Tag des Judentums, 17. Jänner 2012 (BV. Dura) Eminenz, Exzellenz, lieber Herr Bischof, geschätzte Brüder und Schwestern, wir haben uns heute in dieser schönen evangelischen Auferstehungskirche versammelt, um gemeinsam Gottesdienst zu feiern am „Tag des Judentums“. Seit dem Jahr 2000 feiern alle Kirchen in Österreich jeweils am 17. Jänner den Tag des Judentums: „ein Besinnungstag für Christen“ (Metropolit Michael Staikos), ein neuer Gedenktag, ein Lehr- und Lerntag für die Kirchen, für alle Getauften. Im Laufe des Kirchenjahres widmen die Christinnen und die Christen dem Judentum einen Tag. Das Datum 17. Jänner für den Tag des Judentums ist bewusst und mit Weisheit gewählt. Den Geist dieses Tages sollen die Kirchen in die anschließende weltweite Gebetswoche für die Einheit der Christen (18. bis 25. Jänner) weiter tragen. Denn bei allen Trennungen der Christenheit untereinander ist allen Kirchen gemeinsam, dass sie im Judentum verwurzelt sind. Ein Christentum ohne Bezugnahme auf seine jüdische Grundlage ist wie „ein Baum ohne Wurzeln“. Vor 25. Jahren hat Johannes Paul II. gesagt: „Wer die jüdischen Wurzeln des Glaubens nicht hochschätzt, kann nicht Christ sein“. Unser Heiland Jesus Christus selber, die heilige Jungfrau Maria und die heiligen Apostel waren Juden, und so sind Christen unlösbar mit dem Judentum verbunden. Jesus Christus, unser Retter ist nicht zu haben ohne den Alten Bund, er ist nicht zu trennen und nicht zu verstehen „ohne die Sendung Israels“. Wer Jesus begegnet und als Christ leben möchte, begegnet dem Judentum. Der hl. Apostel Paulus hat eine Kollekte unter den heidenchristlichen Gemeinden für die Jerusalemer Urgemeinde gesammelt. Er schreibt darüber: „Die Heidenchristen sind ihre [der Jerusalemer Judenchristen] Schuldner. Denn wenn die Heiden an ihren geistlichen Gütern Anteil erhalten haben, so sind sie auch verpflichtet, ihnen mit irdischen Gütern zu dienen“ (Röm 15,27). Das Neue Testament gebiete also uns Christen, den Juden gegenüber eine dankbare, demütige und segnende Haltung einzunehmen. Die Kirche partizipiert durch die „Güte“ Gottes am geistlichen „Fett“ des Edelölbaums Israel. In der Charta Oecumenica (III,10) wird von allen europäischen Kirchen festgestellt: „Eine einzigartige Gemeinschaft verbindet uns mit dem Volk Israel, mit dem Gott einen ewigen Bund geschlossen hat. Im Glauben wissen wir, dass unsere jüdischen Schwestern und Brüder‚ von Gott geliebt sind, und das um der Väter willen. Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt“ (Röm 11,28-29). Sie haben die Sohnschaft, die Herrlichkeit, die Bundesordnungen, ihnen ist das Gesetz gegeben, der Gottesdienst und die Verheißungen, sie haben die Väter, und dem Fleisch nach entstammt ihnen der Christus“ (Röm 9,4-5). Es geht ganz deutlich hier um eine tiefe und innere Verwandtschaft von Juden und Christen. * Unsere heutige Perikope aus dem Lukasevangelium 1,46-55 stellt den Hymnus Magnifikat, das längere Lobpreis der Maria, d.h. die Preisung Gottes durch Maria wegen seiner (zukünftigen) Heilstaten dar. Maria sprach: „Meine Seele preist den Herrn (Μεγαλύνει ἡ ψυχή µου τὸν κύριον = Magnificat anima mea Dominum) und mein Geist jubelt über Gott meinen Retter (Lk 1,46-47). Wenn vom Lob Gottes durch „Seele“ und „Geist“ gesprochen wird, ist damit nicht ein rein intellektueller Preis Gottes gemeint. Vielmehr stehen beide Begriffe – auch je allein – für den ganzen Menschen. Der zweite Teil des Hymnus geht über die individuelle Ebene hinaus und nimmt einen größeren Adressatenkreis in den Blick. Gott nimmt sich Israel, seines Dieners/Kindes (Ἰσραὴλ παιδὸς αὐτοῦ Israel puerum suum) an, er gedenkt seines Erbarmens, wie er gesprochen hat zu unseren Vätern, zu Abraham und seinem Samen auf ewig. Für den Evangelist Lukas sind die Juden die Vertragspartner des Abrahambundes. Dies wird aus Apg 3,25 ersichtlich (Ihr seid die Söhne der Propheten und des Bundes, den Gott mit euren Vätern geschlossen hat, als er zu Abraham sagte: Durch deinen Nachkommen sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen). Aus der gleichen Stelle kann aber auch erschlossen werden, dass dieser Bund über das Judentum hinausweist und alle Menschen einbezieht. Für Evangelist Lukas steht das Christentum in der Tradition des Judentums (Apg 15; 23,6; 25,18f). Die Abrahamsverheißung findet im Christentum ihre Fortsetzung, ohne dass der hl. Evangelist Lukas deshalb expressis verbis von einem „Neuen Bund“ spricht. Im Magnifikat wird Gottes Heilshandeln von Abraham über seinen Nachkommen auf ewig gepriesen. Das heißt, wir sind als Christinnen und Christen auch hier angesprochen, weil wir an Gott glauben und Abraham unser Vater ist, ein Vater des Glaubens. Im Galaterbrief (3,6-9) werden die „Kinder Abrahams“ als diejenigen, die ihr Vertrauen in Jesus Christus setzen, neu definiert – das heißt, das geistliche Israel, statt jenen Menschen, die einfach mit Abraham blutsverwandt sind. „So werden nun die, die aus dem Glauben sind, gesegnet mit dem gläubigen Abraham“ (v.7). *** Die judischen Propheten sind auch unsere christlichen heiligen Propheten. In der orthodoxen christlichen Tradition können wir sehr wichtige Einflüsse aus der jüdischen Praxis sehen und erkennen: - das liturgische Beten der Orthodoxie ist zutiefst vom Alten Testament geprägt. Mit Recht hat der Heilige Athanasios von Alexandrien verlangt, dass jeder aus der Kirche ausgeschlossen werden sollte, der „das Alte Testament vom Neuen Testament trennen möchte“. - das Beten der Psalmen. Es gibt keinen Gottesdienst in der orthodoxen Kirche ohne Psalmen, auch in den privaten Gebeten der Gläubigen benützen wir täglich einige Psalmen (besonders 50, 142). - die Paremien, alttestamentliche Lesungen am Vorabend von allen christlichen Feiertagen. Für die Osternacht sind fünfzehn Lesungen bestimmt. Ihr Inhalt umfasst Lesungen aus dem Ersten / Alten Testament die Schöpfungserzählung, Weissagungen und einige ausgewählte Geschichtsereignisse aus dem Leben des Volkes Israel. - der Sonntag vor den Weihnachten wird als Sonntag der heiligen Vorahnen genannt. Während der göttlichen Liturgie wird die Genealogie Christi mit 42 hebräischen Namen vorgetragen. - die jüdische Gebetsform Beracha. Das Wort „beracha“ leiten sich von der hebräischen Wurzel Bet-Resch-Kaf ab, die „Knie“ bedeutet. Dies bezieht sich auf die Praxis, durch das Beugen der Knie und das sich Verneigen Respekt zu bezeugen. Die jüdische Beracha kann von ihrem Charakter her mit der christlichen Lobpreisung Gottes verglichen werden, verbunden mit der Erinnerung an Gottes barmherzige Taten in der Vergangenheit und zum Ausdruck des Dankes dafür. Die Anamnese im christlichen Gottesdienst wurde mit Jesus verbunden. Die Muster finden wir im Neuen Testament in den Lobgesängen der Mutter Jesu (Lk 1,46-55) und des Priesters Zacharias (Lk 1,67-79). - die jüdischen Segnungen - die Bildtheologie hat einen gewissen Einfluss auf Form und Inhalt mancher Gottesdiensttexte ausgeübt. Das sieht man z.B. im Clemensbrief und in der Didache. Die neuesten archäologischen Entdeckungen zeigen, dass in alten Synagogen in Palästina und in der Diaspora (z.B. in Dura Europos) Fresken auf den Wänden und Mosaike mit Bildern von Persönlichkeiten wie Adam, Abraham, Isaak, Jakob, Mose und Ereignisse aus dem Ersten/ Alten Testament waren. - die Rezitation der biblischen Lesungen - der Beginn des Kirchenjahres am 1. September. *** Mit Dankbarkeit Gott und vielen Menschen gegenüber können wir als orthodoxe Christen die Früchte wahrnehmen und genießen, Früchte, die im Sinne einer Umkehrtheologie zu einem Neuanfang mit Juden und dem Judentum ermutigen. Ich würde nur einige Beweise erwähnen: Der Ökumenische Patriarch, Seine Heiligkeit, Bartholomaios hat in einer Botschaft an die Kommission des Dialogs mit dem Judentum unterstrichen: „Diese gemeinsame geistliche Herkunft von Christen und Juden scheint heute mehr denn je einen günstigen Boden zu bieten, um die Folgen der gegenseitigen Feindschaft abzuschütteln und eine neue Beziehung untereinander aufzubauen, eine echte und authentische Beziehung, die der inneren Bereitschaft entspringt, einander zu verstehen und besser kennen zu lernen ... Heute sind wie nie zuvor alle, die an Gott glauben, ganz besonders aber die Glieder derselben geistlichen Familie, aufgerufen, gemeinsam und im Dialog das reiche Zeugnis ihrer Traditionen darzubringen bei der dringend gebotenen Suche nach Auffindung der tauglichsten Lösungen für die großen und ernsten Probleme, die wir gemeinsam erleben und die aus dem Verfall der moralischen und geistigen Werte im allgemeinen und speziell aus der Verletzung der Würde der menschlichen Person, dieses einzigartigen und unwiederbringlichen Bildes Gottes, entstanden sind.“ Vor einem Monat am 20. Dezember 2011 in Nikosia hat der Primas der orthodoxen Kirche von Zypern, Erzbischof Eminenz Chrysostomos und der israelische Großrabbiner Yona Metzger eine gemeinsame feierliche Erklärung unterzeichnet, in der die Theorie einer jüdischen "Kollektivschuld" am Tod Jesu als absolut illegitim zurückgewiesen wird. Es handelt sich um die erste offizielle Erklärung einer orthodoxen Kirche in diesem Sinn. Der rumänische Patriarch, Seine Seligkeit, Daniel hat für heuer ein Symposion mit der Israelitischen Kultusgemeinde aus Rumänien geplant, mit dem Titel „Diaspora in der jüdischen Tradition und in christlichen Erfahrung“. In diesem Zusammenhang erwähnte er die Notwendigkeit der praktischen Zusammenarbeit die Säkularisierung, Migration, Arbeitslosigkeit und Armut betreffend. Christen und Juden hätten eine gemeinsame Verantwortung für die Entwicklung der Gesellschaft; sie müssten die „gemeinsame Hoffnung auf Gott in einer zunehmend säkularen Gesellschaft“ bezeugen. Der biblische Patriarch Abraham stellt eine zentrale Gestalt sowohl für Christen als auch für Juden, als Stammvater des Volkes Israel und allen Menschen, die an Gott Glauben dar. Er ist ein guter Ausgangspunkt und Sinnbild für den Dialog zwischen Juden und Christen, die gemeinsam wie Abraham unterwegs sind zu Gott. Gütiger Gott! Gib uns mehr und mehr Verständnis dafür, dass unser Glaube an Christus tief im Judentum verwurzelt ist und wir viel von unserer älteren Schwesternreligion lernen können. Du hast dir ein Volk erwählt und ihm verheißen, dass es ein Segen für viele Völker sein wird. Wir danken dir, dass die jüdische Tradition für uns zum wahren Segen und zur echten Bereicherung geworden ist. Amen.