18 Thema Musik im Kopf Anleitung zur Klang imagination Thomas Meyer und Daniel Ott Musik wird nicht nur gespielt und gehört, sie ereignet sich zuweilen auch bloß im Kopf. Das scheint schon fast zu banal, um eigens erwähnt zu werden – und wird dementsprechend vernachlässigt; dabei enthält die Klangimagination ein ungemeines Potenzial. Wo findet Musik statt? Im Konzert, wo sie von vielen gehört wird. Das ist die verbreitete Vorstellung. Und außerdem auf Tonträger oder im Radio. Sie findet natürlich auch dort statt, wo jemand für sich alleine spielt oder singt: „Am Klavier zu singen“ hieß das einst und war ein stilles und schönes Vergnügen. Aber findet sie nicht auch im Kopf statt, drinnen, ohne jede äußerliche klangliche Realisierung? Manche reagieren erstaunt, wenn man ihnen von dieser Möglichkeit erzählt, um sich dann an das eigene innere Hören zu erinnern. Da ist zunächst einmal der Ohrwurm, der sich in den Gehörgängen festsetzt und uns nicht mehr verlassen will. Bei einigen Menschen kann es sich dabei um ein ganzes Konzertrepertoire von Ohrwürmern handeln. Oliver Sacks berichtet in seinem Buch Der einarmige Pianist von Menschen, die ständig und überall von Musik umgeben sind, die nur sie in ihrem Inneren hören. Er erzählt aber auch von seinem Vater: „Stets hatte er zwei oder drei Taschenpartituren bei sich, und zwischen zwei Patienten zog er oft die eine oder andere hervor und gönnte sich ein kleines inneres Konzert.“1 Diese stille Partiturlektüre ziehen manche sogar dem Konzertgenuss vor. Berichtet wird z. B. von jenem Mann, der sich mit zunehmendem Alter nur noch Barockes, ja eigentlich nur Bach und da vornehmlich Kantaten, bald nur noch die geistlichen, schließlich immer weniger, ja nur noch jene zum Sonntag Misericordias Domini anhörte. Als das mit dem Hörgerät nicht mehr klappte, beschränkte er sich auf die Partitur, las sie und hörte die Musik in seinem Inneren. Und so ist es ja auch bei Kom- ponistInnen, die ohne Klavier und ohne Computerprogramme arbeiten und einfach Musik aus dem Kopf heraus aufs Papier setzen. Man kann das als Nebenaspekt abtun. Und doch scheint diesem inneren Hören, dieser Klangimagination, eine eigentümliche Kraft und Intensität innezuwohnen. Nochmals Sacks: „Interessanter ist schon ihr Befund [einer kanadischen Forschungsgruppe], dass auch bei Personen, die nur Musik hören oder sich vorstellen, ohne dem Rhythmus oder Takt mit erkennbarer Bewegung zu folgen, der motorische Kortex und die subkortialen motorischen Systeme aktiviert werden. Die Vorstellung von Musik oder Rhythmus kann also neuronal ebenso wirksam sein wie tatsächliches Musikhören.“2 [ Wenn wir Musik hören, komponieren wir mit. Wir imaginieren laufend, wie die Musik weitergehen könnte. ] Von da aus ist es nicht weit zu Klangerlebnissen, die wir im Schlaf haben. Karlheinz Stockhausen berichtete, er habe – ähnlich wie einst Giuseppe Tartini seine Teufelstrillersonate – die Melodien des Tierkreises geträumt;3 Mauricio Kagel erzählte – parodistisch – das gleiche von Match.4 Hector Berlioz wiederum versuchte, ein geträumtes Sinfonie-Allegro wieder zu vergessen, weil er all die Mühe und Arbeit schon vor sich sah, die diese Komposition auslösen würde: „Ein Schauder überlief mich bei diesen Gedanken.“5 üben&musizieren 1 12 Thema [ Die Tunnelwand ist mit Natursteinen ausgekleidet. Betrachte die Oberfläche einzelner Steine. Wähle einige aus und ertaste die Rauheit, Feuchtigkeit und Temperatur der Oberflächen. Versuche aus einer dieser Empfindungen einen passenden Klang zu finden. ] SPHÄRENMUSIK Wenn wir Musik hören, komponieren wir mit. Wir imaginieren laufend, wie die Musik weitergehen könnte; darauf beruhen unsere Hörerwartungen und zum Beispiel auch der Zauber von Wiederholung und Differenz. Hörerwartungen können überhaupt nur enttäuscht oder widerlegt werden, weil wir uns etwas vorstellen. Es drängen sich uns also von allen Seiten her Klangvorstellungen auf, ohne dass sie im Äußeren irgendeine reale Entsprechung hätten. Das ist die eine Seite der Klangimagination. Die andere wirkt eher spekulativ. Es ist die Vorstellung, dass es eine Musik geben könnte, die noch viel schöner ist als jene, die wir hören. John Keats schrieb in seiner Ode on a Grecian Urn (1819): „Heard melodies are sweet, but those unheard / Are sweeter; therefore, ye soft pipes, play on; / Not to the sensual ear, but, more endear’d, / Pipe to the spirit ditties of no tone.“6 Noch älter ist die Vorstellung einer Sphärenharmonie, einer musica mundana, die sich völlig von der musica humana und der musica instrumentalis unterscheidet. Cicero berichtete in „Scipios Traum“: „In stummem Staunen schaute ich dies [den Kreislauf der Sterne und Planeten] an, und als ich mich wieder gefasst hatte, rief ich aus: ‚Was bedeutet dies? Was ist dies für ein Ton, ein so starker und so süßer, der meine Ohren erfüllt?‘ Er [der Großvater] antwortete: ‚Das ist der Ton, der, in ungleiche Abstände auseinanderfallend, die aber doch jeder an seinem festgesetzten Teil auf Grund genauer Be- rechnung gegliedert sind, durch den Antrieb und die Bewegung eben der Kreise hervorgerufen wird und, hohe mit tiefen Tönen mischend, gleichmäßig mannigfache Harmonien erzeugt.“7 Wir hören diese Sphärenharmonie, so die antike Vorstellung, bloß nicht mehr, weil wir vom Lärm der Welt umgeben sind. Sphärenmusik liegt also jenseits des Vorstellungsvermögens. Stellen wir sie uns vor, so holen wir sie unweigerlich in die Begrenztheit menschlicher Vorstellungskraft herunter. Dennoch: In dieser Vorstellungskraft, in der Klangimagination, in dieser spekulierten Musik liegt ein ungemeines Potenzial, liegt auch eine Musik, die jede Realisierbarkeit übersteigt. Musik im Kopf speist sich einerseits aus der Erinnerung, aus dem, was wir schon gehört haben. Ist es andererseits aber nicht auch möglich, dass aus dem Knacksen der neuronalen Windungen, ähnlich wie aus dem Knacksen elektronischer Schaltungen, Klänge entstehen, die man nur innerlich vernimmt? Der Tinnitus mag so ein Ton sein, ein Fehler in der Schaltung. Ein realer Ton eigentlich – oder doch nicht? Im Ohr gehen Realität und Vorstellung, gehen Innen- und Außenwelt auf irritierende Weise ineinander über. Die Frage ist nun, ob wir mit dem, was uns an klanglicher Erinnerung oder an Knacksern im Kopf begegnet, kreativ oder zumindest aktiv umgehen können. Können wir die Jukebox im Kopf, die Zerebral-Spieldose8 steuern, lenken, beeinflussen? Der Bieler Komponist Urs Peter Schneider, der über eine riesige Sammlung von Konzeptstücken verfügt, schreibt in seinem Aufsatz „Musi- 19 20 Thema kalische Konzepte im Kopf und in der Landschaft“: „Von einigen schwer einzuordnenden Exemplaren absehend […], glaube ich verantworten zu dürfen, den Beginn der eigentlichen Konzeptuellen Musik am Anfang der sechziger Jahre anzusetzen, mit den Event Scores von George Brecht und den fünfzehn Compositions von LaMonte Young sowie dessen An Anthology, welche Konzepte, Partituren und theoretische Texte enthält …“9 Und hier ist auch der Ursprung der Musik im Kopf zu finden. Die Klangimagination, wie sie behelfsmäßig genannt werden kann,10 entsprang also mit der Konzeptkunst dem Geist der 60er Jahre, Fluxus und Happening. Dort finden sich erste Beispiele unrealisierbarer, vorstellbarer Musik. Nichts heißt zum Beispiel ein Stück Schneiders von 1974: Es handelt sich um eine Anleitung, ein Duo, das im Programm mit dem Titel angekündigt wird, eben nicht aufzuführen. UNHÖRBARES ODER UNERHÖRTES? Ist Yoko Onos Konzept Erdstück (man möge auf das Geräusch der Erddrehung horchen) eine späte Umsetzung der Sphärenharmonie? Hat Konzept IV des Berner Komponisten Peter Streiff (Ausführende an verschiedenen Orten der Welt spielen zeitgleich) etwas mit Telepathie zu tun? Was für eine Seelenfallgrube öffnet Herzstück des australischen Performers Tom Reilly („Schaufle in deinem Herzen ein Grab und bestatte darin mit Pomp / in stiller Trauer dein liebstes Musikstück“)? Und was ist mit Nam June Paiks 5. Symphonie? Die Aufführungsdaten dieses Werks reichen vom ersten Jahr am ersten Januar um 1 Uhr nachts bis ins Unendliche. Im 365. Jahr zum Beispiel ist alles zu wiederholen, was bisher gespielt wurde. Im 5221. Jahr soll man jeden Morgen abwechselnd eine schwarze oder weiße Klaviertaste essen. Zum Schluss heißt es: „spiele weiter“. [ Haben Sie auch schon herausgefunden, dass Sie äußerlich und innerlich Gehörtes verknüpfen, real und imaginär Erklingendes vermischen können? ] In ähnlicher Weise ließe sich über unmögliche Orchestrationen (wie Erik Saties „céphalophones“), über eine Musik, die nur für Tiere hörbar ist, über Konzerte mit unanständigen Klängen oder Anweisungen zur Synästhesie nachdenken. Hier öffnet sich ein weites, noch unerforschtes Gebiet. Die Grenzen imaginierter Musik sind also offen: Sie reichen von poetischen Konzepten über fantasievolle Späße und philosophische Spekulationen bis hin zum konzentrierten In-Sich-Hineinhören, das dem Meditativen nahe ist. Die Klangimagination wirkt auf MusikerInnen oft simpel, als geistige Spielerei, die, weil sie ohne den Schweiß des Übens auskommt, lächerlich erscheint. Gewiss, eini- ge Konzepte sind eher akustische Bilder, als dass sie mit musikalischer Arbeit verbunden wären. Andere jedoch erfordern doch einige geistige Einübung. Ein Beispiel: Tom Johnson fordert in seinem für das Festival Rümlingen entwickelten Konzeptstück Water Fall in the Fall dazu auf, sich nicht nur den Klang der beiden Wasserfälle einzuprägen, sodass sie im Gedächtnis jederzeit abrufbar bleiben, sondern auch dazu, diese Erinnerungen von allen störenden Geräuschen zu säubern. Ein Besucher des Festivals wollte nun einen Schritt weiter gehen. Er habe etwas ganz Einfaches ausprobiert, erzählte er: Er versuchte, sich zum (gefilterten) Rauschen des Wasserfalls Stimmen vorzustellen; die Stimmen vertrauter Menschen, ihr Klang, ihr Tonfall, bleiben einem besonders klar im Gedächtnis haften und klingen selbst dann noch an, wenn die Personen längst verstorben sind. So versuchte dieser Besucher, dem Wasserrauschen das Murmeln jener Stimmen als Kontrapunkt hinzuzusetzen, in einem Zwiegespräch zwischen realem Klang und imaginierten Stimmen. Er sei allerdings daran fast durchweg gescheitert. Nur in einigen kurzen Momenten habe sich so etwas wie ein gemeinsamer Klang im Inneren ergeben, der aber etwas Gespenstisches, Schizophrenes an sich hatte. Möglicherweise ist das Geräusch des Wassers einfach zu durchdringend und permanent, als dass man es innerlich übertönen könnte. Das Beispiel zeigt, dass auch bei der Klangimagination – wie bei aller Musik – ein gewisses Maß an Übung und Versenkung notwendig ist. DIE SINGENDE SCHNECKE Im August 1990 fanden im 300-Seelen-Dorf Rümlingen in der Schweiz zum ersten Mal Konzerte mit aktueller Musik statt. Bereits die erste Komposition, die dabei erklang bzw. nicht erklang, sondern in den Köpfen der ZuhörerInnen innerlich gehört wurde, hatte mit Klangimagination zu tun. Es handelte sich dabei um die KonzeptKomposition Singende Schnecke (1979) des Schweizer Komponisten Hans Wüthrich (der Titel spielt auf den Schneckengang im menschlichen Ohr an): „Haben Sie auch schon bemerkt, dass Sie mit Ihrem Gehör nicht bloss empfangend, sondern auch projizierend hören können? Dass Sie sich innerlich Klänge, Geräusche, Melodien, Akkorde etc. vorstellen können, so intensiv, dass diese sogar tatsächlich Klingendes übertönen? Wussten Sie, dass die Flüssigkeit im Schneckengang Ihres Ohres nicht nur durch äussere Reize in Schwingung versetzt wird, sondern ebenso durch das innerliche Hören, die Imagination von Klängen und Geräuschen? Dass nicht nur Nervenbahnen zentripetal vom Ohr zum Gehirn führen, sondern auch zentrifugal vom Gehirn zum Ohr: steuernd und Impulse vermittelnd? Und haben Sie auch schon herausgefunden, dass Sie äusserlich und innerlich Gehörtes verknüpfen, real und imaginär Erklingendes vermischen können? Dass Sie auf diese Weise aus Gegebenem und selber Vorgestelltem Ihre eigene Komposition schaffen können: in unaufhalt- Thema üben&musizieren 1 12 sam fortschreitender Gegenwart, eingebettet in Gedächtnis und Antizipation? Um diese Verknüpfung geht es in der ,Singenden Schnecke‘: um den Kontrapunkt von äusserlich Vorgegebenem und innerlich Projiziertem.“11 Das Konzept von Hans Wüthrich schließt mit 33 Vorschlägen für „verbale Anweisungen“, die das projizierende Hören stimulieren sollen, zum Beispiel: „Kombiniere das äusserlich Gehörte innerlich mit etwas Langsamem, Tiefem.“ „Zur akustischen Umgebung innerlich verschieden rhythmisierte Schläge hören.“ „Versuche, deine eigene Stimme in das Realklingende hineinzuhören.“ „Bevölkere deine akustische Umgebung mit innerlich gehörten menschlichen Äusserungen aller Art: verschiedenste Arten Lachen, Wimmern, Schimpfen, Schreien usw.“ „Ein klangliches Ereignis aus der akustischen Umgebung mit dem inneren Ohr multiplizieren (zu einem ,Schwarm‘ vervielfältigen). Das Resultat mit dem real Erklingenden verflechten.“ „Versetze dich in verschiedene Gemütsstimmungen (trotzig, heiter, aggressiv usw.). Höre die umgebenden akustischen Ereignisse entsprechend deiner jeweiligen Verfassung.“ „Durch das innere Hören von Pausen das akustische Environment aus- und wieder anschalten.“12 WEITERE KLANGIMAGINATIONEN Aus zwei spontan veranstalteten Konzerten hat sich in den vergangenen 20 Jahren das „Festival Rümlingen. Neue Musik – Theater – Installationen“ entwickelt.13 Das Thema Klangimagination war in der bewegten Geschichte dieses kleinen Festivals immer präsent. Seit mindestens fünf Jahren beschäftigt sich die Festival-Programmgruppe mit der Idee eines „Festivals für Fortgeschrittene“, das ausschließlich in den Köpfen der Zuschauer/Zuhörer stattfinden sollte, ohne einen einzigen durch das Festival organisierten Klang. So bestand der Festivaljahrgang 2011 einzig aus der Vernissage und Vorstellung des Buchs DRINNEN.VOR ORT. 4 Landschaften – 4 Jahreszeiten – 4 Wege: Im Vorfeld des Festivals waren 16 KomponistInnen um ein Konzept einer Klangimagination für einen spezifischen Ort in der Nähe von Rümlingen während einer bestimmten Jahreszeit gebeten worden. So entstanden zwischen Juli 2010 und April 2011 jeweils vier Klangimaginationen für einen Wasserfall, für eine Bergwiese, für eine Fluh (einen Aussichtsfelsen) und für einen Tunnel. Im praktischen Teil des Buchs gibt es für jeden der vier Orte eine Wegbeschreibung mit Wanderkarte. Die 16 Kompositionen können also seit der Veröffentlichung des Buchs und ohne zeitliche Begrenzung in naher oder ferner Zukunft jederzeit aufgeführt werden: In den Köpfen und mit den inneren Ohren der LeserInnen, die sich zum Besuch eines dieser vier Orte entschließen. Abb. 1 Cathy van Eck: ich höre da VIER KOMPOSITIONEN FÜR EINEN TUNNEL Einer der vier ausgewählten Hör-Orte ist ein Tunnel, der in unmittelbarer Nähe von Rümlingen die Bahnlinie Basel-Sissach-Olten unterquert. Exemplarisch für die unterschiedliche Herangehensweise der 16 eingeladenen KomponistInnen an das Phänomen der Klangimagination seien hier die vier Konzept-Kompositionen erwähnt, die speziell für den Rümlinger Tunnel entstanden sind. Die Texte und Wörter der Konzept-Komposition ich höre da (Abb. 1), welche die in Zürich wohnende niederländi- 21 22 Thema Abb. 2 Peter Ablinger: passing a tunnel sche Medienkünstlerin Cathy van Eck für den Tunnel im Herbst geschrieben hat, werden selbst zu einer visuellen Komposition. Diese „visible music“ bildet gleichzeitig die Hörpartitur für den Klangbesuch im Tunnel und kann auch als „Höranleitung“ beim Imaginieren von Klängen gelesen werden. Auf den Winter im und beim Tunnel bezieht sich HörQuadrat. Hören-Tasten-Erinnern des Komponisten Peter Streiff. Der Hör-Ort ist ein Hör-Quadrat von ca. 4,2 Meter Seitenlänge am nördlichen Tunnelende. Innerhalb des Hör-Quadrats sollen verschiedene Positionen erprobt werden, von denen aus die von außerhalb ankommenden Klänge gehört werden. In einem zweiten Schritt wird eine Klangerinnerung, eine Klangsituation aus der Alltagserfahrung des Hörers innerlich zur real gehörten Klangsituation hinzugefügt. Und schließlich treten Klänge zur realen Klangsituation, die sich aus dem Ertasten der Tunnelwand (der Rauheit, Feuchtigkeit und Temperatur der Oberflächen) in der Imagination der Hörer bilden: So verändert und erweitert der Hörer die reale Klanglandschaft und gestaltet diese aktiv mit.14 Der österreichische Komponist Peter Ablinger hat unter anderem einige Werkzyklen über Rauschen komponiert, z. B. Weiss/Weisslich (1980-99) oder Instrumente und Rauschen (1995-2001). Aus seiner Feder stammt das Frühlings-Konzept passing a tunnel (Abb. 2). Und der amerikanische Komponist Alvin Curran, der seit Anfang der 60er Jahre in Rom lebt, steuerte Tunnel July 2010 bei, in welchem die Handlungsaufforderung „enter the tunnel“ kombiniert wird mit einer konkreten (imaginierten?) Melodie (Abb. 3). ALLES TRAINING Abb. 3 Alvin Curran: Tunnel July 2010 Klangimagination kann trainiert werden. Und mit einiger Übung kann inneres Hören die eigene Wahrnehmung auf faszinierende Weise bereichern, bis hin zum Erfinden und Komponieren eigener imaginierter und realer Klangwelten. Alle hier beschriebenen Klangimaginationen können gefahrlos individuell und auch in musikpädagogischen Zusammenhängen erprobt und durchgeführt werden. Mit einiger Fantasie kann auch die konkrete Hörsituation am Rümlinger Tunnel auf einen Tunnel in der eigenen Region adaptiert werden. Wer sich für die weiteren zwölf Klangimaginationen und die drei Ortsbeschreibungen für den Wasserfall, die Wiese und die Fluh interessiert, findet diese im bereits genannten Buch DRINNEN.VOR ORT.15 Und wer sich dazu anregen lässt, in naher oder ferner Zukunft die vier realen Hör-Orte zu besuchen, kann sich auf der Website des Festivals Rümlingen (www.neue-musik-ruemlingen.ch) in einem Web-Blog mit anderen HörerInnen austauschen über die Erfindung der Welt mit den eigenen Ohren. üben&musizieren 1 12 1 Oliver Sacks: Der einarmige Pianist. Über Musik und das Gehirn, Reinbek 2008, S. 45 f. 2 ebd. S. 266. 3 Karlheinz Stockhausen: Booklettext zur Aufnahme mit Markus Stockhausen, Acanta 43201, 1987; Booklettext zur Aufnahme des Werks mit Spieluhren, Stockhausen-Verlag, Kürten 1992. 4 Dieter Schnebel: Mauricio Kagel. Musik – Theater – Film, Köln 1970, S. 152. 5 vgl. Sacks, S. 311 f. 6 „Gehörte Melodien sind süß; doch diese ungehörten sind süßer: darum, ihr sanften Flöten, spielt weiter, nicht dem Sinnen-Ohr, sondern viel zärtlicher, dem Geist blast Lieder ohne Ton“. 7 Marcus Tullius Cicero: „Somnium Scipionis“; in: ders.: Über den Staat, deutsch von Walther Sontheimer, Stuttgart 1956, S. 143 f. 8 vgl. Samuel Beckett: Traum von mehr oder minder schönen Frauen, Frankfurt am Main 1998, S. 267. „Schmerzverbissen also unter den Wällen des Trinity College, vorbei an den smarten Taxis, machte er sich auf den Weg, wobei er die Zerebral-Spieldose aufzog.“ 9 im Programmbuch des Festivals Neue Musik Rümlingen 2011, S. 13 ff. 10 Auch Martin Seel tendiert in diese Richtung, wenn er „das ästhetische Vorstellen von etwas – einem einzelnen Ding oder Ereignis oder einer Konstellation von Dingen und Ereignissen –“ abkürzend als Imagination bezeichnet (Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt am Main 2003, S. 125). 11 Hans Wüthrich: Singende Schnecke. Ein Konzept (1979). Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags Ricordi, © by G. Ricordi & Co. München, TME 0602. 12 ebd. 13 Die detaillierte Festivalgeschichte wird nachgezeichnet in Geballte Gegenwart. Experiment Neue Musik Rümlingen, hg. von Lydia Jeschke, Lukas Ott und Daniel Ott, Basel 2005. 14 Das ausführliche Konzept steht zum Download auf www.schottmusikpädagogik.de 15 zu beziehen beim Pfau-Verlag Saarbrücken (www.pfau-verlag.de) oder beim Festival Rümlingen (www.neue-musik-ruemlingen.ch). Thomas Meyer ist als Musikwissenschaftler und Musikjournalist tätig und beschäftigt sich vor allem mit Klaviermusik und Neuer Musik. Er lebt in der Nähe von Zürich. Seit 2010 ist er Mitglied der Programmgruppe des Festivals Rümlingen. Daniel Ott ist Komponist mit Schwerpunkt Musiktheater sowie raum- und landschaftsbezogenen Arbeiten. 1990 Aufbau des Festivals Rümlingen, seit 2005 Professor für Komposition und Experimentelles Musiktheater an der Universität der Künste Berlin. Thema 23