Institut für Physik Physikalisches Grundpraktikum Einführung in die Messung, Auswertung und Darstellung experimenteller Ergebnisse in der Physik Zitate In nichts zeigt sich der Mangel an mathematischer Ausbildung mehr als an einer übertrieben genauen Rechnung. Carl Friedrich Gauß (1777-1855) Wenn Sie für Ihr Experiment Statistiken brauchen, dann sollten Sie lieber ein besseres Experiment machen. Lord Ernest Rutherford of Nelson (1871-1937) Literaturempfehlungen (Auswahl) W.H. Heini Gränicher, Messung beendet - was nun?, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich und B.G. Teubner, Stuttgart, 1996 John R. Taylor, Fehleranalyse - eine Einführung in die Untersuchung von Unsicherheiten in physikalischen Messungen, VCH Verlagsgesellschaft, Weinheim, 1988 P.R. Bevington and D.K. Robinson, Data Reduction and Error Analysis for the Physical Sciences, McGraw-Hill Book Co., New York, 1994 E. Hultzsch, Ausgleichsrechnung mit Anwendungen in der Physik, Akademische Verlagsgesellschaft Geest & Portig K.-G., Leipzig 1971 B.P. Roe, Probability and Springerverlag Berlin, 1992 Statistics in Experimental DIN 1319: Grundbegriffe der Meßtechnik; ENV 13005; GUM:1995 http://www.ptb.de/de/publikationen/download/index.html http://www.physics.nist.gov/cuu/Uncertainty/index.html http://www.uncertainty.de/ Physics, Zielsetzungen Erlernen wissenschaftlichen Experimentierens: ¾ Kennenlernen der Messtechnik und der ArbeitsTechniken des Messens einschließlich Auswertung ¾ Erlernen der kritischen Bewertung eines MessErgebnisses Vergleich experimenteller Ergebnisse mit einem theoretischen Modell („Praxis als Kriterium der Wahrheit“): Ist das theoretische Modell gültig oder nicht? Die Qualität und Aussagekraft der Messungen muss für den Vergleich bekannt sein! Messung physikalischer Größen Physikalische Größe: ist sowohl qualitative als auch quantitative Aussage über messbares Merkmal eines physikalischen Objektes. Messung einer physikalischen Größe: ist ein Vergleich der zu messenden Größe mit einer zuvor willkürlich festgelegten Einheit (d.h. Ermittlung des Zahlenwertes, der angibt, wie oft die Einheit in der zu messenden Größe enthalten ist). Eine mehrmalige wiederholte Messung liefert aber i. A. unterschiedliche Messwerte, die (um den Mittel- bzw. Erwartungswert) „streuen“. Auswahlkriterien für Einheiten: sind Unveränderlichkeit und Reproduzierbarkeit der Einheit sowie möglichst hohe Definitionsgenauigkeit der Messanordnung. Die Verbesserung der Messgenauigkeit durch neue Messverfahren erfordert oft die veränderte Definition einer Einheit! Physikalische Größe (Symbol) = Zahlenwert · Einheit (ggf. mit Präfix) G = {Z} · [E] Beispiel: Steilheit eines FET gM = 10-5 A·V-1 = 10 µS Einheiten physikalischer Größen (I) Vgl. ISO 1000, DIN 1301 Sieben Basiseinheiten des Internationalen Einheitensystems (SI): 1 Meter ist gleich der Länge der Strecke, die Licht im Vakuum während der Dauer von 1/299792458 Sekunden durchläuft. (17. CGPM 1983) 1 Kilogramm ist die Masse des internationalen Kilogrammprototyps in Paris, einem Zylinder aus Platiniridium (90% Pt) von ca.39 mm Höhe und gleichem Durchmesser. (3. CGPM 1901) * 1 Sekunde ist die Zeitdauer von 9192631770 Schwingungsperioden der Strah-lung des ungestörten Nuklids 133Cs beim Übergang zwischen den Hyperfeinstrukturniveaus F=4, mF=0 und F=3, mF=0 des 2s-Grundzustandes. (13. CGPM 1967) 1 Ampere ist die Stärke eines zeitlich unveränderlichen elektrischen Stromes, der durch zwei im Vakuum parallel in Abständen von 1 m voneinander angeordnete, geradlinige, unendlich lange Leiter von vernachlässigbar kleinem Querschnitt fließend, zwischen diesen Leitern elektrodynamisch eine längen-bezogene Kraft von 2·10-7 Newton je 1 m Leiterlänge hervorrufen würde. (9. CGPM 1948) 1 Kelvin ist der 273,16te Teil der thermodynamischen Temperatur des Tripelpunktes von reinem Wasser natürlicher Isotopenzusammensetzung. (13. CGPM 1967) 1 Candela ist die Lichtstärke einer monochromatischen Strahlungsquelle der Frequenz fn = 540·1012 Hz, deren Strahlstärke in die herausgegriffene Richtung IE = 1/683 W·sr-1 beträgt. (16. CGPM 1979) 1 Mol ist die Stoffmenge eines Systems, das so viel Teilchen enthält, wie Atome in 0,012 kg des Kohlenstoffnuklids 12 enthalten sind. Diese Zahl NA = 6,0221367·1023 Atome/Mol heißt Avogadro-Zahl. (14. CGPM 1971) * Derzeit wird weltweit daran gearbeitet, das Kilogramm neu zu definieren. Einheiten physikalischer Größen (II) Zwei ergänzende SI-Einheiten (nur bis zur 20. CGPM 1995): 1 Radiant (rad) ist der Winkel zwischen zwei Kreisradien, die aus dem Kreis einen Bogen von der Länge des Radius ausschneiden. (11. CGPM 1960) 1 Steradiant (sr) ist der Raumwinkel, den eine vom Mittelpunkt einer Kugel vom Radius r ausgehende Strahlenschar bildet, die auf der Kugeloberfläche die Fläche A = r 2 ausschneidet. (11. CGPM 1960) Anmerkungen: „Ergänzende Einheiten“ bildeten zunächst eine besondere Klasse, von der noch nicht entschieden war, ob ihre Mitglieder - das waren nur Radiant und Steradiant - Basiseinheiten oder abgeleitete Einheiten sein sollten. 1980 empfahl das CIPM, sie als abgeleitete SI-Einheiten der Dimension 1 zu betrachten. Dieser Empfehlung folgte 1995 die 20. CGPM und beschloss die Aufhebung dieser Klasse; in der Resolution 8 heißt es ausdrücklich, dass nach Belieben des Anwenders die Einheitennamen Radiant und Steradiant sowie die Einheitenzeichen rad und sr in Ausdrücken für andere abgeleitete SI-Einheiten benutzt werden können, aber nicht müssen. Einheiten physikalischer Größen (III) Abgeleitete SI-Einheiten: Einheiten physikalischer Größen (IV) Erlaubte SI-fremde Einheiten (Auswahl): Ab 1. Januar 2010 ist es unzulässig, Produkte mit anderen Einheiten als SIEinheiten zu versehen! (Verwirrung vieler Verbraucher vorhersehbar) Vorsätze für Maßeinheiten (SI-Präfixe) (11.-19. CGPM) Symbol Name Y Yotta Wert (103)8 = 1024 1 000 000 000 000 000 000 000 000 Quadrillion Z Zetta (10 )„Führende = 10 1 000 000 000 000 000 000 000 sich Trilliardevermeiden! Prinzipielle Bemerkung: Nullen“ lassen 3 7 E Exa 21 (103)6 = 1018 1 000 000 000 000 000 000 Trillion Beispiel: V besser 1100 schreiben! Peta Statt(100,0001 ) = 10 000 000µV 000 000 000 Billiarde 3 5 P 15 T Tera (103)4 = 1012 1 000 000 000 000 G Giga (103)3 = 109 1 000 000 000 M Mega (103)2 = 106 1 000 000 k Kilo 103 1 000 h Hekto 102 100 da Deka 101 10 Zehn – Einheit 100 1 Eins d Dezi 10-1 0,1 c Zenti 10-2 0,01 Hundertstel m Milli 10-3 0,001 Tausendstel µ Mikro (10-3)2 = 10-6 0,000 001 n Nano (10-3)3 = 10-9 0,000 000 001 p Piko (10-3)4 = 10-12 0,000 000 000 001 f Femto (10-3)5 = 10-15 0,000 000 000 000 001 Billiardstel a Atto (10-3)6 = 10-18 0,000 000 000 000 000 001 Trillionstel z Zepto (10-3)7 = 10-21 0,000 000 000 000 000 000 001 y Yokto (10-3)8 = 10-24 0,000 000 000 000 000 000 000 001 Billion Milliarde Million Tausend Hundert Zehntel Millionstel Milliardstel Billionstel Trilliardstel Quadrillionstel Vorsicht bei Binärpräfixen: Kilo 210 = 1.024; Mega 220 = 1.048.576; Giga 230 = 1.073.741.824 usw. usf. Elementares Beispiel: Volumenmessung d h π Zylindervolumen: V = Durchmesser: d = (25,65 ± 0,01) mm - gemessen mit Bügelmesschraube Höhe: h = (82,4 ± 0,1) mm - gemessen mit Messchieber Ergebnis: V = (42578,644548207473283808232921516 ± ?) mm3 Probleme: Signifikante Stellenzahl? Genauigkeit bzw. Unsicherheit des Ergebnisses? 4 ⋅d2 ⋅h Grundsätzliche Überlegungen π 2 2 Vmax = Durchmesser: dmax = 25,66 mm dmin = 25,64 mm Höhe: hmax = 82,5 mm hmin = 82,3 mm Ergebnisse: Vmax = 42663,564153828495587388807019148 mm3 4 ⋅ d max ⋅ hmax Vmin = π Zylindervolumen: 4 ⋅ d min ⋅ hmin Vmin = 42493,818467799748348372367856777 mm3 ∆V = Vmax – Vmin = 169,74568602874723901643916237 mm3 Problem: Welche wirklich signifikante Stellenzahl? In nichts zeigt sich der Mangel an mathematischer Ausbildung mehr als an einer übertrieben genauen Rechnung (C.F. Gauß) Einige Grundregeln Multiplikation, Division, Radizieren: Die signifikanten Stellen des Resultats sind durch die Zahl mit den wenigsten signifikanten Ziffern gegeben. Hier 3, also folgt V = (4,26 ± 0,02)·104 mm3. Addition, Subtraktion: Das Endergebnis hat nach dem Komma so viele signifikante Stellen wie die Zahl mit den wenigsten signifikanten Stellen. Weitere offene Fragen Höhe und Durchmesser des Zylinders wurden mit verschiedenen Meßmitteln (d.h. auch mit unterschiedlicher Genauigkeit!) gemessen. Welche Folgen hat das für das Endergebnis? Ist die bisherige Betrachtung mit Hlfe der signifikanten Stellen wirklich ausreichend sachgerecht? Der Durchmesser geht quadratisch in das Ergebnis ein; seine Unsicherheit hat also “größere“ Folgen für das Endergebnis und seine Unsicherheit. Wie ist das zu berücksichtigen? Die Volumenbestimmung geht von der Annahme eines “idealen” Zylinders aus. In welcher Weise könnte eine mögliche Abweichung von der Rotationssymmetrie und ebenso der Boden- bzw. Deckfläche von der Planparallelität sowie die Oberflächenqualität wichtig sein und berücksichtigt werden? Wie “zuverlässig” und “genau” sind die eingesetzten Messmittel wirklich? Sind die einzelnen Messergebnisse reproduzierbar? Welche Messbedingungen sind wichtig und zu beachten? Sind die Messmittel kalibriert oder haben sie evtl. systematische Abweichungen wie “Nullpunktverstellung” oder “Skalenabweichungen”? Eine Temperaturänderung verursacht bei Festkörpern eine thermische Längenänderung: Welche Umgebungsbedingungen können das Endergebnis beeinflussen und wie ist ihre Wirkung qualitativ und quantitativ einzuschätzen? Analyse der Messunsicherheit („Fehleranalyse“) Wichtige Grundbegriffe der Metrologie (I) Messungen liefern, wie sorgfältig und wissenschaftlich sie auch geplant und durchgeführt werden, niemals fehlerfreie und beliebig genaue Ergebnisse! DIN 1319 bzw. ENV 13005 Messabweichung: • Differenz (Abweichung) zwischen einem der Messgröße zuzuordnenden Wert (Messwert) und dem unbekannten wahren Wert (Kann durchaus Null sein, ohne dass es bekannt ist!) Messunsicherheit: • von der Messabweichung begrifflich klar zu unterscheiden • Maß für die Genauigkeit der Messung; kennzeichnet die Streuung oder den Bereich derjenigen Werte, die der Messgröße „vernünftigerweise“ als Schätzwerte für den wahren Wert zugewiesen werden können • beschreibt Unkenntnis (Unsicherheit) einer Messgröße • nach einem einheitlichen Verfahren berechnete und in einer bestimmten Weise mitgeteilte Messunsicherheit drückt die Stärke des Vertrauens aus, mit der angenommen werden darf, dass der Wert einer gemessenen Größe unter den Bedingungen der Messung innerhalb eines bestimmten Wertintervalls liegt Wichtige Grundbegriffe der Metrologie (II) DIN 1319 bzw. ENV 13005 Systematische Messabweichung: • bei Wiederholung der Messung reproduzierbar in Vorzeichen und Betrag • oft schwer erkennbar und z.T. korrigierbar Zufällige (statistische) Messabweichung: • nicht reproduzierbar, sondern stochastisch (zufällig) • positive und negative Abweichungen möglich • statistische Streuung um einen Mittel- bzw. Erwartungswert • (meist) abnehmende Häufigkeit für wachsende Abweichungen • beschreibbar mit mathematischer Statistik Messunsicherheit: • umfaßt Unsicherheit eines Messergebnisses infolge beider Arten von möglichen Messabweichungen GUM (ISO) bzw. INC Standardunsicherheit vom Typ A: • entspricht der (statistischen) Standardabweichung bei wiederholten Messungen Standardunsicherheit vom Typ B: • wissenschaftliche Beurteilung aller Informationen über die mögliche Streuung der Messgrößen wie Fehlergrenzen, Herstellerangaben etc. etc. Annahmen über die statistische „Verteilungsfunktion“ Angabe einer sog. „kombinierten Standardunsicherheit“ Grobe Fehler Grobe Fehler bzw. Irrtümer, wie sie sich • aus Missverständnissen oder Fehlüberlegungen bei der Bedienung der Messapparatur, • aus falscher Protokollierung von Messdaten oder auch • aus Programmfehlern in Auswerteprogrammen ergeben, werden nicht als Messunsicherheiten betrachtet. In diesen Fällen sind die Messungen oder Auswertungen falsch und müssen wiederholt werden. Einzelne Messwerte, die als mit groben Fehlern behaftet erkannt werden, brauchen u. U. bei der Auswertung nicht berücksichtigt zu werden („Streichen“). Das Vorhandensein grober Fehler erkennt man nur durch kritisches Überprüfen und Kontrollieren der Ergebnisse. Vermeiden kann man sie durch sorgfältiges Experimentieren. Präzision und Genauigkeit Präzision: Beschreibt, wie gut eine Messung durchgeführt wurde bzw. wie reproduzierbar ein Messergebnis ist. (Die Forderung nach Reproduzierbarkeit ist ein Grundkriterium experimenteller Arbeit!) Genauigkeit: Gibt an, wie nahe ein Messwert dem „wahren“ Wert liegt. Grafische Veranschaulichung Objektivität des Experimentators Eine nicht zu unterschätzende Fehlerquelle sind die Experimentatoren selbst. Dazu gehört insbesondere eine mangelnde Objektivität. Falsche Messresultate entstehen oft auch dadurch, dass der Experimentator das Resultat aus unzureichenden Daten herausliest, das er haben will: „Der Wunsch ist der Vater des Gedankens.“ DPA-Meldung vom 11.06.2004 Universität Konstanz entzieht Physiker Jan Hendrik Schön Doktortitel Konstanz (dpa) - Die Universität Konstanz hat dem durch schwere Fälschungsvorwürfe belasteten Physiker Jan Hendrik Schön den Doktortitel entzogen. Wie der in Konstanz erscheinende Südkurier (Freitagsausgabe) berichtet, begründet die Universität ihre Entscheidung mit den zahlreichen spektakulären Manipulationen Schöns in seiner Zeit bei den Bell-Laboratorien in den USA. Dadurch habe sich der einst international als Top-Forscher gefeierte Schön des Titels als unwürdig erwiesen. Die Universität bezieht sich ausdrücklich nicht auf Fehler in der Doktorarbeit selbst. Sie stützt ihre Entscheidung auf das baden-württembergische Universitätsgesetz, das einen Titelentzug auch auf Grund späteren unwürdigen Verhaltens zulässt. Der bereits als Nobelpreis-Kandidat gehandelte Schön hatte aus den US-amerikanischen Labors heraus von 1998 bis 2001 laufend sensationelle Ergebnisse veröffentlicht. Eine Kommission des Labors hatte ihm 2002 schließlich in 16 Fällen Manipulation von Daten nachgewiesen. Ein Beispiel zur Illustration Messung der Elementarladung (Versuch nach R.A. Millikan, 1911): Ergebnis sei e = (1,65 ± 0,15)·10-19 C in sehr guter Übereinstimmung mit dem “wahren” Wert (vgl. CODATA 2002 - Referenz) Stellenzahl stets sinnvoll reduzieren – Rundung! von e = (1,60217653 ± 0,00000014)·10-19 C. 1,4 1,5 1,6 1,7 Elementarladung e (10 1,8 Messung CODATA -19 C) Falls aber z. B. Messunsicherheit ∆e = ± 0,015·10-19 C; dann zwar ein viel präziseres Ergebnis - aber eindeutig im Widerspruch zum Referenzwert! Schlußfolgerung: Entweder hier eine sensationelle Entdeckung (Nobelpreis?) oder (sehr viel wahrscheinlicher!) falsche Messung bzw. eine wichtige und dominierende Fehlerquelle in der Fehleranalyse nicht berücksichtigt. Ergebnis: Die Angabe eines Messwertes allein reicht nicht aus! Die Angabe der Messunsicherheit ist unbedingt notwendig, um auf die Aussagekraft der Messung zu schließen! Schlussfolgerungen Die Messung einer physikalischen Größe ist ohne die Angabe der Messunsicherheit (wissenschaftlich) wertund sinnlos. Die Angabe der Messunsicherheit ist kein Negativkriterium oder Mangel, sondern beschreibt die tatsächliche Qualität bzw. Sicherheit eines erzielten Messergebnisses. Vollständige Darstellung von Messergebnissen Messwert = (Wahrscheinlichster Wert ± Messunsicherheit) · Einheit oder mit relative Messunsicherheit = Messunsicherheit/Wahrscheinlichster Wert auch Messwert = Wahrscheinlichster Wert · Einheit ± relative Messunsicherheit (%) Das Messergebnis kennzeichnet ein Werteintervall, innerhalb dessen der unbekannte wahre Wert mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit (↓Statistik) bzw. Sicherheit erwartet werden kann. Beispiele: Elementarladung nach CODATA 2002 – Referenz e = (1,60217653 ± 0,00000014)·10-19 C Volumenangabe für ein Glasgefäß V = 2,5 l ± 5% Ursachen von Messabweichungen Grobe Fehler bzw. Irrtümer werden nicht als Messunsicherheiten betrachtet. Systematische Messabweichungen: •haben Ursache im Messgerät, im Messverfahren oder im Beobachter und sind reproduzierbar in Vorzeichen und Betrag •können in einigen Fällen quantitativ erfasst werden, dann Korrektur des Messergebnisses möglich, aber nicht korrigierbarer Anteil (systematischer Restfehler) verbleibt, meist durch technische Ausführung der Messgeräte bestimmt Zufällige Messabweichungen: •sind Summe vieler kleiner und variierender Störungen von Messgeräten, Messobjekten und Umwelteinflüssen sowie subjektiver Einflüsse des Beobachters, messtechnisch nicht erfassbar und nicht beeinflussbar •positive und negative Abweichungen gleich häufig, größere Abweichungen seltener als kleinere •genügen statistischen Gesetzen, Einfluss auf Messergebnis bestimmbar Unterscheidung von systematischen und zufälligen Messabweichungen Zufällige Messabweichungen liefern ein unsicheres, systematische Messabweichungen ein falsches Ergebnis. Systematische Abweichungen Beispiele für Umwelteinflüsse: Bei der ultrapräzisen Gewichtsbestimmung von Substanzen muss der Auftrieb der Luft berücksichtigt werden. Dieser Fehler kann, wenn alle relevanten Größen (Umgebungstemperatur, Luftfeuchtigkeit) aufgezeichnet wurden, sehr leicht rechnerisch kompensiert werden. Wenn die Temperatur während eines Versuchs nicht konstant gehalten wird, können die Messwerte vom Anfang und vom Ende der Messzeit nicht verglichen werden. Ursachen für einen Temperaturgang können z. B. Wetterumschläge oder die Körpertemperatur der Experimentatoren sein. Beispiele für Rückwirkung des Messgerätes: Die Wärmekapazität einer Messsonde (z. B. Thermoelement) entzieht der Probe Wärme und verfälscht so das Messresultat. Die Messungen von Spannungen und Strömen können durch den Innenwiderstand der Messgeräte signifikant beeinflusst werden. Bespiele für Unvollkommenheit von Messgeräten: Viele Geräte haben nichtlineare Kennlinien, die die Messresultate verfälschen. Eichfehler und Alterungserscheinungen können bei Messgeräten signifikant auf die Ergebnisse wirken. Erkennung systematischer Abweichungen Gezielte Veränderung der Messbedingungen: Änderung von Parametern, die keinen Einfluss auf die unbekannte Messgröße besitzen Beispiel: Bestimmung des Ohmschen Widerstands aus Strom- und Spannungsmessung • Verwendung anderer Messinstrumente (Innenwiderstände, Eichung) • Messung bei verschiedenen Strömen und Spannungen (Kontaktwiderstand) • Umpolung oder Verwendung von Wechselstrom (thermoelektrische Störpotentiale) Wahl einer anderen Messmethode: Vergleich beider Messergebnisse - falls keine Diskrepanz (Übereinstimmung innerhalb der Messgenauigkeit) dann mit großer Wahrscheinlichkeit keine oder vernachlässigbare systematische Messabweichungen Spezielle Messverfahren zur Vermeidung: „Kompensationsverfahren“ Beispiel: Messung elektrischer Spannungen durch Kompensation (Vergleich der unbekannten Spannung mit einem geeichten Spannungsnormal). Verwerfen von Messwerten („Ausreißern“) Frage bzw. Problem: Darf man (einzelne) Messwerte, die innerhalb einer Messreihe signifikant abweichen, verwerfen? Zumindest kann in diesem Fall ein grober Fehler oder eine einmalig aufgetretene (z. B. durch Umwelteinflüsse) systematische Messabweichung vermutet werden. Kritische Betrachtung: Ein „Ausreißer“ in einer Messung kann das Ergebnis verfälschen. Aber: Ein neuer physikalischer Effekt kann dadurch leicht übersehen werden. Jede Daten-Manipulation ist grundsätzlich fragwürdig. Eine starke Abweichung kann nur sachlich begründet als Fehlmessung interpretiert werden! Schlussfolgerungen: Es ist besser, die betreffende Messung zu wiederholen (Reproduzierbarkeitstest!). Eine Überprüfung und kurze Zwischenauswertung während der Messung ist immer ratsam! Alle Kriterien, die entwickelt wurden, um große Messabweichungen zu verwerfen, sind als fragwürdig anzusehen. Keinesfalls verwenden! Vgl. auch Stichwort „Objektivität des Experimentators“ Beispiel: Widerstandsmessung Idealisierte Schaltung: Bestimmung des Ohmschen Widerstandes durch Einzelmessung von Strom I und Spannung U → R = U/I oder (besser!) Aufnahme der I(U)-Kennlinie I = U/R (Nutzung des Ohmschen Gesetzes) Problem: I reale Messgeräte mit Innenwiderstand U Grenzfall: Ri→0 U0 I0 RiVOLT RiAMP R Grenzfall: Ri→∞ Reale Schaltung: Berücksichtigung der Innenwiderstände der Messinstrumente; Anwendung von Maschensatz und Knotensatz (Kirchhoff) U0 = I0 ⋅ R AMP i RiVOLT ⋅ R + I 0 ⋅ VOLT Ri +R U0 Messwert der Spannung : U VOLT = ⎛1 1 ⎞ ⎜ ⋅ ⎜ + VOLT ⎟⎟ + 1 R ⎝ R Ri ⎠ 1 ⎞ VOLT ⎛ 1 ⎜ ⋅ ⎜ + VOLT ⎟⎟ Messwert der Stromstärke : I 0 = U ⎝ R Ri ⎠ AMP i I 0 = I VOLT + I R Schlussfolgerung: beide Innenwiderstände müssen für ein exaktes Messergebnis bekannt sein Beispiel: Kompensationsverfahren (Wheatstonesche Brücke) Zielsetzung: Vermeidung der systematischen Abweichungen; hier Eliminierung des Einflusses der Innenwiderstände von Messgeräten Lösung: Einsatz eines Kompensationsverfahrens; hier Wheatstonesche Messbrücke R1 I=0 R3 Ri R U0 R2 Abgleich der Brücke mit empfindlichem Messgerät auf verschwindendes Signal, d.h. Stromlosigkeit des Querzweigs → Innenwiderstand des Messgerätes ohne Einfluss noch besser: Verwendung einer Wechselspannungsquelle und eines Wechselspannungsmessgerätes → Nutzung messtechnischer Vorteile (Empfindlichkeit) Messwert des Widerstandes : R = R2 ⋅ R3 R1 Abschätzung und Bewertung systematischer Abweichungen Systematische Abweichungen sind u. U. nicht korrigierbar, dann ist aber wenigstens eine Abschätzung anzustreben! Beispiel: Messung der Länge eines Kupferstabes mit dem Ergebnis l0 = (355,62 ± 0,03) cm; Variation der Zimmertemperatur zwischen 18 und 23 °C während der Messung beoabchtet Bestimmt die Längenausdehnung durch die Temperaturänderung die Messabweichung? Rechnung (Prinzip der Maximalisierung und dessen Umkehrung): linearer Ausdehnungskoeffizient α = 1,68·10-5 K-1 und Temperaturdifferenz ∆T = 5 K; ∆l = l0· α· ∆T = 0,02987208 cm ≈ 0,03 cm, d.h. Effekt von gleicher Größenordnung → keine eindeutige, sondern vage Antwort: „Das ist unbestimmt, möglicherweise…“ wäre aber Ergebnis z. B. l0 = (355,6 ± 0,1) cm, dann ∆T = ∆l/(l0·α) ≈ 15 K → eindeutige Antwort: „Nein. Eine derartige Temperaturänderung ist während der Messung äußerst unwahrscheinlich bzw. praktisch ausgeschlossen. Die aufgetretene Messabweichung kann damit nicht erklärt werden und muss andere Ursachen haben.“ Messgerätefehler Fehlergrenzen: Höchstwerte für positive oder negative Abweichungen des Messwertes (Anzeige bzw. Ausgabe einer Messeinrichtung) vom wahren Wert; abhängig vom technischen Aufwand sowie prinzipiellen technisch-physikalischen Einschränkungen und meist bestimmend für den Preis von Messtechnik Garantiefehlergrenzen: vereinbarte bzw. garantierte Fehlergrenzen beim Gebrauch der Geräte unter festgelegten Bedingungen Genauigkeitsklasse: Klasse von Messgeräten, die vorgegebene messtechnische Forderungen so erfüllen, dass die auftretenden Messabweichungen innerhalb festgelegter Grenzen bleiben Eichfehlergrenze: maximal zulässige Fehlergrenze von eichpflichtigen Messgeräten (Als Eichung bezeichnet man eine gesetzlich vorgeschriebene und auf nationale Standards rückführbare Kalibrierung. Oft wird der Begriff Eichung fälschlich für Kalibrierung verwandt.) Verkehrsfehlergrenze: maximal zulässige Fehlergrenze von eichpflichtigen Messgeräten während des Einsatzes innerhalb der Eichgültigkeitsdauer; beträgt nach gesetzlicher Regelung das Doppelte der Eichfehlergrenze Längenmessmittel (Auswahl) Messmittel Betrag des Teilungsfehlers ∆L für gemessene Länge L Büromaßstab 200 µm + 10-3·L Stahlmaßstab 50 µm + 5·10-5·L Messschieber 50 µm + 10-4·L Bügelmessschraube 5 µm + 10-5·L Messung mit einer Bügelmessschraube Skalenhülse mit zweifacher Teilung → Ablesung 5,5 mm Skalentrommel mit Teilung von 0 bis 50; eine volle Umdrehung der Trommel entspricht 0,5 mm → 0,01 mm pro Teilstrich (noch 1/2 Teilstrich schätzbar); Ablesung der Skalentrommel 0,28 mm Messwert: l = 5,78 mm Abschätzung der Unsicherheit: ∆l = 5 µm + 10-5·5,78 mm ≈ 5 µm vollständiges Messergebnis: l = (5,780±0,005) mm Zeitmessmittel (Auswahl) Analog-Stoppuhr: Messzeit t, Eichfehlergrenze ∆t (s) Zeigerumlauf (s) 30 60 ∆t (s) 0,2 s + 5·10-4·t 0,4 s + 5·10-4·t Digital-Stoppuhr: Messzeit t, Eichfehlergrenze ∆t (s) ∆t (s) 0,01 s + 5·10-4·t Messung mit einer Digital-Stoppuhr (Auflösung 0,01 s) Anzeigewert: 0:03:26.34 Messwert: t = 206,34 s Messunsicherheit: ∆t = 0,01 s + 0,103 s ≈ 0,11 s vollständiges Messergebnis: t = (206,34 ± 0,11) s → Nicht die Auflösung bestimmt die Messunsicherheit! (Verzögerung durch „Reaktionszeit“ aber noch gar nicht berücksichtigt.) Elektrische Analog-Messgeräte Messung mit Analog-Voltmeter (Drehspulinstrument in senkrechter Lage) Anzeigewert: 160 V (Wechselspannung wegen ~) Genauigkeitsklasse: 1,5 % (immer vom Messbereichsendwert!) Messunsicherheit: ∆U = 1,5 % · 300 V = 4,5 V vollständiges Messergebnis: U = (160,0 ± 4,5) V → Für eine Messung nach Möglichkeit Messbereich ausnutzen, um die relative Messunsicherheit gering zu halten! („Schätzfehler“ der Ablesung unberücksichtigt.) Elektrische Digital-Messgeräte Messung mit Digital-Multimeter Anzeigewert: 127,64 V (Wechselspannung wegen AC) Gebrauchsanweisung: für Messbereich eine Genauigkeit von 3 % + 5 Digit (fast immer in % vom aktuellen Messwert gemeint) Messunsicherheit: ∆U = 3 % · 127,64 V + 5 · 0,01 V = (3,8292 + 0,05) V ∆U ≈ 3,88 V vollständiges Messergebnis: U = (127,64 ± 3,88) V → Meist ist nicht der Digitfehler signifikant! Falls gar keine Angabe, dann mit ±1 Digit (LSD) als Mindestfehler abschätzen! Analog-Oszilloskop Messung eines Dreieckssignals Anzeigewert Spitze-Spitze: 1,9 cm (im Messbereich 50 mV/cm) → Uss = 95 mV Anzeigewert Periodendauer: 4,6 cm (im Messbereich 0,2 ms/cm) → T = 0,92 ms Gebrauchsanweisung: für U-Messbereich eine Genauigkeit von 5 % (typischer Wert) für t-Messbereich eine Genauigkeit von 3 % (typischer Wert) Messunsicherheiten: ∆U = 5 % · 95 mV ≈ 5 mV und ∆T = 3 % · 0,92 ms ≈ 0,03 ms Ablesefehler: 2 · 0,1 cm → ∆U = 10 mV und ∆T = 0,04 ms (hier größer als die o.g. Unsicherheit der Vertikal- bzw. Horizontalablenkung!) Was können wir aus den gezeigten Beispielen lernen? In der Experimentalphysik gibt es für uns grundsätzlich keine Messtechnik bzw. Messgeräte, die wir als „Black Box“ (d.h. ohne jegliche Kenntnis der verwendeten Messprinzipien bzw. –verfahren mit ihren unvermeidlichen „Unzulänglichkeiten“) nutzen sollten. Es gibt keine „fehlerfreien“ Messgeräte; auch digitale Messgeräte können nicht „beliebig genau“ arbeiten. Die „Digits“ (Stellenzahl) suggerieren meist eine irreale Messgenauigkeit. Eine „unkritische“ Verwendung von Messtechnik (d.h. ohne Betrachtung der konkreten Messabweichungen bzw. Messunsicherheiten) führt zwangsläufig zu wissenschaftlich fragwürdigen Ergebnissen. Nur bei Kenntnis von Geräten und Verfahren gelangen wir zu einer realistischen Beurteilung von erzielten Messergebnissen. Sei grundsätzlich „misstrauisch und kritisch“ zu (eigenen) Messergebnissen! später noch: eigene Vorlesung zu einigen ausgewählten Grundprinzipien und Verfahren in der Messtechnik als „Einstieg“ (ansonsten: immer wieder ein Thema im Studium!) in der VL Experimentalphysik ruhig öfter mal nachfragen: „Wie misst man das denn in der Praxis?“