Reiter

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TRADITIONELLE MEDIZIN
IN DER ISLAMISCHEN WELT
(Beispiele aus dem Nahen Osten)
Seminararbeit im Fach:
Sozialarbeit in der Psychiatrie Master
Dozent:
Dr. Michael von Cranach
Fachhochschule München
Fachbereich 11 Sozialwesen
vorgelegt von:
Meryem Reiter
Am Stadtpark 20
81243 München
Abgabedatum 30.11.2007
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Gliederung
1. Einleitung
S. 3
2. Gesundheit – Krankheit
S.4
2.1 Definition von Gesundheit
S. 4
2.2 Definition von Krankheit
S. 4
3. Medizinethnologie
S. 5
3.1 Gründer der Ethnomedizin
S. 6
3.2 Ethnopsychiatrie
S. 6
4. Unterschiedliche Aspekte von Krankheit
S. 7
4.1 Vorstellungsformen von Krankheit
S. 8
4.1.1 Krankheit als Schädigung durch äußere Kräfte
S. 8
4.1.2 Krankheit als Schädigung eine Kräftegleichgewichts
S. 9
4.1.3 Krankheit als Minderung oder Verlust der Lebenskraft
S. 10
5. Traditionelle Medizin
S. 11
5.1 Traditionelle Medizin in islamischen Kulturen
S. 11
5.2 Volksheilkunde im Islam
S. 11
5.2.1 Knochenheiler
S. 12
5.2.2 Religiöse Heiler
S.12
5.2.3 Derwisch und Sufi
S. 13
5.2.4 Sheik
S. 13
5.2.5 Arabischer Arzt (“hakim arabi”)
S. 14
5.2.6 Gelbsuchtheiler
S. 14
5.2.7 Pflanzenheiler und Herbalisten
S. 14
5.2.8 Barbier
S. 14
5.2.9 Traditionelle Hebammen, weise Frauen und Spritzfrauen
S. 15
4
6. Heilvorstellungen im Islam
S. 15
6.1 Dschinne
S. 15
6.2 Böser Blick (“nazar”)
S. 16
6.3 Traditioneller Heiler (“Hodscha”)
S. 18
6.4 Dschindschi Hodscha (“Cinci-Hoca”)
S. 18
6.5 Besessenheit (“Zar-Bori-Kult”)
S. 19
7. Volks- und Aberglaube aus der Türkei
S. 19
7.1 Behandlungsrituale der Hodschas
S. 20
7.2 Ein Beispiel zum Behandlungsritual
S. 20
8. Zusammenfassung
S. 22
Literaturverzeichnis
S. 23
5
1. Einleitung
Kultur stellt für alle Menschen in allen Ländern der Welt einen etablierten, von Generation zu Generation tradierten Hintergrund dar. Sie beeinflusst die Sichtweisen,
Werthaltungen Ansichten und das Handeln der Menschen. Alle Bereiche des Lebens,
an denen die Menschen in einer Gesellschaft teilnehmen, wie z.B. der familiäre, berufliche, wirtschaftliche u.v.a., sind von der Kultur geprägt.
Auch für Fragen von Gesundheit und Krankheit gibt es in den verschiedenen Kulturen unterschiedliche Ansätze für deren Erklärungs- und Behandlungsmuster. Weltweit bekannt und akzeptiert ist z.B. die Traditionelle Chinesische Medizin. Aber
auch von anderen Formen wie die traditionelle afrikanische oder indianische Medizin
hat man schon mal gehört.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit nur einem kleinen Teilbereich aus vielen
unterschiedlichen Ansätzen. Sie ist konzentriert auf die traditionelle Medizin aus
dem islamischen Kulturraum, hauptsächlich auf die aus dem Nahen Osten. Ziel der
Arbeit ist es, einen kleinen Einblick in die vielfältigen Formen der Volksheilkunde
und den Heilvorstellungen der Moslems, insbesondere bei psychischen Störungen, zu
geben.
In der vorliegenden Arbeit wird nach einer begrifflichen Einführung von Gesundheit
– Krankheit in Kapitel drei auf Medizinethnologie eingegangen. Anschließend werden die unterschiedlichen Aspekte von Krankheit und ihre Vorstellungsformen besprochen. In Kapitel fünf werden Traditionelle Medizin in islamischen Kulturen vorgestellt und anschließend im sechsten Kapitel einige Heilformen im Islam besprochen. Im siebten und letzten Kapitel dieser Arbeit wird ein Beispiel zum Behandlungsritual der Hodschas in der Türkei beschrieben.
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2. Gesundheit – Krankheit
Die Unterscheidung von “Kranksein” und “Krankheit” ist sehr alt. Bereits im Corpus
Hippocraticum sind die drei Eckpunkte der Arzt – die Krankheit – der Kranke dokumentiert (vgl. Lux 2001, S. 27). Für Gesundheit und Krankheit gibt es vielfältige
Definitionen, von denen im Folgenden auf eine näher eingegangen wird.
2.1 Definition von Gesundheit
Gesundheit: 1. Im weiteren Sinn ist Gesundheit nach der Definition der WHO der
Zustand völligen körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Wohlbefindens.
2. Im eigentlichen Sinn kann Gesundheit verstanden werden als das
subjektive Empfinden des Fehlens körperlicher, geistiger und seelischer Störungen
bzw. Veränderungen.
3. Im sozialversicherungsrechtlichen Sinn bedingt Gesundheit die Arbeits- bzw. Erwerbsfähigkeit (Psychrembel) (vgl. Greifeld 2003, S. 20).
2.2 Definition von Krankheit
Krankheit: Erkrankung, im weiteren Sinne Fehlen von Gesundheit. Im eigentlichen
Sinne Vorhandensein von subjektiv empfundenen und/oder seelischen Veränderungen bzw. Störungen. (vgl. Greifeld 2003, S. 20).
Greifeld führt folgende Kritik an den oben genannten Definitionen an: Wenn Leib
und Seele in den verschiedenen Kulturen anders konzipiert werden, dann stimmen
die oben genannten Definitionen nicht mehr. Stattdessen wird vorgeschlagen von
Befindensweisen zu sprechen, die primär subjektiv erlebt werden, so z.B. das Wohlbefinden bzw. Missbefinden an Leib und Seele. Gesundheit wird dann zu Wohlbefinden, Krankheit und Kranksein zu Missbefinden. Diese Form bietet die Möglich-
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keit, dass die Inhalte je nach Kultur und Subkultur weiter mit Inhalt aufgefüllt werden können (vgl. Greifeld 2003, S. 21).
3. Medizinethnologie
Die Medizinethnologie hat die medizinischen Systeme zum Gegenstand, die Teil des
kulturellen und sozialen Systems sind. Die medizinischen Systeme ändern sich als
Teil der Kultur den Bedürfnissen entsprechend (vgl. Greifeld 2003, S. 13).
Krankheit und Gesundheit haben nicht immer und überall die gleiche Bedeutung.
Konzepte des medizinischen Systems, die über das biologische Erklärungsmodell
Abhilfe schaffen wollen, sind alleine nicht ausreichend. Da in jedem Körper auch
Kultur miteingeschrieben ist, wird Krankheit zu mehr als einer biologischen Dysfunktion von Körperteilen. Sie wird zu einem breiten Geflecht aus philosophischer
Vorstellungen über einen Bestzustand, den man dann als Gesundheit bezeichnet. In
Europa nennt man diese Form der Medizin Schulmedizin oder “Moderne Medizin”.
Sie wird so genannt, weil sie noch sehr jung und sehr in Mode ist. Sie ist standardisiert und wird weltweit ähnlich ausgeführt. Sie basiert auf einem euroamerikanischen Weltbild und ist somit – auch wenn das Gegenteil behauptet wird –
nicht frei von kulturellen Normen (vgl. Greifeld 2003, S. 13 f.).
Das Gegenstück zur Schul- bzw. Modernen Medizin ist die Traditionelle Medizin.
Sie unterscheidet sich von Region zu Region, Land zu Land und Kultur zu Kultur.
Die Traditionelle Medizin ist jeweils mit der spezifischen Geschichte und Kultur
einer Gruppe verbunden. Der Name Traditionelle Medizin bezeichnet eine Kurzform
für die jeweilige Medizin, wie etwa der afrikanischen , chinesischen oder indischen
traditionellen Medizin. Greifeld (2003) betont, dass es eben keine Traditionelle Medizin gibt, sondern sehr viele unterschiedliche Teile, die sich gegenseitig beeinflussen oder übernehmen. Nach Greifeld (2003) wäre es richtiger von dem jeweiligen
medizinischen System, z.B. das medizinische System der Mayos oder aber von dem
spezifischen Namen, z.B. Ayurveda zu sprechen (vgl. Greifeld 2003, S. 14).
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3.1 Gründer der Ethnomedizin
Drei Klassiker der Ethnomedizin, die zu Beginn ihrer Laufbahn Mediziner waren
sind:
1. William Hals Rivers (1864-1922): Er versuchte die jeweiligen medizinischen
Vorstellungen innerhalb einer Kultur und aus ihr heraus zu erklären und zu
verstehen. Dieser Ansatz wird heute als “emisch” bezeichnet.
2.
Clemens Forrest: 1932 erschien sein Buch “Primitive Concepts of Disease”.
Er erkannte allen Gesellschaften zu, dass sie je bestimmte Betrachtungen und
Erklärungen für Krankheiten entwickeln.
3. Erwin H. Ackerknecht: In seinem Buch aus dem Jahre 1971 “Medicine and
Ethnology – Selected Essays”, betrachtet er das Medizinsystem nicht isoliert,
sondern setzt es mit der Gesamtkultur in Verbindung und untersucht ihre gegenseitige Abhängigkeiten. Er leugnete jedoch die rationale Basis anderer
Medizinsysteme ab und ließ neben der westlichen Medizin keine andere zu.
(vgl. Greifeld 2003, S. 14 ff.).
3.2 Ethnopsychiatrie
Ein Teilbereich der Ethnomedizin ist die Ethnopsychiatrie. Die Anfänge der
Ethnopsychiatrie, zu Beginn “Transkulturelle Psychiatrie” genannt, liegen in der Beschäftigung der mitteleuropäischen Psychiatrie mit psychischen Erkrankungen in
fernen und “exotischen” Ländern. Als erster fand van Brero, kurze Zeit später im
Jahre 1904 Emil Kraepelin, die in Europa bekannten und unbekannten Formen von
“Geisteskrankheiten” in Indonesien. Mit ihren vergleichenden psychiatrischen Arbeiten waren sie die Gründer der Transkulturellen Psychiatrie. Ihr denken war jedoch
extrem vom kolonialen Denken geprägt (vgl. Heise 2005, S. 47).
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Für Untersuchungen fremder Kulturen hatte Georges Devereux 1950 den Begriff
Ethnopsychiatrie geschaffen. 1972 veröffentlichte er sein Buch “Ethnopsychoanalyse”, womit er aufgrund seiner völkerkundlichen Studien, Kultur, im analytischen
Sinne, als ein System von Abwehrmechanismen sah. Sein Ziel war 1970 die “Einführung der Lehre und Praxis einer kulturell neutralen Psychotherapie”, die nicht auf
dem Inhalt einer besonderen Kultur beruhen, sondern kulturell neutral sein sollte.
Dies widersprach sich jedoch selbst, da dies aus der Kultur des Autors entstanden
war. Neuere Ethnopsychoanalytiker wie Mario Erdheim und Evelyn Heinemann sahen dies differenzierter (vgl. Heise 2005, S.47).
Die Aufgabe der transkulturellen Psychiatrie soll nach Wittikower sein, die “Identifizierung quantitativer und qualitativer Unterschiede beim Vergleich der Geisteskrankheiten in den verschiedenen Kulturen, Untersuchung der Gründe für die festgestellten Unterschiede und Anwendung des so erworbenen Wissens für die Behandlung und Verhütung von Geisteskrankheiten.” (Heise 2005, S. 47 f.)
4. Unterschiedliche Aspekte von Krankheit
Die Vorstellung von Gesundheit bzw. Krankheit wird von der jeweiligen Kultur bestimmt, aus der die Person stammt. Die Gesellschaft erwartet die Erfüllung bestimmter Aufgaben, die sich je nach Alter und sozialer Position unterscheiden. So z.B. die
Beschneidung der Frauen in Nordost-Afrika oder das Einbinden der Frauenfüße im
alten China oder aber das Schlankheitsideal der Twiggy in Europa. Neben rein biologischen Gesundheits- und Krankheitskonzepten sind die psychologischen und sozialen Aspekte von großer Bedeutung (vgl. Pfeiffer 1998, S. 13 f.).
Naturwissenschaftliche Gesichtspunkte schließen psychologische und soziale Betrachtungsweisen sowie existenzielle bzw. religiöse Sinngebung gegenseitig nicht
aus. Magische Vorstellungen, wie z.B. der Glaube an Verwünschung, Zauber und
dämonische Besessenheit, können trotz medizinischer Überzeugtheit vorhanden sein.
Dabei lassen sich Konzepte wie naturwissenschaftlich, traditionell oder magisch
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nicht nach bestimmten Völkern oder Regionen zuordnen. Sowohl bei den Völkern
des Mittelmeerraums, als auch bei den europäischen Völkern ist das Bedürfnis sich
in anderer Hinsicht abzusichern vorhanden (vgl. Pfeiffer 1998, S. 14 f.).
4.1 Vorstellungsformen von Krankheit
Im Folgenden werden drei (aus vielen anderen) Vorstellungsformen von Krankheit
vereinfacht dargestellt: 1. Krankheit als Schädigung durch äußere Kräfte, 2. Krankheit als Schädigung eines Kräftegleichgewichts, 3. Krankheit als Minderung oder
Verlust der Lebenskraft.
4.1.1 Krankheit als Schädigung durch äußere Kräfte
1- Was aus naturwissenschaftlicher Sicht als von Mikroben verursachte Krankheit angesehen wird, wird im Volksglauben als von dämonischen oder göttlichen Mächten herbeigeführtes Leid betrachtet. So z.B. die Pest als “schwarzer Tod”.
2- Eine negative Kraft, die von einem Menschen oft ohne dessen Willen ausgeht, ist der “Böse Blick” (malocchio, matiasma, nazar). Besonders im Mittelmeerraum ist man davon überzeugt. Dies kann eine angeborene Besonderheit sein, die starken Persönlichkeiten anhaftet. Aber auch augenblickliche
emotionale Gestimmtheit, wie Neid oder sexuelles Verlangen, können den
bösen Blick hervorrufen.
3- Durch Verwünschung und Schadenszauber können die verderblichen Kräfte
willentlich auf das Opfer gelenkt und in sein Leib zum Eindringen gebracht
werden, etwa als Würmer, Insekten, Knöchlein oder Steinchen. Übergänge
zur Giftmischerei sind nicht ausgeschlossen. Der krankmachende Faktor kann
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durch Reinigung, Purgieren oder Extraktion entfernt werden (vgl. Pfeiffer
1998, S. 17 ff.).
Bei psychischen Störungen spricht man von Besessenheit. Die Vorstellung vom Eindringen von Geistern in den menschlichen Körper liegt dabei nahe. Dies zeigt sich in
Verstimmungszuständen und verworrenem oder aggressivem Verhalten. Dann
herrscht die Vorstellung, dass der Geist den Körper des Menschen “in Besitz
nimmt”. Diese Vorstellung herrscht nicht nur im Mittelmeerraum, sondern auch in
Deutschland. Ein Beispiel dafür ist das Schicksal der Studentin Anneliese Michel,
aus der Gegend von Würzburg, die 1976 im Zuge einer exorzistischen Behandlung
verstarb. Vorstellungen dieser Art findet man in allen heiligen Büchern, im Christentum (Mk 9, 17-29; Lk 9, 38-42), im Islam (Suren al-falaq und an-nas) sowie im Judentum (Sohar) (vgl. Pfeiffer 1998, S. 19).
Neben den oben als pathologisch geltenden Besessenheitszuständen, gibt es Besessenheit, die nicht als Krankheit gilt. Durch Heilkundige oder Kultteilnehmer werden
Zustände von Besessenheit herbeigeführt, um so die Kräfte der Geister zu diagnostischen, therapeutischen und rituellen Zwecken nutzbar zu machen. Dazu zählt der
Zar-Kult im nordöstlichen Afrika, zahlreiche Transkulte Westafrikas oder die afroamerikanischen Kulte in Süd- und Mittelamerika (wie z.B. Vodu) (vgl. Pfeiffer 1998,
S. 19 f.).
4.1.2 Krankheit als Schädigung eines Kräftegleichgewichts
Die drei großen Medizin-Traditionen (die mediterrane, die indische und die chinesische) sind sich darin einig, dass Gesundheit in einem Gleichgewicht gegensätzlicher
Kräfte bzw. in einer harmonischen Mischung unterschiedlicher Säfte bestehe (die
“Eukrasia” der hippokratischen Medizin). Zum einen bezieht sich dieses Gleichgewicht auf die Vorgänge im Organismus selbst. So kann z.B. die einseitige Bevorzugung von kühlenden oder erhitzenden Speisen zu einer Störung der inneren Ordnung
führen, woraus weitere Verschiebungen im Haushalt der Säfte und der Organfunkti-
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onen folgen können. Als Therapie werden Anregung oder die Substitution des defiziten Prinzips empfohlen. Ein Beispiel dazu ist das in China und Südostasien verbreitete Krankheitsbild “Suo Yang” (d.h. Schwinden des Yang) oder bekannt auch als
“Koro”. Bei “Koro” handelt es sich um die Retraktion des Genitales. Das bedeutet,
dass in schweren Fällen bei Männern die Angst herrscht, dass sich der Penis in den
Unterleib zurückzieht. Das Verschwinden des Gliedes würde den Tod bedeuten und
ist daher mit starker Angst verbunden. Die Therapie ist bemüht, das Schwinden zu
verhindern. Dies erreicht sie durch die Stimulierung des Yang-Prinzips, wozu das
Horn des Rhinozerosses geeignet ist. Ein Gegenbeispiel aus der westlichen Welt zur
Regulierung des Gleichgewichts, ist die Behandlung von Erkältungskrankheiten mit
heißen Bädern und wärmendem Grog (vgl. Pfeiffer 1998, S. 21).
Pfeiffer betont jedoch, dass bei der Krankheit als Störung der Balance nicht einzig
die Harmonie im Inneren des Organismus, sondern auch die Einordnung in die soziale Umgebung eine wesentliche Rolle spielt. Es ist wichtig, sich an die gesellschaftlichen und religiösen Ordnungen anzupassen, um die Beziehungen zu den Mitmenschen nicht zu gefährden. Großer Erfolg kann Anlass zu Neid und Bösem Blick geben, ungerechtes Verhalten kann Verwünschungen hervorrufen. Da man jedoch
hauptsächlich Wohlwollen und Segen des anderen möchte, ist man auf Ausgleich
und Versöhnung bedacht. In der muslimischen Sitte gibt es am Ende der Fastenzeit
das sogenannte “Id ul-fitri”. Man geht auf Menschen zu und bittet sie um Vergebung
(vgl. Pfeiffer 1998, S. 21 f.).
4.1.3 Krankheit als Minderung oder Verlust der Lebenskraft
Die Lebenskraft kann auf unterschiedliche Art eine Minderung erfahren. Zum einen
ist das Altern für sich ein Fortschreiten der Lebenskraft und damit der Alterstod ein
natürliches Erlöschen. Zum anderen kann der Verlust lebenswichtiger Substanzen,
wie z.B. das Blut, eine Minderung der Lebenskraft herbeiführen. In der indischen
Kultur ist dagegen der Verlust von Spermaverlust im Zentrum eines alltäglichen
Krankheitsbildes (Dhat-Syndrom). Denn in der indischen Kultur entspricht ein Trop-
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fen Sperma sechzig Tropfen Blut. Daher kommt es bei asketischen Übungen, die die
Steigerung der vitalen und geistigen Kräfte anstreben, der sexuellen Enthaltsamkeit
hohe Bedeutung zu (vgl. Pfeiffer 1998, S. 16).
In den medizinischen Schulen Europas , z.B. nach der Asthenie-Lehre John Browns,
können körperliche und geistige Anstrengungen (Studium), zu Erschöpfungen führen. Im Stress-Konzept von Selye (1946) erlangte diese Erkenntnis wissenschaftlichen Respekt. Doch außer den geistigen und körperlichen kann die übermäßige Hingabe an Emotionen auch zu Vitalitätsverlust führen. Dies ist im Volksglauben auf
Java auch bekannt. Dort gilt es als gefährlich, sich zu sehr seinen Emotionen zu überlassen, egal ob Freude oder Trauer (vgl. Pfeiffer 1998, S. 16 f.).
Auch plötzliche Emotionen wie Schreck können zum akuten Verlust der Lebenskraft
führen. In Lateinamerika ist diese Krankheit als die Schreck-Krankheit “Susto” bekannt. Für die indianische Bevölkerung bedeutet Susto ein Verlust der Seele, die
zurückzuholen gilt (vgl. Pfeiffer 1998, S. 17).
5. Traditionelle Medizin
Zu der traditionellen Medizin gehören, wie eingangs bereits erwähnt, weltweit viele
verschiene Formen an, wie z.B. die chinesische, die afrikanische, die lateinamerikanische usw. Um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen, soll im Folgenden nur die
traditionelle Medizin in islamischen Kulturen behandelt werden.
5.1 Traditionelle Medizin in islamischen Kulturen
Es gibt weltweit 1,4 Milliarden Moslems, die sich zum Islam bekennen. Der Islam ist
eine monotheistische abrahamitische Religion, die auf dem Koran gründet. Ein Muslim ist nach islamischem Selbstverständnis ein Monotheist, der Mohammed als letzten Propheten Gottes (Allahs) anerkennt. Die von Mohammed überbrachte Offenba-
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rung ist im Koran aufgezeichnet. Für einen Muslim bedeutet der Koran das Wort
Gottes (vgl. wikipedia/moslems).
Die islamische Welt erstreckt sich geographisch von Nord-West-Afrika bis zur indonesisch-malayischen Inselwelt im Osten. Aufgrund dieser Größe, ist es nicht möglich
eine Beschreibung einer einheitlich muslimischen Volksmedizin vorzunehmen, da
die kulturellen Voraussetzungen und medizinischen Traditionen in den verschiedenen Gebieten der islamischen Welt zu unterschiedlich sind. Im Folgenden sollen einige Formen der traditionellen Medizin, der traditionellen Diagnose- und Therapieformen und das Personal im Bereich der Volksmedizin in den Gesellschaften des
Nahen Ostens dargestellt werden.
5.2 Volksheilkunde im Islam
In muslimischen Gesellschaften suchen Menschen medizinische Hilfe auf, wenn ihre
persönlichen Heilungsversuche nicht erfolgreich waren. Sie entscheiden schon vorher, ob ein Arzt oder ein Heiler für die Behandlung in Frage kommt. Es ist wichtig
für die Patienten im Vorfeld abzuklären, welche Heiler oder Ärzte zur Verfügung
stehen, welchen Ruf sie haben und welche Kosten damit in Verbindung stehen. In
der Hinsicht unterscheiden sie sich also nicht wesentlich von den nicht-muslimischen
Gesellschaften. Was sich jedoch unterscheidet, sind die jeweiligen medizinischen
Systeme, die Traditionen, Normen und Ritualen unterliegen, die wiederum kulturabhängig sind (vgl. Heine/Assion 2005, S. 29).
Die im folgenden dargestellten Beispiele aus dem islamischen Kontext bieten einen
Überblick über die traditionellen Heiler und die gängigsten Erklärungsmodelle in den
nah östlichen Gesellschaften. Zu den traditionellen Heilern zählen Knochenheiler,
religiöse Heiler, Derwisch und Sufi, arabischer Arzt “hakim arabi”, Gelbsuchtheiler,
Pflanzenheiler und Herbalisten, Barbier und traditionelle Hebammen, weise Frauen
und Spritzenfrauen.
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5.2.1 Knochenheiler
Knochenheiler, auch Knochenrichter genannt, werden zur Behandlung von Verspannungen, Verrenkungen und Knochenbrüchen aufgesucht. Die Kenntnisse des Knochenheilens werden von Familie zu Familie weitergegeben. Knochenheiler kennen
die Knochenstruktur des Körpers und die Funktion der Gelenke (viele waren Metzger
von Beruf), und wissen wie diese arbeiten. Sie verwenden bei ihrer Arbeit keine Betäubungsmittel, was für die Patienten sehr schmerzhaft ist. Nach einer Behandlung
trägt der Heiler eine Mixtur (z.B. aus Eiweiß, Seife oder Olivenöl) um die gebrochene Stelle auf und umwickelt diese mit Gaze und Holzstäben. Die Heildauer beträgt
ein bis zwei Monate (vgl. Heine/Assion 2005, S. 32).
5.2.2 Religiöse Heiler
Religiöse Heiler sind Korankundige, Koranlehrer oder islamische Religionsvertreter,
die Kenntnisse über die heiligen Schriften haben. Sie sind meist in einer islamischen
Gemeinde tätig und betätigen sich zusätzlich als nicht-ärztliche Heilkundige. Im türkischen Kulturraum sind sie als “Hodscha” (Hoca) bekannt. Es gibt jedoch auch Heiler, die nicht korankundig sind und auch keine besondere Ausbildung haben. Diese
betätigen sich vorrangig mit magisch-religiösen Praktiken. Die Übergänge zwischen
den Magier-Heilern und den Schriftgelehrten sind fließend.
Von religiösen Heilern wird behauptet, dass sie magische Einflüsse (wie z.B. den
“bösen Blick”) als Krankheitsursache erkennen können. Sie werden auch als hohe
Autoritäten angesehen und ihnen werden übernatürliche Kräfte nachgesagt. Ihnen
würden “Armeen von Dschinnen” zur Seite stehen, die gegen die “bösen Geister”
vorgehen würden.
Die Gründe, weshalb religiöse Heiler aufgesucht werden, sind vielfältig. Psychische,
neurologische und psychosomatische Erkrankungen, über Depressionen, Epilepsie
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bis hin zu familiären, ökonomischen und beruflichen Schwierigkeiten (vgl. Heine/Assion 2005, S. 32).
5.2.3 Derwisch und Sufi
Derwische und Sufis zählen auch zu den religiösen Heilern. Ein Derwisch (persisch:
Bettler) ist ein Mitglied einer islamischen Bruderschaft. Diese Bruderschaft beruht
auf einer islamischen Mystik (tasavvuf) und ein Derwisch sieht sich als Mystiker
(sufi) auf dem Pfad der Erkenntnis Gottes. Bekannt ist das Trance-Ritual der Tanzenden Derwische, aus der türkischen Stadt Konya, dem Begräbnisort des aus Persien stammenden Dichters und Sufis Dschalal ad-Din Rumi (1207-1273). Die Bezeichnung “Sufi” ist abgeleitet von der Kleidung des Mystikers, die aus einem Kleid
aus grober Wolle, “suf” (arabisch: Wolle), ein Zeichen des Verzichts und der Askese,
bestand. Islamische Bruderschaften gibt es heute noch u.a. im arabischen Nordafrika
und in der Türkei, wie z.B. die Bektashya oder Naqshbandis. Der Rat der Sufis wird
bei Krankheit, familiären oder persönlichen Problemen eingeholt. Sie unterscheiden
sich von den religiösen Heilern nicht (vgl. Heine/Assion 2005, S. 33).
5.2.4 Sheik
Als Anrede wird “Sheik” (arabisch: der Alte, der Greis) im arabischen Raum unterschiedlich verwendet. Sie kann den Oberhaupt eines Stammesverbandes oder den
geistlichen und weltlichen Oberhaupt einer religiösen Bruderschaft bezeichnen. Sie
kann aber auch als Ehrentitel für islamische Geistliche oder Personen mit theologischer Ausbildung gelten. Ehrenhalber nennt man den Dorfältesten auch “Sheik”.
Einige dieser Sheiks sind auch als Heiler tätig und bedienen sich magisch-religiöser
Mittel, um gegen Geister und schwarze Magie zu wirken. Dabei machen sie sich den
Amulettglauben zu nutze. Die meisten arbeiten jedoch profitorientiert (vgl. Heine/Assion 2005, S. 34).
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5.2.5 Arabischer Arzt “hakim arabi”
Der Begriff “hakim” kommt aus dem Arabischen und hat mehrere Bedeutungen. Am
leichtesten ist der Begriff mit weiser Mann, Philosoph, Arzt oder Doktor zu übersetzen. Besonders ist dieser Typ des Heilers in Ägypten, Lybien oder im Jemen anzutreffen. Ein “hakim” verfügt über vielfältige Heilmittel und Heilmethoden. Seine
Kenntnisse beruhen auf den Überlieferungen der mittelalterlichen arabischen Medizin, die durch eigene Erfahrungen bereichert sind. Das Aufsetzen von gläsernen
Saugnäpfen auf die Haut, das Ausbrennen mit Glüheisen oder Kohle und der Aderlass sind einige der mittelalterlichen Methoden, die angewendet werden. Auch bei
dieser Gruppe der Heiler sind viele Scharlatane enthalten (vgl. Heine/Assion 2005, S.
34).
5.2.6 Gelbsuchtheiler
Der in der Türkei unter dem Namen “ocakli” (türkisch: Herd, Familie) anzutreffende
Heilertyp ist als Gelbsuchtheiler oder Malaria-Heiler bekannt. Er verwendet magisch-rituelle Praktiken bei Behandlungen von Infektionen und Erkrankungen, die
mit einer Gelbsucht einhergehen (vgl. Heine/Assion 2005, S. 34).
5.2.7 Pflanzenheiler und Herbalisten
Die besonders im arabischen Raum bekannten Pflanzenheiler und Herbalisten versuchen Krankheiten durch äußerliche und innerliche Anwendung von Pflanzen, Kräutern, deren Extrakten und Mixturen zu lindern und zu heilen. Im Libanon bieten
Pflanzenheiler heilende Kräuter, Anti-Magie-Paste oder Amulette gegen Magie und
den bösen Blick in kleinen Geschäften an (vgl. Heine/Assion 2005, S. 34 f.).
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5.2.8 Barbier
In der traditionellen arabischen Medizin (früher auch in Europa üblich) werden Barbiere nicht nur zur Pflege der Haare, sondern auch zur Behandlung von gesundheitlichen Problemen aufgesucht. Insbesondere Hautkrankheiten und Beschneidungen
sind ihr Spezialgebiet. Außerdem bieten sie Kuren und Salben gegen Ekzeme, Haarausfall und Allergien an (vgl. Heine/Assion 2005, S. 35).
5.2.9 Traditionelle Hebammen, weise Frauen und Spritzfrauen
Traditionelle Hebammen sind oft ältere Frauen, die in der Gemeinde respektiert werden, über Lebenserfahrung verfügen und als “rein” im religiös-welt-anschaulichen
Sinne gelten. Denn nur Frauen vor dem ersten Geschlechtsakt oder im nicht mehr
gebärfähigen Alter gelten nach islamischer Vorstellung als “rein”. Meistens in ländlichen Gebieten helfen diese Frauen bei Schwangerschaft und Geburt. Bei gynäkologischen Erkrankungen setzen sie Pflanzenextrakte oder physikalisch-therapeutische
Methoden, wie Kälte oder Wärme-Applikationen ein. Auch bei Kinderkrankheiten,
anderen Krankheiten oder familiären Problemen werden sie um Rat gebeten (vgl.
Heine/Assion 2005, S. 35).
Wie die Hebammen sind die weisen Frauen auch als traditionelle Hebammen tätig
oder üben magisch-rituelle Praktiken aus (vgl. Heine/Assion 2005, S. 35).
In vielen ländlichen Regionen Arabiens stellen Spritzfrauen Diagnosen. Sie erstellen
außerdem Therapiepläne und verschreiben Medikamente und Injektionen. Ihr Wissen
ist tradiert und hat keine Schulung (vgl. Heine/Assion 2005, S. 35).
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6. Heilvorstellungen im Islam
Unterschiedliche Formen von Heilvorstellungen, insbesondere bei psychischen Erkrankungen, sollen im Folgenden erläutert werden.
6.1 Dschinne
Ein Bestandteil des islamischen Glaubens ist die Existenz von Dschinnen. Im Koran
und in den Aussprüchen des Propheten Mohammad gibt es diesbezüglich Überlieferungen. Dschinne sind Geschöpfe Gottes und zählen im Islam zu den verbotenen
Dingen, von denen man wenig weiß. Auch die Beschäftigung damit ist nicht weiter
erwünscht, damit der Aberglaube nicht gefördert wird. Der islamische Volksglaube
gibt jedoch der Existenz von Dschinnen einen besonderen Rang (vgl. Laabdallaoui/Rüschoff 2005, S. 36).
Dschinne sind, wie auch Menschen, Geschöpfe Gottes. Sie haben besondere Eigenschaften, wie z.B. dass sie uns sehen und hören können, wir sie aber nicht. Sie sind
aus Feuer gemacht. Genauso wie für den Menschen ist der Koran auch für die
Dschinne offenbart worden. Auch unter diesen gibt es Gläubige und Ungläubige
(vgl. Laabdallaoui/Rüschoff 2005, S. 36). Dschinne können sowohl weiblich als auch
männlich sein. Sie sind unsichtbar und halten sich tagsüber im Dunkeln, in Abfall, in
Wäldern, Höhlen, schmutzigen Gewässern oder Kaminen auf. Nachts sind sie auf
Friedhöfen, im Hamam (öffentliches Bad) oder unter großen Bäumen. Daraus leitet
sich zum Beispiel das Gebot ab nicht in Müllhaufen zu stochern, um die aggressiven
Dschinns darin nicht aufzuschrecken (vgl. Heine/Assion 2005, S. 39 f.).
Dschinne sind zwar ein Bestandteil des islamischen Glaubens, jedoch lehnt der Islam
den Glauben an Magie und Zauber mit Bezug auf den Koran ab. Auch Glücksbringer
werden abgelehnt, da einer magischen Handlung ihrem Charakter nach eine weitgehend automatische Wirkung zugeschrieben wird. Nach der islamischen Auffassung
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ist jedoch Gott allmächtig und alleiniger Urheber aller Handlungen (vgl. Laabdallaoui/Rüschoff 2005, S. 37).
Unter den Muslimen ist der Glaube an die Wirksamkeit von Magie, Wahrsagerei
oder Glücksbringern weit verbreitet. Es sind aber auch viele vorislamische Bräuche
und Einstellungen, die in diese Glaubensformen eingeflossen sind und als islamisch
und damit als Bestandteil ihrer Religion betrachtet werden. Magie und Zauber werden als Unheilstifter betrachtet und sind stark mit Ängsten verbunden. Insbesondere
bei psychiatrischen Krankheiten wird die Besessenheit von einem bösen Dschinn
oder der Einfluss des “bösen Blicks” verantwortlich gemacht (vgl. Laabdallaoui/Rüschoff 2005, S. 37).
6.2 Böser Blick (“nazar”)
Mit dem bösen Blick zusammenhängende abergläubische Vorstellungen gehen historisch sehr weit zurück. Die ältesten Funde reichen 6000 Jahre und länger zurück. Der
Glaube an den “bösen Blick” (nazar), ist im ganzen Orient weit verbreitet. Im Arabischen und im Türkischen ist die Bezeichnung “nazar” verbreitet, was “Blick” als
auch im negativen Sinne “böser Blick” bedeuten kann (Heine/Assion 2005, S. 36). Er
wird als Ursache für Krankheit, Verkrüppelung und Unglück gesehen. Man kann
vom bösen Blick getroffen werden, wenn man zu lange angeschaut wird. Besonders
gefährdet sind Neugeborene, schwangere Frauen und Bräute. Das Wort “Masallah”
hebt die Gefahr des bösen Blicks auf, weshalb es mehrfach als lobendes Wort ausgesprochen wird. Wie oder von wem genau der böse Blick ausgeht, kann niemand sagen. Als vermutlicher Grund wird Neid gesehen, weshalb man vom bösen Blick getroffen werden kann. Aber auch Menschen mit außergewöhnlichen Augenfarben (da
im Orient die meisten Menschen dunkle Augen haben, ist es die Farbe blau), wird
der böse Blick zugeschrieben (vgl. Sen u.a. 1998, S. 174 f.).
Der böse Blick kann auch Auswirkungen auf soziale Beziehungen haben und die
Trennung eines Ehe- oder Liebespaares bewirken. Er wird auch als Erklärung für
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verschiedene Erkrankungen gesehen, so z.B. Kopfschmerzen, Schwindel, Ruhelosigkeit, unerwartete Kinderkrankheiten, Unfälle und sogar schwere Krankheiten und
Tod können auf den bösen Blick zurückgeführt werden. Bei dem sudanesischen Volk
der Uduk wird die Geburt von Zwillingen mit dem bösen Blick in Zusammenhang
gebracht (vgl. Heine/Assion 2005, S. 38).
Ein islamischer Brauch ist das Tragen von Amuletten. Diese bieten zum einen Schutz
vor Feinden, zum anderen Schutz vor Krankheiten oder Unglück. Verschiedene Motive und Darstellungen aus verschiedenen Materialien werden als Amulette getragen.
So z.B. Amulette in Form von Götterbildern, Halbmonden oder offenen Augen in
Schmuckform (vgl. Heine/Assion 2005, S. 38). Das Amulett kann nach der Vorstellung in der islamischen Welt dazu dienen, eine Verwünschung aufzuheben. Zum
Beispiel kann das Ausbleiben der Erfüllung eines Wunsches (zum Beispiel ein Kinderwunsch), der Verwünschung einer anderen Person zugeschrieben werden. Ein
Amulett soll dann dabei helfen, die Verwünschung zu neutralisieren. In der Türkei
z.B. besteht ein Amulett aus einem in Arabisch geschriebenen Gebet, der in einer
Stoffhülle gesteckt am Körper, meistens am Hals, getragen wird (vgl. Sen u.a. 1998,
S. 175).
6.3 Traditionelle Heiler (“Hodscha”)
Die Bezeichnung “Hodscha” wird vielfältig verwendet. Zum einen sind es der Vorbeter und der Religionslehrer in der Moschee, zum anderen islamische Gelehrte und
Personen. Zum einen sind es islamisch gebildete Heiler, die sich von magischen
Praktiken absetzen und nach psychologischem Einfühlungsvermögen Hilfestellung
bieten. Zum anderen sind es Heiler, die mit einer Mischung aus Islam und der “Medizin des Propheten” (diese sind Aussprüche und Handlungen des Propheten zu Gesundheitsfragen) arbeiten. Dann gibt es Hodschas, die auf der Grundlage der Volksmedizin, Kräuterheilkunde, Diätlehre oder Chiropraxie arbeiten, sowie welche, die
auch traditionelle vorislamische Praktiken anwenden. Zu letzt gibt es jedoch auch
Hodschas, die alle Elemente in sich vereinigen. Die Ausbildung des Hodschas zum
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Heiler ist nach Laabdallaoui/Rüschoff (2005) völlig ungeregelt (vgl. Laabdallaoui/
Rüschoff 2005, S. 224 f.).
Der Hodscha hat bei vielen Muslimen einen hohen Stellenwert. Der Kontakt zum
Hodscha wird in den meisten Fällen von den Angehörigen des Patienten hergestellt,
wodurch wird ein besonderes Bedürfnis der Familien nach Hilfe und Unterstützung
zum Ausdruck gebracht wird (vgl. Laabdallaoui/Rüschoff 2005, S. 224). Alle Hocas
mit heilenden Absichten lesen aus dem Koran. Einige arbeiten zuerst mit Sternzeichen (yildizname) und interpretieren diese für die Patienten. Damit versuchen sie die
Ursache der Besessenheit zu erklären. Andere nehmen direkt Kontakt mit dem
Dschinn auf, um die Geschichte des Leidens von dem Dämonen zu erfahren (vgl.
Strasser 2006, S. 309).
6.4 Dschindschi Hodscha (“Cinci-Hoca”)
“Cinci-Hocas” sind Spezialisten, die die Macht haben Dämonen zu kontrollieren.
Diese Fähigkeit haben sie angeblich von Gott bekommen und durch jahrelanges
Training unter Kontrolle gebracht. Nach Strasser haben viele Heiler ein durchschnittliches Leben als Bauern oder Arbeiter, sie haben Familien und manche gehen in die
Migration. Heiler sind über große Entfernungen bekannt und werden unter großem
finanziellem Aufwand aufgesucht. Es gibt Hocas, die unentgeltlich arbeiten, andere
wiederum nehmen Spenden und Geschenke an. Es gibt jedoch auch welche, die mit
bestimmten Tarifen für ihre Leistungen arbeiten. Alle haben unterschiedliche Praktiken und unterschiedliche Leistungen und Erfolge (vgl. Strasser 2006, S. 308).
6.5 Besessenheit (“Zar-Bori-Kult”)
Besessenheitszustände kennt man im islamischen Raum insbesondere in der Sahelzone, in Nordafrika, Ägypten und im Sudan. Es sind vor allem Frauen, die von Besessenheitsphänomenen betroffen sind. Diese können sich in folgenden Formen zei-
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gen: Kataleptische Starre, Schocklähmung, -taubheit, -blindheit, Kindersterblichkeit,
Kinderlosigkeit, Gier nach rohem Fleisch, Verwahrlosung, in fremden Zungen reden
u.v.m. Oft wird aus emischer Sicht die Besessenheit damit gedeutet, dass ein Geist
durch die betroffene Person verärgert oder geschädigt wurde. Dies soll leicht möglich sein, da die Geister unsichtbar sein sollen. Nach einigen traditionellen Vorstellungen soll es keine Heilung von Besessenheit geben. Das heißt, auch keine Möglichkeit des Exorzismus. Nach anderen traditionellen Vorstellungen besteht die Möglichkeit der Befreiung, wenn der Geist freiwillig den Körper verlässt, um Besitz eines
anderen Körpers zu ergreifen (vgl. Heine/Assion 2005, S. 41 f.).
7. Volks- und Aberglaube aus der Türkei
Die volksmedizinischen Krankheitsvorstellungen in der Türkei lassen sich nach
Sastimdur (1995) in folgende Gruppen unterteilen:
1. Magische und religiöse Krankheitsvorstellungen, wie z.B. der böse Blick (nazar), der Einfluss von Zauber (büyü) oder von bösen Geistern.
2. Mechanistische Krankheitsvorstellungen, wie das Verrutschen und Lageveränderung von Organen (z.B. Nabenfall “göbek düsmesi”).
3. Aus der modernen Medizin übernommene Krankheitsvorstellungen.
(vgl. Sastimdur 1995, S. 239).
An dieser Stelle sind die ersten zwei Punkte von Bedeutung. Im Folgenden werden
Behandlungsrituale von Hodschas näher erläutert.
7.1 Behandlungsritual der Hodschas
Es gibt verschiedene Rituale derer sich die Hodschas bedienen, um die Dschins aus
dem Körper des Besessenen auszutreiben und sie gegen neue Angriffe zu stärken:
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1. Die sogenannte “Muska” erfüllt diesen Zweck: “Eine Koransure oder ein
Zauberspruch wird auf ein Stück Papier geschrieben, das zu einem Dreieck
gefaltet und in Stoff eingenäht wird.” Als Amulett wird das Papier am Körper
getragen.
2. Koransuren oder Zaubersprüche werden auf Teller geschrieben, mit Wasser
abgespült und anschließend wird diese Flüssigkeit als Heilmittel verabreicht.
3. Auf Papier geschriebene Suren oder Worte werden verbrannt. Die schützende
oder verbrennende Heilkraft kann auch mit dem Rauch der verbrennenden
Worte eingeatmet werden.
4. Als Heilmittel gelten Olivenöl oder Honig, oder auch je nach Region z.B. die
Haselnuss am Schwarzen Meer. Aber auch Wasser gilt als Heilmittel, wenn
es mit Koranversen besprochen, also geweiht (okunmus) ist (vgl. Strasser
2006, S. 309).
Außerdem gibt es auch allerlei bizarre Rituale, wie z.B. das Trinken von Wasser aus
einem Fluss, in den die Mutter der Patientin vorher urinieren sollte u.v.m. (vgl.
Laabdallaoui/ Rüschoff 2005, S. 225). Die Hilfesuchenden wissen nicht, was auf den
Zetteln oder Tellern geschrieben steht, vertrauen aber auf die Kraft der heiligen
Schrift und auf das Amulett.
7.2 Ein Beispiel zum Behandlungsritual
Eine in Yesilköy (Stadtteil von Istanbul) lebende Frau, besucht einen Hodscha, um
ihre Ohnmachtsanfälle (vermutlich psychogene Anfälle) untersuchen zu lassen. Dieser Hodscha erscheint ihr vertrauenswürdig, da er den Tod ihrer Schwester vor ein
paar Jahren richtig vorhergesehen hatte.
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Der Heiler fragt zuerst nach den Beschwerden und schließt somit medizinische Ursachen für ihre Erkrankung aus. Er informiert sich auch über die Familiengeschichte.
Dann schreibt er den Namen ihrer Mutter in arabischen Lettern auf ein Papier und
gibt ihr den Zettel in die Hand. Sie soll sich auf Allah (Gott) konzentrieren und den
Namen Gottes immer wieder leise wiederholen. Er wiederholt währenddessen Suren
aus dem Koran und bläst ihr immer wieder ins Gesicht, bis sie Ohnmächtig wird. Er
weckt sie anschließend mit gewöhnlichem Wasser und bemalt ihre Finger mit unsichtbarer Tinte. Somit verschließt er ihren Körper mit heiligen Buchstaben für
“cins” (Dschinns). Anschließend hält er ihr einen Büschel Haare unter die Nase, den
er ihr während der Ohnmacht abgeschnitten hatte. Sie beginnt sich zu winden und zu
schreien, er beruhigt sie und verspricht ihr, dass sie in zwei Wochen rein sein wird.
Er schreibt heilige Wörter auf einen Teller, wäscht die Buchstaben ab und gibt die
Mixtur in eine Flasche. Sie und ihre Mutter sollen sieben Tage lang Wasser mit ein
paar Tropfen aus der Mixtur vermischen und trinken. Sie soll ebenfalls sieben Tage
lang ein Stück von ihrem Haar schneiden und verbrennen, und den Rauch einatmen.
Zusätzlich soll sie drei Tage ein Bad nehmen und die Mixtur der kleinen Flasche ins
Badewasser mischen. Während dieser drei Tage sollen Bad, Toilette, Waschbecken
und der Brunnen mit dem heiligen Wasser besprengt werden. Der Hodscha verschreibt zusätzlich Olivenöl als Nasentropfen und Honigwasser als Frühstücksgetränk. Sie soll Kraut und Eier meiden (vgl. Strasser 2006, S. 309).
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8. Zusammenfassung
Die oben dargestellten Vorstellungsformen von Erkrankung und Heilung im Islam
zeigen nur einen kleinen Teilbereich aus der großen islamischen Welt. Diese Heilungsvorstellungen und Behandlungsrituale sind aus westlich-europäischer Sicht archaisch, werden aber aktuell im Nahen Osten praktiziert. Nicht nur von Menschen,
die in urbanen Regionen leben, wo der Zugang zur modernen Medizin schwieriger
ist, sondern auch von Städtern.
Bemerkenswert ist jedoch, dass trotz Modernisierung und westlich orientiertem Lebenswandel (die Gesundheitsversorgung inbegriffen) die traditionellen Tendenzen
nicht abgenommen haben. Sicherlich gibt es auch moderne westliche Medizin in
diesen Ländern, derer sich die Menschen bedienen. Jedoch kann man davon ausgehen, dass der Alltag der Menschen stark vom Glauben, dem Islam, geprägt ist und
dadurch der Weg zu traditionellen Heilmethoden unbefangener ist.
Assion (2005) stellt in diesem Kontext fest, dass die Landflucht eher zu einer Verländlichung der städtischen Gesellschaften geführt hat, womit sich die traditionellen
Tendenzen auch im urbanen Kontext verstärkt haben. Auch eine Untersuchung unter
türkischen Migranten in Deutschland zeigt, “bei schwerem oder längerem Krankheitsverlauf wird auf traditionelle Erklärungs- und Heilmethoden zurückgegriffen.”
(Assion 2005, S. 42)
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Literaturverzeichnis:
Assion, Hans-Jörg (Hrsg.): Migration und seelische Gesundheit. Heidelberg 2005
Greifeld, Katarina (Hrsg.) (2003): Ritual und Heilung. Eine Einführung in die Medizinethnologie. Berlin
Heine, Peter/Assion, Hans-Jörg (2005): Traditionelle Medizin in islamischen Kulturen. In: Assion, Hans-Jörg (Hrsg.): Migration und seelische Gesundheit. Heidelberg,
S. 29-45
Heise, Thomas (2005): Entwicklungsgeschichte der transkulturellen Psychiatrie. In:
Assion, Hans-Jörg (Hrsg.): Migration und seelische Gesundheit. Heidelberg, S. 4758
Laabdallaoui, Malika/ Rüschoff, S. Ibrahim (2005): Ratgeber für Muslime bei psychischen und psychosozialen Krisen. Bonn
Lux, T. (2001): Zur Entstehung des medizinanthropologischen Krankheitsbegriffs.
Curare 24, S. 19-31
Pfeiffer, M. Wolfgang (1998): Krankheitskonzepte in der multikulturellen Gesellschaft. In: Kiesel, Doron/ Lüpke von, Hans (Hrsg.):Vom Wahn und vom Sinn.
Krankheitskonzepte in der multikulturellen Gesellschaft. Frankfurt a.M., S. 13-26
Sastimdur, Güler (1995): Migranten und Krankheitstheorien. In: Koch, Eckhardt/
Pfeiffer, Wolfgang M. (Hrsg.): Psychologie und Pathologie der Migration. Deutschtürkische Perspektiven. Freiburg im Breisgau, 238-239
Sen, Faruk/ Akkaya, Cigdem/ Özbek, Yasemin (1998): Länderbericht Türkei. Darmstadt
28
Selye, Hans (1946): The general adaptation syndrome and the diseases of adaptation.
In: Journal of Clinical Endocrinology 6
Strasser, Judith (2006): Krise oder Kritik? Zur Ambiguität von weiblicher Besessenheit als translokale Strategie. In: Wohlfahrt, Ernestine/Zaumseil, Manfred (Hrsg.):
Transkulturelle Psychiatrie – Interkulturelle Psychotherapie. Heidelberg, S. 299-312
Internetquellen:
htpp://de.wikipedia.org/wiki/moslems
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Ehrenwörtliche Erklärung
Ich versichere, dass die vorliegende Arbeit ohne fremde Hilfe angefertigt
wurde und dass ich, außer der von mir angegebenen Literatur, keine weitere benutzt habe. Die wörtlich übernommenen Stellen sind als solche
gekennzeichnet.
Diedorf, den 30.11.2007 ________________________________
(Meryem Reiter)
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