XI. Strukturale Erzählanalyse - Literaturwissenschaft Online

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Einführung in die Literaturwissenschaft
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XI. Strukturale Erzählanalyse
XI. Strukturale Erzählanalyse
0. Vorbemerkungen
Der Strukturalismus ist ein internationales und interdisziplinäres Phänomen (berührt die
Sozialwissenschaften, die Psychologie, Ethnologie etc.). Er hat seine Wurzeln vor allem a) im
Programm einer strukturalen Linguistik von Ferdinand de Saussure (1916) sowie b) im
russischen Formalismus (vgl. die Vorlesung von Annelore Engel vom 11.06.2002).
Aus den regionalen Ansätzen entwickelten sich vor allem drei lokale Strukturalismen:
1. der tschechische Strukturalismus (u.a. Mukařovský)
2. der französische Strukturalismus (u.a. Lévi-Strauss, Barthes, Foucault, Genette)
3. der sowjetische Strukturalismus (u.a. Lotman)
In Deutschland wurde der Strukturalismus seit den späten 60er Jahren (im Zuge der
Studentenrevolte) rezipiert.
1. Definition ›Strukturalismus‹
Konstitutive Bausteine:
Eine strukturale Methode versucht, die Gegenstände der nicht-naturwissenschaftlichen
Bereiche als Systeme zu beschreiben und zu interpretieren, die in komplexen Relationen zu
ihren – wiederum als System beschreibbaren – Umwelten stehen.
Als System können in der Literaturwissenschaft aufgefasst werden:
• jeder einzelne literarische Text (ein Gedicht, ein Drama, eine Erzählung etc.)
• einzelne Texttypen bzw. Gattungen (z.B. definiert sich das barocke Trauerspiel durch eine
Menge an Regeln, etwa zum Personal und zur Stilebene)
• die Gesamtmenge der Gattungen (Gattungssystem)
• eine historische Epoche (= Literatursystem eines bestimmten Zeitraums als Abstraktion
von der Gesamtmenge der Texte einer Epoche)
Als System beschreibbar ist folglich jede relativ autonome und abgeschlossene, methodisch
isolierbare Entität.
Ein System besteht aus a) einer Menge von Elementen (als kleinste Einheiten) und b) den
Relationen zwischen den Elementen.
Die Struktur eines Systems bezeichnet die Gesamtmenge der Relationen zwischen den
Elementen.
Anmerkungen:
1. ›Element‹, ›Relation‹, ›Struktur‹ und ›System‹ sind relationale Begriffe. Wie sie gefüllt
sind, hängt von der jeweiligen Fragestellung ab. Untersucht man beispielsweise Figuren
und ihre Psychologie in einem Erzähltext, so bildet die Figur ein System, während die
Elemente die Merkmale dieser Figur bezeichnen; untersucht man hingegen etwa die
sozialen Strukturen in diesem Erzähltext, so sind die Figuren die Elemente dieses
Systems.
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2. Der Begriff der ›Struktur‹ ist nicht zu verwechseln mit dem des ›Aufbaus‹ oder der
›Form‹ eines Textes. Er ist abstrakter und umfassender. Zum Beispiel haben Texte
Strukturen auf der formalen wie inhaltlichen Ebene.
2. Strukturalismus in der Literaturwissenschaft
Wichtig für den literaturwissenschaftlichen Strukturalismus ist die Auffassung eines Textes
(und zwar sowohl eines literarischen als auch eines nicht-literarischen Textes) als
zeichenhafte Äußerung. Die Semiotik (= Theorie von Zeichen im Allgemeinen und von
Kommunikation mittels Zeichen) ist also ein integraler Bestandteil des Strukturalismus
(insbesondere bei de Saussure und Titzmann).
Literatur kann als spezielles Zeichensystem verstanden werden. Jurij M. Lotman bezeichnet
Literatur als »sekundäres modellbildendes System«.
›Sekundär‹ bedeutet, dass Literatur auf der Basis von und mit Hilfe von sprachlichen Zeichen
ein neues semiotisches System aufbaut, in dem die Bedeutungen der normalsprachlichen
Zeichen für neue Bedeutungen funktionalisiert werden können.
›Modellbildend‹ meint, dass literarische Texte nicht einfach nur einen beliebigen
individuellen Sachverhalt darstellen, sondern dass diese Darstellung zugleich eine
Verallgemeinerungsfähigkeit beansprucht: Der Text konstruiert das Modell einer Welt. Zum
Beispiel gestalten barocke Märtyrerdramen nicht nur den heroischen Untergang eines
christlichen Individuums, sondern ein Modell für das exemplarische Verhalten eines Christen
in der Welt.
Innerhalb des literaturwissenschaftlichen Strukturalismus unterscheidet man eine Vielzahl
von Ansätzen, unter anderem:
1. die strukturale Textanalyse (Titzmann)
2. die strukturale Erzähltheorie (Lotman)
3. die strukturale Literaturgeschichtsschreibung
2.1 Strukturale Textanalyse
Die strukturale Textanalyse geht davon aus, dass es keine literaturspezifischen Probleme der
Textanalyse gibt, dass also die methodischen Probleme bei Dichtung und Sachtexten gleich
sind. Sie kann folglich auf alle Fächer angewandt werden, die es mit sprachlichen
Äußerungen zu tun haben.
Die Aufgabe der strukturalen Textanalyse besteht in der Rekonstruktion der Bedeutung
eines Textes. Dabei geht es nicht darum zu rekonstruieren, was der Autor oder der Rezipient
gedacht haben mag, sondern was der Text bedeutet. Es geht um intersubjektiv nachweisbare
Bedeutungen.
Prämissen der strukturalen Textanalyse:
a) eine Beschreibungssprache (= eine Menge von intersubjektiv verstehbaren – definierten –
Begriffen)
b) die Kenntnis des jeweiligen historischen Stands der natürlichen Sprache, dessen sich
der Text bedient
c) die Kenntnis des kulturellen Wissens, dessen sich der Text bedient oder von dem er
gegebenenfalls abweicht (= was die Zeitgenossen des Textes sich im Prinzip denken konnten)
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Kulturelles Wissen (kW) bezeichnet die Gesamtmenge der Annahmen über die Realität in
der Kultur eines bestimmten Zeitraums (reicht vom Alltagswissen bis zum Wissen der
Theologie, Philosophie, Naturwissenschaften etc., beinhaltet ferner Normen, Geschlechterrollen, Auffassungen über metaphysische Instanzen etc.).
Eine wissenschaftliche Interpretation im Sinne der strukturalen Textanalyse läuft also auf eine
Rekonstruktion der Bedeutung hinaus, die der Text für einen optimal kompetenten
Zeitgenossen hat. Die Bedeutung ist dann die Gesamtmenge der Folgerungen, die sich aus
der sprachlichen Struktur des Textes unter Zuhilfenahme von kulturellem Wissen ableiten
lassen.
2.2 Strukturale Erzähltheorie
Die französische strukturale Erzähltheorie unterscheidet bei Texten mit einer narrativen
Struktur zwei Ebenen:
1. die histoire: das ›Was‹ des Erzählens; die erzählte Geschichte, d.h. die vom Text
abstrahierbare Menge von Ereignissen in ihrer rekonstruierten logisch-chronologischen
Ordnung
2. den discours: das ›Wie‹ des Erzählens; die Formen der Präsentation, mittels derer eine
Geschichte dargeboten wird (z.B. unter Berücksichtigung der Reihenfolge, der
Erzählperspektive)
Die traditionelle Erzähltheorie (Stanzel, Lämmert u.a.; in der modernen Fortsetzung: Genette)
beschäftigt sich mit Elementen des discours. Die meisten Ansätze der strukturalen
Erzähltheorie befassen sich aber mit Strukturen der histoire. Die Untersuchung narrativer
Strukturen ist dabei gattungsunabhängig, da sich narrative Strukturen auch außerhalb von
Erzähltexten, etwa in journalistischen Texten, im Film oder Fernsehen, in der Werbung etc.,
finden.
Die Grenzüberschreitungstheorie nach Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte
(8. Kapitel)
Zur Bestimmung dessen, was eine narrative Struktur sein könnte, welche Bedingungen also
erfüllt sein müssen, damit man sagen kann, ein Text erzähle eine Geschichte (oder: eine
Geschichte sei abstrahierbar vom Text), gibt es verschiedene Ansätze.
Lotman etwa geht davon aus, dass alle Kulturen räumliche Kategorien immer auch
metaphorisch für nicht-räumliche Sachverhalte verwenden, vgl. etwa die Bezeichnungen
›rechts‹/›links‹ für politische Gruppierungen oder die Kategorien ›Überich‹, ›Ich‹,
›Unterbewusstsein‹ bei Freud.
Lotman nimmt ferner an, dass räumliche Strukturen gern semantisiert werden, d.h. dass
räumlichen (= topografischen) Ordnungen zusätzliche, nicht-räumliche Merkmale
zugeschrieben werden.
Nach Lotman liegt eine narrative Struktur genau dann vor, wenn der (verbale oder nonverbale) Text (mindestens) ein ›Ereignis‹ mitteilt. Ein Ereignis liegt seinerseits genau dann
vor, wenn eine Figur über die Grenze zwischen zwei semantischen Räumen versetzt
wird; diese Grenzüberschreitung kann die Figur willentlich und aktiv oder unwillentlich
und passiv vornehmen (z.B. Leben Æ Tod: willentlich: Selbstmord; unwillentlich:
Ermordung).
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Der Begriff des semantischen Raums umfasst bei Lotman verschiedene Sachverhalte, die
hier differenziert werden:
a) Innerhalb der dargestellten Welt der Äußerung können verschiedene Teilräume – z.B.
Stadt vs. Land – koexistieren; sofern nichts Weiteres hinzukommt, handelt es sich nur um
die topografische Ordnung der dargestellten Welt.
b) Eine solche topografische Ordnung kann durch die Zuordnung nicht-räumlicher Merkmale
an Räume semantisiert werden (semantisierter Raum), was eine erste Variante
semantischer Räume (sR) darstellt, z.B. – siehe das Schema unten –, indem den zwei oder
mehr Räumen Bewohner mit oppositionellen Merkmalen zugeordnet werden.
c) Denken wir uns nun eine solche Menge von Merkmalen, wie sie in b) zur Semantisierung
topografischer Räume verwendet worden ist, als gegeben, aber nicht an einen
topografischen Raum gebunden, so ergäben sich abstrakte semantische Räume, bei
denen der Raumbegriff nurmehr im mathematisch-topologischen Sinne verwendet ist.
Beispiel:
Topografische Räume
vs.
vs.
Semantische Räume
Semantisierte Räume
sR1
sR2
Abstrakte semantische Räume
sR1
sR2
Stadt
Land
Stadt
Land
---
---
---
---
Bürger
reich
krank
lasterhaft
Bauern
arm
gesund
tugendhaft
Bürger
reich
krank
lasterhaft
Bauern
arm
gesund
tugendhaft
Im Falle bloß topografischer Räume sind mit diesen keine weiteren Merkmale verbunden, im
Falle semantisierter Räume fällt die räumliche Ordnung mit einer nicht-räumlichen
zusammen, im Falle abstrakter semantischer Räume ist die semantische Ordnung primär, die
räumliche Ordnung kann fehlen.
Definition ›semantischer Raum‹:
= Menge zusammen auftretender und untereinander korrelierter, für den Text relevanter,
semantischer Größen, die bezüglich mindestens eines Merkmals in Opposition zu
(mindestens) einer zweiten solchen Menge stehen (im obigen Beispiel sind sR1 und sR2 in
allen Merkmalen oppositionell).
Normale und Meta-Ereignisse:
Lotman unterscheidet zwischen zwei Klassen von Ereignissen: Bei normalen Ereignissen
überschreitet eine Figur die Grenze zwischen zwei semantischen Räumen; die Ordnung der
dargestellten Welt bleibt aber insofern unangetastet, als vor wie nach dem Ereignis dieselben
semantischen Räume existieren.
Metaereignisse sind Ereignisse, bei denen durch das Ereignis nicht nur eine Figur in einen
anderen semantischen Raum übergeht, sondern das System der semantischen Räume, d.h. die
ideologische Ordnung der dargestellten Welt, transformiert wird.
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Ein Ereignis kann je nach Kontext ›normales‹ und ›Metaereignis‹ sein. Im Barockdrama etwa
ist ein politischer Umsturz kein Metaereignis, da lediglich ein Herrscher ausgetauscht wird,
die Struktur des Systems aber konstant bleibt. Im expressionistischen Drama hingegen wird
nicht nur ein Zustandswechsel des Helden, sondern die Substitution einer alten Weltstruktur
durch eine neue angestrebt.
In längeren Texten gibt es meist nicht nur ein Ereignis, sondern mehrere Ereignisse, die in
einer Ereignishierarchie stehen. Dabei gelten folgende Grundsätze:
1.
2.
3.
4.
Ein Ereignis, bei dem eine irreversible Grenzüberschreitung stattfindet, ist
höherrangig als ein Ereignis, bei dem die Grenzüberschreitung rückgängig gemacht
werden kann (Beispiel: die Grenzüberschreitung Leben Æ Tod im Vergleich zum
Diebstahl eines Gegenstands, der zurückgelegt wird).
Ein Ereignis, bei dem eine als unmöglich erachtete Grenzüberschreitung
stattfindet, ist höherrangig als ein Ereignis, bei dem eine mögliche
Grenzüberschreitung stattfindet (Beispiel: die Grenzüberschreitung Tod Æ Leben
(z.B. im Wiedergänger-Motiv) im Vergleich zur Grenzüberschreitung Leben Æ Tod).
Das als unwahrscheinlicher geltende Ereignis ist höherrangig als das
wahrscheinlichere (Beispiel: Inzest im Vergleich zu Diebstahl; wichtig: abhängig vom
kulturellen Wissen).
Das Ereignis, das eine hochrangige Norm verletzt, ist höherrangig als ein Ereignis,
das eine niederrangige Norm verletzt (wichtig: abhängig vom Text und vom
kulturellen Kontext; Beispiel: bei Erasmus von Rotterdam im frühen 16. Jahrhundert
rangiert der Ehebruch noch vor Mord und Diebstahl, heute gilt er als niederrangig).
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3. Literaturverzeichnis
Barthes, Roland: Introduction à l’analyse structurale des récits. In: Communications 8 (1966),
S. 1-27.
Bremond, Claude: Die Erzählnachricht. In: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und
Linguistik. Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft, II. Frankfurt/M.
1972, S. 177-217 [Le Message narratif. In: Communications 4 (1964), S. 4-32].
Bremond, Claude: Logique du récit. Paris 1973.
Genette, Gérard: Die Erzählung. München 21998 [Figures III. Paris 1972].
Greimas, Algirdas Julien: Elemente einer narrativen Grammatik. In: Strukturalismus in der
Literaturwissenschaft. Herausgegeben von Heinz Blumensath. Köln 1972, S. 47-67.
Grimm, Petra: Filmnarratologie. Eine Einführung in die Praxis der Interpretation am Beispiel
des Werbespots. München 1996 (Diskurs Film: Bibliothek; 10).
Lévi-Strauss, Claude: vgl. ausführliche Angaben in Titzmann [1980].
Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. München 41993 [1972] [insbesondere
Kapitel 8].
Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München 32002.
Prince, Gerald: A grammar of stories: an introduction. The Hague 1973.
Propp, Vladimir: Morphologie des Märchens. Herausgegeben von Karl Eimermacher.
Frankfurt/M. 21982 [1975] (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 131) [Sammelband, der
nicht nur Propps grundlegenden Beitrag von 1928 enthält, sondern auch die wichtigsten
späteren Rezensionen im Rahmen des französischen Strukturalismus].
Renner, Karl N.: Der Findling. Eine Erzählung von Heinrich von Kleist und ein Film von
George Moorse. Prinzipien einer adäquaten Wiedergabe narrativer Strukturen. München
1983 [Teil I und II].
Titzmann, Michael: Semiotik der Literaturwissenschaft. In: Handbuch der Semiotik. Bd. 3.
Herausgegeben von Roland Posner. Berlin – New York 2002 [im Erscheinen].
Todorov, Tzvetan: Poetik der Prosa. Frankfurt/M. 1972.
Todorov, Tzvetan: Die Kategorien der literarischen Erzählung. In: Strukturalismus in der
Literaturwissenschaft. Herausgegeben von Heinz Blumensath. Köln 1972, S. 263-294.
Einen Überblick zum Stand und den Ansätzen in der strukturalen Erzähltheorie sowie
reichhaltige Literaturangaben findet man bei Michael Titzmann: Struktur, Strukturalismus. In:
Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Begründet von Paul Merker und Wolfgang
Stammler. Herausgegeben von Klaus Kanzog und Achim Masser. Bd. 4: Sl-Z. Berlin – New
York 21984, S. 256-278.
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Angaben zur herkömmlichen Erzähltheorie:
Lämmert, Eberhard: Bauformen des Erzählens. Stuttgart 81993 [1955].
Stanzel, Franz K.: Typische Formen des Romans. Göttingen
Vandenhoeck-Reihe; 1187).
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1993 [1964] (Kleine
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