgendem Schluss: Patentrezept II (positive Verstärkung): „Ihr Hund ist eindeutig ausgesprochen ängstlich und nur deshalb aggressiv. Er ist keinesfalls dominant! Die Empfehlungen der Tierpsychologin werfen Sie bitte sofort über Bord, denn dadurch wurde Rollo nur zusätzlich verunsichert. Alles, was Ihr Vierbeiner jetzt braucht, ist Liebe, Zuneigung und vor allem eine zielgerichtete positive Verstärkung für korrektes Verhalten in Konfliktsituationen. Keinerlei Druck, keine Strenge oder gar harte Disziplin, sondern sehr viel Zuwendung und möglichst viele positive Erlebnisse.“ Die Besitzer fühlten sich nach dieser Beratung gleich sehr viel wohler, hatten sie doch schon geahnt, dass Patentrezept I ihrem Rollo wesentlich mehr Schaden als Nutzen brachte. Im häuslichen Umfeld entspannte sich Rollo darauf hin nach einiger Zeit deutlich. Draußen wurde auf Schimpftiraden durch die Besitzer verzichtet, außerdem wurde nicht mehr an der Leine gezerrt, sondern es wurden statt dessen Bell- und Knurrpausen sofort bestärkt und mit einem Leckerli belohnt. Dieses Konzept funktionierte anfangs auch gut und brachte erste Erfolge. Bald stellte sich jedoch heraus, dass auch dieses Konzept nicht zielführend war, denn wenn die bedrohlichen Personen sich Rollo näher als drei bis vier Meter näherten, rastete er völlig aus und war nicht mehr ansprechbar. Und es kam, wie es kommen musste, die nächste Attacke von Rollo ließ nicht lange auf sich warten, Rollo zwickte einen vorbeifahrenden Radfahrer ins Bein. Und trotzdem war an Aufgeben nicht zu denken, die Familie bekam auf der Suche nach der passenden Problemlösung den Tipp, es einmal mit Tellington Touch und Bachblüten zu versuchen. So landete man bei der nächsten Verhaltensberaterin und bei Patentrezept III „Wir können Ihren Hund durch verschiedene Elemente der T.T.E.A.M.- Arbeit deutlich stabilisieren. Sie werden feststellen, dass sich die Nervosität und die Verspannungen Ihres Vierbeiners zunehmend lösen werden. Weiterhin werden wir durch individuell abgestimmte Übungen das Bewusstsein des Hundes und dessen Konzentrationsvermögen deutlich erhöhen. Ihrem Hund wird auf völlig neue Weise beigebracht, mit Ihnen im Stress zu kooperieren und zu kommunizieren. Bleibende Veränderungen der Persönlichkeit des Hundes entstehen meist schon nach wenigen Behandlungen. Wenn die offensichtliche Angst Ihres Hundes erst mal weicht, hat er keinen Anlass mehr, Aggressionsverhalten zu zeigen. Denn schließlich ist die Angst der Auslöser für die bissigen Attacken von Rollo.“ Auch dieser Ansatz schien der Familie sehr plausibel. Rollo bekam vor Beginn der Therapie Bachblüten, gearbeitet wurde über langsames Führtraining, Entspannungsmassagen und neue Führtechniken. Erste Erfolge ließen nicht lange auf sich warten: Rollo, und mit ihm seine Bezugsperson, wurde zusehends ruhiger und gelassener. Bis er eines Tages auf die ihm eigentlich bekannte Nachbarin der Familie traf und sie vermeintlich aus heiterem Himmel attackierte. Darauf hin begann, verständlicherweise, ein absoluter Teufelskreis. Denn natürlich waren die Besitzer wieder verstärkt auf der Hut und das Vertrauen in den eigenen Hund war erstmal wieder dahin. Die folgende mangelnde Souveränität und Gelassenheit bei Begegnungen mit Passanten ging natürlich auch an Rollo nicht spurlos vorüber, da die Besitzer mit innerer Anspannung, einem Verkürzen der Führleine und einer Verlangsamung der Schrittfrequenz reagierten. Dies führte wiederum über die Stimmungsübertragung zu einer erhöhten Eskalationsbereitschaft seitens des Hundes. Anstelle von Ruhe und Gelassenheit gaben die angespannten Zweibeiner dem Vierbeiner zusätzlichen Stress mit auf den Weg, der dessen unerwünschtes aggressives Verhalten weiter steigerte. In diesem Fall brachte also der Trainingsansatz zwar eine deutliche Entspannung in vielen Bereichen, aber gerade wenn es darauf ankam, in besonders kritischen Konfliktsituationen, waren diese Ansätze scheinbar wirkungslos verpufft und man kam auch auf diesem Wege mit Rollo nicht voran. Wieder orientierungs- aber zum Glück immer noch nicht hoffnungslos- machte man sich auf die Suche nach einem weiteren Experten und fand einen Hundetrainer, der sich im Umgang mit aggressiven Hunden bereits einen Namen gemacht hatte. Schnell stand Patentrezept IV (das Autoritätskonzept): „Sie haben ja nun schon eine ganze Menge hinter sich! Dass aber das grundlegende Problem so nicht zu lösen war, verwundert mich nicht. Immer mehr moderner Firlefanz wird im Hundewesen eingesetzt, aber am eigentlichen Problem arbeiten die Allerwenigsten. Ihr Hund ist aggressiv in bestimmten sozialen Konfliktbereichen – und genau an dieser Stelle muss angesetzt werden. Das Drumherum ist weniger wichtig. Sie müssen lernen, Ihrem Hund unmissverständlich klar zu machen, dass er in Ihrem Beisein keine Aggressionen zeigen darf. Schauen Sie sich doch freilebende Hunde oder auch Wölfe an. Wenn da einer über die Stränge schlägt, wird er von den Ranghöheren sehr effektiv und vor allem souverän zurechtgewiesen. Das Rudel hat nur so eine Bestandchance. Wenn diese Hunde oder Wölfe könnten, würden sie über den Menschen lachen, wenn wenn er mit Klicker, Halti, Disc-Scheiben oder ähnlichen „Unrat“ bewaffnet seine Unfähigkeit unter Beweis stellt, auf natürlichem Weg mit dem Hund zu kommunizieren. Vertrauen Sie beim Umgang mit Rollo viel mehr auf Ihre naturgegebenen Fähigkeiten als auf wissenschaftlich formulierte Kompliziertheit. Ihr Hund ist keinesfalls verhaltensgestört; es hat ihm bisher nur niemand ein klares Schwarz-WeißModell präsentieren können.“ Und wieder warf die Familie die anfänglichen Zweifel über Bord, denn was der besagte Trainer ihnen erzählte, hörte sich durchaus plausibel an. Dazu kam, dass sich der Trainer nach nur kurzer Zeit Rollo annähern konnte, ohne dass dieser Aggressionen zeigte, was bei der Familie wieder die Hoffnung auf eine Verhaltensbesserung weckte. Es folgte eiserne Konsequenz und harte Kompromisslosigkeit gegenüber Rollo. Zum Training wurde eine Übungssituation gestellt, ein Mitarbeiter des Trainers mimte einen arglosen Spaziergänger, Rollo befand sich beim Trainer an der Leine. Beim ersten drohenden Knurren von Rollo ruckte der Trainer kommentarlos, aber sehr heftig an der Leine und ließ sie danach sofort wieder locker. Rollo, sichtlich beeindruckt, zuckte zusammen und wechselte von der linken auf die rechte Körperseite des Trainers. Diese Übung wurde so lange wiederholt, bis Rollo sich nicht mehr traute, in irgendeiner Form nach vorne zu gehen und aggressives Verhalten zu zeigen. Nach und nach wurde die Leine und die Verantwortung für die folgenden Leinenrucke wieder an die Besitzer übergeben, die schon nach kurzer Zeit eine Besserung des Aggressionsverhaltens in sozialen Konfliktsituationen feststellen konnte. Doch das war nur die eine Seite der Medaille, auf der anderen Seite zeigte der Hund nun verstärkt eine geduckte und unsichere Körperhaltung und vergrößerte zunehmend die Distanz zu seinen Besitzern - wie früher direkt bei seinen Besitzern Fuß zu laufen wurde unmöglich, Rollo hielt von nun an einen Abstand von mindestens einem Meter für angemessen. Wenn einzelne Personen entgegenkamen, verstärkte er das Distanzverhalten seinen Besitzern gegenüber weiter. Die Aussage des dazu befragten Trainers war, dass alles in bester Ordnung sei und man daran sehe, dass der Hund nun endlich die Autorität seiner Besitzer anerkenne. Die Folge ließ nicht lange auf sich warten. In einer beengten Situation, in der ein entgegenkommender Passant sehr dicht an Rollo vorbei gehen musste und der Hund keine Möglichkeit hatte, auszuweichen, stürzte sich Rollo ohne Vorwarnung auf den Spaziergänger und zwickte ihn in die Hand. Was war nun das Problem an all diesen unterschiedlichen Ansätzen? Dass es Patentrezepte waren, die nicht individuell auf Rollo und auf seine Besitzer zugeschnitten waren. Jeder Hund, sowie jeder dazu gehörende Mensch ist einzigartig, und genauso einzigartig und individuell sollte das Trainingsprogramm sein. Nehmen wir an, Rollos Besitzer hätten: Patentrezept I völlig über Bord geworfen, weil es schlichtweg falsch ist, Patentrezept II in allen Elementen der positiven Verstärkung beherzigt auf Liebe und Zuneigung nicht verzichtet und jede aggressionsfreie Konfliktlösung von Rollo mit Lob und Leckerli bestätigt, Patentrezept III zur nervlichen Entspannung, zur Harmonisierung der Führer-/Hundbeziehung und zur Verbesserung der Führigkeit angewendet und das Patentrezept IV in elementaren Teilen zur konsequenten und kompromisslosen Unterbindung aggressiver Verhaltensweisen genutzt, dann... ….ja dann hätte viel früher alles ganz anders und vor allem viel besser kommen können. Dieses Beispiel soll deutlich machen, dass man mit Pauschallösungen nur in den seltensten Fällen dauerhaft Erfolg erzielen kann, es handelte sich jeweils entweder nur um „Symptomdoktorei“ oder das jeweilige Konzept wurde nicht zu Ende gedacht und man hatte sich auf einer Schiene eingefahren, ohne über den Tellerrand zu schauen. Um einen therapeutischen Erfolg im Umgang mit Konfliktverhalten zu erzielen, sind stets drei elementare Bestandteile nötig: Drei Säulen stützen den Erfolg! Zunächst muss unbedingt das Warum ergründet werden, dazu ist eine ausführliche Anamnese unerlässlich, um die Ursache des Konfliktverhaltens finden zu können. Darauf folgt die Verhaltensanalyse, sprich die Erforschung des tatsächlichen charakterlichen Profils, um letztendlich individuelle Trainingsansätze zu finden und umsetzen zu können. Beginnen wir mit der Anamnese, bei der folgende Fragen unbedingt abgeklärt werden sollten: 1.) Die Herkunft des Hundes und seine Entwicklung als Welpe und als Junghund. Denn nicht immer hängt die Ursache für das Problemverhalten ausschließlich am anderen Ende der Leine. Ängstliche und aggressive Verhaltensmuster unterliegen nicht nur prägenden Erfahrungen, sondern sind oft genetisch beeinflusst. Es ist inzwischen nachgewiesen, dass Stress während der Trächtigkeit und natürlich auch in den ersten Lebenswochen bereits Auswirkungen auf die Welpen hat und dass solche Welpen ein deutlich vergrößertes Stresszentrum im Gehirn aufweisen. Außerdem gibt es natürlich auch eine Stimmungsübertragung von der Mutter auf den Nachwuchs, das heißt die Welpen übernehmen sehr schnell ängstliches und / oder aggressives Verhalten, das sie von der Mutter vorgelebt bekommen. Aber nicht nur negative, sondern auch fehlende Erfahrungen in der hochsensiblen Welpen- und Junghundphase sind oft ursächlich für späteres Konfliktverhalten. Bei vielen Tierheimhunden oder anderen Hunden unbekannter Herkunft fehlt leider die Info über diesen wichtigen Punkt der Anamnese und lässt sich im Nachhinein nur durch rückschlussführende Spekulationen ersetzen. 2.) Eine weitere wichtige Frage in der Anamnese ist der Gesundheits- und Sexualstatus des Hundes. Gerade bei (scheinbar unerklärlichem) Aggressionsverhalten findet man sehr oft somatische, also körperliche Ursachen als Auslöser. Exemplarisch sei hier eine Unterfunktion der Schilddrüse erwähnt, die oft auch bei milder Ausprägung massive Verhaltensveränderungen nach sich ziehen kann, aber auch andere hormonelle Entgleisungen, Stoffwechselstörungen, tumoröse Entartungen und weitere Erkrankungen können eine Änderung des Verhaltens nach sich ziehen. Sehr oft sind plötzliche Aggressionen auch schmerzassoziiert und durch Degenerationen des Bewegungsapparates hervorgerufen. Solche Hunde sollten auf jeden Fall einer eingehenden tierärztlichen Untersuchung unterzogen werden! Auch der Sexualstatus muss unbedingt genau unter die Lupe genommen werden. Selbst Rüden, die nicht auf jede Hündin aufreiten, können ein gesteigertes Sexualverhalten mit extremer Rüdenprofilierung, zB durch häufiges Markieren in Verbindung mit Scharren und extremem Machogehabe, zeigen (dass die Kastration bei solchen Rüden keinesfalls als Pauschalrezept gelten darf, ist ein anderes Thema...) 3.) Den nächsten Punkt in der Anamnese stellen de Haltungsbedingungen des Hundes dar. Dazu gehören Fragen nach dem räumlichen Umfeld, nach Ruhe- und Rückzugsmöglichkeiten für den Hund, nach Hausstandsregeln etc 4.) Wie schaut es mit dem Sozialverhalten gegenüber den Familienmitgliedern aus? Die soziale Struktur zwischen dem Hund und den einzelnen Familienmitgliedern muss genau erfasst werden, bevor sie in der folgenden Verhaltensanalyse überprüft wird. Auch das Verhältnis der Menschen untereinander sollte beleuchtet werden, da Disharmonien in der familiären Struktur auch das vierbeinige Familienmitglied belasten. Denn auch hier finden gegebenenfalls wieder Stimmungsübertragungen statt, die das Verhalten des Hundes beeinflussen. Außerdem können auch Erkrankungen einer Bezugsperson oder beispielsweise eine Schwangerschaft der Halterin zu Verhaltensänderungen des Hundes führen. 5.) Sozialverhalten gegenüber Menschen allgemein: Bei Umweltängsten muss immer auch das Sozialverhalten geprüft werden. Wenn sich Verhaltensauffälligkeiten nur gegenüber bestimmten Umwelteinflüssen, wie zum Beispiel Geräuschen zeigen, scheint es zunächst nicht wichtig zu sein, das Sozialverhalten gegenüber fremden Menschen zu erfragen oder gar zu prüfen. Bei genauerem Hinsehen können jedoch Zusammenhänge zwischen der Angst vor bestimmten Geräuschen und einer gewissen Distanz gegenüber Fremdpersonen bestehen, wenn beispielsweise der Hund das Geräusch eines vibrierenden Mobiltelefons mit der Person, die das Mobiltelefon in der Hosentasche trägt, verknüpft. Oder andersrum kann eine besonders ausgeprägte Kontaktfreude gegenüber fremden Personen als Anker in der Therapie genutzt werden, um die Geräuschangst schneller abzubauen. 6.) Das Ressourcenverhalten des Hundes: Zu den wesentlichen Ressourcenbereichen und Besitzansprüchen des Hundes gehören beispielsweise Nahrung, Beute, also auch Spielzeug, und territoriale Gegebenheiten wie Körbchen, Haus, Garten oder auch Spazierwege, die häufiger begangen werden. Aber auch die Familie, bei der der Hund lebt, kann vom Hund als soziale Ressource betrachtet werden; oft steckt hinter Schilderungen vom „eifersüchtigen Hund“ ein Ressourcenverhalten, dem wiederum hormonell aber die gleichen Mechanismen zugrunde liegen, wie „echter menschlicher Eifersucht“. Eine genaue Unterscheidung ist unbedingt zwischen Ressourcenverhalten und extrem seltener tatsächlicher Dominanz eines Hundes nötig, auch wenn beides leider immer noch sehr oft in einen Topf geworfen wird. Die therapeutischen Ansätze variieren in beiden Fällen jedoch deutlich. 7.) Sozialverhalten gegenüber Artgenossen: Sozialaggression gegenüber Artgenossen stellt wohl den häufigsten Klagegrund für Halter von sogenannten Problemhunden dar. Fast immer sind Erfahrungsdefizite für unangemessene Aggressionen oder Ängste gegen Artgenossen verantwortlich. Diese Erfahrungsdefizite lassen sich in drei unterschiedliche Kategorien einteilen: Von Mangelerfahrung spricht man, wenn der Hund in der Welpen- und Junghundezeit keine oder sehr wenige Kontakte zu Artgenossen hatte. Aus diesem Defizit ergeben sich im weiteren Leben oft Probleme im Sozialverhalten und Konflikte mit Artgenossen. Negativerfahrungen: die Konflikte resultieren aus schlechten Erfahrungen im Umgang mit Artgenossen. Dabei spielt aber nicht nur, wie oft angenommen, die Schwere der augenscheinlichen Verletzung eine Rolle. Oft ist ein massives Erschrecken wesentlich prägungsbestimmender als eine große Platzwunde. Dies ist auch unbedingt bei der gängigen Aussage „da muss er halt durch!“ zu beachten, da durch diesen, mit Verlaub „Quatsch“ oft der Grundstein für spätere Probleme im Sozialverhalten gelegt wird. Der dritte Punkt, der oft zu Problemen führt, ist eine klassische Fehlkonditionierung. Der fehlerhafte Umgang des Hundebesitzers führt hier zu Konflikten. Ein gängiges Beispiel ist hier der Hundehalter der, während sein Hund freudig Artgenossen begrüßen möchte, unkoordiniert an der Leine zieht und das Zerren noch mit heftigen und hektischen Verbalattacken gegen den Hund untermalt. Die dadurch entstehende negative Stimmung kann das Sozialverhalten des Hundes kontinuierlich und dauerhaft verschlechtern. 8.) Genau erfragt werden sollte auch das Verhalten des Hundes gegenüber verschiedenen Umwelteinflüssen, wie beispielsweise Geräuschen, bewegten und unbewegten Objekten, sowie sein Umgang mit verschiedenen Untergründen. Die hier erfragten Hinweise sind für die nachfolgende Verhaltensanalyse wichtig, da zum Beispiel bei einem Hund mit Geräuschangst dieser Testbereich in der Verhaltensanalyse erst ganz am Ende durchgeführt werden sollte, um den Hund nicht bereits am Anfang zu verunsichern und die weiteren Prüfungselemente zu beeinflussen. Zu erfragen ist des Weiteren auch die Entstehungsgeschichte der beschriebenen Umweltschwäche, soweit diese bekannt ist, als auch der bisherige Umgang mit diesem Problem. 9.) Auch die Ernährung des Tieres kann eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Problemverhalten spielen und sollte in der Anamnese Beachtung finden. Zum einen ist hier auf die Analyse des Futters zu achten, da nachgewiesenermaßen ein zu hoher Proteingehalt oft ursächlich für ein Aggressionsproblem ist, beziehungsweise auf jeden Fall ein bereits bestehendes Aggressionsproblem weiter verschärfen wird. Zum anderen spielt die Zusammensetzung eine Rolle, da bestimmte Aminosäuren, also Eiweißbausteine, Ausgangssubstanzen für die Bildung (erregender) Botenstoffe im Hirnstoffwechsel darstellen. Alleine durch eine Nahrungsumstellung lässt sich oft eine deutliche Entschärfung des aggressiven Verhaltens bewirken. Wichtig ist ferner auch die Fütterungspraxis: gibt es Hektik beim Füttern? Kann der Hund in Ruhe fressen? Wird ausschließlich aus der Hand gefüttert? Denn gerade bei Junghunden und Welpen kann die ausschließliche Handfütterung zu zusätzlichem Stress führen, da die Ressource Nahrung existentiell ist. Ein Teil der Ration sollte also weiterhin aus dem Napf gefüttert werden. 10.) Auslastung, Beschäftigung und Konditionierung: Im Verlauf der Anamnese sollte stets auf das tägliche Beschäftigungskonzept des einzelnen Hundes eingegangen werden. Dazu gehört die physische und geistige Auslastung. Denn eine Vielzahl von Verhaltensproblemen würde erst gar nicht auftreten, wenn die vorgestellten Problemhunde optimal ausgelastet wären. Fehlt eine ausreichende und individuell abgestimmte Auslastung, kanalisieren viele Hunde dieses Manko in alternative Verhaltensweisen, die der Zweibeiner dann als unerwünschtes Verhalten oder schlimmstenfalls als Verhaltensstörung bezeichnet. Ebenso kann ein Zuviel an „Beschäftigungswahn“, wie es übrigens zunehmend praktiziert wird, auch kontraproduktiv sein und den Hund überfordern und ihn nicht zur Ruhe kommen lassen. Nach der Anamnese erfolgt die Verhaltensanalyse - ein absolutes Muss, da die Anamnese nur die subjektive Einschätzung des Besitzers vom Hund und dem dazugehörigen Problem wieder gibt und somit die Diagnose sowie die daraus resultierenden Therapievorschläge deutlich verfälschen kann. In der Verhaltensanalyse wird die Reaktion des Hundes auf alle alltagsrelevanten Einflüsse, sowohl umwelt-, wie auch sozialbezogen, überprüft. Neben unterschiedlichen Geräuschen sind dies sowohl verschiedene Untergründe, als auch verschiedene bewegte und unbewegte Objekte. Außerdem werden soziale Stressoren zugefügt, wie zum Beispiel variierende, motorische und körpersprachliche Signale sowohl bekannter, wie auch unbekannter Personen. Auch das Verhalten gegenüber Artgenossen, sowie das Ressourcenverhalten spielen eine große Rolle in der Verhaltensanalyse. Und nicht zuletzt natürlich das andere Ende der Leine- der Einfluss des Besitzers. Diese verschiedenen Prüfbereiche stellen für den Hund eine halbe Stunde Dauerstress in Form vieler kleiner Nadelstiche dar, und liefern dem geübten Beobachter während der Verhaltensanalyse eine Vielzahl an körper- und lautsprachlichen Signalen, die meist eine eindeutige Stimmung des Hundes wiedergeben. Natürlich müssen die stressenden Situationen jeweils wieder aufgelöst werden! Wie auch sonst im Umgang mit unseren Vierbeinern stellt auch hier die Intuition eine wichtige Grundlage zur Durchführung einer Verhaltensanalyse dar - leider ist diese Intuition nicht erlernbar, sondern eine wertvolle Gabe. Selten wird ein Hund Stressverhalten wie im Lehrbuch zeigen, es ist durchaus möglich, beziehungsweise sogar üblich, dass beispielsweise fünf verschiedene Hunde auf ein und denselben Konfliktherd völlig unterschiedlich reagieren. Woran liegt das? Zum einen an den unterschiedlichen Erfahrungen, die ein Hund in dieser Situation macht, zum anderen an der Manipulation des entsprechenden Besitzers, aber auch an genetisch vorgegebenen Veranlagungen und Verhaltensmustern. Um trotzdem bei allen fünf Hunden auf die Ursache, bzw. den Auslöser des Verhaltens zu kommen, ist eine gewisse Intuition unverzichtbar und kann niemals durch Lehrbuchwissen ersetzt werden. Ein wichtiges Ziel der Verhaltensanalyse ist es, die jeweils aufgezeigten Konfliktlösungsmodelle, und die daraus resultierenden Erregungs- und Hemmungsprozesse zu erfassen. Welches Verhalten dominiert innerhalb der Phase der Erregung und wie schnell zeigt der Hund anschließend wieder Normalverhalten? Zum anderen soll in der Verhaltensanalyse der verhaltensbestimmende Einfluss des Hundebesitzers beurteilt werden. Ein Hund spiegelt Umweltstressoren und soziale Einflüsse im Alltag durch individuelle, zum Teil unerwünschte Verhaltensweisen wider. Der Hund agiert und der Hundebesitzer reagiert, um das Verhalten des Vierbeiners zu beeinflussen. Sind diese Reaktionen angemessen und das Timing stimmt, so wird sich gegebenenfalls das unerwünschte Verhalten des Hundes bessern. Reagiert der Hundebesitzer unangemessen, zu langsam oder falsch, so wird die Situation weiter eskalieren und das Verhalten wird sich dementsprechend weiter verschlechtern. Eine weitere wichtige Erkenntnis der Verhaltensanalyse sollte die sozial-emotionale Struktur des Hundes gegenüber seiner Familie sein. Zu Überprüfen ist dies zum einen durch eine Vereinsamung des Hundes (der Hund wird außerhalb der Sichtweite seiner Besitzer angebunden) und der darauf folgenden Begrüßung durch die einzelnen Familienmitglieder. Wer wird freudiger, ausgelassener, aber vielleicht auch (aus Hundesicht) respektloser/-voller begrüßt? Zum anderen erhält man auch viel Aufschluss, wenn man den Hund mit seinen Besitzern in stressenden und bedrohlichen Situationen beobachtet. Bei wem sucht der Hund Sicherheit? Auch wenn er gerade noch Frauchen wesentlich stürmischer und freudiger begrüßt hat als Herrchen, so kann trotzdem der selbe Hund, zB bei einem beängstigenden Geräusch, verunsichert Körperkontakt zu seinem Herrchen suchen, und das Frauchen meiden, weil das Herrchen mehr Ruhe und Souveränität ausstrahlt, die sich auf den Hund überträgt und ihm Sicherheit gibt. Freut sich also ein Hund im täglichen Umgang über ein bestimmtes Familienmitglied mehr als über ein anderes, so liegt damit nicht automatisch eine höhere soziale Bindung vor, denn eine Bindung besteht immer aus mehreren Kennzeichen: Exklusivität, die Fähigkeit Sicherheit zu geben und die bereits erwähnte Reaktion auf Trennungen vom Bindungspartner. Außerdem sollten zumindest manche Verhaltensweisen überwiegend oder ausschließlich auf den Bindungspartner gerichtet sein. Aus den Ergebnissen der Verhaltensanalyse lässt sich schließlich die individuell anzuwendende therapeutische Strategie ableiten, aber auch die zu erwartende Prognose präziser bestimmen. Nach der Durchführung von Anamnese und Verhaltenstest beginnt jetzt die eigentliche Arbeit mit Hund und Besitzer. Da bis zu diesem Zeitpunkt jedem Sachverhalt ein absolut einzigartiges Beurteilungsergebnis zugrunde liegt, kann das nachfolgende Maßnahmenpaket nie nach einem bestimmten Patentrezept erfolgen - darum sollen in diesem Kapitel auch keine Pauschalempfehlungen erteilt werden. Auf alle Fälle hatten sowohl Rollo als auch seine Besitzer in ihrer fünften und dann auch letzten Anlaufstation das Glück, auf einen Trainer zu treffen, der fern von irgendwelchen Patentrezepten und nach ausführlicher analytischer Vorgehensweise ein individuell zugeschnittenes Trainingskonzept vermitteln konnte. In der Folge war neben den Trainingserfolgen eine zunehmende Erhöhung der Lebensqualität bei allen Beteiligten zu verzeichnen. Nur so und nicht anders ist ein erfolgsorientierter Umgang mit schwierigen Hunden denkbar und möglich.