Musik im Kopf - Schott Musikpädagogik

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Thema
Musik
im Kopf
Anleitung zur
Klang imagination
Thomas Meyer und Daniel Ott
Musik wird nicht nur gespielt und gehört,
sie ereignet sich zuweilen auch bloß im Kopf.
Das scheint schon fast zu banal, um eigens
erwähnt zu werden – und wird dementsprechend vernachlässigt; dabei enthält die
Klangimagination ein ungemeines Potenzial.
Wo findet Musik statt? Im Konzert, wo sie von vielen gehört wird. Das ist die verbreitete Vorstellung. Und außerdem auf Tonträger oder im Radio. Sie findet natürlich
auch dort statt, wo jemand für sich alleine spielt oder
singt: „Am Klavier zu singen“ hieß das einst und war ein
stilles und schönes Vergnügen. Aber findet sie nicht
auch im Kopf statt, drinnen, ohne jede äußerliche klangliche Realisierung?
Manche reagieren erstaunt, wenn man ihnen von dieser
Möglichkeit erzählt, um sich dann an das eigene innere
Hören zu erinnern. Da ist zunächst einmal der Ohrwurm,
der sich in den Gehörgängen festsetzt und uns nicht
mehr verlassen will. Bei einigen Menschen kann es sich
dabei um ein ganzes Konzertrepertoire von Ohrwürmern
handeln. Oliver Sacks berichtet in seinem Buch Der einarmige Pianist von Menschen, die ständig und überall
von Musik umgeben sind, die nur sie in ihrem Inneren
hören. Er erzählt aber auch von seinem Vater: „Stets
hatte er zwei oder drei Taschenpartituren bei sich, und
zwischen zwei Patienten zog er oft die eine oder andere
hervor und gönnte sich ein kleines inneres Konzert.“1
Diese stille Partiturlektüre ziehen manche sogar dem
Konzertgenuss vor. Berichtet wird z. B. von jenem Mann,
der sich mit zunehmendem Alter nur noch Barockes, ja
eigentlich nur Bach und da vornehmlich Kantaten, bald
nur noch die geistlichen, schließlich immer weniger, ja
nur noch jene zum Sonntag Misericordias Domini anhörte. Als das mit dem Hörgerät nicht mehr klappte, beschränkte er sich auf die Partitur, las sie und hörte die
Musik in seinem Inneren. Und so ist es ja auch bei Kom-
ponistInnen, die ohne Klavier und ohne Computerprogramme arbeiten und einfach Musik aus dem Kopf heraus aufs Papier setzen.
Man kann das als Nebenaspekt abtun. Und doch scheint
diesem inneren Hören, dieser Klangimagination, eine eigentümliche Kraft und Intensität innezuwohnen. Nochmals Sacks: „Interessanter ist schon ihr Befund [einer
kanadischen Forschungsgruppe], dass auch bei Personen, die nur Musik hören oder sich vorstellen, ohne dem
Rhythmus oder Takt mit erkennbarer Bewegung zu folgen, der motorische Kortex und die subkortialen motorischen Systeme aktiviert werden. Die Vorstellung von
Musik oder Rhythmus kann also neuronal ebenso wirksam sein wie tatsächliches Musikhören.“2
[ Wenn wir Musik hören, komponieren
wir mit. Wir imaginieren laufend,
wie die Musik weitergehen könnte. ]
Von da aus ist es nicht weit zu Klangerlebnissen, die wir
im Schlaf haben. Karlheinz Stockhausen berichtete, er
habe – ähnlich wie einst Giuseppe Tartini seine Teufelstrillersonate – die Melodien des Tierkreises geträumt;3
Mauricio Kagel erzählte – parodistisch – das gleiche von
Match.4 Hector Berlioz wiederum versuchte, ein geträumtes Sinfonie-Allegro wieder zu vergessen, weil er
all die Mühe und Arbeit schon vor sich sah, die diese
Komposition auslösen würde: „Ein Schauder überlief
mich bei diesen Gedanken.“5
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Thema
[ Die Tunnelwand ist mit Natursteinen ausgekleidet.
Betrachte die Oberfläche einzelner Steine.
Wähle einige aus und ertaste die Rauheit, Feuchtigkeit
und Temperatur der Oberflächen. Versuche aus einer
dieser Empfindungen einen passenden Klang zu finden. ]
SPHÄRENMUSIK
Wenn wir Musik hören, komponieren wir mit. Wir imaginieren laufend, wie die Musik weitergehen könnte; darauf beruhen unsere Hörerwartungen und zum Beispiel
auch der Zauber von Wiederholung und Differenz. Hörerwartungen können überhaupt nur enttäuscht oder widerlegt werden, weil wir uns etwas vorstellen.
Es drängen sich uns also von allen Seiten her Klangvorstellungen auf, ohne dass sie im Äußeren irgendeine
reale Entsprechung hätten. Das ist die eine Seite der
Klangimagination. Die andere wirkt eher spekulativ. Es
ist die Vorstellung, dass es eine Musik geben könnte,
die noch viel schöner ist als jene, die wir hören. John
Keats schrieb in seiner Ode on a Grecian Urn (1819):
„Heard melodies are sweet, but those unheard / Are
sweeter; therefore, ye soft pipes, play on; / Not to the
sensual ear, but, more endear’d, / Pipe to the spirit ditties of no tone.“6
Noch älter ist die Vorstellung einer Sphärenharmonie,
einer musica mundana, die sich völlig von der musica
humana und der musica instrumentalis unterscheidet.
Cicero berichtete in „Scipios Traum“: „In stummem
Staunen schaute ich dies [den Kreislauf der Sterne und
Planeten] an, und als ich mich wieder gefasst hatte, rief
ich aus: ‚Was bedeutet dies? Was ist dies für ein Ton, ein
so starker und so süßer, der meine Ohren erfüllt?‘ Er
[der Großvater] antwortete: ‚Das ist der Ton, der, in ungleiche Abstände auseinanderfallend, die aber doch jeder an seinem festgesetzten Teil auf Grund genauer Be-
rechnung gegliedert sind, durch den Antrieb und die Bewegung eben der Kreise hervorgerufen wird und, hohe
mit tiefen Tönen mischend, gleichmäßig mannigfache
Harmonien erzeugt.“7 Wir hören diese Sphärenharmonie, so die antike Vorstellung, bloß nicht mehr, weil wir
vom Lärm der Welt umgeben sind.
Sphärenmusik liegt also jenseits des Vorstellungsvermögens. Stellen wir sie uns vor, so holen wir sie unweigerlich in die Begrenztheit menschlicher Vorstellungskraft herunter. Dennoch: In dieser Vorstellungskraft, in
der Klangimagination, in dieser spekulierten Musik liegt
ein ungemeines Potenzial, liegt auch eine Musik, die jede Realisierbarkeit übersteigt.
Musik im Kopf speist sich einerseits aus der Erinnerung,
aus dem, was wir schon gehört haben. Ist es andererseits aber nicht auch möglich, dass aus dem Knacksen
der neuronalen Windungen, ähnlich wie aus dem Knacksen elektronischer Schaltungen, Klänge entstehen, die
man nur innerlich vernimmt? Der Tinnitus mag so ein
Ton sein, ein Fehler in der Schaltung. Ein realer Ton eigentlich – oder doch nicht? Im Ohr gehen Realität und
Vorstellung, gehen Innen- und Außenwelt auf irritierende Weise ineinander über.
Die Frage ist nun, ob wir mit dem, was uns an klanglicher Erinnerung oder an Knacksern im Kopf begegnet,
kreativ oder zumindest aktiv umgehen können. Können
wir die Jukebox im Kopf, die Zerebral-Spieldose8 steuern, lenken, beeinflussen? Der Bieler Komponist Urs Peter Schneider, der über eine riesige Sammlung von Konzeptstücken verfügt, schreibt in seinem Aufsatz „Musi-
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Thema
kalische Konzepte im Kopf und in der Landschaft“: „Von
einigen schwer einzuordnenden Exemplaren absehend
[…], glaube ich verantworten zu dürfen, den Beginn der
eigentlichen Konzeptuellen Musik am Anfang der sechziger Jahre anzusetzen, mit den Event Scores von
George Brecht und den fünfzehn Compositions von LaMonte Young sowie dessen An Anthology, welche Konzepte, Partituren und theoretische Texte enthält …“9 Und
hier ist auch der Ursprung der Musik im Kopf zu finden.
Die Klangimagination, wie sie behelfsmäßig genannt
werden kann,10 entsprang also mit der Konzeptkunst
dem Geist der 60er Jahre, Fluxus und Happening. Dort
finden sich erste Beispiele unrealisierbarer, vorstellbarer Musik. Nichts heißt zum Beispiel ein Stück Schneiders von 1974: Es handelt sich um eine Anleitung, ein
Duo, das im Programm mit dem Titel angekündigt wird,
eben nicht aufzuführen.
UNHÖRBARES ODER
UNERHÖRTES?
Ist Yoko Onos Konzept Erdstück (man möge auf das Geräusch der Erddrehung horchen) eine späte Umsetzung
der Sphärenharmonie? Hat Konzept IV des Berner Komponisten Peter Streiff (Ausführende an verschiedenen
Orten der Welt spielen zeitgleich) etwas mit Telepathie
zu tun? Was für eine Seelenfallgrube öffnet Herzstück
des australischen Performers Tom Reilly („Schaufle in
deinem Herzen ein Grab und bestatte darin mit Pomp /
in stiller Trauer dein liebstes Musikstück“)? Und was ist
mit Nam June Paiks 5. Symphonie? Die Aufführungsdaten dieses Werks reichen vom ersten Jahr am ersten
Januar um 1 Uhr nachts bis ins Unendliche. Im 365. Jahr
zum Beispiel ist alles zu wiederholen, was bisher
gespielt wurde. Im 5221. Jahr soll man jeden Morgen
abwechselnd eine schwarze oder weiße Klaviertaste
essen. Zum Schluss heißt es: „spiele weiter“.
[ Haben Sie auch schon herausgefunden,
dass Sie äußerlich und innerlich Gehörtes
verknüpfen, real und imaginär Erklingendes
vermischen können? ]
In ähnlicher Weise ließe sich über unmögliche Orchestrationen (wie Erik Saties „céphalophones“), über eine
Musik, die nur für Tiere hörbar ist, über Konzerte mit unanständigen Klängen oder Anweisungen zur Synästhesie nachdenken. Hier öffnet sich ein weites, noch unerforschtes Gebiet. Die Grenzen imaginierter Musik sind
also offen: Sie reichen von poetischen Konzepten über
fantasievolle Späße und philosophische Spekulationen
bis hin zum konzentrierten In-Sich-Hineinhören, das
dem Meditativen nahe ist.
Die Klangimagination wirkt auf MusikerInnen oft simpel,
als geistige Spielerei, die, weil sie ohne den Schweiß
des Übens auskommt, lächerlich erscheint. Gewiss, eini-
ge Konzepte sind eher akustische Bilder, als dass sie mit
musikalischer Arbeit verbunden wären. Andere jedoch
erfordern doch einige geistige Einübung. Ein Beispiel:
Tom Johnson fordert in seinem für das Festival Rümlingen entwickelten Konzeptstück Water Fall in the Fall dazu auf, sich nicht nur den Klang der beiden Wasserfälle
einzuprägen, sodass sie im Gedächtnis jederzeit abrufbar bleiben, sondern auch dazu, diese Erinnerungen von
allen störenden Geräuschen zu säubern.
Ein Besucher des Festivals wollte nun einen Schritt weiter gehen. Er habe etwas ganz Einfaches ausprobiert, erzählte er: Er versuchte, sich zum (gefilterten) Rauschen
des Wasserfalls Stimmen vorzustellen; die Stimmen vertrauter Menschen, ihr Klang, ihr Tonfall, bleiben einem
besonders klar im Gedächtnis haften und klingen selbst
dann noch an, wenn die Personen längst verstorben
sind. So versuchte dieser Besucher, dem Wasserrauschen das Murmeln jener Stimmen als Kontrapunkt hinzuzusetzen, in einem Zwiegespräch zwischen realem
Klang und imaginierten Stimmen. Er sei allerdings daran
fast durchweg gescheitert. Nur in einigen kurzen Momenten habe sich so etwas wie ein gemeinsamer Klang
im Inneren ergeben, der aber etwas Gespenstisches,
Schizophrenes an sich hatte. Möglicherweise ist das Geräusch des Wassers einfach zu durchdringend und permanent, als dass man es innerlich übertönen könnte.
Das Beispiel zeigt, dass auch bei der Klangimagination
– wie bei aller Musik – ein gewisses Maß an Übung und
Versenkung notwendig ist.
DIE SINGENDE SCHNECKE
Im August 1990 fanden im 300-Seelen-Dorf Rümlingen
in der Schweiz zum ersten Mal Konzerte mit aktueller
Musik statt. Bereits die erste Komposition, die dabei erklang bzw. nicht erklang, sondern in den Köpfen der ZuhörerInnen innerlich gehört wurde, hatte mit Klangimagination zu tun. Es handelte sich dabei um die KonzeptKomposition Singende Schnecke (1979) des Schweizer
Komponisten Hans Wüthrich (der Titel spielt auf den
Schneckengang im menschlichen Ohr an): „Haben Sie
auch schon bemerkt, dass Sie mit Ihrem Gehör nicht
bloss empfangend, sondern auch projizierend hören
können? Dass Sie sich innerlich Klänge, Geräusche, Melodien, Akkorde etc. vorstellen können, so intensiv, dass
diese sogar tatsächlich Klingendes übertönen?
Wussten Sie, dass die Flüssigkeit im Schneckengang Ihres Ohres nicht nur durch äussere Reize in Schwingung
versetzt wird, sondern ebenso durch das innerliche Hören, die Imagination von Klängen und Geräuschen? Dass
nicht nur Nervenbahnen zentripetal vom Ohr zum Gehirn führen, sondern auch zentrifugal vom Gehirn zum
Ohr: steuernd und Impulse vermittelnd?
Und haben Sie auch schon herausgefunden, dass Sie
äusserlich und innerlich Gehörtes verknüpfen, real und
imaginär Erklingendes vermischen können? Dass Sie auf
diese Weise aus Gegebenem und selber Vorgestelltem
Ihre eigene Komposition schaffen können: in unaufhalt-
Thema
üben&musizieren 1 12
sam fortschreitender Gegenwart, eingebettet in Gedächtnis und Antizipation?
Um diese Verknüpfung geht es in der ,Singenden Schnecke‘: um den Kontrapunkt von äusserlich Vorgegebenem
und innerlich Projiziertem.“11
Das Konzept von Hans Wüthrich schließt mit 33 Vorschlägen für „verbale Anweisungen“, die das projizierende Hören stimulieren sollen, zum Beispiel:
„Kombiniere das äusserlich Gehörte innerlich mit etwas
Langsamem, Tiefem.“
„Zur akustischen Umgebung innerlich verschieden
rhythmisierte Schläge hören.“
„Versuche, deine eigene Stimme in das Realklingende
hineinzuhören.“
„Bevölkere deine akustische Umgebung mit innerlich
gehörten menschlichen Äusserungen aller Art: verschiedenste Arten Lachen, Wimmern, Schimpfen, Schreien
usw.“
„Ein klangliches Ereignis aus der akustischen Umgebung mit dem inneren Ohr multiplizieren (zu einem
,Schwarm‘ vervielfältigen). Das Resultat mit dem real Erklingenden verflechten.“
„Versetze dich in verschiedene Gemütsstimmungen
(trotzig, heiter, aggressiv usw.). Höre die umgebenden
akustischen Ereignisse entsprechend deiner jeweiligen
Verfassung.“
„Durch das innere Hören von Pausen das akustische
Environment aus- und wieder anschalten.“12
WEITERE KLANGIMAGINATIONEN
Aus zwei spontan veranstalteten Konzerten hat sich in
den vergangenen 20 Jahren das „Festival Rümlingen.
Neue Musik – Theater – Installationen“ entwickelt.13 Das
Thema Klangimagination war in der bewegten Geschichte
dieses kleinen Festivals immer präsent. Seit mindestens
fünf Jahren beschäftigt sich die Festival-Programmgruppe mit der Idee eines „Festivals für Fortgeschrittene“,
das ausschließlich in den Köpfen der Zuschauer/Zuhörer stattfinden sollte, ohne einen einzigen durch das
Festival organisierten Klang. So bestand der Festivaljahrgang 2011 einzig aus der Vernissage und Vorstellung
des Buchs DRINNEN.VOR ORT. 4 Landschaften – 4 Jahreszeiten – 4 Wege: Im Vorfeld des Festivals waren 16 KomponistInnen um ein Konzept einer Klangimagination für
einen spezifischen Ort in der Nähe von Rümlingen während einer bestimmten Jahreszeit gebeten worden. So
entstanden zwischen Juli 2010 und April 2011 jeweils
vier Klangimaginationen für einen Wasserfall, für eine
Bergwiese, für eine Fluh (einen Aussichtsfelsen) und für
einen Tunnel. Im praktischen Teil des Buchs gibt es für
jeden der vier Orte eine Wegbeschreibung mit Wanderkarte. Die 16 Kompositionen können also seit der Veröffentlichung des Buchs und ohne zeitliche Begrenzung
in naher oder ferner Zukunft jederzeit aufgeführt werden: In den Köpfen und mit den inneren Ohren der LeserInnen, die sich zum Besuch eines dieser vier Orte entschließen.
Abb. 1
Cathy van Eck: ich höre da
VIER KOMPOSITIONEN
FÜR EINEN TUNNEL
Einer der vier ausgewählten Hör-Orte ist ein Tunnel, der
in unmittelbarer Nähe von Rümlingen die Bahnlinie
Basel-Sissach-Olten unterquert. Exemplarisch für die
unterschiedliche Herangehensweise der 16 eingeladenen KomponistInnen an das Phänomen der Klangimagination seien hier die vier Konzept-Kompositionen
erwähnt, die speziell für den Rümlinger Tunnel entstanden sind.
Die Texte und Wörter der Konzept-Komposition ich höre
da (Abb. 1), welche die in Zürich wohnende niederländi-
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Abb. 2
Peter Ablinger: passing a tunnel
sche Medienkünstlerin Cathy van Eck für den Tunnel im
Herbst geschrieben hat, werden selbst zu einer visuellen Komposition. Diese „visible music“ bildet gleichzeitig die Hörpartitur für den Klangbesuch im Tunnel und
kann auch als „Höranleitung“ beim Imaginieren von
Klängen gelesen werden.
Auf den Winter im und beim Tunnel bezieht sich HörQuadrat. Hören-Tasten-Erinnern des Komponisten Peter
Streiff. Der Hör-Ort ist ein Hör-Quadrat von ca. 4,2 Meter
Seitenlänge am nördlichen Tunnelende. Innerhalb des
Hör-Quadrats sollen verschiedene Positionen erprobt
werden, von denen aus die von außerhalb ankommenden Klänge gehört werden. In einem zweiten Schritt
wird eine Klangerinnerung, eine Klangsituation aus der
Alltagserfahrung des Hörers innerlich zur real gehörten
Klangsituation hinzugefügt. Und schließlich treten Klänge
zur realen Klangsituation, die sich aus dem Ertasten der
Tunnelwand (der Rauheit, Feuchtigkeit und Temperatur
der Oberflächen) in der Imagination der Hörer bilden: So
verändert und erweitert der Hörer die reale Klanglandschaft und gestaltet diese aktiv mit.14
Der österreichische Komponist Peter Ablinger hat unter
anderem einige Werkzyklen über Rauschen komponiert,
z. B. Weiss/Weisslich (1980-99) oder Instrumente und
Rauschen (1995-2001). Aus seiner Feder stammt das
Frühlings-Konzept passing a tunnel (Abb. 2). Und der
amerikanische Komponist Alvin Curran, der seit Anfang
der 60er Jahre in Rom lebt, steuerte Tunnel July 2010
bei, in welchem die Handlungsaufforderung „enter the
tunnel“ kombiniert wird mit einer konkreten (imaginierten?) Melodie (Abb. 3).
ALLES TRAINING
Abb. 3
Alvin Curran: Tunnel July 2010
Klangimagination kann trainiert werden. Und mit einiger
Übung kann inneres Hören die eigene Wahrnehmung
auf faszinierende Weise bereichern, bis hin zum Erfinden und Komponieren eigener imaginierter und realer
Klangwelten. Alle hier beschriebenen Klangimaginationen können gefahrlos individuell und auch in musikpädagogischen Zusammenhängen erprobt und durchgeführt
werden. Mit einiger Fantasie kann auch die konkrete Hörsituation am Rümlinger Tunnel auf einen Tunnel in der
eigenen Region adaptiert werden. Wer sich für die weiteren zwölf Klangimaginationen und die drei Ortsbeschreibungen für den Wasserfall, die Wiese und die Fluh interessiert, findet diese im bereits genannten Buch DRINNEN.VOR ORT.15 Und wer sich dazu anregen lässt, in naher oder ferner Zukunft die vier realen Hör-Orte zu besuchen, kann sich auf der Website des Festivals Rümlingen
(www.neue-musik-ruemlingen.ch) in einem Web-Blog
mit anderen HörerInnen austauschen über die Erfindung
der Welt mit den eigenen Ohren.
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1 Oliver Sacks: Der einarmige Pianist. Über Musik und das Gehirn,
Reinbek 2008, S. 45 f.
2 ebd. S. 266.
3 Karlheinz Stockhausen: Booklettext zur Aufnahme mit Markus
Stockhausen, Acanta 43201, 1987; Booklettext zur Aufnahme des
Werks mit Spieluhren, Stockhausen-Verlag, Kürten 1992.
4 Dieter Schnebel: Mauricio Kagel. Musik – Theater – Film, Köln 1970,
S. 152.
5 vgl. Sacks, S. 311 f.
6 „Gehörte Melodien sind süß; doch diese ungehörten sind süßer:
darum, ihr sanften Flöten, spielt weiter, nicht dem Sinnen-Ohr, sondern viel zärtlicher, dem Geist blast Lieder ohne Ton“.
7 Marcus Tullius Cicero: „Somnium Scipionis“; in: ders.: Über den
Staat, deutsch von Walther Sontheimer, Stuttgart 1956, S. 143 f.
8 vgl. Samuel Beckett: Traum von mehr oder minder schönen Frauen,
Frankfurt am Main 1998, S. 267. „Schmerzverbissen also unter den
Wällen des Trinity College, vorbei an den smarten Taxis, machte er
sich auf den Weg, wobei er die Zerebral-Spieldose aufzog.“
9 im Programmbuch des Festivals Neue Musik Rümlingen 2011, S. 13 ff.
10 Auch Martin Seel tendiert in diese Richtung, wenn er „das ästhetische Vorstellen von etwas – einem einzelnen Ding oder Ereignis oder
einer Konstellation von Dingen und Ereignissen –“ abkürzend als Imagination bezeichnet (Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt am Main
2003, S. 125).
11 Hans Wüthrich: Singende Schnecke. Ein Konzept (1979). Abdruck
mit freundlicher Genehmigung des Verlags Ricordi, © by G. Ricordi &
Co. München, TME 0602.
12 ebd.
13 Die detaillierte Festivalgeschichte wird nachgezeichnet in Geballte
Gegenwart. Experiment Neue Musik Rümlingen, hg. von Lydia Jeschke,
Lukas Ott und Daniel Ott, Basel 2005.
14 Das ausführliche Konzept steht zum Download auf www.schottmusikpädagogik.de
15 zu beziehen beim Pfau-Verlag Saarbrücken (www.pfau-verlag.de)
oder beim Festival Rümlingen (www.neue-musik-ruemlingen.ch).
Thomas Meyer
ist als Musikwissenschaftler und Musikjournalist tätig
und beschäftigt sich vor allem mit Klaviermusik und
Neuer Musik. Er lebt in der Nähe von Zürich. Seit 2010
ist er Mitglied der Programmgruppe des Festivals
Rümlingen.
Daniel Ott
ist Komponist mit Schwerpunkt Musiktheater sowie
raum- und landschaftsbezogenen Arbeiten. 1990 Aufbau des Festivals Rümlingen, seit 2005 Professor für
Komposition und Experimentelles Musiktheater an
der Universität der Künste Berlin.
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