TRADITIONELLE MEDIZIN IN DER ISLAMISCHEN WELT (Beispiele aus dem Nahen Osten) Seminararbeit im Fach: Sozialarbeit in der Psychiatrie Master Dozent: Dr. Michael von Cranach Fachhochschule München Fachbereich 11 Sozialwesen vorgelegt von: Meryem Reiter Am Stadtpark 20 81243 München Abgabedatum 30.11.2007 3 Gliederung 1. Einleitung S. 3 2. Gesundheit – Krankheit S.4 2.1 Definition von Gesundheit S. 4 2.2 Definition von Krankheit S. 4 3. Medizinethnologie S. 5 3.1 Gründer der Ethnomedizin S. 6 3.2 Ethnopsychiatrie S. 6 4. Unterschiedliche Aspekte von Krankheit S. 7 4.1 Vorstellungsformen von Krankheit S. 8 4.1.1 Krankheit als Schädigung durch äußere Kräfte S. 8 4.1.2 Krankheit als Schädigung eine Kräftegleichgewichts S. 9 4.1.3 Krankheit als Minderung oder Verlust der Lebenskraft S. 10 5. Traditionelle Medizin S. 11 5.1 Traditionelle Medizin in islamischen Kulturen S. 11 5.2 Volksheilkunde im Islam S. 11 5.2.1 Knochenheiler S. 12 5.2.2 Religiöse Heiler S.12 5.2.3 Derwisch und Sufi S. 13 5.2.4 Sheik S. 13 5.2.5 Arabischer Arzt (“hakim arabi”) S. 14 5.2.6 Gelbsuchtheiler S. 14 5.2.7 Pflanzenheiler und Herbalisten S. 14 5.2.8 Barbier S. 14 5.2.9 Traditionelle Hebammen, weise Frauen und Spritzfrauen S. 15 4 6. Heilvorstellungen im Islam S. 15 6.1 Dschinne S. 15 6.2 Böser Blick (“nazar”) S. 16 6.3 Traditioneller Heiler (“Hodscha”) S. 18 6.4 Dschindschi Hodscha (“Cinci-Hoca”) S. 18 6.5 Besessenheit (“Zar-Bori-Kult”) S. 19 7. Volks- und Aberglaube aus der Türkei S. 19 7.1 Behandlungsrituale der Hodschas S. 20 7.2 Ein Beispiel zum Behandlungsritual S. 20 8. Zusammenfassung S. 22 Literaturverzeichnis S. 23 5 1. Einleitung Kultur stellt für alle Menschen in allen Ländern der Welt einen etablierten, von Generation zu Generation tradierten Hintergrund dar. Sie beeinflusst die Sichtweisen, Werthaltungen Ansichten und das Handeln der Menschen. Alle Bereiche des Lebens, an denen die Menschen in einer Gesellschaft teilnehmen, wie z.B. der familiäre, berufliche, wirtschaftliche u.v.a., sind von der Kultur geprägt. Auch für Fragen von Gesundheit und Krankheit gibt es in den verschiedenen Kulturen unterschiedliche Ansätze für deren Erklärungs- und Behandlungsmuster. Weltweit bekannt und akzeptiert ist z.B. die Traditionelle Chinesische Medizin. Aber auch von anderen Formen wie die traditionelle afrikanische oder indianische Medizin hat man schon mal gehört. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit nur einem kleinen Teilbereich aus vielen unterschiedlichen Ansätzen. Sie ist konzentriert auf die traditionelle Medizin aus dem islamischen Kulturraum, hauptsächlich auf die aus dem Nahen Osten. Ziel der Arbeit ist es, einen kleinen Einblick in die vielfältigen Formen der Volksheilkunde und den Heilvorstellungen der Moslems, insbesondere bei psychischen Störungen, zu geben. In der vorliegenden Arbeit wird nach einer begrifflichen Einführung von Gesundheit – Krankheit in Kapitel drei auf Medizinethnologie eingegangen. Anschließend werden die unterschiedlichen Aspekte von Krankheit und ihre Vorstellungsformen besprochen. In Kapitel fünf werden Traditionelle Medizin in islamischen Kulturen vorgestellt und anschließend im sechsten Kapitel einige Heilformen im Islam besprochen. Im siebten und letzten Kapitel dieser Arbeit wird ein Beispiel zum Behandlungsritual der Hodschas in der Türkei beschrieben. 6 2. Gesundheit – Krankheit Die Unterscheidung von “Kranksein” und “Krankheit” ist sehr alt. Bereits im Corpus Hippocraticum sind die drei Eckpunkte der Arzt – die Krankheit – der Kranke dokumentiert (vgl. Lux 2001, S. 27). Für Gesundheit und Krankheit gibt es vielfältige Definitionen, von denen im Folgenden auf eine näher eingegangen wird. 2.1 Definition von Gesundheit Gesundheit: 1. Im weiteren Sinn ist Gesundheit nach der Definition der WHO der Zustand völligen körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Wohlbefindens. 2. Im eigentlichen Sinn kann Gesundheit verstanden werden als das subjektive Empfinden des Fehlens körperlicher, geistiger und seelischer Störungen bzw. Veränderungen. 3. Im sozialversicherungsrechtlichen Sinn bedingt Gesundheit die Arbeits- bzw. Erwerbsfähigkeit (Psychrembel) (vgl. Greifeld 2003, S. 20). 2.2 Definition von Krankheit Krankheit: Erkrankung, im weiteren Sinne Fehlen von Gesundheit. Im eigentlichen Sinne Vorhandensein von subjektiv empfundenen und/oder seelischen Veränderungen bzw. Störungen. (vgl. Greifeld 2003, S. 20). Greifeld führt folgende Kritik an den oben genannten Definitionen an: Wenn Leib und Seele in den verschiedenen Kulturen anders konzipiert werden, dann stimmen die oben genannten Definitionen nicht mehr. Stattdessen wird vorgeschlagen von Befindensweisen zu sprechen, die primär subjektiv erlebt werden, so z.B. das Wohlbefinden bzw. Missbefinden an Leib und Seele. Gesundheit wird dann zu Wohlbefinden, Krankheit und Kranksein zu Missbefinden. Diese Form bietet die Möglich- 7 keit, dass die Inhalte je nach Kultur und Subkultur weiter mit Inhalt aufgefüllt werden können (vgl. Greifeld 2003, S. 21). 3. Medizinethnologie Die Medizinethnologie hat die medizinischen Systeme zum Gegenstand, die Teil des kulturellen und sozialen Systems sind. Die medizinischen Systeme ändern sich als Teil der Kultur den Bedürfnissen entsprechend (vgl. Greifeld 2003, S. 13). Krankheit und Gesundheit haben nicht immer und überall die gleiche Bedeutung. Konzepte des medizinischen Systems, die über das biologische Erklärungsmodell Abhilfe schaffen wollen, sind alleine nicht ausreichend. Da in jedem Körper auch Kultur miteingeschrieben ist, wird Krankheit zu mehr als einer biologischen Dysfunktion von Körperteilen. Sie wird zu einem breiten Geflecht aus philosophischer Vorstellungen über einen Bestzustand, den man dann als Gesundheit bezeichnet. In Europa nennt man diese Form der Medizin Schulmedizin oder “Moderne Medizin”. Sie wird so genannt, weil sie noch sehr jung und sehr in Mode ist. Sie ist standardisiert und wird weltweit ähnlich ausgeführt. Sie basiert auf einem euroamerikanischen Weltbild und ist somit – auch wenn das Gegenteil behauptet wird – nicht frei von kulturellen Normen (vgl. Greifeld 2003, S. 13 f.). Das Gegenstück zur Schul- bzw. Modernen Medizin ist die Traditionelle Medizin. Sie unterscheidet sich von Region zu Region, Land zu Land und Kultur zu Kultur. Die Traditionelle Medizin ist jeweils mit der spezifischen Geschichte und Kultur einer Gruppe verbunden. Der Name Traditionelle Medizin bezeichnet eine Kurzform für die jeweilige Medizin, wie etwa der afrikanischen , chinesischen oder indischen traditionellen Medizin. Greifeld (2003) betont, dass es eben keine Traditionelle Medizin gibt, sondern sehr viele unterschiedliche Teile, die sich gegenseitig beeinflussen oder übernehmen. Nach Greifeld (2003) wäre es richtiger von dem jeweiligen medizinischen System, z.B. das medizinische System der Mayos oder aber von dem spezifischen Namen, z.B. Ayurveda zu sprechen (vgl. Greifeld 2003, S. 14). 8 3.1 Gründer der Ethnomedizin Drei Klassiker der Ethnomedizin, die zu Beginn ihrer Laufbahn Mediziner waren sind: 1. William Hals Rivers (1864-1922): Er versuchte die jeweiligen medizinischen Vorstellungen innerhalb einer Kultur und aus ihr heraus zu erklären und zu verstehen. Dieser Ansatz wird heute als “emisch” bezeichnet. 2. Clemens Forrest: 1932 erschien sein Buch “Primitive Concepts of Disease”. Er erkannte allen Gesellschaften zu, dass sie je bestimmte Betrachtungen und Erklärungen für Krankheiten entwickeln. 3. Erwin H. Ackerknecht: In seinem Buch aus dem Jahre 1971 “Medicine and Ethnology – Selected Essays”, betrachtet er das Medizinsystem nicht isoliert, sondern setzt es mit der Gesamtkultur in Verbindung und untersucht ihre gegenseitige Abhängigkeiten. Er leugnete jedoch die rationale Basis anderer Medizinsysteme ab und ließ neben der westlichen Medizin keine andere zu. (vgl. Greifeld 2003, S. 14 ff.). 3.2 Ethnopsychiatrie Ein Teilbereich der Ethnomedizin ist die Ethnopsychiatrie. Die Anfänge der Ethnopsychiatrie, zu Beginn “Transkulturelle Psychiatrie” genannt, liegen in der Beschäftigung der mitteleuropäischen Psychiatrie mit psychischen Erkrankungen in fernen und “exotischen” Ländern. Als erster fand van Brero, kurze Zeit später im Jahre 1904 Emil Kraepelin, die in Europa bekannten und unbekannten Formen von “Geisteskrankheiten” in Indonesien. Mit ihren vergleichenden psychiatrischen Arbeiten waren sie die Gründer der Transkulturellen Psychiatrie. Ihr denken war jedoch extrem vom kolonialen Denken geprägt (vgl. Heise 2005, S. 47). 9 Für Untersuchungen fremder Kulturen hatte Georges Devereux 1950 den Begriff Ethnopsychiatrie geschaffen. 1972 veröffentlichte er sein Buch “Ethnopsychoanalyse”, womit er aufgrund seiner völkerkundlichen Studien, Kultur, im analytischen Sinne, als ein System von Abwehrmechanismen sah. Sein Ziel war 1970 die “Einführung der Lehre und Praxis einer kulturell neutralen Psychotherapie”, die nicht auf dem Inhalt einer besonderen Kultur beruhen, sondern kulturell neutral sein sollte. Dies widersprach sich jedoch selbst, da dies aus der Kultur des Autors entstanden war. Neuere Ethnopsychoanalytiker wie Mario Erdheim und Evelyn Heinemann sahen dies differenzierter (vgl. Heise 2005, S.47). Die Aufgabe der transkulturellen Psychiatrie soll nach Wittikower sein, die “Identifizierung quantitativer und qualitativer Unterschiede beim Vergleich der Geisteskrankheiten in den verschiedenen Kulturen, Untersuchung der Gründe für die festgestellten Unterschiede und Anwendung des so erworbenen Wissens für die Behandlung und Verhütung von Geisteskrankheiten.” (Heise 2005, S. 47 f.) 4. Unterschiedliche Aspekte von Krankheit Die Vorstellung von Gesundheit bzw. Krankheit wird von der jeweiligen Kultur bestimmt, aus der die Person stammt. Die Gesellschaft erwartet die Erfüllung bestimmter Aufgaben, die sich je nach Alter und sozialer Position unterscheiden. So z.B. die Beschneidung der Frauen in Nordost-Afrika oder das Einbinden der Frauenfüße im alten China oder aber das Schlankheitsideal der Twiggy in Europa. Neben rein biologischen Gesundheits- und Krankheitskonzepten sind die psychologischen und sozialen Aspekte von großer Bedeutung (vgl. Pfeiffer 1998, S. 13 f.). Naturwissenschaftliche Gesichtspunkte schließen psychologische und soziale Betrachtungsweisen sowie existenzielle bzw. religiöse Sinngebung gegenseitig nicht aus. Magische Vorstellungen, wie z.B. der Glaube an Verwünschung, Zauber und dämonische Besessenheit, können trotz medizinischer Überzeugtheit vorhanden sein. Dabei lassen sich Konzepte wie naturwissenschaftlich, traditionell oder magisch 10 nicht nach bestimmten Völkern oder Regionen zuordnen. Sowohl bei den Völkern des Mittelmeerraums, als auch bei den europäischen Völkern ist das Bedürfnis sich in anderer Hinsicht abzusichern vorhanden (vgl. Pfeiffer 1998, S. 14 f.). 4.1 Vorstellungsformen von Krankheit Im Folgenden werden drei (aus vielen anderen) Vorstellungsformen von Krankheit vereinfacht dargestellt: 1. Krankheit als Schädigung durch äußere Kräfte, 2. Krankheit als Schädigung eines Kräftegleichgewichts, 3. Krankheit als Minderung oder Verlust der Lebenskraft. 4.1.1 Krankheit als Schädigung durch äußere Kräfte 1- Was aus naturwissenschaftlicher Sicht als von Mikroben verursachte Krankheit angesehen wird, wird im Volksglauben als von dämonischen oder göttlichen Mächten herbeigeführtes Leid betrachtet. So z.B. die Pest als “schwarzer Tod”. 2- Eine negative Kraft, die von einem Menschen oft ohne dessen Willen ausgeht, ist der “Böse Blick” (malocchio, matiasma, nazar). Besonders im Mittelmeerraum ist man davon überzeugt. Dies kann eine angeborene Besonderheit sein, die starken Persönlichkeiten anhaftet. Aber auch augenblickliche emotionale Gestimmtheit, wie Neid oder sexuelles Verlangen, können den bösen Blick hervorrufen. 3- Durch Verwünschung und Schadenszauber können die verderblichen Kräfte willentlich auf das Opfer gelenkt und in sein Leib zum Eindringen gebracht werden, etwa als Würmer, Insekten, Knöchlein oder Steinchen. Übergänge zur Giftmischerei sind nicht ausgeschlossen. Der krankmachende Faktor kann 11 durch Reinigung, Purgieren oder Extraktion entfernt werden (vgl. Pfeiffer 1998, S. 17 ff.). Bei psychischen Störungen spricht man von Besessenheit. Die Vorstellung vom Eindringen von Geistern in den menschlichen Körper liegt dabei nahe. Dies zeigt sich in Verstimmungszuständen und verworrenem oder aggressivem Verhalten. Dann herrscht die Vorstellung, dass der Geist den Körper des Menschen “in Besitz nimmt”. Diese Vorstellung herrscht nicht nur im Mittelmeerraum, sondern auch in Deutschland. Ein Beispiel dafür ist das Schicksal der Studentin Anneliese Michel, aus der Gegend von Würzburg, die 1976 im Zuge einer exorzistischen Behandlung verstarb. Vorstellungen dieser Art findet man in allen heiligen Büchern, im Christentum (Mk 9, 17-29; Lk 9, 38-42), im Islam (Suren al-falaq und an-nas) sowie im Judentum (Sohar) (vgl. Pfeiffer 1998, S. 19). Neben den oben als pathologisch geltenden Besessenheitszuständen, gibt es Besessenheit, die nicht als Krankheit gilt. Durch Heilkundige oder Kultteilnehmer werden Zustände von Besessenheit herbeigeführt, um so die Kräfte der Geister zu diagnostischen, therapeutischen und rituellen Zwecken nutzbar zu machen. Dazu zählt der Zar-Kult im nordöstlichen Afrika, zahlreiche Transkulte Westafrikas oder die afroamerikanischen Kulte in Süd- und Mittelamerika (wie z.B. Vodu) (vgl. Pfeiffer 1998, S. 19 f.). 4.1.2 Krankheit als Schädigung eines Kräftegleichgewichts Die drei großen Medizin-Traditionen (die mediterrane, die indische und die chinesische) sind sich darin einig, dass Gesundheit in einem Gleichgewicht gegensätzlicher Kräfte bzw. in einer harmonischen Mischung unterschiedlicher Säfte bestehe (die “Eukrasia” der hippokratischen Medizin). Zum einen bezieht sich dieses Gleichgewicht auf die Vorgänge im Organismus selbst. So kann z.B. die einseitige Bevorzugung von kühlenden oder erhitzenden Speisen zu einer Störung der inneren Ordnung führen, woraus weitere Verschiebungen im Haushalt der Säfte und der Organfunkti- 12 onen folgen können. Als Therapie werden Anregung oder die Substitution des defiziten Prinzips empfohlen. Ein Beispiel dazu ist das in China und Südostasien verbreitete Krankheitsbild “Suo Yang” (d.h. Schwinden des Yang) oder bekannt auch als “Koro”. Bei “Koro” handelt es sich um die Retraktion des Genitales. Das bedeutet, dass in schweren Fällen bei Männern die Angst herrscht, dass sich der Penis in den Unterleib zurückzieht. Das Verschwinden des Gliedes würde den Tod bedeuten und ist daher mit starker Angst verbunden. Die Therapie ist bemüht, das Schwinden zu verhindern. Dies erreicht sie durch die Stimulierung des Yang-Prinzips, wozu das Horn des Rhinozerosses geeignet ist. Ein Gegenbeispiel aus der westlichen Welt zur Regulierung des Gleichgewichts, ist die Behandlung von Erkältungskrankheiten mit heißen Bädern und wärmendem Grog (vgl. Pfeiffer 1998, S. 21). Pfeiffer betont jedoch, dass bei der Krankheit als Störung der Balance nicht einzig die Harmonie im Inneren des Organismus, sondern auch die Einordnung in die soziale Umgebung eine wesentliche Rolle spielt. Es ist wichtig, sich an die gesellschaftlichen und religiösen Ordnungen anzupassen, um die Beziehungen zu den Mitmenschen nicht zu gefährden. Großer Erfolg kann Anlass zu Neid und Bösem Blick geben, ungerechtes Verhalten kann Verwünschungen hervorrufen. Da man jedoch hauptsächlich Wohlwollen und Segen des anderen möchte, ist man auf Ausgleich und Versöhnung bedacht. In der muslimischen Sitte gibt es am Ende der Fastenzeit das sogenannte “Id ul-fitri”. Man geht auf Menschen zu und bittet sie um Vergebung (vgl. Pfeiffer 1998, S. 21 f.). 4.1.3 Krankheit als Minderung oder Verlust der Lebenskraft Die Lebenskraft kann auf unterschiedliche Art eine Minderung erfahren. Zum einen ist das Altern für sich ein Fortschreiten der Lebenskraft und damit der Alterstod ein natürliches Erlöschen. Zum anderen kann der Verlust lebenswichtiger Substanzen, wie z.B. das Blut, eine Minderung der Lebenskraft herbeiführen. In der indischen Kultur ist dagegen der Verlust von Spermaverlust im Zentrum eines alltäglichen Krankheitsbildes (Dhat-Syndrom). Denn in der indischen Kultur entspricht ein Trop- 13 fen Sperma sechzig Tropfen Blut. Daher kommt es bei asketischen Übungen, die die Steigerung der vitalen und geistigen Kräfte anstreben, der sexuellen Enthaltsamkeit hohe Bedeutung zu (vgl. Pfeiffer 1998, S. 16). In den medizinischen Schulen Europas , z.B. nach der Asthenie-Lehre John Browns, können körperliche und geistige Anstrengungen (Studium), zu Erschöpfungen führen. Im Stress-Konzept von Selye (1946) erlangte diese Erkenntnis wissenschaftlichen Respekt. Doch außer den geistigen und körperlichen kann die übermäßige Hingabe an Emotionen auch zu Vitalitätsverlust führen. Dies ist im Volksglauben auf Java auch bekannt. Dort gilt es als gefährlich, sich zu sehr seinen Emotionen zu überlassen, egal ob Freude oder Trauer (vgl. Pfeiffer 1998, S. 16 f.). Auch plötzliche Emotionen wie Schreck können zum akuten Verlust der Lebenskraft führen. In Lateinamerika ist diese Krankheit als die Schreck-Krankheit “Susto” bekannt. Für die indianische Bevölkerung bedeutet Susto ein Verlust der Seele, die zurückzuholen gilt (vgl. Pfeiffer 1998, S. 17). 5. Traditionelle Medizin Zu der traditionellen Medizin gehören, wie eingangs bereits erwähnt, weltweit viele verschiene Formen an, wie z.B. die chinesische, die afrikanische, die lateinamerikanische usw. Um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen, soll im Folgenden nur die traditionelle Medizin in islamischen Kulturen behandelt werden. 5.1 Traditionelle Medizin in islamischen Kulturen Es gibt weltweit 1,4 Milliarden Moslems, die sich zum Islam bekennen. Der Islam ist eine monotheistische abrahamitische Religion, die auf dem Koran gründet. Ein Muslim ist nach islamischem Selbstverständnis ein Monotheist, der Mohammed als letzten Propheten Gottes (Allahs) anerkennt. Die von Mohammed überbrachte Offenba- 14 rung ist im Koran aufgezeichnet. Für einen Muslim bedeutet der Koran das Wort Gottes (vgl. wikipedia/moslems). Die islamische Welt erstreckt sich geographisch von Nord-West-Afrika bis zur indonesisch-malayischen Inselwelt im Osten. Aufgrund dieser Größe, ist es nicht möglich eine Beschreibung einer einheitlich muslimischen Volksmedizin vorzunehmen, da die kulturellen Voraussetzungen und medizinischen Traditionen in den verschiedenen Gebieten der islamischen Welt zu unterschiedlich sind. Im Folgenden sollen einige Formen der traditionellen Medizin, der traditionellen Diagnose- und Therapieformen und das Personal im Bereich der Volksmedizin in den Gesellschaften des Nahen Ostens dargestellt werden. 5.2 Volksheilkunde im Islam In muslimischen Gesellschaften suchen Menschen medizinische Hilfe auf, wenn ihre persönlichen Heilungsversuche nicht erfolgreich waren. Sie entscheiden schon vorher, ob ein Arzt oder ein Heiler für die Behandlung in Frage kommt. Es ist wichtig für die Patienten im Vorfeld abzuklären, welche Heiler oder Ärzte zur Verfügung stehen, welchen Ruf sie haben und welche Kosten damit in Verbindung stehen. In der Hinsicht unterscheiden sie sich also nicht wesentlich von den nicht-muslimischen Gesellschaften. Was sich jedoch unterscheidet, sind die jeweiligen medizinischen Systeme, die Traditionen, Normen und Ritualen unterliegen, die wiederum kulturabhängig sind (vgl. Heine/Assion 2005, S. 29). Die im folgenden dargestellten Beispiele aus dem islamischen Kontext bieten einen Überblick über die traditionellen Heiler und die gängigsten Erklärungsmodelle in den nah östlichen Gesellschaften. Zu den traditionellen Heilern zählen Knochenheiler, religiöse Heiler, Derwisch und Sufi, arabischer Arzt “hakim arabi”, Gelbsuchtheiler, Pflanzenheiler und Herbalisten, Barbier und traditionelle Hebammen, weise Frauen und Spritzenfrauen. 15 5.2.1 Knochenheiler Knochenheiler, auch Knochenrichter genannt, werden zur Behandlung von Verspannungen, Verrenkungen und Knochenbrüchen aufgesucht. Die Kenntnisse des Knochenheilens werden von Familie zu Familie weitergegeben. Knochenheiler kennen die Knochenstruktur des Körpers und die Funktion der Gelenke (viele waren Metzger von Beruf), und wissen wie diese arbeiten. Sie verwenden bei ihrer Arbeit keine Betäubungsmittel, was für die Patienten sehr schmerzhaft ist. Nach einer Behandlung trägt der Heiler eine Mixtur (z.B. aus Eiweiß, Seife oder Olivenöl) um die gebrochene Stelle auf und umwickelt diese mit Gaze und Holzstäben. Die Heildauer beträgt ein bis zwei Monate (vgl. Heine/Assion 2005, S. 32). 5.2.2 Religiöse Heiler Religiöse Heiler sind Korankundige, Koranlehrer oder islamische Religionsvertreter, die Kenntnisse über die heiligen Schriften haben. Sie sind meist in einer islamischen Gemeinde tätig und betätigen sich zusätzlich als nicht-ärztliche Heilkundige. Im türkischen Kulturraum sind sie als “Hodscha” (Hoca) bekannt. Es gibt jedoch auch Heiler, die nicht korankundig sind und auch keine besondere Ausbildung haben. Diese betätigen sich vorrangig mit magisch-religiösen Praktiken. Die Übergänge zwischen den Magier-Heilern und den Schriftgelehrten sind fließend. Von religiösen Heilern wird behauptet, dass sie magische Einflüsse (wie z.B. den “bösen Blick”) als Krankheitsursache erkennen können. Sie werden auch als hohe Autoritäten angesehen und ihnen werden übernatürliche Kräfte nachgesagt. Ihnen würden “Armeen von Dschinnen” zur Seite stehen, die gegen die “bösen Geister” vorgehen würden. Die Gründe, weshalb religiöse Heiler aufgesucht werden, sind vielfältig. Psychische, neurologische und psychosomatische Erkrankungen, über Depressionen, Epilepsie 16 bis hin zu familiären, ökonomischen und beruflichen Schwierigkeiten (vgl. Heine/Assion 2005, S. 32). 5.2.3 Derwisch und Sufi Derwische und Sufis zählen auch zu den religiösen Heilern. Ein Derwisch (persisch: Bettler) ist ein Mitglied einer islamischen Bruderschaft. Diese Bruderschaft beruht auf einer islamischen Mystik (tasavvuf) und ein Derwisch sieht sich als Mystiker (sufi) auf dem Pfad der Erkenntnis Gottes. Bekannt ist das Trance-Ritual der Tanzenden Derwische, aus der türkischen Stadt Konya, dem Begräbnisort des aus Persien stammenden Dichters und Sufis Dschalal ad-Din Rumi (1207-1273). Die Bezeichnung “Sufi” ist abgeleitet von der Kleidung des Mystikers, die aus einem Kleid aus grober Wolle, “suf” (arabisch: Wolle), ein Zeichen des Verzichts und der Askese, bestand. Islamische Bruderschaften gibt es heute noch u.a. im arabischen Nordafrika und in der Türkei, wie z.B. die Bektashya oder Naqshbandis. Der Rat der Sufis wird bei Krankheit, familiären oder persönlichen Problemen eingeholt. Sie unterscheiden sich von den religiösen Heilern nicht (vgl. Heine/Assion 2005, S. 33). 5.2.4 Sheik Als Anrede wird “Sheik” (arabisch: der Alte, der Greis) im arabischen Raum unterschiedlich verwendet. Sie kann den Oberhaupt eines Stammesverbandes oder den geistlichen und weltlichen Oberhaupt einer religiösen Bruderschaft bezeichnen. Sie kann aber auch als Ehrentitel für islamische Geistliche oder Personen mit theologischer Ausbildung gelten. Ehrenhalber nennt man den Dorfältesten auch “Sheik”. Einige dieser Sheiks sind auch als Heiler tätig und bedienen sich magisch-religiöser Mittel, um gegen Geister und schwarze Magie zu wirken. Dabei machen sie sich den Amulettglauben zu nutze. Die meisten arbeiten jedoch profitorientiert (vgl. Heine/Assion 2005, S. 34). 17 5.2.5 Arabischer Arzt “hakim arabi” Der Begriff “hakim” kommt aus dem Arabischen und hat mehrere Bedeutungen. Am leichtesten ist der Begriff mit weiser Mann, Philosoph, Arzt oder Doktor zu übersetzen. Besonders ist dieser Typ des Heilers in Ägypten, Lybien oder im Jemen anzutreffen. Ein “hakim” verfügt über vielfältige Heilmittel und Heilmethoden. Seine Kenntnisse beruhen auf den Überlieferungen der mittelalterlichen arabischen Medizin, die durch eigene Erfahrungen bereichert sind. Das Aufsetzen von gläsernen Saugnäpfen auf die Haut, das Ausbrennen mit Glüheisen oder Kohle und der Aderlass sind einige der mittelalterlichen Methoden, die angewendet werden. Auch bei dieser Gruppe der Heiler sind viele Scharlatane enthalten (vgl. Heine/Assion 2005, S. 34). 5.2.6 Gelbsuchtheiler Der in der Türkei unter dem Namen “ocakli” (türkisch: Herd, Familie) anzutreffende Heilertyp ist als Gelbsuchtheiler oder Malaria-Heiler bekannt. Er verwendet magisch-rituelle Praktiken bei Behandlungen von Infektionen und Erkrankungen, die mit einer Gelbsucht einhergehen (vgl. Heine/Assion 2005, S. 34). 5.2.7 Pflanzenheiler und Herbalisten Die besonders im arabischen Raum bekannten Pflanzenheiler und Herbalisten versuchen Krankheiten durch äußerliche und innerliche Anwendung von Pflanzen, Kräutern, deren Extrakten und Mixturen zu lindern und zu heilen. Im Libanon bieten Pflanzenheiler heilende Kräuter, Anti-Magie-Paste oder Amulette gegen Magie und den bösen Blick in kleinen Geschäften an (vgl. Heine/Assion 2005, S. 34 f.). 18 5.2.8 Barbier In der traditionellen arabischen Medizin (früher auch in Europa üblich) werden Barbiere nicht nur zur Pflege der Haare, sondern auch zur Behandlung von gesundheitlichen Problemen aufgesucht. Insbesondere Hautkrankheiten und Beschneidungen sind ihr Spezialgebiet. Außerdem bieten sie Kuren und Salben gegen Ekzeme, Haarausfall und Allergien an (vgl. Heine/Assion 2005, S. 35). 5.2.9 Traditionelle Hebammen, weise Frauen und Spritzfrauen Traditionelle Hebammen sind oft ältere Frauen, die in der Gemeinde respektiert werden, über Lebenserfahrung verfügen und als “rein” im religiös-welt-anschaulichen Sinne gelten. Denn nur Frauen vor dem ersten Geschlechtsakt oder im nicht mehr gebärfähigen Alter gelten nach islamischer Vorstellung als “rein”. Meistens in ländlichen Gebieten helfen diese Frauen bei Schwangerschaft und Geburt. Bei gynäkologischen Erkrankungen setzen sie Pflanzenextrakte oder physikalisch-therapeutische Methoden, wie Kälte oder Wärme-Applikationen ein. Auch bei Kinderkrankheiten, anderen Krankheiten oder familiären Problemen werden sie um Rat gebeten (vgl. Heine/Assion 2005, S. 35). Wie die Hebammen sind die weisen Frauen auch als traditionelle Hebammen tätig oder üben magisch-rituelle Praktiken aus (vgl. Heine/Assion 2005, S. 35). In vielen ländlichen Regionen Arabiens stellen Spritzfrauen Diagnosen. Sie erstellen außerdem Therapiepläne und verschreiben Medikamente und Injektionen. Ihr Wissen ist tradiert und hat keine Schulung (vgl. Heine/Assion 2005, S. 35). 19 6. Heilvorstellungen im Islam Unterschiedliche Formen von Heilvorstellungen, insbesondere bei psychischen Erkrankungen, sollen im Folgenden erläutert werden. 6.1 Dschinne Ein Bestandteil des islamischen Glaubens ist die Existenz von Dschinnen. Im Koran und in den Aussprüchen des Propheten Mohammad gibt es diesbezüglich Überlieferungen. Dschinne sind Geschöpfe Gottes und zählen im Islam zu den verbotenen Dingen, von denen man wenig weiß. Auch die Beschäftigung damit ist nicht weiter erwünscht, damit der Aberglaube nicht gefördert wird. Der islamische Volksglaube gibt jedoch der Existenz von Dschinnen einen besonderen Rang (vgl. Laabdallaoui/Rüschoff 2005, S. 36). Dschinne sind, wie auch Menschen, Geschöpfe Gottes. Sie haben besondere Eigenschaften, wie z.B. dass sie uns sehen und hören können, wir sie aber nicht. Sie sind aus Feuer gemacht. Genauso wie für den Menschen ist der Koran auch für die Dschinne offenbart worden. Auch unter diesen gibt es Gläubige und Ungläubige (vgl. Laabdallaoui/Rüschoff 2005, S. 36). Dschinne können sowohl weiblich als auch männlich sein. Sie sind unsichtbar und halten sich tagsüber im Dunkeln, in Abfall, in Wäldern, Höhlen, schmutzigen Gewässern oder Kaminen auf. Nachts sind sie auf Friedhöfen, im Hamam (öffentliches Bad) oder unter großen Bäumen. Daraus leitet sich zum Beispiel das Gebot ab nicht in Müllhaufen zu stochern, um die aggressiven Dschinns darin nicht aufzuschrecken (vgl. Heine/Assion 2005, S. 39 f.). Dschinne sind zwar ein Bestandteil des islamischen Glaubens, jedoch lehnt der Islam den Glauben an Magie und Zauber mit Bezug auf den Koran ab. Auch Glücksbringer werden abgelehnt, da einer magischen Handlung ihrem Charakter nach eine weitgehend automatische Wirkung zugeschrieben wird. Nach der islamischen Auffassung 20 ist jedoch Gott allmächtig und alleiniger Urheber aller Handlungen (vgl. Laabdallaoui/Rüschoff 2005, S. 37). Unter den Muslimen ist der Glaube an die Wirksamkeit von Magie, Wahrsagerei oder Glücksbringern weit verbreitet. Es sind aber auch viele vorislamische Bräuche und Einstellungen, die in diese Glaubensformen eingeflossen sind und als islamisch und damit als Bestandteil ihrer Religion betrachtet werden. Magie und Zauber werden als Unheilstifter betrachtet und sind stark mit Ängsten verbunden. Insbesondere bei psychiatrischen Krankheiten wird die Besessenheit von einem bösen Dschinn oder der Einfluss des “bösen Blicks” verantwortlich gemacht (vgl. Laabdallaoui/Rüschoff 2005, S. 37). 6.2 Böser Blick (“nazar”) Mit dem bösen Blick zusammenhängende abergläubische Vorstellungen gehen historisch sehr weit zurück. Die ältesten Funde reichen 6000 Jahre und länger zurück. Der Glaube an den “bösen Blick” (nazar), ist im ganzen Orient weit verbreitet. Im Arabischen und im Türkischen ist die Bezeichnung “nazar” verbreitet, was “Blick” als auch im negativen Sinne “böser Blick” bedeuten kann (Heine/Assion 2005, S. 36). Er wird als Ursache für Krankheit, Verkrüppelung und Unglück gesehen. Man kann vom bösen Blick getroffen werden, wenn man zu lange angeschaut wird. Besonders gefährdet sind Neugeborene, schwangere Frauen und Bräute. Das Wort “Masallah” hebt die Gefahr des bösen Blicks auf, weshalb es mehrfach als lobendes Wort ausgesprochen wird. Wie oder von wem genau der böse Blick ausgeht, kann niemand sagen. Als vermutlicher Grund wird Neid gesehen, weshalb man vom bösen Blick getroffen werden kann. Aber auch Menschen mit außergewöhnlichen Augenfarben (da im Orient die meisten Menschen dunkle Augen haben, ist es die Farbe blau), wird der böse Blick zugeschrieben (vgl. Sen u.a. 1998, S. 174 f.). Der böse Blick kann auch Auswirkungen auf soziale Beziehungen haben und die Trennung eines Ehe- oder Liebespaares bewirken. Er wird auch als Erklärung für 21 verschiedene Erkrankungen gesehen, so z.B. Kopfschmerzen, Schwindel, Ruhelosigkeit, unerwartete Kinderkrankheiten, Unfälle und sogar schwere Krankheiten und Tod können auf den bösen Blick zurückgeführt werden. Bei dem sudanesischen Volk der Uduk wird die Geburt von Zwillingen mit dem bösen Blick in Zusammenhang gebracht (vgl. Heine/Assion 2005, S. 38). Ein islamischer Brauch ist das Tragen von Amuletten. Diese bieten zum einen Schutz vor Feinden, zum anderen Schutz vor Krankheiten oder Unglück. Verschiedene Motive und Darstellungen aus verschiedenen Materialien werden als Amulette getragen. So z.B. Amulette in Form von Götterbildern, Halbmonden oder offenen Augen in Schmuckform (vgl. Heine/Assion 2005, S. 38). Das Amulett kann nach der Vorstellung in der islamischen Welt dazu dienen, eine Verwünschung aufzuheben. Zum Beispiel kann das Ausbleiben der Erfüllung eines Wunsches (zum Beispiel ein Kinderwunsch), der Verwünschung einer anderen Person zugeschrieben werden. Ein Amulett soll dann dabei helfen, die Verwünschung zu neutralisieren. In der Türkei z.B. besteht ein Amulett aus einem in Arabisch geschriebenen Gebet, der in einer Stoffhülle gesteckt am Körper, meistens am Hals, getragen wird (vgl. Sen u.a. 1998, S. 175). 6.3 Traditionelle Heiler (“Hodscha”) Die Bezeichnung “Hodscha” wird vielfältig verwendet. Zum einen sind es der Vorbeter und der Religionslehrer in der Moschee, zum anderen islamische Gelehrte und Personen. Zum einen sind es islamisch gebildete Heiler, die sich von magischen Praktiken absetzen und nach psychologischem Einfühlungsvermögen Hilfestellung bieten. Zum anderen sind es Heiler, die mit einer Mischung aus Islam und der “Medizin des Propheten” (diese sind Aussprüche und Handlungen des Propheten zu Gesundheitsfragen) arbeiten. Dann gibt es Hodschas, die auf der Grundlage der Volksmedizin, Kräuterheilkunde, Diätlehre oder Chiropraxie arbeiten, sowie welche, die auch traditionelle vorislamische Praktiken anwenden. Zu letzt gibt es jedoch auch Hodschas, die alle Elemente in sich vereinigen. Die Ausbildung des Hodschas zum 22 Heiler ist nach Laabdallaoui/Rüschoff (2005) völlig ungeregelt (vgl. Laabdallaoui/ Rüschoff 2005, S. 224 f.). Der Hodscha hat bei vielen Muslimen einen hohen Stellenwert. Der Kontakt zum Hodscha wird in den meisten Fällen von den Angehörigen des Patienten hergestellt, wodurch wird ein besonderes Bedürfnis der Familien nach Hilfe und Unterstützung zum Ausdruck gebracht wird (vgl. Laabdallaoui/Rüschoff 2005, S. 224). Alle Hocas mit heilenden Absichten lesen aus dem Koran. Einige arbeiten zuerst mit Sternzeichen (yildizname) und interpretieren diese für die Patienten. Damit versuchen sie die Ursache der Besessenheit zu erklären. Andere nehmen direkt Kontakt mit dem Dschinn auf, um die Geschichte des Leidens von dem Dämonen zu erfahren (vgl. Strasser 2006, S. 309). 6.4 Dschindschi Hodscha (“Cinci-Hoca”) “Cinci-Hocas” sind Spezialisten, die die Macht haben Dämonen zu kontrollieren. Diese Fähigkeit haben sie angeblich von Gott bekommen und durch jahrelanges Training unter Kontrolle gebracht. Nach Strasser haben viele Heiler ein durchschnittliches Leben als Bauern oder Arbeiter, sie haben Familien und manche gehen in die Migration. Heiler sind über große Entfernungen bekannt und werden unter großem finanziellem Aufwand aufgesucht. Es gibt Hocas, die unentgeltlich arbeiten, andere wiederum nehmen Spenden und Geschenke an. Es gibt jedoch auch welche, die mit bestimmten Tarifen für ihre Leistungen arbeiten. Alle haben unterschiedliche Praktiken und unterschiedliche Leistungen und Erfolge (vgl. Strasser 2006, S. 308). 6.5 Besessenheit (“Zar-Bori-Kult”) Besessenheitszustände kennt man im islamischen Raum insbesondere in der Sahelzone, in Nordafrika, Ägypten und im Sudan. Es sind vor allem Frauen, die von Besessenheitsphänomenen betroffen sind. Diese können sich in folgenden Formen zei- 23 gen: Kataleptische Starre, Schocklähmung, -taubheit, -blindheit, Kindersterblichkeit, Kinderlosigkeit, Gier nach rohem Fleisch, Verwahrlosung, in fremden Zungen reden u.v.m. Oft wird aus emischer Sicht die Besessenheit damit gedeutet, dass ein Geist durch die betroffene Person verärgert oder geschädigt wurde. Dies soll leicht möglich sein, da die Geister unsichtbar sein sollen. Nach einigen traditionellen Vorstellungen soll es keine Heilung von Besessenheit geben. Das heißt, auch keine Möglichkeit des Exorzismus. Nach anderen traditionellen Vorstellungen besteht die Möglichkeit der Befreiung, wenn der Geist freiwillig den Körper verlässt, um Besitz eines anderen Körpers zu ergreifen (vgl. Heine/Assion 2005, S. 41 f.). 7. Volks- und Aberglaube aus der Türkei Die volksmedizinischen Krankheitsvorstellungen in der Türkei lassen sich nach Sastimdur (1995) in folgende Gruppen unterteilen: 1. Magische und religiöse Krankheitsvorstellungen, wie z.B. der böse Blick (nazar), der Einfluss von Zauber (büyü) oder von bösen Geistern. 2. Mechanistische Krankheitsvorstellungen, wie das Verrutschen und Lageveränderung von Organen (z.B. Nabenfall “göbek düsmesi”). 3. Aus der modernen Medizin übernommene Krankheitsvorstellungen. (vgl. Sastimdur 1995, S. 239). An dieser Stelle sind die ersten zwei Punkte von Bedeutung. Im Folgenden werden Behandlungsrituale von Hodschas näher erläutert. 7.1 Behandlungsritual der Hodschas Es gibt verschiedene Rituale derer sich die Hodschas bedienen, um die Dschins aus dem Körper des Besessenen auszutreiben und sie gegen neue Angriffe zu stärken: 24 1. Die sogenannte “Muska” erfüllt diesen Zweck: “Eine Koransure oder ein Zauberspruch wird auf ein Stück Papier geschrieben, das zu einem Dreieck gefaltet und in Stoff eingenäht wird.” Als Amulett wird das Papier am Körper getragen. 2. Koransuren oder Zaubersprüche werden auf Teller geschrieben, mit Wasser abgespült und anschließend wird diese Flüssigkeit als Heilmittel verabreicht. 3. Auf Papier geschriebene Suren oder Worte werden verbrannt. Die schützende oder verbrennende Heilkraft kann auch mit dem Rauch der verbrennenden Worte eingeatmet werden. 4. Als Heilmittel gelten Olivenöl oder Honig, oder auch je nach Region z.B. die Haselnuss am Schwarzen Meer. Aber auch Wasser gilt als Heilmittel, wenn es mit Koranversen besprochen, also geweiht (okunmus) ist (vgl. Strasser 2006, S. 309). Außerdem gibt es auch allerlei bizarre Rituale, wie z.B. das Trinken von Wasser aus einem Fluss, in den die Mutter der Patientin vorher urinieren sollte u.v.m. (vgl. Laabdallaoui/ Rüschoff 2005, S. 225). Die Hilfesuchenden wissen nicht, was auf den Zetteln oder Tellern geschrieben steht, vertrauen aber auf die Kraft der heiligen Schrift und auf das Amulett. 7.2 Ein Beispiel zum Behandlungsritual Eine in Yesilköy (Stadtteil von Istanbul) lebende Frau, besucht einen Hodscha, um ihre Ohnmachtsanfälle (vermutlich psychogene Anfälle) untersuchen zu lassen. Dieser Hodscha erscheint ihr vertrauenswürdig, da er den Tod ihrer Schwester vor ein paar Jahren richtig vorhergesehen hatte. 25 Der Heiler fragt zuerst nach den Beschwerden und schließt somit medizinische Ursachen für ihre Erkrankung aus. Er informiert sich auch über die Familiengeschichte. Dann schreibt er den Namen ihrer Mutter in arabischen Lettern auf ein Papier und gibt ihr den Zettel in die Hand. Sie soll sich auf Allah (Gott) konzentrieren und den Namen Gottes immer wieder leise wiederholen. Er wiederholt währenddessen Suren aus dem Koran und bläst ihr immer wieder ins Gesicht, bis sie Ohnmächtig wird. Er weckt sie anschließend mit gewöhnlichem Wasser und bemalt ihre Finger mit unsichtbarer Tinte. Somit verschließt er ihren Körper mit heiligen Buchstaben für “cins” (Dschinns). Anschließend hält er ihr einen Büschel Haare unter die Nase, den er ihr während der Ohnmacht abgeschnitten hatte. Sie beginnt sich zu winden und zu schreien, er beruhigt sie und verspricht ihr, dass sie in zwei Wochen rein sein wird. Er schreibt heilige Wörter auf einen Teller, wäscht die Buchstaben ab und gibt die Mixtur in eine Flasche. Sie und ihre Mutter sollen sieben Tage lang Wasser mit ein paar Tropfen aus der Mixtur vermischen und trinken. Sie soll ebenfalls sieben Tage lang ein Stück von ihrem Haar schneiden und verbrennen, und den Rauch einatmen. Zusätzlich soll sie drei Tage ein Bad nehmen und die Mixtur der kleinen Flasche ins Badewasser mischen. Während dieser drei Tage sollen Bad, Toilette, Waschbecken und der Brunnen mit dem heiligen Wasser besprengt werden. Der Hodscha verschreibt zusätzlich Olivenöl als Nasentropfen und Honigwasser als Frühstücksgetränk. Sie soll Kraut und Eier meiden (vgl. Strasser 2006, S. 309). 26 8. Zusammenfassung Die oben dargestellten Vorstellungsformen von Erkrankung und Heilung im Islam zeigen nur einen kleinen Teilbereich aus der großen islamischen Welt. Diese Heilungsvorstellungen und Behandlungsrituale sind aus westlich-europäischer Sicht archaisch, werden aber aktuell im Nahen Osten praktiziert. Nicht nur von Menschen, die in urbanen Regionen leben, wo der Zugang zur modernen Medizin schwieriger ist, sondern auch von Städtern. Bemerkenswert ist jedoch, dass trotz Modernisierung und westlich orientiertem Lebenswandel (die Gesundheitsversorgung inbegriffen) die traditionellen Tendenzen nicht abgenommen haben. Sicherlich gibt es auch moderne westliche Medizin in diesen Ländern, derer sich die Menschen bedienen. Jedoch kann man davon ausgehen, dass der Alltag der Menschen stark vom Glauben, dem Islam, geprägt ist und dadurch der Weg zu traditionellen Heilmethoden unbefangener ist. Assion (2005) stellt in diesem Kontext fest, dass die Landflucht eher zu einer Verländlichung der städtischen Gesellschaften geführt hat, womit sich die traditionellen Tendenzen auch im urbanen Kontext verstärkt haben. Auch eine Untersuchung unter türkischen Migranten in Deutschland zeigt, “bei schwerem oder längerem Krankheitsverlauf wird auf traditionelle Erklärungs- und Heilmethoden zurückgegriffen.” (Assion 2005, S. 42) 27 Literaturverzeichnis: Assion, Hans-Jörg (Hrsg.): Migration und seelische Gesundheit. Heidelberg 2005 Greifeld, Katarina (Hrsg.) (2003): Ritual und Heilung. Eine Einführung in die Medizinethnologie. Berlin Heine, Peter/Assion, Hans-Jörg (2005): Traditionelle Medizin in islamischen Kulturen. In: Assion, Hans-Jörg (Hrsg.): Migration und seelische Gesundheit. Heidelberg, S. 29-45 Heise, Thomas (2005): Entwicklungsgeschichte der transkulturellen Psychiatrie. In: Assion, Hans-Jörg (Hrsg.): Migration und seelische Gesundheit. Heidelberg, S. 4758 Laabdallaoui, Malika/ Rüschoff, S. Ibrahim (2005): Ratgeber für Muslime bei psychischen und psychosozialen Krisen. Bonn Lux, T. (2001): Zur Entstehung des medizinanthropologischen Krankheitsbegriffs. Curare 24, S. 19-31 Pfeiffer, M. Wolfgang (1998): Krankheitskonzepte in der multikulturellen Gesellschaft. In: Kiesel, Doron/ Lüpke von, Hans (Hrsg.):Vom Wahn und vom Sinn. Krankheitskonzepte in der multikulturellen Gesellschaft. Frankfurt a.M., S. 13-26 Sastimdur, Güler (1995): Migranten und Krankheitstheorien. In: Koch, Eckhardt/ Pfeiffer, Wolfgang M. (Hrsg.): Psychologie und Pathologie der Migration. Deutschtürkische Perspektiven. Freiburg im Breisgau, 238-239 Sen, Faruk/ Akkaya, Cigdem/ Özbek, Yasemin (1998): Länderbericht Türkei. Darmstadt 28 Selye, Hans (1946): The general adaptation syndrome and the diseases of adaptation. In: Journal of Clinical Endocrinology 6 Strasser, Judith (2006): Krise oder Kritik? Zur Ambiguität von weiblicher Besessenheit als translokale Strategie. In: Wohlfahrt, Ernestine/Zaumseil, Manfred (Hrsg.): Transkulturelle Psychiatrie – Interkulturelle Psychotherapie. Heidelberg, S. 299-312 Internetquellen: htpp://de.wikipedia.org/wiki/moslems 29 Ehrenwörtliche Erklärung Ich versichere, dass die vorliegende Arbeit ohne fremde Hilfe angefertigt wurde und dass ich, außer der von mir angegebenen Literatur, keine weitere benutzt habe. Die wörtlich übernommenen Stellen sind als solche gekennzeichnet. Diedorf, den 30.11.2007 ________________________________ (Meryem Reiter) 30