Aufmerksamkeitsdefizit-HyperaktivitätsStörung (ADHS) bei alkoholabhängigen Patienten: Wilhelmsheimer ADHS-Studie Tillmann Weber Fragestellungen der Studie •Wieviele unserer alkoholabhängigen Patienten haben ein Erwachsenen-ADHS? •Eignen sich Selbst- oder Fremdbeurteilungsfragebögen als Screening-Verfahren für die ADHS-Diagnostik? •Haben die ADHS-Patienten einen längeren und schwereren Suchtverlauf? •Haben die ADHS-Patienten häufiger zusätzliche psychische Erkrankungen? •Haben die ADHS-Patienten größere soziale und berufliche Beeinträchtigungen? •Hat die ADHS-Diagnose einen Einfluss auf den Abstinenzerfolg in der Befragung 1 Jahr nach Entlassung? Mögliche Konsequenzen der Studie •falls genügend Patienten in Wilhelmsheim ein Erwachsenen-ADHS mit Leidensdruck und Beeinträchtigungserleben aufweisen •falls Screening/Diagnostik mit verträglichem Zeit- und Personalaufwand durchgeführt werden kann •falls Krankheitseinsicht und Behandlungsmotivation für das Erwachsenen-ADHS bei den Patienten besteht = Einführung eines störungsspezifischen ADHSBehandlungskonzeptes aus Gruppenpsychotherapie und medikamentöser Behandlung Erwachsenen-ADHS: Diagnose •ein Erwachsenen-ADHS setzt ein Kindheits-ADHS mit Krankheitsbeginn vor dem 12. LJ voraus • Kindheits-ADHS: Prävalenz 7% (Thomas et al. 2015) •Symptome persistieren im Erwachsenenalter bei ca. 2/3: Prävalenz 4-5% (Faraone et al. 2006; Simon et al. 2009) •Symptome verändern sich im Erwachsenenalter •Mindestens eins der folgenden zwei Verhaltensmuster ist erforderlich (nach DSM-5): 1. Unaufmerksamkeit (mit Desorganisation) 2. Hyperaktivität-Impulsivität •ADHS in drei Ausprägungen (nach DSM-5): a. vorwiegend unaufmerksame Ausprägung b. vorwiegend hyperaktiv-impulsive Ausprägung c. kombinierte Ausprägung ADHS: Beginn einer schweren Störung schon im Kindesalter • Aufmerksamkeitsstörung → viele verschiedene chaotische Gedanken, nicht bei der Sache sein, Ablenkbarkeit ↑, Konzentrationsspanne ↓, träumerisch, abwesend, Zuhören ↓, Aufpassen ↓, vergesslich • Desorganisation → Einteilung/Planung/Priorisierung defizitär, Dinge werden gleichzeitig begonnen + nicht beendet, Verschieben von unangenehmen Tätigkeiten, Sachen werden verlegt + verloren, Flüchtigkeitsfehler, Vergessen/Nicht-Beenden/falsche Ausführung von Aufgaben • Hyperaktivität → innere Unruhe, Rastlosigkeit, Getriebenheit, Zappeligkeit • Impulsivität → Ungeduld, Reinreden/Unterbrechen, Sätze beenden, Gedanken müssen raus, Quasselstrippe, laut + störend • Hitziges Temperament, Stimmungsschwankungen Konsequenzen dieser frühen Störung •Soziale Interaktionen werden beeinträchtigt durch Impulsivität, Hyperaktivität, Affektlabilität, Hitzigkeit und Unaufmerksamkeit •Emotionale Entwicklung wird beeinträchtigt durch Impulsivität, Affektlabilität und Hitzigkeit •Kognitive Entwicklung wird beeinträchtigt durch Impulsivität und Unaufmerksamkeit •Leistungsfähigkeit wird beeinträchtigt durch Unaufmerksamkeit und Desorganisation •Alkohol/Drogen zur Beruhigung, zur Behandlung von negativen Gefühlen und aus Impulsivität •Entwicklung von psychischen Problemen/Störungen Erwachsenen-ADHS: Komorbidität psychische Erkrankungen •65-89% leiden an einer weiteren psychiatrischen Erkrankung •Depressionen: 35-50% •Soziale Phobie: 20-34% •Generalisierte Angststörung: 8-53% •Bulämie: 3–9% •Persönlichkeitsstörungsrate deutlich erhöht (>20%): besonders selbstunsicher, negativistisch, zwanghaft, emotional-instabil, dissozial Kindheits-ADHS und Suchtentwicklung •23-70% der ADHS-Patienten weisen einen Substanzmissbrauch auf •das Lebenszeitrisiko für die Entwicklung einer Suchterkrankung ist für ADHS-Patienten verdoppelt •früherer Beginn, größere Schwere und höhere Chronifizierung des Substanzmissbrauchs (besonders wenn hyperaktiv-impulsive Symptomatik) •Substanzmissbrauch ist viel häufiger, wenn das ADHS im Erwachsenenalter fort besteht •ein erfolgreich behandeltes Kindheits-ADHS geht nicht mit einem späteren, erhöhten Substanzmissbrauch einher Zusammenfassung: Zentrale Probleme beim ADHS • Ein unbehandeltes Kindheits-ADHS geht häufig mit schulischberuflichen und psychosozialen Beeinträchtigungen einher • Ein unbehandeltes ADHS führt zu einer früheren und häufigeren Suchtentwicklung • ADHS ist häufig mit anderen psychischen Erkrankungen verbunden • Die Patienten haben meistens kein Krankheitsgefühl, weil die Symptome schon immer da waren (ich-synton) • Ein ADHS-Verdacht kann nur in schwereren Fällen (besonders bei Hyperaktivität/Impulsivität) direkt aus der Verhaltensbeobachtung gestellt werden • Diagnostik erfordert Spezialisierung, ist anspruchsvoll und zeitintensiv • kaum Einrichtungen, die Erwachsenen-ADHS diagnostizieren und behandeln (besonders bei Suchtpatienten) Warum ist diese Studie in Wilhelmsheim sinnvoll? • es gibt bisher keine Ergebnisse aus der Sucht-Reha • Vorteil der Sucht-Reha für die ADHS-Studie: - große Patientenzahlen - Patienten sind vor Diagnostik schon lange abstinent - Lange, abstinente Aufenthaltsdauer mit Stabilisierung des psychischen Befundes - wenig vorzeitige Therapiebeendigungen = Untersuchungsbedingungen sind stabil = psychischer Befund der Patienten ist stabil = Längsschnittuntersuchung mit mehreren Untersuchungen im Verlauf von vielen Wochen möglich = meisten Patienten erhalten komplette Diagnostik → tatsächliches Vorliegen von ADHS bei Alkoholabhängigen kann in Wilhelmsheim verlässlich ermittelt werden Ablauf der ADHS-Studie •Woche 1: normales Aufnahmeprocedere •Woche 2: Studieninfo/Einwilligung •Woche 3: ADHS-Studien-Diagnostik - Selbstbeurteilungsfragebögen (WURS-K, ASRS, ADHS-SB, CAARS-SB) + Fremdbeurteilungsbögen (E-Bogen, Zeugnisse, CAARS-FB, ADHS-DC) •Woche 4: Diagnostisches Interview für ADHS bei Erwachsenen (DIVA2.0) - durch zwei approbierte Ärzte, die in Wilhelmsheim ihre Doktorarbeit durchführen - DIVA2.0 ist ein strukturiertes Interview, dass die DSM-IVKriterien für Kindheits- und Erwachsenen-ADHS mit Beispielen abfragt (Dauer ca. 45-90min) Ablauf der ADHS-Studie •Woche 5-8: Leitliniengerechte weitere diagnostische Abklärung - Patienten mit ADHS-Verdacht: Untersuchung durch Psychiater Hr. Luderer (ZI, Mannheim) - Patienten mit ADHS-Verdacht durch Hr. Luderer: Untersuchung durch Psychiater Hr. Weber (AHG) = Diagnosesicherung durch 3 unabhängige Untersuchungen •Vor Entlassung: - Selbstbeurteilungsfragebögen bei ADHS-Patienten •1-Jahreskatamnese Vorläufige Ergebnisse der ADHS-Studie: Teilnehmerzahlen und Diagnostik • 395 (80%) von 495 alkoholabhängigen Patienten, die an der Studieninformation (seit 01/16) teilnahmen, willigten in die Studie ein • 376 (95%) dieser Patienten wurden i.R. der Studie mit dem DIVA2.0-Interview untersucht: → ADHS-Diagnose nach DSM-5: in mindestens einem Bereich (unaufmerksam und/oder hyperaktiv-impulsiv) ≥6 Symptome in Kindheit und ≥5 Symptome im Erwachsenenalter → 149 (40%) dieser Patienten erfüllten ≥5 Symptome in der Kindheit oder ≥4 Symptome im Erwachsenenalter für den Bereich = niedrige Schwelle für weitere diagnostische Abklärung Erste Ergebnisse der ADHS-Studie: Teilnehmerzahlen und ADHS-Diagnose •141 (95%) dieser Patienten wurden weiter abgeklärt •bei 78 dieser 141 Patienten wurde ein Erwachsenen-ADHS diagnostiziert: - 70 dieser Patienten wurden von beiden Psychiatern untersucht - 8 Patienten wurden nur von einem Psychiater untersucht •Bei 24 weiteren Patienten widersprachen sich die Diagnosen der beiden Psychiater (4 x ADHS+ versus ADHS-; 20 x ADHSVerdacht versus ADHS-) → wurden als „Kein ADHS“ gewertet •21% (78 von 376) der alkoholabhängigen Patienten wiesen ein Erwachsenen-ADHS auf •In Gruppe der jungen Erwachsenen (<30 Jahre): 52% der Patienten mit ADHS-Diagnose ADHS: eine unterdiagnostizierte Erkrankung •nur 6 (8%) von 78 Patienten waren vordiagnostiziert mit einer ADHS-Diagnose: → alle Diagnosen wurden bestätigt: - Durchschnittsalter mit 34 Jahren sehr jung - ausgeprägte hyperaktive-impulsive Symptomatik - Beruflich massiv beeinträchtigt: ALG I: 1, ALG II: 4 → bei Aufnahme: Methylphenidat: 3, Atomoxetin: 2, unbehandelt: 1 → bei allen Patienten wurde entweder die Dosis angepasst, die Medikation umgestellt oder eine Behandlung begonnen Vorläufige Ergebnisse der ADHS-Studie: Alter bei Aufnahme Durchschnittsalter 20-40 Jahre 40-60 Jahre Kein ADHS (286 Patienten) 49 Jahre ADHS (75 Patienten) 41 Jahre 17,8 % 46,7 % 70,3 % 53,4 % Vorläufige Ergebnisse der ADHS-Studie: Beginn Alkoholkonsumstörung Kein ADHS (183 Patienten) Beginn im Mittel 35,0 Jahre ADHS (45 Patienten) 26,9 Jahre Beginn unter 20 Jahre Beginn unter 30 Jahre 11,5% 28,9% 21,3% 31,1% Vorläufige Ergebnisse der ADHS-Studie: Komorbider Substanzmissbrauch/-abhängigkeit Kein ADHS (n = 227) ADHS (n = 57) Gesamt: Missbrauch/Abhängigkeit Gesamt: Abhängigkeiten 15,8 % (36) 40,4 % (23) 11,0 % (25) 17,5 % (10) Opioide (Medikamente) 2,2 % (5) 3,5 % (2) Sedativa (Medikamente) 3,5 % (8) 1,8 % (1) Cannabinoide Kokain/Amphetamine Multiple Substanzen 6,7 % (15) 0,8 % (2) 2,6 % (6) 17,5 % (10) 5,3 % (3) 12,3 % (7) Vorläufige Ergebnisse der ADHS-Studie: Komorbide psychische Störungen Kein ADHS (227 Patienten) ADHS (57 Patienten) Depressive Störung 17,6 % (40) 19,3 % (11) gegenwärtige 13,2 % (30) depressive Episode 7,0 % (4) Persönlichkeitsstörung 24,6 % (14) 7,5 % (17) Vorläufige Ergebnisse der ADHS-Studie: Höchster Schulabschluß Kein ADHS (n = 286) ADHS (n = 75) Schulabschluss Jahrgang 2012 Kein 2,1% (6) Schulabschluss 2,7% (2) 6% Sonderschule 1,4% (4) 1,3% (1) 5% Hauptschule 40,6% (116) 41,3% (31) 21% Realschule 30,4% (87) 36% (27) 41% Fachabitur/ Abitur 24,4% (70) 18,6% (14) 33% Vorläufige Ergebnisse der ADHS-Studie: Höchster Ausbildungsabschluß Keine Ausbildung begonnen Ausbildung abgebrochen Ausbildung abgeschlossen Fachschule FH/Studium Kein ADHS (n = 286) 5,2% (15) ADHS (n = 75) 5,3% (4) 7,3% (21) 14,7% (11) 57,7% (165) 54,7% (41) 15,7% (45) 13,3% (10) 9,7% (28) 8% (6) Vorläufige Ergebnisse der ADHS-Studie: Beruflicher Status bei Aufnahme Berufstätig Kein ADHS (227 Patienten) 47,6 % (108) ADHS (57 Patienten) 47,4 % (27) ALG I 12,8 % (29) 15,8 % (9) ALG II 18,1 % (41) 26,3 % (15) Rentner 10,6 % (24) 3,5 % (2) Höhere Langzeitarbeitslosenquote bei jüngeren ADHS-Patienten! Behandlung der ADHS-Patienten Erwachsenen-ADHS Studie •Zur Studie gehört nicht die Behandlung des ADHS, aber: - ADHS kann erfolgreich durch Medikamente und Psychotherapie behandelt werden (Philipsen et al. 2015) = es wäre unethisch, den Patienten nicht die Behandlungsmöglichkeiten zu erläutern und zu ermöglichen - Alle Patienten mit ADHS-Diagnose erhalten deshalb: a. mindestens ein Informations- und Beratungsgespräch b. ggf. einen medikamentösen Behandlungsvorschlag c. ggf. eine medikamentöse Behandlung d. alle Patienten konnten an einer ADHS-Indikativgruppe teilnehmen e. ggf. Organisation einer ambulanten, ADHS-spezifischen Weiterbehandlung bei Psychiater Methylphenidat, Atomoxetin, Bupropion •Methylphenidat (MPH) + Atomoxetin sind zugelassene und hocheffektive Medikamente (NNT 1:1,5 für MPH) •Bupropion ist zugelassen als Antidepressivum (off-label) •die missbräuchliche Anwendung von Methylphenidat intranasal oder intravenös kann abhängig machen •Aber: es gibt keine Hinweise, dass der adäquate Gebrauch von Methyphenidat (peroral, retardiert) bei ADHS-Patienten zu einer Methylphenidat-Abhängigkeit führt •Methylphenidat wird nicht Patienten vorgeschlagen, die einen aktuellen illegalen Substanzmissbrauch aufweisen und/oder Kontakte zur Szene haben → früherer oder gelegentlicher illegaler Substanzkonsum ist keine absolute Kontraindikation für die Verordnung Behandlung der 78 ADHS-Patienten: keine medikamentöse Therapie 1. Keine medikamentöse Behandlung: 30 Patienten • Kein Behandlungswunsch: 4 • Nach Nebenwirkungen abgebrochen, ohne weiteren Behandlungswunsch: 8 • Ambulante medikamentöse Behandlung geplant: 9 • Entscheidung über ambulante medikamentöse Behandlung ausstehend: 6 • Ambulante psychotherapeutische Behandlung geplant: 5 Behandlung der 78 ADHS-Patienten: Atomoxetin (Strattera®) 2. Atomoxetin: 21 Patienten • abgebrochen wegen Nebenwirkungen: 8 Patienten • abgebrochen wg. mangelnder Wirkung: 1 Patient • aktuell in Behandlung: 2 Patienten → beide mit Teilremission der ADHS-Symptomatik • entlassen mit Atomoxetin: 10 Patienten → Behandlung in den meisten Fällen nicht abgeschlossen wegen verzögerten Wirkeintritt von Atomoxetin → 5 Patienten mit Teil-/Vollremission des ADHS → 100% mit gesicherter ambulanter psychiatrischer Weiterbehandlung Behandlung der 78 ADHS-Patienten: Methylphenidat (Ritalin adult®) 3. Methylphenidat: 45 Patienten • abgebrochen wegen Nebenwirkungen: 10 Patienten • abgebrochen wegen mangelnder Wirkung: 1 Patient • aktuell in Behandlung: 11 Patienten → bei 7 von 11 Patienten Teil-/Vollremission des ADHS • entlassen mit Methylphenidat: 23 Patienten → bei allen Patienten Teil-/Vollremission des ADHS → 96% mit gesicherter ambulanter psychiatrischer Weiterbehandlung Behandlung der 77 ADHS-Patienten: Bupropion (Elontril®) 4. Bupropion: 2 Patienten • entlassen mit Bupropion: 2 Patienten mit Teilremission und gesicherter ambulanter psychiatrischer Weiterbehandlung Danke •Nurcihan Kaplan (Arzt): Promotion •Christian Sick (Arzt): Promotion •Mathias Luderer (Psychiater): ZI Mannheim •Agnes Richter: Studienbetreuung/Datenauswertung •Ilona Plag: Fragebögenbetreuung •Oliver Weimer (Oberarzt Wilhelmsheim) •Alle Ärzte in Wilhelmsheim •Alle Therapeuten in Wilhelmsheim Danke für Ihr Interesse und Ihre Aufmerksamkeit