Sammelrezension "Ausgrenzung, Prekarität, Unsicherheit

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Ausgrenzung, Prekarität,
Unsicherheit – Analysen
zum Gestaltwandel
sozialer Ungleichheit
PATRICK SACHWEH
CLAUDIO ALTENHAIN / ANJA DANILINA / ERIK HILDEBRANDT / STEFAN KAUSCH /
ANNEKATHRIN MÜLLER / TOBIAS ROSCHER (Hrsg.), Von „Neuer Unterschicht“
und Prekariat. Gesellschaftliche Verhältnisse und Kategorien im Umbruch. Kritische
Perspektiven auf aktuelle Debatten. Bielefeld: transcript 2008, 234 S., br., 24,80 €
ROBERT CASTEL / KLAUS DÖRRE (Hrsg.), Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale
Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts. Frankfurt a. M.: Campus 2009, 424 S., br., 29,90 €
DANIELA ROHRBACH, Wissensgesellschaft und soziale Ungleichheit. Ein Zeit- und Ländervergleich. Wiesbaden: VS 2008, 276 S., br., 34,90 €
BERTHOLD VOGEL, Wohlstandskonflikte. Soziale Fragen, die aus der Mitte kommen.
Hamburg: Hamburger Edition 2009, kt., 25,00 €
I. Sozialstrukturanalyse in der Horizontalen: Individualisierung,
Pluralisierung – Entvertikalisierung?
Wie jede wissenschaftliche Disziplin hat auch die Soziologie der sozialen Ungleichheit ihre spezifischen Konjunkturen hinsichtlich ihrer leitenden Fragestellungen, analytischen Begrifflichkeiten und zentralen theoretischen Konzepte.
Verbunden hiermit sind nicht nur Umstellungen im begrifflichen und analytischen Instrumentarium einer Spezialsoziologie, sondern – wenigstens implizit –
immer auch Veränderungen im wissenschaftlichen Blick auf die zeitgenössischen
gesellschaftlichen Verhältnisse, also den jeweiligen Zeitdiagnosen. In den 1980erund frühen 1990er-Jahren haben die Konzepte des „Lebensstils“ und „sozialen
Milieus“ mit ihren korrespondierenden Zeitdiagnosen etwa der „Individualisierung“ (Beck), „Pluralisierung“ (Hradil) oder „Entvertikalisierung“ (Schulze)
der Sozialstruktur die Ungleichheitsforschung dominiert, sodass kritische Stimmen aus dem Lager der an Klassen- und Schichtkonzepten orientierten Sozialstrukturanalyse den Aufmerksamkeitsverlust für die traditionellen „vertikalen“
Ungleichheiten beklagten und fürchteten, die Ungleichheitsforschung werde zu
einer bloßen „Vielfaltsforschung“ (Geißler 1996: 321).
Mittlerweile sind die vertikalen Ungleichheiten zurückgekehrt. Seit dem
Ende der 1990er-Jahre macht sich der in den angelsächsischen Ländern schon
länger bestehende Trend steigender Einkommensungleichheit und wachsender
Armutsraten auch in Deutschland bemerkbar (OECD 2008; Giesecke / Verwiebe 2008). Begleitet wird er von einer anhaltenden Transformation des deutschen
Wohlfahrtsstaates, in deren Rahmen eine Abkehr vom Prinzip der Statussicherung stattfindet (etwa in der Renten- und Arbeitsmarktpolitik) und in einigen
Feldern der sozialen Daseinsvorsorge (Gesundheit, öffentliche Dienstleistungen/Infrastruktur) der Ausbau privatwirtschaftlicher Strukturen vorangetrieben
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wird. Entsprechend ist die vertikale Ungleichheitsdimension nicht nur wieder in
den Fokus soziologischer Forschung gerückt, sondern erfährt auch massive öffentliche und mediale Aufmerksamkeit. Spätestens mit den öffentlichen Diskussionen über die Existenz einer „neuen Unterschicht“, die durch die Veröffentlichung einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung angestoßen wurde (FES 2006),
ist auch eine gesellschaftliche Debatte über den Formwandel sozialer Ungleichheit in Gang gekommen. Die Signalworte, mit denen die neue Gestalt sozialer
Ungleichheit beschrieben wird, sind (bereits seit Mitte der 1990er-Jahre) „Exklusion“ und „soziale Ausgrenzung“ sowie (aktuell) „soziale Unsicherheit“, „Abstiegsängste“ oder „Prekarität“.
II. Die Rückkehr der Vertikalen: Prekäre Arbeit und
soziale Unsicherheit
Die hier zu besprechenden Veröffentlichungen befassen sich eingehend mit den
so schlagwortartig beleuchteten Aspekten des zeitgenössischen Wandels von
Ungleichheitstrukturen. Hinter diesen Stichworten verbergen sich auch gewandelte Vorstellungen über die Beschaffenheit der Sozialstruktur. War die Diskussion der 1980er- und 1990er-Jahre vom Bild einer zunehmenden Pluralisierung
von Lebenslagen und -stilen geprägt, so verbinden sich mit der Begrifflichkeit
von Ausgrenzung, Exklusion und Prekarität Diagnosen einer Polarisierung oder
zumindest Fragmentierung der Gesellschaft in die, die über Erwerbsarbeit teilhaben am sozialen Ganzen und jene, denen der Zugang zu (stabiler) Arbeit und
gesellschaftlicher Teilhabe entweder gänzlich verwehrt bleibt oder zunehmend
erschwert wird. Überhaupt bilden die Sphäre der Erwerbsarbeit und ihre Umbrüche in den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten einen zentralen Bezugs- und
Ausgangspunkt für viele der hier versammelten Publikationen. Insbesondere
die These einer sich ausbreitenden Prekarisierung nimmt ihren Ausgang in Veränderungen der Arbeitswelt, in deren Rahmen Prozesse der Liberalisierung,
Flexibilisierung, Rekommodifizierung und Tertiarisierung die Arbeitsbeziehungen und -verhältnisse des wohlfahrtsstaatlich eingehegten „organisierten Kapitalismus“ entscheidend transformiert haben (Kalleberg 2009).
Mit den Ursachen, Erscheinungsformen und gesellschaftlichen wie individuellen Konsequenzen dieser Entwicklungen befassen sich die beiden Sammelbände von Castel / Dörre (2009) sowie Altenhain et al. (2008). Der Band von
Castel / Dörre situiert sich dabei im Kontext einer „theoretisch und empirisch
fundierten Prekarisierungsforschung“ und möchte einen „Überblick über aktuelle Diskussionen“ geben und die deutsche Debatte im internationalen Kontext
verorten (9). Ein großer Teil der Kapitel stammt aus dem Umfeld der Jenaer
Forschergruppe zur Arbeits- und Wirtschaftssoziologie, ergänzt durch Beiträge
internationaler Autoren wie Loic Wacquant, Serge Paugam und Robert Castel.
Der Band gliedert sich insgesamt in vier Abschnitte, von denen der erste zunächst die theoretisch-konzeptionellen Grundlagen vorstellt. Die theoretische
Hintergrundfolie gibt dabei Castels vor einigen Jahren erstmals in deutscher
Übersetzung und nun in Neuauflage erschienene, großangelegte historische
Studie über die Transformation der Lohnarbeit ab (Castel 2008). Die zentrale
These dieser umfangreichen Untersuchung wird in einem Beitrag von Castel
(21-34) rekapituliert. Hauptmerkmal der gesellschaftlichen Entwicklung der
letzten drei Dekaden sei, so Castel, die „Wiederkehr der sozialen Unsicherheit“
(22), die viele Beobachter des sozialpolitisch gezähmten Industriekapitalismus
der Nachkriegszeit bis Mitte der 1970er-Jahre bereits überwunden geglaubt
hatten. Diese Industriegesellschaften des „golden age“ seien geprägt gewesen
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durch Strukturen kollektiver Absicherung – Tarifverträge und Kollektivvereinbarungen, arbeitsrechtliche Garantien, die sozialen Sicherungssysteme, ein gestaltender Wohlfahrtsstaat –, deren Fundament die Erwerbsarbeit bildete und
mittels derer „die große Mehrheit der Bevölkerung durch ein ‚soziales Netz‘ vor
den wichtigsten gesellschaftlichen Risiken geschützt war“ (24). Den Kernpunkt
der Wiederkehr sozialer Unsicherheit bilden laut Castel nun Dynamiken der
„Entkollektivierung“ bzw. „Re-Individualisierung“ (25), die sich auf der Ebene
der Arbeitsorganisation in Form einer Individualisierung von Aufgaben und der
Etablierung von Konkurrenzbeziehungen zwischen den Arbeitnehmern entfalten
und auf der Ebene einzelner Berufswege vom Einzelnen die eigenverantwortliche Gestaltung beruflicher Laufbahnen verlangen. Hinzu kommt die Ausbreitung
so genannter atypischer Beschäftigung in Form von befristeter, teilzeitförmiger
oder Leiharbeit. Flankiert wird all dies vom Abbau sozialer Schutzrechte und
Sicherungsgarantien, sodass die Erfahrung sozialer Unsicherheit sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitslose trifft. Castel wendet sich gegen den Begriff der
Exklusion, der seinen Augen aufgrund seiner Statik den prozesshaften Charakter gegenwärtiger Ausgrenzungsprozesse nicht hinreichend berücksichtige, und
zieht demgegenüber das Konzept der „Entkoppelung“ vor (29). Von solchen
Prozessen der Entkoppelung sind nicht nur die unteren Schichten betroffen
(obwohl sie davon am stärksten berührt werden), auch Teile der Mittelschicht
befinden sich in Situationen „sozialer Verwundbarkeit“: „Tatsächlich durchziehen Prekarisierungsprozesse die Gesellschaftsstruktur auf breiter Front“ (30).
In Anlehnung an und Erweiterung dieser Überlegungen entwickelt Dörre
in seinem Beitrag (35–77) eine kapitalismustheoretische Erklärung von Prekarisierungstendenzen, deren Ursprung er in einer in den 1970er-Jahren einsetzenden „finanzmarktgetriebene Landnahme“ (41) des organisierten, fordistischen Kapitalismus der Nachkriegszeit erblickt. Maximal vereinfacht besagt die
Argumentation, dass die in diesem Zeitraum einsetzende Dominanz von finanziellem Anlagekapital in der Unternehmensfinanzierung (Stichwort: shareholder value-Steuerung) und die damit verbundene Vorgabe von Gewinnmargen
durch das Management auch an die Produktionsorganisation stärkere Flexibilitätserfordernisse und Anpassungsfähigkeiten an Marktvolatilitäten stellt. Eine
„wesentliche Ursache der neuen Prekarisierung“ (42) besteht demnach darin,
dass flexible Beschäftigungsformen und externe Flexibilisierungsinstrumente
(Befristungen, Werkverträge, Leiharbeit) an Bedeutung gewinnen, um den
Unternehmen ein an den Konjunkturverlauf angepasstes „Atmen“ zu ermöglichen (43). Diese finanzkapitalistische Logik finde sich überdies nicht nur im
exportorientierten Teil der deutschen Wirtschaft, sondern auch im klein- und
mittelständischen Bereich, der (teilprivatisierten) öffentlichen Infrastruktur
sowie der öffentlichen Verwaltung (new public management) wieder. Daran
anschließend stellt Dörre eine Typologie der „(Des-)Integrationspotenziale
von Erwerbsarbeit“ (48) dar, in der die Arbeitswelt in drei Zonen – eine der
Integration, eine der Prekarität und eine der Entkoppelung – aufgegliedert
wird (vgl. auch Castel 2008: 13). Diese Unterscheidung leitet auch die weitere
Gliederung des Bandes an, der sich nach dem einleitenden theoretischem Abschnitt in drei Abschnitten näher mit den einzelnen Sozialtypen innerhalb dieser
Zonen – den Absteigern, den Prekariern und den Überzähligen – auseinandersetzt und im letzten Abschnitt politische Reaktionsweisen und Handlungspotenziale im Hinblick auf Prekarisierung thematisiert. Ohne die einzelnen
Beiträge in diesen Abschnitten hier eingehend darstellen zu können, möchte
ich einige besonders interessante Befunde oder Diskussionspunkte aus diesen
Abschnitten hervorheben.
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Erstens betonen verschiedene Beiträge des Bandes von Castel / Dörre (wie
auch die anderen hier zu besprechenden Bücher) die Zentralität von Arbeit als
Modus gesellschaftlicher Integration – sei es auf empirische Weise, wie Sondermann, Ludwig-Mayerhofer und Behrend am Beispiel von sich an Normen der
Arbeitsgesellschaft orientierenden Langzeitarbeitslosen darlegen, oder sei es
auf theoretische Weise, wie Aulenbachers feministische Kritik an der Blindheit
der Prekarisierungsforschung für die (immer schon) prekären Arbeitsverhältnisse von Frauen zeigt. Mit dieser Betonung der (anhaltenden) Bedeutung der
Arbeitsgesellschaft gewinnt die Sphäre der Erwerbsarbeit als institutioneller Ort,
an dem die neuen Ungleichheiten ihren Ursprung haben, wieder an Aufmerksamkeit, nachdem diese im ungleichheitssoziologischen Diskurs der 1980er-Jahre
geschmälert worden war.
Zweitens hält in diesem Zusammenhang auch „traditionelles“ ungleichheitssoziologisches Vokabular – etwa die Begriffe von Klasse und Schicht – wieder
Einzug in die Diskussion. Dabei geht es zum einen um die Frage, mittels welcher
ungleichheitssoziologischen Konzepte gegenwärtige Prozesse der Prekarisierung
am besten begriffen werden können (vgl. den Beitrag von Burzan). Zum anderen geht es hierbei darum, welche sozialstrukturellen Gruppen von Prekarisierung besonders bedroht sind. So folgert Kraemer in seinem aufschlussreichen
Beitrag, dass dauerhafte und armutsnahe Prekarität vor allem die unteren Berufsklassen betreffe, während vorübergehende, wohlstandsnahe Prekarität in
mittleren Berufsklassen verbreiteter sei (251). Diese von Abstiegssorgen geplagten Mittelschichten nehmen Lessenich (259–268) und Struck (269–281) sowie
Vogel (197–208) näher in den Blick. Dabei wird deutlich, dass objektive Unsicherheitslagen und subjektives Unsicherheitsempfinden bei den Mittelschichten
teilweise auseinander treten, wofür neben Veränderungen in der Arbeitswelt
auch Transformationen wohlfahrtsstaatlicher Politik, so etwa die Abkehr vom
Statussicherungsprinzip, verantwortlich gemacht werden.
Damit verbunden ist drittens die Frage, inwiefern Prekarität eine neuartige
und eigenständige soziale Lage bilde. Kraemer (242f.) betont in diesem Zusammenhang, dass aus einer (aktuell) prekären Erwerbsstelle noch keineswegs
eine (zukünftig und dauerhaft) prekäre Erwerbslage folgen müsse. Daher sei
eine dynamische, auf Erwerbsverläufe gerichtete Analyseperspektive gefordert
(wie sie in der Sozialstrukturanalyse seit einiger Zeit auch schon angewandt
wird, so etwa in den Arbeiten des GLOBALIFE-Projektes; vgl. Blossfeld et al.
2007). Daneben sei auch der Haushaltskontext zu berücksichtigen, denn aus der
Armutsforschung wissen wir, dass dieser die Lebenslage armer Personen entscheidend beeinflussen und mitunter kompensieren kann. Selbst eine prekäre
Erwerbslage übersetzt sich demnach nicht umstandslos in eine prekäre Lebenslage. Hier eröffnet sich für die an der Analyse von Lebensverläufen orientierte
Sozialstrukturanalyse ein weites Forschungsfeld.
Schließlich verweisen viertens einige Beiträge auf die subjektive Dimension
von Prekarisierung, d. h. den Umgang der Betroffenen mit unsicheren und unsteten Beschäftigungsverhältnissen. Die Beiträge tun dies aus einer qualitativen
Perspektive und bieten so ein detail- und aufschlussreiches Bild der individuellen Erfahrung und Verarbeitung sozialer Unsicherheit (siehe etwa die Kapitel
von Sondermann, Ludwig-Mayerhofer und Behrend sowie Bartelheimer). Angesichts der sozialstrukturellen Differenzierung von objektiven Unsicherheitslagen wäre zukünftig aber auch ein quantitativer, auf Umfragedaten basierender
Ansatz von Interesse.
Insgesamt gesehen bietet der Band von Castel / Dörre einen umfassenden
Überblick über die deutsche Prekarisierungsforschung und überzeugt durch
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einen gelungenen Aufbau. Insbesondere die drei einleitenden theoretischen
Beiträge, die resümierenden Einführungen zu den einzelnen thematischen Abschnitten sowie die Abrundung der konzeptionellen Rahmung des Bandes durch
ein eigenes Schlusskapitel sind in dieser Publikationsgattung (leider) selten
gewordene Qualitäten. Natürlich ergeben sich nach der Lektüre dieses Bandes
offene Fragen und weiterführende Forschungsdesiderate, auf die ich am Ende
nochmals eingehe. Dies stellt jedoch kein Defizit des Buches dar – im Gegenteil:
die Diskussion wird so eingehend präsentiert, dass die offenen Forschungslücken umso plastischer werden.
III. Ausgrenzung, Prekarität und soziale Spaltung
in der Wissensgesellschaft
Auch der von Altenhain et al. herausgegebene Band bietet interessante Beiträge zu Phänomenen der Prekarisierung und sozialer Ausgrenzung. Er geht auf
eine von einer studentischen Arbeitsgruppe in Leipzig organisierten Vortragsreihe sowie weitere Veranstaltungen zurück und möchte sich in dezidiert „kritischer Perspektive“ den Begriffen der „(neuen) Unterschicht“ des „Prekariats“
annähern (10). Im ersten Teil des Buches nehmen einige der Beiträge zur „neuen Unterschicht“ eine an Foucault orientierte, diskursanalytische Perspektive
ein, um zu untersuchen wie „sich ‚Gesellschaft’ aus dem Wissen über sich selbst
konstituiert“ (13) und so die ungleichheitsstrukturierenden, -verstärkenden oder
-konstitutierenden Effekte von „Unterschichtendiskursen“ näher zu beleuchten.
Dabei wird ein Einblick in die Bilder und Argumentationsfiguren gegeben,
mittels derer die gesellschaftliche Selbstverständigung über neue soziale Ungleichheiten stattfindet. Häufig geschieht dies anhand der Analyse medialer
Darstellungen der Angehörigen der „(neuen) Unterschicht“, wie etwa im Einleitungskapitel, in dem die Herausgeberinnen und Herausgeber eine Funktion
des öffentlich-medialen Diskurses in der Stützung einer „hegemoniale[n] Vorstellung von Normalität und Gesellschaftsordnung“ (16) erblicken. So diene die
Identifikation und mediale Repräsentation einer eigenen „Unterschichtskultur“,
die sich durch Faulheit, Sozialschmarotzertum, falsche Ernährung, Alkohol- und
Drogenmissbrauch usw. auszeichne, der „Essentialisierung des ‚Leistungswillens’“ und legitimiere ein Menschenbild, in dessen Rahmen der Einzelne als
nutzenmaximierender Ehrgeizling erscheine (19). Zugleich würden die Angehörigen der Unterschicht pathologisiert und als defizitäre, therapiebedürftige Deviante dargestellt (ebd.). Entsprechend zielen einige der Beiträge auf eine kritische Dekonstruktion des Klischees von der arbeitscheuen, konsumistischen,
verwahrlosten Unterschicht (vgl. etwa die Beiträge von Wollrad und Habermann). Dabei fühlt man sich an der ein oder anderen Stelle des Bandes bisweilen an Theorien abweichenden Verhaltens (etwa den labelling-approach) oder
Konzepte der Soziologie sozialer Probleme (etwa das der moralischen Panik)
erinnert – jedoch ohne, dass diese aufgegriffen und produktiv genutzt würden.
Gerade ein theoretischer Zugriff aus diesen Perspektiven erschiene allerdings
interessant, würde er doch dazu nötigen, die die „Diskurse“ tragenden (und
treibenden) Akteure genauer zu identifizieren als dies die von den Herausgebern und einigen Beiträgern gewählte diskursanalytische Perspektive nahelegt.
Gewiss, Diskurse mögen auch eine stumme Macht ausüben, die sich dem gezielten und strategischen Zugriff individueller Akteure entzieht. Eine stärkere
handlungstheoretische Rückbindung der Analyse hätte jedoch manche Kapitel
zur Thematik des Unterschichtendiskurses bzw. der Repräsentation der Unterschicht, die deskriptiv durchaus interessant sind, auch in analytischer Hinsicht
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nochmals aufgewertet. Überdies zeigt sich diesbezüglich, dass eine weitergehende, umfassendere und systematische Analyse der medialen Repräsentationen
der Unterschicht (auch über eine breite Palette von Medien hinweg) durchaus
fruchtbar und lohnend erscheint.
Im zweiten Teil des Buches finden sich einige interessante Beiträge zum
Aspekt der Prekarität. Neben einem Beitrag Kraemers zur sozialstrukturellen
Differenzierung prekärer Lagen bietet hier insbesondere das Kapitel von Schiek
interessante Einsichten zur subjektiven Verarbeitung prekärer Erwerbssituationen. Aus einer biografietheoretischen Perspektive zeigt die Autorin anhand
qualitativer Interviews, dass prekäre Erwerbslagen, weil sie gesellschaftlichen
Normvorstellungen an ein Arbeitsverhältnis nicht genügen, „Wendepunkte“ im
Leben der Betroffenen darstellen, die sie zu einer „Bilanzierung, Überprüfung,
Evaluation und Neukonstruktion“ der eigenen Lebensgeschichte wie auch des
zukünftigen Lebensentwurfs anhalten (98). Hieran zeige sich, dass Normalarbeitsverhältnis und Normalbiografie keine rein diskursiven Konstruktionen
seien, sondern gerade auch auf biografischer Ebene vom Einzelnen normativ
erwartet werden (104).
Der dritte Teil des Buches behandelt schließlich – ähnlich wie der Band von
Castel / Dörre – Perspektiven der politischen Reaktion auf bzw. des Widerstands
gegen prekäre Arbeits- und Lebenslagen. So befasst sich etwa Reese unter Berufung auf klassische Ansätze der Moralökonomie (Thompson, Scott, Moore) mit
der Frage, wann Marginalisierte und Arme gegen deprivierende und entwürdigende Lebensumstände protestieren. Zu einem aus der Verletzung eines traditionellen Sozialvertrages resultierenden Ungerechtigkeitsempfinden, wie im
Rahmen der klassischen „moral economy“ hervorgehoben, müsse jedoch eine
Zunahme der eigenen politischen Handlungsmöglichkeiten kommen, damit sich
politische Reaktionen entfalten können. Dabei möchte Reese in Überwindung
eines „bürgerlichen“ Verständnisses des Politischen den Kreis möglicher Reaktionsweisen auch auf Formen des Alltagswiderstandes erweitert wissen (203f.).
Auch Candeias diskutiert, wie sich die Interessen eines intern fragmentierten
„Prekariats“ verallgemeinern ließen und so die politische Handlungsfähigkeit
benachteiligter Gruppen befördert werden könne. Letztlich seien auch kulturelle
und organisatorische Schranken ein wichtiges Problem in der Zusammenarbeit
z. B. zwischen Arbeitsloseninitiativen, migrantischen Gruppierungen, Gewerkschaften, Netzwerken von Kulturschaffenden usw. Insgesamt bleiben die Einschätzungen zu den Möglichkeiten und Bedingungen solidarischen Handelns in
der Gruppe der Prekarier und Überzähligen somit verhalten. Die Wichtigkeit
einer Mobilisierung dieser Gruppe, etwa durch die Gewerkschaften, zeigt sich
jedoch an deren von Flecker und Krenn (im Castel / Dörre-Band) demonstrierten Empfänglichkeit für rechtspopulistische Politikangebote, die aus Erfahrungen von Ungerechtigkeit in der Arbeitswelt und Abstiegsängsten genährt wird.
Insgesamt erscheint der von Altenhain et al. herausgegebene Band etwas
weniger kohärent und konsistent als derjenige von Castel / Dörre. Gleichwohl
werden auch hier interessante Fragen für weiterführende Forschungsarbeiten
aufgeworfen, so zum Beispiel nach der massenmedialen Repräsentation der unteren Bevölkerungsschichten, der subjektiven Verarbeitung objektiver sozioökonomischer Unsicherheiten oder auch ihren politischen Folgen. Einigkeit
besteht in beiden Bänden darin, dass eine wichtige Ursache von Prekarisierung
und sozialer Ausgrenzung in veränderten Strukturen der Arbeitswelt zu sehen ist.
Einen wichtigen Aspekt dieses Wandels behandelt auch Rohrbach in ihrer
an der Universität zu Köln angefertigten Dissertation, nämlich den Wandel hin
zur Wissensgesellschaft. Sie fragt, wie sich das Konzept der „Wissensgesell!"#"$%&"'%"((%)*+,)-)./0"#$,&"#)1,$*"#'$%2"%'3)0,4)52,4"'6$6($+%/"7)8",2
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schaft“ theoretisch und empirisch gehaltvoll definieren lässt und welche Folgen
die Entwicklung zur Wissensgesellschaft für die soziale Ungleichheit hat. Nach
eingehender Diskussion verschiedener Konzeptualisierungen der Wissensgesellschaft wird diese definiert über die Bedeutung des Wissenssektors für die
Gesamtwirtschaft (Kapitel 3) und empirisch über die Beschäftigung, Bruttowertschöpfung, interne Differenzierung und Qualifikationsstruktur des Wissenssektors gemessen (Kapitel 9). Es zeigt sich anhand dieser Indikatoren in
allen entwickelten OECD-Ländern ein (unterschiedlich stark ausgeprägter)
Trend zur Wissensgesellschaft: Beschäftigung und Wertschöpfung im Wissenssektor sind angewachsen, obgleich dieser noch in keinem Land den bedeutendsten ökonomischen Sektor bildet; die Mehrzahl der Beschäftigten ist in den
meisten Ländern im Bereich der Wissensverbreitung (im Unterschied zur Wissensproduktion), also der Medien- und Bildungsindustrie, beschäftigt; und
schließlich sind im Wissenssektor die meisten hochqualifizierten Beschäftigten,
zugleich aber auch das unausgeglichenste Verhältnis von hoch- zu niedrigqualifizierter Beschäftigung, zu finden.
Bezüglich der sozialstrukturellen Folgen dieser Trends befasst sich Rohrbach zum einen mit der Frage, ob Bildung als individuelle Determinante des
Einkommens im Zeitverlauf und Ländervergleich wichtiger wird – d. h. ob Wissensgesellschaften meritokratischer werden – und zum anderen damit, wie sich
der Wandel zur Wissensgesellschaft auf das Ausmaß der Einkommensungleichheit im Ländervergleich und Zeitverlauf auswirkt. Neben systematischen Länderunterschieden in den Bildungsrenditen (hohe Bildungsrenditen in angelsächsischen, niedrige in skandinavischen Ländern) zeigt sich, dass im Allgemeinen
die Beziehung zwischen Bildung und Einkommen vom Anteil der Beschäftigten
im Wissenssektor moderiert wird: Je höher dieser ist, umso schwächer ist der
Zusammenhang von Bildung und Einkommen. Wissensgesellschaften werden in
diesem Sinne nicht meritokratischer, sondern es scheint mit der Entwicklung zur
Wissensgesellschaft zu einer Entwertung von Bildungsqualifikationen (zumindest für die Einkommenserzielung) zu kommen! Dennoch, so die Schlussfolgerung Rohrbachs, bildeten Hochqualifizierte die „Gewinner der Wissensgesellschaft“ (217), denn bei separaten Analysen für Hoch- und Niedrigqualifizierte
zeigt sich, dass sich für Personen mit tertiärer Bildung das Einkommen mit steigendem Anteil von Beschäftigten im Wissenssektor erhöht, während für Personen ohne Tertiärbildung Einkommenseinbußen zu verbuchen sind. Für den
„überwiegenden Teil der mittel- und geringqualifizierten Personen“ ist der
Wandel zur Wissensgesellschaft „mit relativen Einkommenseinbußen verbunden“ (217f.). Es kommt damit zu einer Polarisierung der Einkommenschancen
für Personen mit hoher und niedriger Bildung. Im Zeit- und Ländervergleich
zeigt sich zudem, dass mit einer zunehmenden ökonomischen Bedeutung des
Wissenssektors auch die Einkommensungleichheit zunimmt (220). Insgesamt
sind diese Befunde zur Einkommensungleichheit, wie auch die Autorin selbst
anmerkt, gerade auch vor dem Hintergrund „zunehmend instabiler Erwerbsbiographien“ (221) als bedeutsam einzuschätzen. Insofern Instabilitäten in der
Erwerbsbiografie für Geringqualifizierte größer ausfallen sollten (und hierauf
verweisen die zuvor diskutierten Publikationen), stehen ihnen auch geringere
finanzielle Ressourcen zur Kompensation dieser Risiken zur Verfügung. Sie
sind im Zuge des gesellschaftlichen Wandels damit doppelt benachteiligt. Insofern scheint sich auf Basis dieser Befunde ein Bild zunehmender Polarisierung
bzw. Fragmentierung der Sozialstruktur abzuzeichnen. Insgesamt liegt hier eine
Arbeit vor, die sich aus soziologischer Perspektive eingehend mit dem von der
Ungleichheitssoziologie für (zu) lange Zeit vernachlässigten Thema der Ein!"#"$%&"'%"((%)*+,)-)./0"#$,&"#)1,$*"#'$%2"%'3)0,4)52,4"'6$6($+%/"7)8",2
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kommensungleichheit beschäftigt. Zu wünschen wäre lediglich gewesen, dass für
die Buchpublikation die an manchen Passagen noch durchscheinende Struktur
einer Qualifikationsarbeit etwas gelockert und vorhandene Redundanzen gestrichen worden wären.
IV. Bringing the State (Back) In:
Wohlstandskonflikte im Wohlfahrtsstaat
Haben die bislang besprochenen Publikationen primär vom Wandel der Arbeitswelt ihren Ausgang genommen und dessen Folgen für die soziale Ungleichheit diskutiert, so betont Vogel in seiner Habilitationsschrift darüber
hinaus auch die Rolle des Staates für die Konstitution gesellschaftlicher Ungleichheitslagen. Thema und aktueller Kontext des Buches ist die Diskussion
um die gegenwärtige Lage der deutschen Mittelklasse und ihre Abstiegsängste.
Für diese macht der Autor zwar ebenfalls Veränderungen in der Erwerbssphäre verantwortlich, doch thematisiert er in diesem Zusammenhang insbesondere
auch den öffentlichen Dienst. Damit gerät die Rolle des (Wohlfahrts-)Staates
als programmatischer Gestalter der politischen und normativen Ordnung des
Sozialen – und mithin die sozialstaatliche Konstitution und Beeinflussung sozialer Ungleichheitsstrukturen – in den Blick. Die Expansion des öffentlichen
Dienstes, so ein zentrales Argument Vogels, habe in der bundesrepublikanischen Gesellschaft der Nachkriegszeit breiten Gesellschaftsschichten – und
hier besonders den Söhnen und Töchtern der Industriearbeiterschaft – berufliche
und soziale Aufstiegsmöglichkeiten und Karriereperspektiven geboten und so
zur Schaffung einer „Aufsteigergesellschaft“ (85, 119) beigetragen. Der Wohlfahrtsstaat beeinflusst Ungleichheit in dieser Perspektive nicht nur über die von
ihm gewährten Sozialleistungen, sondern auch über die Bereitstellung beruflicher Positionen in der Verwaltung des Sozialen. Somit sind es neben den Versorgungsklassen (z. B. Rentenempfänger, Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose)
auch die (oberen und unteren) Dienstklassen (z. B. leitende Angestellte und
Beamte der öffentlichen Verwaltung, Verwaltungspersonal), deren Lebensbedingungen und -chancen vom Wohlfahrtsstaat maßgeblich geprägt werden.
Diesen Zusammenhang zeichnet Vogel ausführlich und detailliert nach (Kapitel III, „Wohlfahrtsstaat und Klassenbildung“). Die vom öffentlichen Dienst
gebotene sichere, laufbahnorientierte Beschäftigung bildete im Zusammenhang
mit Status sichernden Sozialversicherungen die Grundlage für die Ausbildung
einer breiten Mittelklasse und die beendete die Situation „massenhafter Verwundbarkeit“ (166), die zuvor die Lage großer Teile der abhängig Beschäftigten
gekennzeichnet hatte. Im Zuge des zeitgenössischen Wandels der Wohlfahrtsstaatlichkeit vom „sorgenden“ (d. h. Status sichernden, Risiken minimierenden,
Ungleichheit dämpfenden) hin zum „gewährleistenden“ (d. h. an Kostenrechnung orientierten, projektförmigen, vermarktlichten) Staat gerate der öffentliche Dienst jedoch zunehmend zum „nervösen Experimentierfeld“ neuer und
häufig prekärer Beschäftigungsformen. Zudem trägt der skizzierte Gestaltwandel des Wohlfahrtsstaates zur Verunsicherung der Gesellschaftsmitte bei:
„Prekäre Beschäftigungsformen machen sich in den Bereichen qualifizierter
Fachtätigkeit breit, staatliche Ansprüche an private Vorsorgeleistungen schmälern das vorhandene Budget. In der Arbeitswelt und in den staatlichen Sorgeleistungen finden sich immer seltener Orte der Statussicherheit“ (308). Diese
Wandlungsprozesse sind folgenreich für das gesellschaftliche Ungleichheitsgefüge und die Mentalitäten der von ihnen Betroffenen. Sie machen die sozialpolitisch konstituierte Wohlstandsmitte der Gesellschaft gegenwärtig zum „Ort
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latenter und manifester Konflikte um Leistungen, Ansprüche, Positionen und
Karrieren“ (79).
Um den soziologischen Blick für diese Wandlungsprozesse und Konflikte
zu sensibilisieren, schlägt Vogel eine Erweiterung des ungleichheitssoziologischen Vokabulars um die Begriffe „soziale Verwundbarkeit“ und „prekärer
Wohlstand“ vor. Im Gegensatz zu einer die soziale Statik betonenden quantitativen Sozialstrukturanalyse würden diese auf „Prozesse, soziale Laufbahnen
und Erwerbsbiographien und damit auf die historische Variabilität sozialer
Ungleichheit“ (181) verweisen. Unter sozialer Verwundbarkeit versteht er
„eine Zone sozialer Wahrscheinlichkeiten, in der sich Abstiegsbedrohungen
und Deklassierungssorgen, aber auch Aufstiegshoffnungen und Etablierungsbemühungen finden, jedoch keine Exklusions- oder Inklusionsgewissheiten“
(184). Der Begriff zielt auf die Spannung zwischen der „Konfrontation mit
ökonomischen, sozialen und symbolischen Risiken und den Fähigkeiten, diesen
Risiken ausweichen, bzw. den Möglichkeiten, Ressourcen gegen diese Risiken
mobilisieren zu können“ und thematisiert „die gefühlten Aspekte sozialer Ungleichheit“ (183). Das Konzept des „prekären Wohlstands“ entlehnt Vogel
dagegen aus der Armutsforschung und amtlichen Sozialberichterstattung. Es
bezeichnet eine Einkommenszone „zwischen verfestigter Armut und gesicherten Wohlstandspositionen“ (194) und lässt sich empirisch bestimmen als ein
monatliches Haushaltsnettoeinkommen zwischen 50 und 75 Prozent des mittleren Haushaltsnettoeinkommens (195). In dieser Zone befinde laut Vogel (unter
Berufung auf den Datenreport des Statistischen Bundesamtes) seit einigen
Jahren etwa ein Viertel der Bevölkerung. Anhand dieser beiden Schlagworte –
Verwundbarkeit und prekärer Wohlstand – weist Vogel darauf hin, dass die
gesellschaftliche Mittelklasse „unter Druck geraten“ ist (309). Gesellschaftspolitisch brisant ist dies in seinen Augen vor allem deshalb, weil sich im Zuge des
Wandels von Wohlfahrtsstaat und öffentlicher Beschäftigung mit seinen sozialstrukturellen Folgen letztlich auch der normative Haushalt der Gesellschaft
verändere.
Insgesamt leistet das Buch mit seiner Themenstellung zur (ökonomischen
und mentalen) Lage der Mittelklasse und ihrer Verbindung zum zeitgenössischen Wandel einen wichtigen Beitrag zur ungleichheitssoziologischen Zeitdiagnose. Es ist erfreulich lesbar geschrieben und daher sicher auch für ein interessiertes außerfachliches Publikum interessant. Darüber hinaus ist gerade der
Brückenschlag zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates aus sozialstrukturanalytischer Perspektive begrüßenswert, werden doch (sozial-)politische Prozesse der
Ungleichheitskonstitution dort manchmal nicht hinreichend berücksichtigt. In
diesem Zusammenhang erscheinen mir manche Kritiken des Autors an den
herkömmlichen (um nicht zu sagen: etablierten) Forschungssträngen jedoch
etwas zu weitreichend, so z. B. die Aussagen, die Wohlfahrtsregime-Typologie
Esping-Andersens sei für das „systematische theoretische und empirische Verständnis wohlfahrtsstaatlicher Praxis […] nur von geringem Nutzen“ (70), oder
es fehle eine „aussagefähige und zeitdiagnostisch relevante empirische Soziologie des Wohlfahrtsstaates, die die Akteure und die strukturellen Effekte staatlichen Handelns in Szene setzt“ (117). Verwiesen sei hier nur auf die wichtige
international vergleichende Studie von Goodin et al. (1999) zu Performanz und
sozialstrukturellen Folgen verschiedener Wohlfahrtsregime; die Liste lässt sich
durch einen Blick in die einschlägigen Journals leicht verlängern. Nichtsdestotrotz darf man gespannt sein auf die ersten empirischen Befunde aus den aktuellen Forschungsprojekten des Autors, für die mit dieser Studie ein vielversprechender Ausgangspunkt vorgelegt wurde.
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338
Soziologische Revue Jahrgang 34 (2011)
V. Resümee
Was kann man nun auf Basis der besprochenen Publikationen zum Gestaltwandel sozialer Ungleichheiten sagen? Zunächst fällt auf, dass die in den 1980erJahren zum Teil so emphatisch verabschiedeten „materiellen“ oder „vertikalen“
Aspekte sozialer Ungleichheit wieder in den Fokus soziologischen Interesses
gerückt sind. Damit einher geht eine größere wissenschaftliche Aufmerksamkeit
für die Transformation der Arbeitswelt, wodurch diese als Ursache gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse wieder stärker ins Blickfeld rückt. Zentrale
Erscheinungsform gegenwärtiger Ungleichheitslagen sind prekäre Arbeitsverhältnisse und unsichere Erwerbsverläufe, die – flankiert vom Umbau der Wohlfahrtsstaatlichkeit – sich auch subjektiv in gesteigerten Unsicherheitsempfindungen mit Blick auf die eigene sozioökonomische Lage äußern. Diese gleichzeitige
Berücksichtigung objektiver Unsicherheitslagen und subjektiver Unsicherheitsempfindungen findet sich in mehreren der hier besprochenen Publikationen und
ist begrüßenswert. Sofern Unsicherheiten und Abstiegsrisiken nicht gleichmäßig
über die Sozialstruktur verteilt sind, gewinnen auch vertikale Ungleichheitskategorien wieder an Bedeutung. Zeitdiagnostisch steht damit nicht mehr das Bild
einer Pluralisierung, sondern eher einer Fragmentierung oder Polarisierung der
Sozialstruktur im Hintergrund.
Für zukünftige Forschungsarbeiten scheint mir nach der Lektüre der hier besprochenen Bücher zum einen eine stärker international vergleichende Perspektive fruchtbar und wichtig. Die Gesellschaften der OECD-Welt unterscheiden
sich deutlich in der Ausgestaltung ihrer Wohlfahrtsstaaten wie auch der institutionellen Einbettung von Arbeitsmärkten. Vor diesem Hintergrund könnte ein
systematischer Ländervergleich von objektiven Unsicherheitslagen und subjektiven Unsicherheitsgefühlen wichtige Einsichten dazu liefern, welche Rolle das
institutionelle Design von Wohlfahrtsstaaten und Arbeitsmärkten hierbei spielt
und welche Art von institutioneller Gestaltung objektive wie subjektive Sicherheit gewährleisten kann. Zum anderen wären weiterführende Forschungen zur
Beziehung zwischen objektiver und subjektiver Unsicherheit aufschlussreich, die –
unter Bezugnahme auf quantitative wie qualitative Daten – Erkenntnisse dazu
liefern, unter welchen Umständen objektiv unsichere Lebenslagen in subjektive
Unsicherheitsempfindungen und Abstiegsängste münden und welche theoretischen Mechanismen hierbei maßgeblich sind.
Literatur
Blossfeld, Hans-Peter / Buchholz, Sandra / Hofäcker, Dirk / Hofmeister, Heather / Kurz,
Karin / Mills, Melinda (2007): Globalisierung und die Veränderung sozialer Ungleichheiten in modernen Gesellschaften. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse des
GLOBALIFE-Projektes. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 59:
667–691.
Castel, Robert (2008): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz: UVK.
Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.) (2006): Gesellschaft im Reformprozess. Bonn: FES.
Geißler, Rainer (1996): Kein Abschied von Klasse und Schicht. Ideologische Gefahren der
deutschen Sozialstrukturanalyse. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 48: 319–338.
Giesecke, Johannes / Verwiebe, Roland (2008): Die Zunahme der Lohnungleichheit in der
Bundesrepublik. Aktuelle Befunde für den Zeitraum von 1998 bis 2005, Zeitschrift
für Soziologie 37: 403–422.
Kalleberg, Arne L. (2009): Precarious Work, Insecure Workers: Employment Relations in
Transition. American Sociological Review 74: 1–22.
OECD (2008): Growing Unequal? Income Distribution and Poverty in OECD Countries,
Paris: OECD.
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Arbeitsbeziehungen
INA DRESCHER-BONNY,
MARIA FUNDER
!
ANDRÉ HOLTRUP, Individualisierung der Arbeitsbeziehungen? Ansprüche von Beschäftigten an Arbeit und Interessenvertretung. Mering: Rainer Hampp 2008, 199 S., br.,
24,80 €
FABIAN HOOSE / SEBASTIAN JEWORUTZKI / LUDGER PRIES, Führungskräfte und betriebliche Mitbestimmung. Zur Praxis der Partizipation am Beispiel der chemischen
Industrie. Frankfurt a. M.: Campus 2009, 170 S., br., 27,90 €
PETER ITTERMANN, Betriebliche Partizipation in Unternehmen der neuen Medien. Innovative Formen der Beteiligung auf dem Prüfstand. Frankfurt a. M.: Campus 2009,
314 S., br., 34,90 €
ALDO LEGNARO / ALMUT BIRENHEIDE, Regieren mittels Unsicherheit. Regime von
Arbeit in der späten Moderne. Konstanz: UVK 2008, 245 S., br., 24,00 €
PETER MEHLIS, Vom kreativen Chaos zur effizienten Organisation. Gestaltung und Regulierung hochqualifizierter Arbeit in IT- und Biotechnologieunternehmen. Mering:
Rainer Hampp 2008, 244 S., br., 27,80 €
WOLFGANG MENZ, Die Legitimität des Marktregimes. Leistungs- und Gerechtigkeitsorientierungen in neuen Formen betrieblicher Leistungspolitik. Wiesbaden: VS 2009,
440 S., br., 59,90 €
GÖTZ RICHTER (Hrsg.), Generationen gemeinsam im Betrieb. Individuelle Flexibilität
durch anspruchsvolle Regulierungen. Bielefeld: W. Bertelsmann 2009, 223 S., br.,
34,90 €
WERNER SCHMIDT, Kollegialität trotz Differenz. Betriebliche Arbeits- und Sozialbeziehungen bei Beschäftigten deutscher und ausländischer Herkunft. Berlin: edition sigma 2006, 271 S., br., 18,90 €
DOROTHEA VOSS-DAHM, Über die Stabilität sozialer Ungleichheit im Betrieb. Verkaufsarbeit im Einzelhandel. Berlin: edition sigma 2009, 285 S., br., 24,90 €
Einleitung
Wer sich einen Überblick zum Thema „Arbeitsbeziehungen“ verschaffen möchte, begibt sich – so könnte man meinen – auf ein recht übersichtliches Gelände,
auf dem schon fast jeder Winkel genauestens erkundet wurde. Selbst an Einführungsbüchern zu industriellen Beziehungen, die sich mit den komplexen Prozessen und Institutionen der Regulierung von Arbeitsverhältnissen befassen, mangelt es nicht (vgl. u. a. Müller-Jentsch 2007; Keller 2008; Kißler / Greifenstein /
Schneider 2010). Kein Lehrbuch zur Arbeitssoziologie kommt ohne ein Kapitel
über die betriebliche, überbetriebliche und staatliche Regulierung von Arbeitsbeziehungen aus (vgl. u. a. Böhle / Voß / Wachtler (Hrsg.) 2010). In jüngster
Zeit konzentriert sich die Forschung vor allem auf die Frage der Erosion und
Neukonfiguration des dualen Modells der Mitbestimmung. Dabei zeichnet sich
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