ADHS in der Adoleszenz und im Erwachsenenalter Besondere diagnostische und therapeutische Herausforderungen am Übergang von der Adoleszenz ins Erwachsenenalter Prof. Dr. rer. nat. Rolf-Dieter Stieglitz Universitäre Psychiatrische Kliniken (UPK) Fakultät für Psychologie Basel, 31.10.2013 Gliederung des Vortrages • • • • • Einführung Prävalenz und Verlauf Diagnostik Therapie Fazit Gliederung des Vortrages • • • • • Einführung Prävalenz und Verlauf Diagnostik Therapie Fazit Relevanz des Themas • Lebenszeiterkrankung • kritische Phase Übergang in das Erwachsenenalter • Kooperation u.a. Pädiater, Kinder- und Jugendpsychiater und Erwachsenenpsychiater ADHS: Entwicklung der Störung Hyperaktivität Impulsivität Unaufmerksamkeit Zeit Entwicklungsphasen: Einteilung Lebensjahre 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 ... 65 >65 Kleinkind, Vorschulalter Spezielle Unterteilung der Adoleszenz: Schulkind Pubertät und Jugendalter Frühe Mittlere Erwachsenenalter Späte Alter Auswirkungen der Entwicklung auf ADHS Unaufmerksamkeit Stahl (2008) Impulsivität Hyperaktivität Komorbidität Vorschulalter Schulalter Verhaltensstörungen Verhaltensstörungen (Unruhe) (Unruhe) Schulische Probleme Schwierigkeiten mit sozialer Interaktion Selbstwertprobleme Jugend Schulische Probleme Schwierigkeiten mit sozialer Interaktion Selbstwertprobleme Rechtsbelange, Rauchen und Verletzungen Junges Erwachsenenalter Probleme Ausbildung/ Erfolglosigkeit Erwachsenenalter berufliches Versagen/ Erfolglosigkeit Berufliche Schwierigkeiten Selbstwertprobleme Selbstwertprobleme Beziehungsprobleme Substanzmissbrauch Verletzungen/Unfälle Verletzungen/Unfälle Substanzmissbrauch …. nochmals die Relevanz • sog. NICE-Guidelines (National Institute for Health and Clinical Excellence) • noch im Jahre 2000 – Behandlung mit MPH sollte in der Regel in der Adoleszenz enden!!! Gliederung des Vortrages • • • • • Einführung Prävalenz und Verlauf Diagnostik Therapie Fazit Prävalenz • Asherson et al. (2012) – – – – weltweite Prävalenz 2.3 - 4.5% in USA < 1/3 diagnostiziert in meisten europäischen Ländern noch weniger mögliche Gründe • bereits in Kindheit nicht diagnostiziert (Risiken: u.a. Substanzabhängigkeit) • Symptome bleiben mehr auf der subjektiven Ebene (z.B. Ungeduld, Schlafstörungen) • Problem Kriterium «Beeinträchtigung» – hohes Funktionsniveau (u.a. Schulabschluss) – Beeinträchtigungen werden erst später sichtbar bei komplexer werdenden Aufgaben und Anforderungen Prävalenz und Geschlecht • Merikangas et al. (2011) – National Comorbidity Study – Adolescence – N = 10’123, Alter: 13-18 Jahre USA – ADHS – Diagnosen • 8.7% W 4.2% M 13.0% Alter 13 – 14 J 8.8% 15 - 16 J 8.6% 17 - 18 J 9.0% Prävalenz und Geschlecht • Ramtekkar et al. (2010): ca. 10’000 im Alter 7 – 29 Jahre – Prävalenz 9.2% Verlauf: Lebenszeiterkrankung • Sibley et al. (2012): Lebenszeiterkrankung – wichtige Periode Übergang Kindheit – Erwachsenenalter • Fortbestehen von Problemen aus Kindheit, sowie • verstärkt neue – – – – – – – Soziale Beziehungen Schule, Ausbildung (Lehre, Studium) Familie Gefahr Substanzprobleme Strassenverkehr Gefahr Delinquenz usw. – generell: • Abnahme Symptomschwere, • jedoch bei 70% Störung noch in Adoleszenz, d.h. Annahme «wächst sich aus» ist falsch!!! Verlauf: Lebenszeiterkrankung • Sibley et al. (2012) – Fragestellung: Diagnose ADHS bei jungen Erwachsenen, die bereits in der Kindheit diagnostiziert wurden – Stichprobe • N = 200 (M = 20.20 Jahre) versus 121 gesunde Kontrollen (M = 19.77 Jahre) – Ergebnisse, u.a. • 75% ADHS-Symptomatik (= subsyndromal) bzw. 60% klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen • jedoch nur 20% erfüllen DSM-IV Kriterien Verlauf: Lebenszeiterkrankung • Biederman et al. (2012) – «case-controlled, 16 year (15 – 19 years) prospective follow up study» – 140 Jungen mit ADHS vs 120 Jungen ohne ADHS – nach 16 Jahren Unterschiede u.a. • psychiatrische Diagnosen (u.a. affektive Störungen, Angststörungen) • grössere Beeinträchtigungen in psychosozialen Variablen, Ausbildung und neuropsychologischen Variablen – Fazit • frühe Erkrankung • frühe Interventionen notwendig Verlauf: Outcome • Shaw et al. (2012) – Analyse des Outcomes aus 351 Studien (1980 – 2010) – Trends • ohne Behandlung haben Pateinten mit ADHS in allen untersuchten Bereichen schlechteres Outcome • Behandlung verbessert das Outcome von behandelten im Vergleich zu unbehandelten Patienten (jedoch wird «Normalniveau» nicht erreicht) Folgen der ADHS Verlorene Arbeitsproduktivität -geringeres Einkommen -höhere Arbeitslosenrate -weniger Beförderungen -häufigere Entlassungen ADHS Kernsymptome: -Unaufmerksamkeit -Impulsivität -Hyperaktivität/ Ruhelosigkeit Defizite in: -Konzentration -Persistenz bei Aufgaben -Aktivitätskontrolle -Ablenkungsvermeidung -Impulsivem Entscheidungsverhalten -Reaktionszeit -Exekutive Funktionen -Emotionsregulation Psychosoziale Beeinträchtigungen: -geringerer Selbstwert -emotionale und interpersonelle Schwierigkeiten -Ehe/Beziehungsprobleme -ADHS Kinder/Eltern Probleme -geringere Selbstständigkeit -mehr Suizidversuche -mehr Substanzmissbrauchsstörungen -verlorene Arbeitstage -mehr Arbeitsplatzunfälle/ -verletzungen Adaptiert nach Asherson et al. (2012) Risikofaktor für andere psychische Störungen Geringere Fahrfähigkeit Kriminalität Gesellschaftliche Kosten höhere Rate an Verkehrsunfällen höhere Rate an Festnahmen/In haftierungen Gliederung des Vortrages • • • • • Einführung Prävalenz und Verlauf Diagnostik Therapie Fazit Diagnostik im Zeitverlauf Beginn: 7 Jahre Grosse Dunkelziffer ca. 90% vorher nie abgeklärt! Zeitachse Diagnosezeitpunkt Kindheit Probleme Selbstbericht Jugend Adoleszenz Selbstbericht/ v.a. Bagatellisierung Selbstreflektion Erwachsenenalter v.a. Retrospektion jede Phase jeweils mit mehr oder weniger grossen wie unterschiedlichen Problemen behaftet (z.T. kumulierend)!!!!! Diagnostik in Adoleszenz • Sibley et al. (2012a,b): Diagnostik in Adoleszenz – Probleme • unzureichende Informationen (basierend auf Angaben des Patienten) • inadäquate Schwelle Störung, für Adol. nicht adäquat • Erfassung der Symptome in der Kindheit bzw. der resultierenden Beeinträchtigungen durch Patient wie Eltern – Diagnostische Guidelines notwendig, u.a. • mehrere Datenquellen • niedrigere Schwelle und stärkere Fokussierung auf die Beeinträchtigungen • Ergänzung der retrospektiven Angaben um objektive Angaben (z.B. Zeugnisse) Diagnostik in Adoleszenz • Sibley et al. (2012) – Datenquellen • Elternberichte sensitiver als Selbstberichte • junge Erwachsene mit ADHS Tendenz zu «underreporting» versus junge Erwachsene ohne ADHS «overreporting» • keine signifikante Verbesserung, wenn Elternberichte um Selbstberichte ergänzt werden • Vergleich mit anderen, erwachsenenspezifischen Kriteriensets (u.a. Barkley, Faraone, Kessler): keine bedeutsamen Verbesserungen in der Diagnostik Diagnostik in Adoleszenz • Sibley et al. (2012 – Spezielle Guidelines für Adoleszente notwendig • Kombination Berichte Eltern und Lehrer • geringere diagnostische Schwelle und stärkere Berücksichtigung von Beeinträchtigungen • retrospektive Einschätzungen der Eltern und falls vorhanden objektive Daten (z.B. Schulberichte) – spezifische diagnostische Kriterien für Adoleszente bzw. bessere sprachliche Adaptation der Kriterien Weitere Probleme im diagnostischen Prozess der ADHS: speziell junge Erwachsene • mangelnde Motivation (z.B. Patient wird durch Eltern, Lehrherren geschickt = fremdmotiviert) • mangelnde Introspektionsfähigkeit (z.B. Patient kann nur unzureichend Probleme beschreiben) • Probleme bei der Erinnerung an Kindheit (z.B. Patient hat nur vage oder keine Erinnerungen) • keine Zeugnisse vorhanden bzw. unzureichende Angaben (z.B. nur Noten) Gliederung des Vortrages • • • • • Einführung Prävalenz und Verlauf Diagnostik Therapie Fazit Therapieansätze • Behandlungsfokus – Biologische Ebene: Pharmakotherapie – Psychologische Ebene: Psychotherapie – Kombination verschiedener Behandlungselemente Multimodale Therapie bei Kindern/Jugendlichen und Erwachsenen 25 Therapieansätze ADHS Pharmakotherapie Psychotherapie Einzel Die Pharmakotherapie geht bei der ADHS der Psychotherapie immer voraus. Gruppe Einbezug Familie zusätzlich ev. Coaching oder andere Methoden Pharmakotherapie der ADHS • Pharmakotherapie hat zentralen Stellenwert (biologische Basis der Störung) • ADHS alleine: Effektstärke am grössten für MPH→1. Wahl • ADHS + Komorbidität: Kombinationstherapie MPH + Antidepressivum oder Phasenprophylaktikum + Psychotherapie: oft KVT bzw. integrative Verfahren Zetterquist et al. (2012) • Frage: pharmakologische Behandlung zwischen 2006 – 2009 in Schweden • N = 41‘700 Patienten mit ADHS (Alter 6 – 45 Jahre) • Ergebnisse • 2006 2.93% in Behandlung • 2009 6.98% Mc Carthy et al. (2009) • Verschreibung ADHS-Medikation 1999 – 2006 in UK • wichtigste Ergebnisse: •Zunahme der Verschreibung in Periode um das 6.23-fache •Abnahme (pro 1000) im Zeitverlauf von 12.77 im Alter von 15 Jahren auf .64 im Alter von 21 Jahren Mc Carthy et al. (2009) Zetterquist et al. (2012) • Ergebnisse • verschiedene Altersgruppen, besonders relevant 15 – 21 Jahre (nach 4 Jahren nur noch 27%) Mc Carthy et al. (2009) • Ausgangsstichprobe: 3‘529‘615 Patienten, davon 4‘530 ADHS • Ergebnisse, u.a. • Zunahme der behandelten Prävalenz im Zeitverlauf • jedoch: unterhalb der Prävalenz in der Bevölkerung Mc Carthy et al. (2009) • Verlaufsstudie Kohorte (N = 44) • Beginn 1999 Alter 15 Jahre, Ende Alter 21 Jahre • mittlere Dauer Medikation 1.8 Jahre (Median) • im Alter von 21 Jahren: kein Patient mehr Medikation!!! Mc Carthy et al. (2009) • mögliche Erklärungen – auf Seiten des Patienten • • • • stärkste Abnahme im Alter von 16-17 Jahre: Schulabschluss weniger unter „Kontrolle“ von Eltern, Lehrern Coping-Strategien entwickelt, besser selbst bewältigen Autonomiebestreben – auf Seiten des Settings (UK) • bis 16 Jahre gutes System, für höheres Alter defizitär • Problem Übergang von einem System zum anderen Wong et al. (2009) • Gründe für Diskontinuität, u.a. – Nebenwirkungen – Ablehnung der Medikation – Bewältigung der Symptome und Beeinträchtigungen ohne Medikation (Coping) – Übergang („transition“) von einem ins nächste Setting problematisch Therapie • Biederman et al. (2012) – 93% irgendwann behandelt (davon 8% nur Medikation, 2% nur Beratung) – nach 16 Jahren • 23% irgendwie in Behandlung in letzten Monaten(6% Medikation, 16% Medikation und Beratung) • jedoch: 77% „full or subthreshhold DSM-IV ADHD“ – Fazit • „symdromatic continuity between pediatric and adult ADHD“ Psychologische Therapie: Warum? • Erwachsene: trotz generell guter Wirksamkeit vor allem Methylphenidat – Responseraten schwanken 25 – 80% – nicht immer Vollremission • vielfältige Beeinträchtigungen – Arbeit – Beziehungen – Selbstwert 37 Entwicklungs- und Erklärungsmodell der ADHS im Erwachsenenalter (modifiziert nach Safren et al., 2005a,b) Neurobiologisch bedingte Kernsymptome - Aufmerksamkeitsstörung - Impulskontrollstörung - Hyperaktivität Lerngeschichte u.a. - Misserfolge - unzureichendes Leistungsvermögen - Beziehungsprobleme Negative, automatisierte Gedanken und Überzeugungen wie - Misserfolgsorient. - Selbstwertprobleme 38 Mangelnde Kompensationsstrategien wie - Organisieren - Planen - Aufschieben Störungen der Affektivität wie - Depression - Schuld - Angst - Wut, Ärger Beeinträchtigungen in Bereichen wie - Beruf/Schule - Partnerschaft Gliederung des Vortrages • • • • • Einführung Prävalenz und Verlauf Diagnostik Therapie Fazit Fazit • Übergang ins Erwachsenenalter kritische Phase • wichtig Kooperation aller Beteiligten • mögliches Vorgehen – ab dem 16. Lebensjahr regelmässige Verlaufskontrollen bezüglich der Symptomatik – ca. 18 Jahre Statusbestimmung, d.h. umfassende Reevaluation – ggf. gemeinsames „Übergabegespräch“ NICE (2010) 42 Reserve Fragen zur Diskussion • Welche Schnittstellenproblematik gibt es sonst noch? • Welche Problematik gibt es bei Adoleszenten/jungen Erwachsenen in der – Pharmakotherapie – Psychotherapie? Impulskontroll-/Persönlichkeitsstörungen -oppositionelles Trotzverhalten (ODD) -Verhaltensstörung -Antisoziale PS -BPS -intermittierende explosive Störung (IED) Angststörungen -GAS -Soziale/spez. Phobie -PTSD -Zwangsstörung -Panikstörung -Agoraphobie Affektive Störungen -MDD, spez. Saisonal -Bipolare Störung -Dysthymie -Zyklothymie ADHS Schlafstörungen -Circadiane Rhythmusstörung -obstruktive Schlafapnoe -Exzessive Tagesschläfrigkeit -“Restless legs“ Syndrom/ Bewegungsstörung Lernbehinderungen -Lesen -Mathematik -Schriftliche Ausdrucksfähigkeit Substanzmissbrauch -Alkohol- und Drogenmissbrauch/ -abhängigkeit Adaptiert nach Koji et al. (2012) über- oder unterdiagnostiziert? • Unter Berücksichtigung der vorhandenen «diagnostischen Standards» dürfte es nicht der Fall sein • weitere Voraussetzung: – Kenntnis der Störung und ihrer Operationalisierung – Wissen über die Störung – Klinische Erfahrung