Klaus von Stosch, Aaron Langenfeld (Hg.) Streitfall Erlösung BEITRÄGE ZUR KOMPARATIVEN THEOLOGIE HRSG. VON KLAUS VON STOSCH BD. 14 Klaus von Stosch, Aaron Langenfeld (Hg.) Streitfall Erlösung FERDINAND SCHÖNINGH Umschlagabbildung: Michael Maria Kappenstein Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlages nicht zulässig. © 2015 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.schoeningh.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany. Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-506-77968-7 INHALTSVERZEICHNIS EINLEITUNG ................................................................................................. 9 I. Christliche und islamische Zugänge zur Soteriologie MILAD KARIMI Zur Frage der Erlösung des Menschen im religiösen Denken des Islam .... 17 AARON LANGENFELD Erlösung im Absurden? Anmerkungen zu Milad Karimis Entwurf einer islamischen Soteriologie und Versuch einer Diskurseröffnung .................. 39 MAGNUS STRIET Erlösung und Freiheit. Thesen zu einer möglichen Soteriologie heute ....... 61 MUNA TATARI Erlösung und Freiheit. Anmerkungen zu Magnus Striet ............................. 73 II. Theologisches Offenbarungsdenken als Paradigma der Soteriologie NAEME POURMOHAMMADI Überprüfung des Problems „Erlösung“ im christlich-islamischen Dialog ......................................................................................................... 83 MARTIN DÜRNBERGER Offenbare Erlösung – erlösende Offenbarung. Skizzen zum Verhältnis zweier theologischer Zentralbegriffe aus christlicher Perspektive ............. 95 INHALTSVERZEICHNIS ZISHAN AHMAD GHAFFAR Erlösung, Offenbarung und Schöpfung. Soteriologie als Diskurshorizont des christlich-muslimischen Gesprächs ...................................................... 115 CHRISTIAN DANZ Versöhnung und Christusbild im interreligiösen Dialog. Überlegungen zur Christologie als Reflexionsort religiöser Pluralität ............................... 123 III. Die Bestimmung des Gott-Welt-Verhältnisses im Spannungsfeld von Sünde und Gnade MOHAMMAD ALI SHOMALI Ein islamisches Verständnis von Erlösung ................................................. 139 ANNE WEBER Die christliche Rede von der Ursünde als Ort des interreligiösen Dialogs? Eine Response auf Mohammad Shomali .................................................... 151 GUNDA WERNER Der Mensch zwischen Heilbestimmtheit und Erlösungsbedürftigkeit. Ein muslimisch-christlicher Diskurs über die Barmherzigkeit Gottes ........ 173 IV. Erlösung aus dem Leid? HAMIDEH MOHAGHEGHI Erlösung aus Leid, Unheil und Sünde? Reflexionen aus muslimischer Perspektive .................................................................................................. 197 ANJA MIDDELBECK-VARWICK Vom Wert interreligiöser Bezugnahmen. Zu einigen Fragen der Theodizee und der Erlösungslehre .............................................................. 207 INHALTSVERZEICHNIS V. Reflexion: Soteriologie als Thema des interreligiösen Dialogs von Juden, Christen und Muslimen JÜRGEN WERBICK Soteriologie als Problemfeld des christlich-muslimischen Gesprächs ........ 221 TUBA IṢIK/SERDAR KURNAZ Soteriologie „islamisch“? Replik auf Jürgen Werbick ............................... 233 ELISA KLAPHECK Jüdische Zugänge zur Vorstellung von Erlösung ....................................... 243 KLAUS VON STOSCH Auf der Suche nach angemessenen Kategorien des Erlösungsglaubens. Muslimische Einsprüche als Lernfeld christlicher Soteriologie ................. 255 Autorenverzeichnis ..................................................................................... 273 Verwendete Literatur in Auswahl ............................................................... 279 Personenregister .......................................................................................... 283 Einleitung Der Begriff „Erlösung“ gehört zu denjenigen religiösen Termini, die auch in den säkularen Diskursen der Gegenwart gehaltvoll sind. Interessant ist allerdings, dass – im Gegensatz zu zahlreichen anderen theologisch relevanten Konzepten – der Erlösungsbegriff auch in seinem postreligiösen Gebrauch noch einen religiösen Index aufzuweisen scheint, denn wer erlöst wird, der wird aus einer spezifischen Situiertheit befreit, die in irgendeiner Form als nichtseinsollend identifizierbar ist. Während aber in einem unbestimmten Sinne eine begriffliche Einigkeit zwischen religiösen und areligiösen Erlösungsbegriffen dahingehend postuliert werden kann, dass einer Erlösung deren ‚Bedürftigkeit‘ vorausgeht, so unterscheiden sie sich doch signifikant in der Grundannahme, ob der Mensch sich zu dieser Befreiung selbst bestimmen kann. Es scheint gerade die unerhörte Behauptung des Christentums zu sein, die den Keil zwischen religiöse und säkulare Überzeugungssysteme treibt, dass der Mensch ursprünglich in ein Selbst- und Weltverhältnis gesetzt ist und sich selbst setzt, das ohne den sich in der Geschichte offenbarenden Gott nicht sinnvoll zu denken ist. Diese Aussage impliziert die Annahme, dass nicht zuerst die theologische Komponente soteriologischer Aussagen Grund säkularer Christentumskritik ist, sondern zuerst und vor allem die der Erlösungstheorie vorausgesetzten anthropologischen Bestimmungen.1 Genau diese Bestimmungen sind aber für die christliche Theologie insgesamt keineswegs kontingent, insofern durch sie die Relevanz der christlichen Botschaft für den Menschen entschieden wird.2 Verliert aber die christliche Grundaussage, dass Gott sich in Jesus von Nazaret selbst offenbart habe, ihre anthropologische Relevanz, wird sie insgesamt schlicht bedeutungslos, sodass es wohl kaum übertrieben ist, Soteriologie als Bewährungsort jeder christlichen Theologie zu bestimmen. Im lateinischen Westen ist die anthropologische Disposition zur Erlösung wesentlich in den Begriffen von Schuld und Sünde festgehalten worden, weil das Christentum „sich ja als Erlösungsreligion, als das Ereignis der Vergebung 1 2 Nirgends wird die Abneigung gegen eine christliche Anthropologie wohl deutlicher fassbar als in den Schriften Friedrich Nietzsches, der gleichwohl die Herausforderung erkannt hat, den Sinngehalt menschlichen Daseins in dessen bloßer Existenz bestimmen zu müssen. Vgl. dazu etwa FRIEDRICH NIETZSCHE, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, in: DERS., Kritische Studienausgabe der sämtlichen Werke Bd. 4, hrsg. von Giorgio Colli u. Mazzimo Montinari, München 132011. Zur Konzeption einer Soteriologie in Auseinandersetzung mit Nietzsche vgl. besonders JÜRGEN WERBICK, Den Glauben verantworten. Eine Fundamentaltheologie, Freiburg-Basel-Wien 42010, 427-653; DERS., Gebetsglaube und Gotteszweifel, Münster 2001 (Religion – Geschichte – Gesellschaft; 20), 33-59. Vgl. THOMAS PRÖPPER, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie, München 31991, 11. 10 EINLEITUNG der Schuld durch Gott selbst in seiner Tat an uns in Jesus Christus“3 versteht. Insbesondere diese Bestimmungen sind es allerdings auch, die nicht nur die Diskrepanz zwischen Christentum und säkularer Weltanschauung erkennbar werden lassen, sie stehen auch im Fokus des christlich-islamischen Dialogs, insofern islamisch-theologische Anthropologien den Menschen wesentlich als heils- und nicht als sündenbestimmt denken und daher kaum Anknüpfungspunkte für eine islamische Würdigung christlichen Erlösungsdenkens gegeben zu sein scheinen.4 In diesen unterschiedlichen anthropologischen Konzepten und den theologischen Anschlusssystemen scheint nun ein fundamentaler Widerstreit zwischen Christentum und Islam zu liegen, da die islamische Kritik christlichen Erlösungsdenkens die Relevanzbehauptung der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus ins Mark trifft und mit ihr die Bedeutung des Christentums aufzuheben droht. Auf der anderen Seite impliziert das christliche Heils- und Erlösungsverständnis eine Kritik des Islam, insofern derselbe eine Defizienz im Hinblick auf die konsequente Durchbestimmung der Anthropologie unter den Vorzeichen neuzeitlichen Denkens und im Hinblick auf die Explikation der Bedeutung der koranischen Offenbarung erkennen lasse. Denn wenn Muslime den Koran als Offenbarung Gottes bestimmen, dann müsste doch auch gesagt werden, dass sie relevant für den Menschen ist. Ist sie aber relevant, dann lässt sich bereits für eine Bedürftigkeit des Menschen argumentieren, die dann eben auch islamisch gegeben wäre. Der skizzierte Streit um die Bedürftigkeit der Erlösung und eben diese selbst stellt in der Tat ein grundlegendes Problem für den christlich-islamischen Dialog dar. Zugleich sehen sich Christen und Muslime gemeinsam vor die Herausforderung gestellt, die Überzeugung von der Relevanz des Offenbarungshandelns Gottes in der Welt gegenüber (post-)modernen Einwänden gegen dessen Bedeutung und Möglichkeit zu plausibilisieren. Der vorliegende Tagungsband will sich eben jener Herausforderung annehmen und christliche Soteriologie als Problemfeld des christlich-islamischen Gesprächs im Kontext neuzeitlichen Denkens aufarbeiten. Christliche und islamische Beiträge sollen dabei gleichermaßen zu Wort kommen und den Fragen nach islamisch-theologischen Positionierungen gegenüber christlicher Soteriologie, nach möglichen islamischen Soteriologien und nach christlicher 3 4 KARL RAHNER, Grundkurs des Glaubens, Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg-Basel-Wien 1976, 97. Vgl. zur direkten islamischen Kritik christlicher Soteriologie etwa SHAIKH MUHAMMAD HAFEEZ, A Muslim’s Response to Christian Criticism of Islam, Islamabad 1997, 163: „How does Jesus’ (P) sacrifice satisfy God’s need for punishment? For more than fifteen centuries saintly Christians believed that man having transgressed was now in the grip of Satan. A loving God wanted to have the humanity freed from this grip. Being Just he did not want to regain us by force and so He offered His Only Begotten Son as ransom. However, the Son, as stealthily pre-planned by God (the Father?), escapes Satan’s power and is reconciled with the Father. This Ransom Theory has obvious oddities and anomalies which we need not elaborate here.“ EINLEITUNG 11 Kritik islamischer Anthropologie und islamischen Offenbarungsdenkens auf den Grund gehen. Den Band eröffnen die Beiträge von Milad Karimi und Aaron Langenfeld, die als Diskurseröffnung um christliche und islamische Zugänge zur Soteriologie verstanden werden können. Milad Karimi stellt deutlich heraus, dass der Islam den Anspruch erhebe, keine Erlösungsreligion zu sein, muslimische Theologie aber auch nicht ohne eine Vorstellung von Schuld und Sünde auskomme. Dabei versteht er den Islam insofern als Offenbarungsreligion, als dass es nicht um eine Menschwerdung Gottes, sondern um eine Menschwerdung des Menschen gehe, dessen Heilserfahrung mit der ästhetischen Erfahrung des Korans verknüpft sei. Dieser Entwurf einer muslimischen Soteriologie erfährt bei Aaron Langenfeld eine positive Würdigung, obgleich er einige Widersprüche feststellt. Der Tradition eingedenk, dass sich christliche Soteriologie auch schon immer im Gespräch mit anderen Religionen entwickelte, anerkennt Langenfeld einige kritische Anfragen Karimis als Anstoß, eine Leerstelle im christlichen Offenbarungsdenken neu zu bedenken und skizziert andererseits Grundzüge einer anthropologisch gewendeten Soteriologie als Gesprächsangebot an islamische Theologie. Es folgt der Aufsatz von Magnus Striet, der in thetischer Form eine freiheitstheoretische Fundierung der Soteriologie mit einer Kritik augustinischer Sünden- und Gnadenlehre und anselmianischer Satisfaktionstheorie verbindet. Dabei weist sein Beitrag zugleich eine besondere Sensibilität für die Verknüpfung von Soteriologie und Theodizee auf, die für das christlich-islamische Gespräch von besonderer Bedeutung sein kann. Die Wichtigkeit dieses Gedankens räumt auch Muna Tatari in ihrer Replik ein, kritisiert aber zugleich die christlich stark betonte negative Anthropologie, die um der größeren Heilstat Gottes willen notwendig sei. Im zweiten Teil findet eine Vertiefung theologischen Offenbarungsdenkens als Paradigma der Soteriologie statt. Die christliche Beziehung von Erlösung und Offenbarung im Sinne einer Selbstoffenbarung Gottes und die damit einhergehenden Probleme für den christlich-muslimischen Dialog rückt Naeme Pourmohammadi in den Mittelpunkt ihres Aufsatzes. Dabei stellt sie überraschende Berührungspunkte fest, indem sie betont, dass das islamische Prinzip der Fürsorge Gottes durchaus Ähnlichkeiten mit der christlichen Vorstellung von Gnade aufweise, indem sich Gott auch im Koran menschlicher Bedürftigkeit zuwende. Gleichzeitig eröffnet sie Gebrauchsmöglichkeiten für den Terminus der Selbstoffenbarung als Kategorie islamischer Theologie. Auch Martin Dürnberger geht dem Verhältnis von Offenbarung und Erlösung auf den Grund. Er untersucht die Möglichkeit der Bestimmung eines soteriologischen Aprioris, das er in der Unentschiedenheit der Daseinsbedingungen des Menschen zwischen radikaler Bonität und Malignität ausmacht. Dabei wird Offenbarung zum Grund der Erkenntnis des ursprünglichen Gut- 12 EINLEITUNG seins der Welt, die den benannten Widerspruch zugunsten des Daseins entscheiden kann. Zishan Ahmad Ghaffar betont gegen Martin Dürnberger besonders die bleibende Ausständigkeit der Erlösung, die auch durch Jesu Leben und Sterben nicht erreicht und somit immer auch Herausforderung an den Menschen sei. Gleichzeitig anerkennt Anfragen etwa im Hinblick auf die Theodizeeproblematik, die islamischer Theologie weiter zu denken geben und eingehender Reflexion bedürfen. Eine besondere Stellung nimmt der Beitrag von Christian Danz ein, der nach der ontologischen Möglichkeitsbedingung christlichen Offenbarungsdenkens fragt. Er sieht in der Christologie einen möglichen Ort, um über religiöse Pluralität zu reflektieren – wissend, dass dieses religiöse Feld seit Jahrhunderten Kontroversen und Kritik ausgesetzt ist. Nach zwei Überlegungsgängen, die von der Depotenzierung der Christologie bis hin zur Transformation der Versöhnungslehre reichen, kommt er in einem dritten Teil zu dem Schluss, dass die Christologie durch die Thematisierung des menschlichen Sich-Verstehens, die eine Reflexion geschichtlicher Selbsterschlossenheit hervorrufe, der Anerkennung von Pluralität den Weg bereite. Der dritte Teil des Bandes greift die Fragen nach der Bestimmung des GottWelt-Verhältnisses im Spannungsfeld von Sünde und Gnade auf. Das Fehlen eines Konzepts der Erbsündenlehre nimmt Mohammad Ali Shomali als Ausgangspunkt seiner Diskussion über das muslimische Erlösungsverständnis. Durchaus analog zum christlichen Gnadenbegriff führt er die koranische Vorstellung ins Feld, dass Gott allen Menschen Licht geschenkt habe, damit sie ihren Weg zu ihm wählen können. Trotz der Betonung dieser Freiheit erklärt er im späteren Verlauf, dass jeder Mensch zur Begegnung mit Gott bestimmt sei, und zeigt dabei Rechtleitung und Barmherzigkeit als göttliche Heilsinitiativen auf, ohne die der Mensch kein Heil erreichen könne. Die Replik von Anne Weber verweist gegen Shomali auf die gegenwärtige christliche Debatte um das Verständnis der Erbsünde, die eine Reduktion auf die unterstellte Konzeption verbiete. Gleichzeitig kritisiert sie die philosophisch-epistemologischen Grundlagen von Shomalis Ausführungen. Die Barmherzigkeit Gottes steht bei Gunda Werner im Fokus ihrer Überlegungen. Sie zeigt dabei große Sympathien für den muslimischen Theologen Mouhanad Khorchide, dessen Konzept des Gerichts als Ort der Transformation sie aufgreift, um dem Dilemma der gleichzeitigen Freiheit und Erlösungsbedürftigkeit des Menschen zu entgehen. Denn während der Islam letztere vehement verneinen würde, kann es, wie Werner korrekt konstatiert, auch in der christlichen Theologie zu einem Konflikt führen, wenn Gott den Menschen gegen seinen freien Willen erlöst, auch wenn dies aus Liebe geschieht. Nachdem in den ersten Teilen besonders die Frage nach Sünde und Erlösung stand, wirft der vierte Teil besonders die Problematik der Erlösung aus dem Leid auf. EINLEITUNG 13 Nach muslimischer Auffassung ist die Welt so gut, wie sie ist, erklärt Hamideh Mohagheghi. Die Theodizee im Sinne einer Anklage Gottes sei in der islamischen Tradition daher ebenso wenig bekannt wie die Vorstellung einer angeborenen Schuld und Sünde des Menschen. In der Folge zeigt sie aber auf, wie sehr die Vereinbarkeit des Leids mit Gottes Schöpfung auch muslimisch diskutiert wird. Mohagheghi sieht zugleich sowohl eine Freiheit des Menschen als auch seine Abhängigkeit von der Gnade und Barmherzigkeit Gottes, obgleich dessen Zuspruch freilich in beiden Religionen unterschiedlich zum Ausdruck kommt. Dass die Theodizeefrage eine interreligiöse Frage ist, deren Komplexität bereits innerhalb der jeweiligen Religionen zu unterschiedlichen Perspektiven führt, stellt Anja Middelbeck-Varwick fest. Somit seien im christlich-muslimischen Gespräch erst recht „Übersetzungen“ von theologischen Schlüsselbegriffen notwendig; dass Adam und Eva, Hiob und Jesus zwar sowohl in der Bibel als auch im Koran Erwähnung finden, aber in den jeweiligen Lesarten völlig unterschiedlich gedeutet werden, komme erschwerend hinzu. Daher sei eine wechselseitige Verständigung erforderlich. Der fünfte und letzte Teil beinhaltet schließlich summierende Beiträge aus christlicher Sicht und eine jüdische Perspektive auf den Erlösungsbegriff, die den christlich-islamischen Dialog um wichtige Aspekte bereichert und vorschnelle Einigungen verweigert. Eine große Dialogbereitschaft signalisiert Jürgen Werbick, indem er sich anhand einer kritischen Paulus-Lektüre auf den schmalen Grat zwischen bleibender Aufrechterhaltung christlicher Überzeugungen einerseits und einer Öffnung für außerchristliche Vorstellungen andererseits begibt. Er stellt dabei fest, dass bei der Überwindung von soteriologischem Exklusivismus und Heilsinklusivismus ein hohes Interpretationsrisiko eingegangen werden muss. Sowie er das „solus Christus“ zwar als höchste Steigerung sieht, jedoch nicht als Ausdruck von Exklusivität (und auch nicht Inklusivität) verstanden wissen will, betrachtet er Gottes Ja im Logos Jesus Christus auch nicht notwendigerweise ein gleichzeitiges Nein zu anderen religiösen Überlieferungen. Tuba Isik und Serdar Kurnaz begrüßen den aus einer anthropologischen Perspektive erfolgten Vorstoß Werbicks, die Erlösung nicht zwingend am Kreuzestod Jesu festzumachen. Denn auch sie erklären in ihrer Replik, dass die Frage nach der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen dem Islam eher fremd sei. Es zeige sich ferner, dass in der muslimischen Tradition unterschiedliche Vorstellungen existieren. Einmütigkeit bestehe dagegen in der Annahme, dass es neben dem rituellen Gebet vor allem menschliche Handlungen sind, die für das Heil notwendig sind. Anschließend zeigt Rabbinerin Elisa Klapheck auf, dass die jüdischen Zugänge zur Erlösungsvorstellung aus verschiedenen Gründen mit Schwierigkeiten verbunden sind, die mit einer nicht eindeutigen Bezeichnung des Erlösungsbegriffs im Hebräischen beginnen und der leidvollen Geschichte Israels insbesondere im 20. Jahrhundert ihren Höhepunkt finden. Einen Ausweg sieht 14 EINLEITUNG sie darin, Erlösung unbedingt mit weltlich-menschlicher Beteiligung am Geschehen zu verstehen. Den Abschluss bildet eine kritische Synopse von Klaus von Stosch, in der er zeigt, wie christliche Soteriologie innertheologisch, aber auch von nichtchristlicher Seite verstanden wird. Dabei beobachtet er, dass die Reaktionen auf den christlichen Erlösungsbegriff seitens der Vertreter der islamischen Theologie bleibend ambivalent erfolgten, da diese selbst diese Konzeption vermeiden, stellt aber zugleich sowohl Rückfragen an islamische Theologie fest als auch, dass die dringlichste Herausforderung einer Soteriologie allen drei abrahamitischen Religion gemein sei: die Theodizeefrage. Der vorliegende Tagungsband stellt die Dokumentation einer Fachtagung dar, die vom 14. bis 16. März 2013 in der Katholischen Akademie Schwerte stattgefunden hat. Wir danken der Fritz-Thyssen-Stiftung, die sowohl Tagung als auch Drucklegung des vorliegenden Bandes großzügig unterstützt hat. Weiterhin danken wir der Katholischen Akademie Schwerte und besonders dem stellvertretenden Leiter Dr. Ulrich Dickmann für die beständig hervorragende Zusammenarbeit. Dem Verlag Ferdinand Schöningh, insbesondere dem Lektor Dr. Hans Jürgen Jacobs, danken wir für die kompetente Begleitung der Publikation. Besonders danken wir Jan Christian Pinsch für die mühevolle Arbeit des Korrekturlesens und der redaktionellen Betreuung des Bandes sowie Julia Wolff für die Erstellung der Druckvorlage und die Abwicklung von Druckfehlerkorrekturen. Für die Erstellung des Titelbildes gilt Michael Maria Kappenstein ein herzlicher Dank. Aaron Langenfeld und Klaus von Stosch im Februar 2015 I. CHRISTLICHE UND ISLAMISCHE ZUGÄNGE ZUR SOTERIOLOGIE MILAD KARIMI Zur Frage der Erlösung des Menschen im religiösen Denken des Islam „Die Schönheit wird die Welt erlösen.“ Dostojewski Die Soteriologie gehört nicht zu den zentralen Topoi der islamischen Theologie. Die drei großen Denkschulen der islamischen Geistestradition der Muʿtazila, der Ašʿarīya und der Māturīdīya diskutieren bestenfalls die Frage der Erlösung in Bezug auf Eschatologie am Rande. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass es im Islam nicht um die Erlösung des Menschen gehe oder gar dass der Islam die überantwortete Verstricktheit des Menschen in Schuld und Sünde ignoriere. Das Gegenteil ist der Fall. Gerade im Binnenraum des Freiheitsvermögens wird die Frage nach der Erlösung des Menschen virulent, wenn die Freiheit nicht für Willkür gehalten wird; denn „wenn sie die Freiheit sein soll, [muss sie] eine Täuschung genannt werden“, konstatiert Georg Friedrich Wilhelm Hegel, der Meisterdenker des Deutschen Idealismus, und fährt fort: „Die Freiheit in aller Reflexionsphilosophie, wie in der Kantischen und dann [in] der Friesischen vollendeten Verseichtigung der Kantischen, ist nichts anderes als jene formale Selbsttätigkeit.“1 Die pervertierte Form, mit welcher Wucht die eigene Erlösung gleichsam im religiösen Akt des Opfertodes herbeigeführt wird, zeigen diejenigen, die im Akt der terroristischen Selbsttötung zumindest das eigene Selbst im Schoss der Ewigkeit erträumen. Dass aber dies der Ursprung des Sündenfalls darstellt, dürfte die eigentlich theologische Tragödie sein.2 Denn die letzte Verachtung und Negation des Lebens, des eigenen und des anderen Lebens, welches in den Abgrund mitgerissen wird, verkündet den großen Tod, den Tod Gottes. So dürften sie, um es mit den Worten Nietzsches einmal zu sagen: „Wir haben ihn getötet, – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder. Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken?“3 Der Koran antwortet entschieden: „Wenn einer tötet jemanden, (…): es soll sein, 1 2 3 GEORG WILHELM FRIEDRICH H EGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 15 (GA, 38 f.). Vgl. dazu Schelling: „So ist denn der Anfang der Sünde, daß der Mensch ... aus dem Licht in die Finsterniß übertritt, um selbst schaffender Grund zu werden, und mit der Macht des Centri, das er in sich hat, über alle Dinge zu herrschen.“ FRIEDRICH WILHELM J OSEPH SCHELLING, Urfassung der Philosophie der Offenbarung. Hg. von W. E. Erhardt, Bd. 2, Hamburg 1992, 644. FRIEDRICH NIETZSCHE, Die fröhliche Wissenschaft, Aphorismus 125. 18 MILAD KARIMI als hatte er getötet die Menschen, allesamt.“4 Diese Leugnung des Lebens als radikale Tat der Selbsterlösung hat zwar einen doppelten Charakter, weil sie zugleich dieses Verleugnen leugnet und mithin die Schuld verschleiert, aber sie führt zwangsläufig zur Leugnung des Lebensprinzips, d.h. des Schöpfers. Die Verkehrung der Handlung, die den Willen Gottes verwirklichen will, aber Schuld schafft, indem sie als Sünde auf den Handelnden selbst zurückschlägt, lässt in diesem radikalen Fall erkennen, dass der Mensch erlösungsbedürftig ist. 1. Erlösung und Vergänglichkeit Nach welchem Glück, nach welchem Gut trachten wir zumeist im Leben? Worin besteht unsere Glückseligkeit? Was sind die Genüsse, die uns hier beflügeln, wonach wir streben? Muhammad al-Ġazālī erinnert an die Worte des ältesten Enkels des Propheten (s) in seiner Schrift al-mīzān al-ʿamal, der sagte: Die Genüsse des Diesseits beschränken sich auf die Speisen, die Getränke, das Sexuelle, die Kleider, die Wohnungen, die Düfte, die Töne und die sichtbaren Dinge. Von den Speisen ist der Honig die beste, obwohl er ein Produkt der Bienen ist. (…) Was die sexuellen Genüsse anbetrifft, so beziehen sie sich auf die Vereinigung von Organen, die dem Urinieren dienen. Es sollte dir als Beweis doch genügen, dass die Frau ihr Schönstes (das Gesicht) schminkt und man von ihr das Hässlichste will, (ihren Schoß). Der beste der Stoffe ist die Seide, obwohl sie das Produkt des Wurmes ist. Der beste unter den Düften ist Moschus, welcher dem Blut einer Ratte entnommen wird. (…) Die sichtbaren Dinge sind Schatten, die vergänglich sind.5 Denn wie der Koran rigoros festhält: „Alle Dinge sind untergehend: nicht Sein Antlitz“6. Der Islam handelt von der Rückkehr des Menschen zu sich selbst aus dem schlechthin Unverfügbaren7, Beständigen8, Lebendigen9: dem einen Gott.10 Diese Rückkehr des Menschen, dieses Zusichselbstfinden verspricht ein Gelingen. Gelingen sollen in diesem Gefüge, welches sich Religion 4 5 6 7 8 9 10 Q 5:32. Koranübersetzung hier und im Folgenden von A HMAD M ILAD K ARIMI. In: Der Koran. Vollständig und neu übersetzt von Ahmad Milad Karimi. Mit einer Einführung herausgegeben von Bernhard Uhde, Freiburg u.a. 2009. ABU-H AMID MUHAMMAD AL-G HAZĀLĪ, Das Kriterium des Handelns (Mīzān al-ʿamal). Aus dem Arabischen übersetzt und mit einer Einleitung herausgegeben von Abd-Elsamad Abd-Elhamid Elschazli. Darmstadt 2006, 171f. Q 28:88. Vgl. u.a. Q 112:4. Vgl. u.a. Q 2:255; 3:2. Vgl. u.a. ebd. Vgl. u.a. Q 112:1. ZUR FRAGE DER ERLÖSUNG DES MENSCHEN IM RELIGIÖSEN DENKEN DES ISLAM 19 (arab.ad-dīn11) nennt, das Selbst- und Weltverhältnis des Menschen. Entscheidend ist dabei aber dasjenige Verhältnis, welches die beiden genannten Verhältnisse erst adäquat generiert, nämlich das Gottesverhältnis. Damit avanciert der eine Gott als die erste und letzte Realität alles Seienden zum konzentrierten Zentrum des Menschseins. Der Islam lässt sich also derart beschreiben, als er den Menschen gänzlich erfasst, so dass er die Erfüllung seiner Existenz erst in und aus der Hingabe zum einen Gott (arab. Allāh) begreift. So ist aus dem Koran zu entnehmen: „Die, die glauben und deren Herzen im Gedenken Gottes ruht – ja, im Gedenken Gottes ruhen die Herzen.“12 Das Herz des Menschen ist nicht bloß der Ausdruck eines Organs, sondern er (sc. dieser Ausdruck) fungiert als Repräsentant des Menschen, als dessen Wesen. So wird auch in der klassischen Auffassung das Herz als das Vermögen angegeben, womit sich der Akt des Glaubens (īmān) als das Fürwahrhalten (at-taṣdīq) vollzieht.13 Wenn die Religion des Islam die Rückkehr des Menschen zu sich selbst aus dem schlechthin unendlich Unverfügbaren verspricht, dass nämlich im Gedenken Gottes die Herzen Ruhe finden können, dann ist dies eine klare Provokation für unsere postmetaphysische, postmoderne Zeit, in der weder die Rede von der letzten Realität noch von der Wahrheit zu verorten ist, mehr noch: eine Zeit, die von der „Diktatur des Relativismus“ geprägt ist, hat nicht nur spätestens mit Friedrich Nietzsche Gott verabschiedet, sondern selbst den Menschen. So ist bei Michel Foucault zu lesen: „Man braucht sich nicht sonderlich über das Ende des Menschen aufzuregen; das ist nur ein Sonderfall oder, wenn Sie so wollen, eine der sichtbaren Formen eines weitaus allgemeineren Sterbens. Damit meine ich nicht den Tod Gottes, sondern den Tod des Subjekts, des Subjekts als Ursprung und Grundlage des Wissens, der Freiheit, der Sprache und der Geschichte“14; ja, so Foucault weiter: „dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“15 Insofern dürfte der Islam unzeitgemäß als eine dreifache Provokation verstanden werden, weil er erstens das Leben Gottes verkündet, zweitens das Leben des Menschen und drittens die konstitutive Bindung des Menschen zu seinem Gott. Somit konstituiert der Glaube als eben diese konstitutive Bindung die Religion des Islam, so dass der große Gelehrte aus der māturiditischen Tradition, Naǧm ad-Dīn an-Nasafī (gest. 1142) pointiert fest- 11 12 13 14 15 Was deutlich mehr bedeutet als nur Religion, etwa: eine umfassende lebenserfüllende Anschauung. Q 13:28. Ist „der Sitz des Wortes [„Es gibt keinen Gott außer Gott …“], bei dir die Zunge“, so alĠazzālī, „ohne daß es im Herzen eine Frucht zeitigt, bist du ein Heuchler (munāfiq).“ AḤMAD AL-Ġ AZZĀLĪ, Der reine Gottesglaube. Das Wort des Einheitsbekenntnisses, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Richard Gramlich, Wiesbaden 1983, 14. MICHEL FOUCAULT, Schriften in vier Bänden (Dits et écrits), hg. von Daniel Defert und Francois Ewald. Bd. 1, Frankfurt a.M. 2001ff., 1002. MICHEL F OUCAULT, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M. 1974, 462. 20 MILAD KARIMI hält: „(…) der Glaube und der Islam sind eins.“16 Der Islam ist vor diesem Hintergrund die bedingungslose Hingabe des Menschen an den unbedingten Willen Gottes in der Erwartung des Gerichtstages. Er versteht sich mithin als eine Offenbarungsreligion derart, dass er keine Erlösungsreligion ist. Offenbarung lässt sich also nicht als „das Ereignis der Vergebung der Schuld“ des Menschen begreifen, welches notwendig kein anderer als „durch Gott selbst in seiner Tat an uns in Jesus Christus“17 – wie sich Karl Rahner ausdrückt –, der eben mindestens ganz Gott sein muss, vollbracht wird, vollbracht in seinem Tod und damit in seiner Auferstehung. In ihrer ganzen Zerbrechlichkeit und Zartheit fordert die Erlösungsreligion Schuld, ja sie fordert Sünde. Auch sie begreift sich insofern als Offenbarungsreligion, als sie aus dem Bewusstsein der Errettung, der Erlösung heraus eine Selbstoffenbarungsreligion darstellt. Hingegen scheint dem sunnitischen Islam diese Dramatik zu fehlen. In diesem Sinne mangelt es dem Islam an Engagement, welches einer jeden Erlösungsreligion notwendig innewohnt. Wenn nun Karl Rahner zu Recht „Schuld und Sünde“ als „ein zentrales Thema für das Christentum“18 attestiert, so rückt zweifellos der Mensch ins Zentrum der Offenbarung. Es ist der Mensch als Sinnbild der Πενία, der gleichsam nach Heil verlangt. Die Bedürftigkeit des Menschen nach Heil, das (wohl) kategorisch nicht aus eigener Kraft gelingen kann, lässt die Selbstoffenbarung Gottes im Akt der Erlösung ersichtlich werden. Die universale Zuwendung Gottes ist demnach von der nämlichen Bedürftigkeit des Menschen, ja von der unüberholbaren Sünde desselben getragen. Das Ende dieser Offenbarungsgeschichte kann mithin „nur im Tod des Menschen gegeben sein“19, wie Karl Rahner konstatiert. Der Tod ist mithin eine Weise zu sein, die der Mensch übernimmt, sobald er ist. Der Tod gehört zum Menschen. So sei an den Psalm erinnert: „Des Menschen Tage gleichen dem Gras, er blüht wie die Blume des Feldes. Ein Hauch des Windes, schon ist sie dahin; und der Ort, wo sie stand, er hat sie vergessen.“20 Somit besteht das authentische Leben darin, den Tod mit einzuschließen, nicht, ihn zu meiden. Im Tod zeigt sich die Vollendung Jesu in seiner Menschlichkeit. So lässt ihn selbst der Koran sprechen: „Und Friede auf mich am Tag, als ich geboren, und am Tag, wenn ich sterbe (…)“21. Im Tod am Kreuz nimmt Gott vorzüglich das Menschliche, das Endliche auf sich, was zu seiner trinitarischen Verfassung gehört, da er nicht in diesem Akt verendlicht wird, ist doch 16 17 18 19 20 21 NAǦM AD-D ĪN N ASAFĪ, Al-ʿAqāʾid, ed. William Cureton. In: Pillar of the Creed of the Sunnites, London 1843 [dt.]. In: J OSEPH SCHACHT, Der Islām mit Ausschluss des Qorʾāns, Tübingen 1931, 84. KARL R AHNER , Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg 1976, 97. Ebd. Ebd. Psalm 103,15-6. Q 19:33. ZUR FRAGE DER ERLÖSUNG DES MENSCHEN IM RELIGIÖSEN DENKEN DES ISLAM 21 seine Unendlichkeit gegen die Endlichkeit nicht begrenzt. In der Wissenschaft der Logik ist zu lesen: Dies ist eine sehr wichtige Betrachtung; daß aber das Endliche absolut sei, solchen Standpunkt wird sich freilich irgendeine Philosophie oder Ansicht oder der Verstand nicht aufbürden lassen wollen; vielmehr ist das Gegenteil ausdrücklich in der Behauptung des Endlichen vorhanden; das Endliche ist das Beschränkte, Vergängliche; das Endliche ist nur das Endliche, nicht das Unvergängliche; dies liegt unmittelbar in seiner Bestimmung und Ausdruck. Aber es kommt darauf an, ob in der Ansicht beim Sein der Endlichkeit beharrt wird, die Vergänglichkeit bestehen bleibt, oder ob die Vergänglichkeit und das Vergehen vergeht. Daß dies aber nicht geschieht, ist das Faktum eben in derjenigen Ansicht des Endlichen, welche das Vergehen zum Letzten des Endlichen macht. Es ist die ausdrückliche Behauptung, daß das Endliche mit dem Unendlichen unverträglich und unvereinbar sei, das Endliche dem Unendlichen schlechthin entgegengesetzt sei. Dem Unendlichen ist Sein, absolutes Sein zugeschrieben; ihm gegenüber bleibt so das Endliche festgehalten als das Negative desselben; unvereinbar mit dem Unendlichen bleibt es absolut auf seiner eigenen Seite.22 Das Kreuz ist indes mehr als nur ein Zeichen, ein Symbol für den Tod, Schmach und Schande; es bleibt auch nicht im Einzelnen und Besonderen behaftet; vielmehr markiert dieser Kreuzestod den Übergang ins Allgemeine insofern, als dabei das Einzelne seine Vollendung findet; denn um es mit den Worten von Paulus zu sagen, „in ihm sind alle gestorben“23. Denn die Vollendung der Erlösung des Menschen vollzieht sich nach dem christlichen Glauben nota bene mit dem Tod, ja mit dem Tod Jesu. Dieser Tod wird ferner nicht bloß in seinem biologischem Vorgang bedeutsam, sondern in seinem ganzen, ja umfassenden Phänomen: Jesus wird gekreuzigt. Hegel schreibt: „Und zwar ist Christus gestorben den gesteigerten Tod des Missetäters; nicht nur den natürlichen Tod, sondern sogar den Tod der Schande und Schmach am Kreuze: die Menschlichkeit ist an ihm bis auf den äußersten Punkt erschienen.“24 Eine derartige Theologie steht und fällt mit einer grundlegenden Anthropologie, ja einer theologischen Anthropologie. Wie lässt sich vor diesem Hintergrund die Offenbarung im Islam begreifen, wenn er explizit den Anspruch erhebt, eben keine Erlösungsreligion zu sein? Was ist dann der Beweggrund (movens) der Offenbarung im Islam? Was ist Erlösung im islamischen Sinne? Welche anthropologische Entschiedenheit vertritt der Islam in systematischer Hinsicht, um den ihm immanenten Sinn der Offenbarung nicht zu verfehlen? 22 23 24 GEORG W ILHELM FRIEDRICH H EGEL, Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 5, Frankfurt a.M. 1969-71 (abgekürzt: Hegel, Theorie Werkausgabe); 140f. 2 Kor 5,14; Röm 6,8. HEGEL, Theorie Werkausgabe, Bd. 17, 289. 22 MILAD KARIMI 2. Erlösung und Tod Der eine und lebendige Gott ist der Herrscher über alle Dinge, auch Herr über Tod und Vergänglichkeit, so wie der Koran konstatiert: „Sag: ‚Mein Gebet, meine Opfer, mein Leben und mein Tod gehören Gott, dem Herrn der Welten.‘“25 Mit dem Koran lässt Gott die entschiedene Haltung zum Tod des Menschen offenlegen, dass er, dieser Tod, dessen „Trunkenheit die Wahrheit bringt“26, nicht das letzte Wort habe, nichts erlösche und zu Ende bringe, aber auch nichts erlöse. Im Tod findet aber der Mensch, um es entschieden zu formulieren, seine irdische Bestimmung. „Eintagswesen! Was ist ein Jemand? Was ein Niemand? Schattens Traum der Mensch“, sagte einmal bekanntlich der große Pindar in seiner achten Pythischen Ode.27 Mit der Offenbarung des Koran die Gegenwart Gottes in der Welt zu erkennen, heißt für die Muslime, dass die weltliche Realität ein heiliger Ort ist, so schreibt der herausragende islamische Gelehrte des 20. Jahrhunderts Muhammad Iqbal (gest. 1938): „Die Realität ist daher in ihrem Wesen spirituell.“28 Die Erkenntnis, dass die Welt die Schöpfung ist und der Mensch das Geschöpf dieses einen Schöpfers, der ihm näher als seine Halsschlagader ist,29 wie banal uns dies auch vorkommen mag, handelt von der Einsicht in Begründungszusammenhänge, die das Verständnis des Menschen umfassend prägt. Zum Menschsein gehören auch sein Ursprung und seine Heimkehr, seine Verblendung, seine Verdammnis und seine Vergebung. Allen voran gewinnen die Fragen nach den Grenzen des menschlichen Daseins eine entschieden andere Bewandtnis, weil die Scheidung vom Leben nicht überdeckt oder verdrängt wird; vielmehr wird ihm eine besondere Bedeutung beigemessen. So ruft Gott in seinem Wort den Menschen ins Gedächtnis, dass der Tod vor allem „Heimkehr“ und nicht Ausschluss, Untergang und Katastrophe, ja Ende ist; wohl aber in der religiösen Wirklichkeit die Rückkehr des Lebens zu seinem Ursprung.30 Somit gewinnt die Offenbarung als Erkenntnis ihre Präzision mit dem Begriff der Unterscheidung (al-furqān / al-mīzān), wenn im Koran zu lesen ist: Voller Segen Er, // der herabgesandt die Unterscheidung zu Seinem Diener, // damit er für die Welten sei ein Warner. // Er, // der die Herrschaft hat über die Himmel und die Erde, // nicht Sich genommen hat ein Kind Er // und nicht einen neben Sich Gestellten in der Herrschaft hat Er // und erschaffen ein jedes Ding hat Er // und ihm sein Maß bemessen hat Er. // Und genommen haben sie sich außer Ihm Götter, // die nichts erschaffen, selbst erschaffen worden vielmehr, // 25 26 27 28 29 30 Q 6:162. Q 20:19. P INDAR , Siegeslieder. Griechisch – deutsch, herausgegeben, übersetzt und mit einer Einführung versehen von Dieter Bremer, Düsseldorf/Zürich 22003, 191. MUHAMMAD IQBAL, Wiederbelebung des religiösen Denkens. Aus dem Englischen von Axel Monte und Thomas Stemmer, Berlin 2003, 98. Vgl. Q 50:16. Vgl. Q 5:35. ZUR FRAGE DER ERLÖSUNG DES MENSCHEN IM RELIGIÖSEN DENKEN DES ISLAM 23 die nicht sich schaden oder nutzen können selber // und nicht verfügen über // das Leben, den Tod und die Erweckung.“31 Erstens ist der Koran also Unterscheidung von wahr und falsch, also im theoretischen Sinne Erkenntnis und zweitens ist er Unterscheidung von gut und schlecht, also im praktischen Sinne Erkenntnis. Somit wird der Koran insofern als die Offenbarung Gottes qua Unterscheidung begriffen, als er den vollkommenen Maßstab (Kriterium, arab.al-mīzān) für die Unterscheidung von einerseits wahr und falsch und andererseits von gut und schlecht darstellt. Dies alles deshalb, damit der Mensch seine Bestimmung finde. Der Islam versteht sich nämlich als eine Offenbarungsreligion derart, dass es ihr tatsächlich um die Menschwerdung geht, jedoch nicht um die Menschwerdung Gottes, sondern um die Menschwerdung des Menschen. Damit ist aber nicht der Tod des Menschen ausgeschlossen. Im Koran ist zu lesen: „Jede Seele kostet den Tod.“32 Weiterhin sagt der Koran: „Und Er begann die Schöpfung des Menschen aus Lehm. Dann machte Er seine Nachkommenschaft aus einer Essenz verachtenswerten Wassers. Dann formte Er ihn und blies ihm ein von Seinem Geist [ruh].“33 Gott hat dem Menschen im Akt seiner Erschaffung von Seinem (!) Geist eingeblasen und ihm damit das Lebensprinzip verliehen. Er ist in ihm gegenwärtig. So ist bei Muhammad Iqbal im Buch der Ewigkeit zu lesen: „Der Mensch ist? – Ein Geheimnis Gottes.“34 In diesem vorzüglichen Sinne ist der Begriff ar-ruh (Geist) dem Begriff der an-nafs (Seele) systematisch, also prinzipiell vorzuziehen. In der islamischen Tradition, gerade auch bei den Korankommentatoren lassen sich mannigfache Interpretationen und Meinungen finden, wie das Verhältnis der nafs und der ruh zu bestimmen sei.35 Jedoch was der Geist sei und letztlich auch was die Seele sei, bleibt stets offen. „Und sie befragen dich nach dem Geist. Sag: „Der Geist obliegt dem Befehl meines Herrn. Und gegeben ist euch vom Wissen wenig nur.“36 Es dürfte also nicht überraschen, dass es weder eine einheitliche Lehre der Seele in der islamischen Tradition zu finden ist, noch eine umfassend überzeugende. Eines aber scheint mir deutlich zu sein: Durch diesen Akt der Lebendigmachung, zum Leben erwecken ist der Mensch beseelt; sodass – ganz im Sinne Aristoteles‘ im Übrigen – beseelt sein und lebendig sein identisch sind. Wie die peripatetische Schule würdigt der Koran die innere Amiguität der Seele. So beziehen sich zahlreiche Verse auf die Realität der Seele, jedoch wird der nämliche Begriff als nafs (aber zuweilen als ruh) nicht in einem verengten Sinne verwen31 32 33 34 35 36 Q 25:1-3. Q 3:185. Q 32:7-9. Zitiert nach ANNEMARIE SCHIMMEL, Muhammad Iqbal. Prophetischer Poet und Philosoph, München 1989, 146. Vgl. MAGDY E LLEISY, Die Seele im Islam: Zwischen Theologie und Philosophie, Hamburg 2013. Q 17:85. 24 MILAD KARIMI det, vielmehr lassen sich unterschiedliche Bedeutungsfelder für die Bestimmung dessen, was nafs als nafs ist, markieren: erstens wird die Seele als selbstreflexive ethische Instanz beschrieben, so z.B. in der Sure 75:2: „Nein! Ich schwöre bei der Seele, die sich tadelt!“ Im ethischen Kontext bleibt auch die zweite Bedeutungsebene insofern offen, als sie die Seele als eine sich aneignende und abmühende Instanz würdigt, so wie in Vers 164 der Sure 7 darauf hingewiesen wird: „Und keine Seele erwirbt etwas, es sei denn, gegen sich selbst“; ferner heißt es: „Wahrlich, die Stunde kommt, Ich halte sie fest verborgen, damit wird jeder Seele mit dem vergolten, worum sie sich bemüht.“37 Oder: „Und die, die geglaubt und die ausgewandert und sich mit ihrem Vermögen und ihrer Seele abgemüht auf Gottes Weg, und jene, die Wohnstätte gewahrt und Hilfe geleistet – diese sind Gläubige, wahre. Sie haben Vergebung und Versorgung, edle.“38 Drittens wird die Seele als die eigenste, intime und mithin wahre Mitte des Menschen gewürdigt, ja gleichsam als der archimedische Punkt des Menschseins; in diesem Sinne ist im Koran zu lesen: „O du Seele, eingetaucht in Ruhe! Kehre zurück zu deinem Herrn, zufrieden und von Seinem Wohlgefallen getragen! Tritt ein zu Meinen Dienern. Und tritt ein in Mein Paradies.“39 Oder noch pointierter: „Und gedenke deines Herrn in deiner Seele“40. Oder gar: „Gott kennt sehr wohl, was in ihrer Seele ist.“41 Weiterhin wird viertens in einem zutiefst ethischen Sinne die Seele als Triebseele, d.h. als Movens zur Begierde, zur Gier, ja zum Übel beschrieben. In der Seele sei ein inhärentes Bestreben gegeben, der Begierde nachzugehen. „Die Seelen neigen zur Habgier“.42 „Und ich erkläre mich nicht für rein, denn die Seele gebietet das Schlechte“43; oder noch etwas gesteigerter: „Da trieb ihn seine Seele, zu töten seinen Bruder“.44 Die Seele wird also als die Substanz oder die Grundlage aller weiteren Vereinzelung des Geistes aufgefasst. Jeder Mensch strebt nach der Verwirklichung seines Wesens. Dieses verleiht dem Entwicklungsprozess seine Richtung. Der Prozess der Entwicklung, das Werden des Menschen ist also um des Seins willen da, nicht das Sein um des Werdens willen. Der Islam lehrt also: Der Mensch ist nicht, um zu werden, sondern er wird, um zu sein. In diesem Sinne geht die Wirklichkeit, die es zu erreichen gilt, der Möglichkeit voraus. Potentiell ist ein Mensch mehr als er konkret ist; er ist noch nicht alles, was er sein könnte. Selbst der Tod des Menschen, der sich exakten Definitionen und empirischen Methoden entzieht, wird ihn deshalb bereichern, weil er ihn kosten darf und der wiedererweckte Mensch, um eine Glaubenswahrheit des Islam zu nennen, 37 38 39 40 41 42 43 44 Q 20:15. Q 8:74. Q 89:27-29. Q 7:205. Q 11:31. Q 4:128. Q 12:53. Q 5:30. ZUR FRAGE DER ERLÖSUNG DES MENSCHEN IM RELIGIÖSEN DENKEN DES ISLAM 25 ist einer der schon mal gestorben ist, belehrt und geprüft. Für die Erlösung des Menschen ist die Transformation der Seele zum Guten, ja zur Vervollkommnung seines Selbst conditio sine qua non. Doch die Seele ist nicht selbstständig, sondern immer schon im Geist gegründet, insofern die Erlösung des Menschen konstitutiv in ihm verankert ist, aber ohne Gott nicht erfüllt wird. Man darf die Seele aber nicht dinganalog, also raum-zeitlich betrachten. Da diese Unterwerfung nicht möglich ist, haben die Fragen nach dem körperlichen Sitz der Seele und nach ihrem Entstehen und Vergehen in Raum und Zeit keine Berechtigung. Weil die Seele kein Ding ist, hat sie auch keine Teile, die man sich bei ihr als stabile Eigenschaften vorstellen könnte. Die hieraus zu entwickelnde Anthropologie schließt sich dem Konzept der modernen Anthropologie an, insofern sie die menschliche Natur nicht so sehr als Wesen des Menschen, sondern vielmehr als das Natürliche im Menschen darzustellen versucht. Daher lässt sich die Seele als „Naturgeist“ qualifizieren, um einen Begriff von Jakob Böhme45 zu bemühen. Somit sind die verschiedenen Konstitutionen, die sich innerhalb der Anthropologie aufzeigen, dynamisch als Stufen oder Momente in der Entwicklung des Geistes im Menschen zu betrachten. Diese (Bewusstsein, Geist, Seele) sind jedoch nicht als feste, geschiedene Entitäten, sondern als Entwicklungsstufen des einen Geistes zu unterscheiden. Die Seele ist dabei kein „fertiges Subjekt“, sondern „Moment der Entwicklung und in der Fortbestimmung, Vorwärtsgehen seinem Ziele zu, sich zu dem zu machen und für sich zu werden das, was er an sich ist“.46 Dadurch avanciert, wie Ibn Sina bereits erläuterte, aber auch im Sufismus nicht unüblich ist, die Seele zum Phänomen der Transformation. Die Transformation der nafs, die auf unterschiedlichen Wegen erfolgen kann, ist zentral, weil sie gerade den Vollzugscharakter der nafs hervorhebt. Als solcher ist sie die allgemeine Substanz des Geistes, „die absolute Grundlage aller Besonderung und Vereinzelung des Geistes“.47 Damit wird die Seele nicht in einer dualistischen Trennung der „Leib-Seele“ angenommen, sondern die Seele wird als unmittelbare, nicht vermittelte Einheit der Seele und des Leibes gedacht. Die Entwicklung der Seele, ihr Weg der Vervollkommnung durchläuft dabei Stufen, die z.B. Hegel als die natürliche, die fühlende und die wirkliche Seele begreift.48 Die Seele setzt ihre Leiblichkeit als äußeres Zeichen ihrer selbst. Insofern die Seele die Identität des Inneren mit der unterworfenen äußeren Leiblichkeit ist, ist sie wirklich. „Sie hat an ihrer Leiblichkeit ihre freie Gestalt, in der sie sich fühlt und sich zu fühlen gibt, die als das Kunstwerk der Seele menschlichen Ausdruck hat“.49 Nach Hegel ist also das Innere nur insofern eine „wirkliche“ Seele, als dieses Innere zugleich ein Äußeres ist. 45 46 47 48 49 Siehe etwa KARL-WILHELM SCHIEBLER (Hg.), Jakob Böhmes’s sämmtliche Werke, Bd. 2, Leipzig 1832, 30. HEGEL, Theorie Werkausgabe, Bd. 10, § 387 A. Ebd. Ebd., § 390. Ebd., § 411. 26 MILAD KARIMI So können wir durch den Zusammenhang von Innerem und Äußerem eine Seele wirklich denken, weil wir nur aus ihrem äußeren Verhalten auf das Haben von Empfindungen wie Schmerz, Hunger, Selbstgefühl etc. schließen können. Im Akt des Glaubens, der durch die koranische Offenbarung erst im vollen Umfang generiert wird, gelingt die Entwicklung der Seele, des Selbst (ḥudī) des Menschen, eine Entwicklung im umfassenden Sinne, um „die letzte Frucht im Baum des Lebens“ (Iqbal) sein zu können. Auf diese Weise erreicht er seinen Höhepunkt im wahrhaftigen Gläubigen (mard-e momin), dessen Vollkommenheit in Person des Propheten Muhammad (s) erlangt wurde. Aus dieser Gewissheit der existentiellen Nähe Gottes zum Menschen, in aller Hinfälligkeit und Sterblichkeit bezieht die Seele ihren Wagemut, sich dem Prozess des Lebens bis in die letzte und abstrakteste aller Negationen, bis in den Tod hinzugeben. Sich dem Tod auszusetzen, um ihn dann in neuen Sinn zu verwandeln, darin liegt die eigentliche, psychologisch gesprochen, kontraphobische Angstabwehr. So ist im Koran noch eine fünfte Bestimmung der Seele zu entnehmen, die sich auf die Seele in Bezug auf den Tod bezieht: „Konntest du nur sehen, wenn die Übeltäter in den Fluten des Todes, wenn die Engel ihre Hände ausstrecken: „Gebt eure Seelen heraus!“.50 „Gott beruft ab die Seelen zur Zeit ihres Todes“.51 Oder in einer konzisen Wendung: „Wo ihr auch seid, euch ereilt der Tod, und wärt ihr in Burgen, in hochgebauten“52. „Sag: „Der Tod, vor dem ihr flieht, wird euch treffen. Dann werdet ihr zu dem zurückgebracht, der ist wissend über das Verborgene und Offenbare. Er wird euch verkünden, was ihr stets getan.“53 Selbst im Ereilen des Todes ist die Seele kein passiver Empfänger, kein Leidender, sondern: „Jede Seele kostet den Tod“, ja sie wird durch den Tod bereichert auf ihrem Weg der Entwicklung. „Der große Tod, den jeder in sich hat, das ist die Frucht, um die sich alles dreht“, sagte einmal Rainer Maria Rilke. Der Tod als Frucht, um die sich alles drehe, lässt die Setzung des Lebens außerhalb desselben (des Todes) unangemessen erscheinen. Unangemessen ist nach Hegel das Leben deshalb, weil sich der Lebensprozess als eine fortwährende Unruhe zwischen Einzelheit und Allgemeinheit zeitigt; obgleich das Leben an sich im Unterschied zum Individuum die Allgemeinheit darstellt, so kann sich aber das Leben zunächst als Individuum und mithin als Einzelnes verwirklichen. Wer lebt, der trägt den Tod in sich; der Tod ist ein „angeborene[r] Keim“, der als konstitutives Moment zum Leben gehört. Um mit Kierkegaard zu sprechen, ist die Krankheit zum Tode jene innere Notwendigkeit, welche der Mensch in seinem Sein ursprünglich enthält. Der Tod ist also Hegel zufolge keine Äußerlichkeit. Er schreibt in der „Enzyklopädie“: „Der Mensch kann totgeschlagen werden, 50 51 52 53 Q 6:93. Q 39:42. Q 4:78. Q 62:8. ZUR FRAGE DER ERLÖSUNG DES MENSCHEN IM RELIGIÖSEN DENKEN DES ISLAM 27 dieses Äußerliche ist aber zufällig; das Wahrhafte ist, daß der Mensch durch sich selbst stirbt.“54 Der Tod ist indessen die internalisierte Ruine, die der Mensch als ein lebendiges Wesen in sich trägt. Im Angesicht des Todes ist der Gedanke der Freiheit deplatziert. In diesem Sinne ist der Mensch unangemessen, ja unvollkommen in seinem existenziellen Charakter. Vollendet ist der Mensch mit dem Tod derart, dass er sich durch sich selbst tötet. Er ist sein Ende als seine Vollendung. „Sterbliche“ nannte bereits Homer die Menschen. Was ist das Geheimnis Gottes, dass er sich diesem bloß Sterblichen offenbart, trägt und tröstet? In der amerikanischen Kultserie „Six Feet Under“, in der sich alles um den „großen Tod“ dreht, kommen am Grab des Protagonisten Maulānā Rūmīs Verse aus seinem Divan zu Wort, die die Vergänglichkeit des Menschen im Angesicht Gottes und seiner Offenbarung thematisieren: „Unser Tod ist unsere Vermählung mit der Ewigkeit // Was ist dieses Geheimnis: ,Er ist Gott, der Eine‘?“ Insofern offenbart der Tod die äußerste Möglichkeit des Menschseins überhaupt,55 aber nicht sein Ende, seine Vollendung. Mit den Worten des Koran gesprochen: „Jede Seele kostet den Tod“56. Dieses irdische Ende gehört zum Menschen als Menschen. Der Mensch trägt sein Ende in sich oder vielmehr ist er sein Ende. Der Tod ist mithin eine Weise zu sein, die der Mensch übernimmt, sobald er ist. Der Tod gehört zum Menschen. Noch einmal erinnere ich an den Psalm: „Des Menschen Tage gleichen dem Gras, er blüht wie die Blume des Feldes. Ein Hauch des Windes, schon ist sie dahin; und der Ort, wo sie stand, er hat sie vergessen.“57 Somit besteht das authentische Leben darin, den Tod zu enthalten, nicht, ihn zu meiden. Im Tod zeigt sich die Vollendung des Menschen in seiner Menschlichkeit. Dieser Tod wird ferner nicht bloß in seinem biologischen Vorgang bedeutsam, sondern in seinem ganzen, ja umfassenden Phänomen – als ein Moment der Erlösung, oder gar Verdammnis? 3. Erlösung und Offenbarung Der Inbegriff der Offenbarung im Islam ist der Koran. Demnach ist die Offenbarung im Islam keine Selbstoffenbarung Gottes, sondern Gott offenbart mit dem Koran seine eigene Gegenwart. Die Genese des Korans hat bekanntlich eine eigentümliche Dramaturgie, die es zu erinnern gilt. Gott, der eine Gott, lässt seine Herrlichkeit offenbar werden, indem er sich einem Menschen mitteilt. Seine Mitteilung ergreift diesen Menschen; sie berührt seine Sinne. Der Engel, der ihn herrisch einlädt, sich der Offenbarung zu öffnen, der Ruf, der seine Berufung werden soll, lässt ihn bloß ein Fragment vernehmen. Offen54 55 56 57 HEGEL, Theorie Werkausgabe, Bd. 9, § 266. MARTIN H EIDEGGER , Sein und Zeit, GA, Bd. 2, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M. 1977, 263. Q 29:57; 3:185; 21:35. Psalm 103,15-6. 28 MILAD KARIMI barung ist – islamisch gedacht – Fragment, sie ist brüchig, unvollendet, offen. Ergriffen ist er von der Empfindsamkeit jenes Augenblicks, der ihn entschieden tragen soll. Zitternd lässt ihn der Engel zurück. Und er, der Suchende, der Sinnende, hat nicht den Koran. Er hat bloß eine Erinnerung, eine sinnende, eine suchende Erinnerung. Er ist, möchte man sich an ein altes Gleichnis erinnern, der wandelnde, der lebende Koran, die Erinnerung selbst, der den Namen Muhammad trägt; einer, der sich in die Höhe des Berges begab, von der Erde eben abhob, in eine Berghöhle flüchtete, statt dem Licht der Vielheit, welche durch den Topos der Stadt repräsentiert ist, die Finsternis der Höhle bevorzugte, sich der Einsamkeit zwischen Himmel und Erde anvertraute, ja sich von allem Weltlichen, aller Gemeinschaft entleerte, um den Engel Gabriel, so die islamische Tradierung, zu empfangen. Der Koran wird also nicht in einem Zug offenbart; Muhammad erhält auch keine Schriftzüge oder Schrifttafel. Die später entstandene Koransammlung als Schrift ist und bleibt eine genuin menschliche Tat, eine späte Tat, die einen entschieden sekundären Charakter hat. Das erste Offenbarungsereignis ist weder ein einmaliges noch ein einzigartiges Erlebnis, das Muhammad erfuhr; vielmehr soll Muhammad über zwei Jahrzehnte immer wieder und immer erneut durch die Koranmitteilung erschüttert werden. Muhammads Brust wird geweitet, wie sich der Koran ausdrückt, für die Offenbarung Gottes: „Haben wir dir nicht geweitet die Brust und dir abgenommen die Last, darum du gebeugt dich hast?“58 Dabei erlangt er nicht „nur“ Einsicht für die Prinzipien des Islam; vielmehr berührt ihn der Koran; die religiösen Einsichten werden ihm sinnlich, ästhetisch erfahrbar: Der Koran geht ihm unter die Haut. Seine ersten Hörer vernehmen den Koran, ja erleben ihn als eine akustische, atmosphärische und mithin ästhetische Erfahrung. Der Terminus ‚Offenbarung’ soll zunächst nicht mehr heißen als das intendierte Offenbarwerden der Gegenwart Gottes. Bewegend ist der Koran als eine genuin ästhetische Erfahrung, begreift man ihn wesentlich im Sinne einer mündlichen Inszenierung. Der Sinn (der Mitteilung) zeigt sich in der Sinnlichkeit, ja die Sinnlichkeit generiert den Sinn; d.h.: Sinn und Sinnlichkeit gewinnen im Akt des Rezitierens eine lebendige Einheit. Religiöse Rührung, getragen von der tiefen Einsicht in die Hingabe vor dem einen Gott, ergreift den gläubigen Muslim beim musikalischen Vortrag des Koran derart, dass er seine je eigene Historizität, seine eigene Zeitlichkeit, seine Gegenwart vergisst, ja dass er sich selbst vergessen bleibt. Der Akteur der Vergegenwärtigung Gottes ist Muhammad als Gesandter Gottes. Was sich mit dem Koran ereignet, unmittelbar und rein, ist die Gegenwart der Einheit und zugleich die Einheit der Gegenwart; dies entzieht sich ihrer Natur nach a priori der Historizität. Diese Offenbarung ist also insofern eigentümlich, als sie sich nicht vergegenständlichen lässt. Mit anderen Worten: Der Koran wird nicht ein Anderes, er wird nicht Fleisch oder Buchstabe; vielmehr ereignet sich der Koran mit Muhammad. Indessen gilt der Koran 58 Q 94:1-3. ZUR FRAGE DER ERLÖSUNG DES MENSCHEN IM RELIGIÖSEN DENKEN DES ISLAM 29 derart als die Offenbarung, dass er ein ästhetisches Ereignis darstellt. Die Gegenwart Gottes geschieht vornehmlich deshalb in einem ästhetischen Akt, weil der Koran wesentlich ein zu Hörendes ist. Der Koran ereignet sich in der Rezitation und zugleich im Hören desselben. Durch diesen dynamischen Akt des melodischen Vortrags und des Hörens gewinnt der Koran als Koran an Realität, genauer: Der Koran wird erst zum Koran, wenn er rezitiert und im gleichen Atemzug gehört wird. Allein in diesem Akt wird die Gegenwart Gottes sinnlich wahrnehmbar. Damit wird Muhammad konstitutiv für diese Offenbarung. Anders gewendet: Erst innerhalb einer sinnlichen Atmosphäre, die kraft der Rezitation und Rezeption entsteht, ereignet sich die Offenbarung Gottes. Der Islam begreift also die Offenbarung als eine ästhetische Mitteilung, weil die Mitteilung, ja der Wille Gottes durch Muhammad hindurchgeht. Sie wird im besten Sinne des Wortes menschlich. Muhammad steht nicht daneben, während die Offenbarung stattfindet. Er ist Teil dieses Ereignisses, er läuft mit. Genauer: Es ist die an Muhammad ergangene Offenbarung. Insofern ist das historische Moment dieser Offenbarung konstitutiv, als der Sinn einer Offenbarung eben darin besteht, in die Geschichte hineinzufließen. Dieser Fluss ist jedoch selbst ein geschichtlicher Akt. Der Koran fungiert mithin nicht bloß als Transportmedium einer bestimmten Botschaft. Kurz: Der Inhalt lässt sich nicht von der Form derart trennen, dass man annehmen könnte, der explizite Inhalt des Koran wäre auch in einer anderen Form zu vermitteln; denn damit wäre die Offenbarung Gottes in ihrer Ganzheit bloß ein kontingentes Phänomen. Doch der Koran insistiert selbst nicht nur auf seiner arabischen59 Sprache, also der Sprache Muhammads, sondern auch auf der anmutigen Weise seiner Vermittlung im Vortragsstil60, den die ersten Hörer durch Muhammad vernommen haben. Insofern repräsentiert der Koran für die Muslime in seiner ganzheitlichen Verfasstheit die Herrlichkeit Gottes. Offenbarung handelt also von einem ästhetischen Erleben der Schönheit Gottes, die Muhammad uns zu Gehör bringt. Offenbarung heißt mithin, dass in Muḥammad das Feuer Gottes entfacht wird, sodass ihm nachzueifern, eben nicht Ausdruck eines blinden Glaubens wäre, drückt er doch die Offenbarung Gottes aus. 4. Erlösung und Schönheit Offenbarung handelt also von einem ästhetischen Erleben der Schönheit Gottes. Eröffnet wird die Brust des Menschen für Gott im Akt der Rezitation des Korans, die zugleich die Rezitation Muhammads ist. Die Beziehung des Menschen zu Gott, ja zu seinem Gott, wird mit dem Koran dergestalt generiert, dass der Mensch von seinem Gott überwältigt ist. Nicht der Verstand 59 60 Q 26:195; 39:28; 41:3. Q 25:33. 30 MILAD KARIMI oder gar die Moralität binden Muslime an ihren Gott, obgleich diese und andere Kategorien sehr wohl von höchster Bedeutsamkeit für die Religiosität sind; vielmehr erobert der Herr aller Welten das Herz des Menschen mit seiner Herrlichkeit. Der Koran fungiert somit nicht als Mittel zu einem Zweck, sondern er ist die Offenbarung Gottes als dieses Ereignis der Schönheit. Die Antwort auf die Frage nach dem Wofür der Offenbarung wohnt im Schoß der Frage selbst. Der Gott, der die Menschen derart berührt, offenbart seine Gegenwart nicht primär als der Meister, Lehrer und Erlöser; vielmehr tritt der Gott im Islam auf als der Liebende, der Schöne, der Berührende. Durch die Offenbarung lässt sich der unübertrefflich Erhabene gleichsam entschleiern. Was sich offenbart, entzieht sich aber zugleich. Das Offenbarungsereignis ist demnach im gleichen Atemzug – um es mit den Worten von Heidegger zu sagen – „Enteignis“. Das heißt, dass sich die Gegenwart in dem Augenblick entzieht, in dem sie sich offenbart. Wenn sich also der Mensch zu dieser Offenbarung affirmativ verhält, d.h. an sie glaubt, so wird er von derselben Struktur bewegt; denn der Glaube ist ebenso sehr nicht greifbar. Weder können also der Glaube noch die Offenbarung ein einmaliges Ereignis sein. Wie die Struktur der Liebe vorgibt, so erobert Gott in jedem Augenblick mit seiner Offenbarung das Herz des Menschen, wie sich auch der Mensch in jedem Augenblick erneut mit seinem Glauben zu Gott und seiner Offenbarung verhält. Die Offenbarung fordert notwendig den Glauben. Die Darstellung des Glaubens wird im Islam als ʿaqāʾid bezeichnet. Die Singularform des Wortes ʿaqāʾid ist ʿaqīda, welches mit der Wortwurzel ʿ-q-d, also ʿaqada, ʿaqd so viel bedeutet wie knoten, knüpfen, binden. ʿAqīda handelt also zunächst etymologisch von einer Bindung, sodann terminologisch von der Bindung des Menschen an seinen Gott; dieser Bund zwischen Mensch und Gott ist insofern durch die ʿaqīda gesichert, als der Gläubige (muʾmin) mit dieser Bindung die Glaubensinhalte gleichsam internalisiert. Demnach signifiziert die ʿaqīda den aktiven Glaubensvollzug, ja ʿaqīda ist der aktive Glaubensakt eines Gläubigen (muʾmin) hinsichtlich der Glaubensinhalte (arkān al-īmān). Der Glaube ist mithin wesentlich Vermittlung. Vermittlung ist der Glaube insofern, als er stets auf einen Inhalt bezogen ist, ja im Glaubensakt wird der Inhalt des Glaubens vermittelt. Das Subjekt des Glaubens begegnet dem Inhalt nicht als einem zufälligen, ist doch der Glaube nicht bloß subjektiver Natur, also endlich und äußerlich; vielmehr bezieht sich der Glaube auf die Offenbarung, genauer: der geglaubte Inhalt ist die Offenbarung. Denn Gott lässt mit dem Koran seine Gegenwart offenbaren. Das Für-Wahr-Halten (at-taṣdīq) dieser Offenbarung ist der wesentliche Akt des Glaubens überhaupt. Gelungen ist der Glaubensakt erst, wenn sich der Gläubige diesen gewussten, erkannten Inhalt qua Offenbarung zu Eigen gemacht hat. Hegel konstatiert: „Ich mache mir im Glauben das zu eigen, was so an mich kommt, und es hört so auf, ein Anderes für mich zu sein.“ Der Glaubensakt handelt also von der Bindung des Menschen an Gott. Der Beweggrund der Offenbarung im Islam als das Erleben der Gegen-