Ethics and end-of-life care for adults in the intensive care unit.

Werbung
Ethics and end-of-life care for adults in the intensive care unit.
Curtis AR, Vincent JL
In: Lancet 2010; 376: 1347-1353
BEWERTUNGSSYSTEM
***** = hervorragende Arbeit
**** = gute grundlagenwissenschaftliche Arbeit/klinische Studie/Übersichtsarbeit
*** = geringer Neuheitswert oder nur für Spezialisten geeignet
** = weniger interessant, leichte formale oder methodische Mängel
* = erhebliche Mängel
Bewertung: ****
Zielstellung:
Eine 3-teilige Artikelserie im Lancet thematisierte unterschiedliche Aspekte der Intensivmedizin.
Es wurden jeweils nach einer Literaturrecherche datenbasierte Übersichts­arbeiten („Seminars“)
publiziert. Der hier besprochene Teil 2 befasste sich mit „Ethik und Therapie am Lebensende“.
Design:
1/4
Ethics and end-of-life care for adults in the intensive care unit.
Ausgangspunkt für die Zusammenstellung der 85 Literaturstellen war eine Suche in den
Datenbanken Cochrane-Library, Medline und Embase jeweils für die Jahre 1994 bis 2009 nach
den Suchbegriffen „ethics“, „end-of-life-care“ oder „palliative care“ in Kombination mit „critical
care“ oder „intensive care“. Artikel zwischen 2004 und 2009 wurden priorisiert. Bei den meisten
Studien handelt es sich um Fragebogenerhebungen über ethische relevante Sachverhalte auf
der ICU und Beschreibungen von Einstellungen der Beteiligten. Die beiden Autoren sind als
Intensivmediziner in den USA (ARC) und in Belgien (JLV) tätig.
Wichtige Resultate:
Der Artikel untergliedert sich in eine Einleitung und in die folgenden Kapitel „Aufnahme und
Triage“, „Entscheidungen am Lebensende“ und „Therapie­unter­lassung und Therapieabbruch“.
In der Einleitung wird auf die unterschiedliche Wichtigkeit der Beteiligten am
Entscheidungsprozess verwiesen; je nach Region und Land können das sein: der Patient selbst
(z.B. auch mittels Vorausverfügung), die Angehörigen des Patienten oder die Ärzte. Es wird
darauf hingewiesen, dass die kommunikative Verankerung von „end-of-life“ Ent­scheidungen
(EOLD) unabdingbare Voraussetzung dafür ist, dass es bei den verant­wortlichen Entscheidern
zu keinen traumatischen Erlebnissen oder „Burn-out“-Situationen kommt. In allen Abschnitten
wird jeweils das gesamte Spektrum deskriptiver Studien und Ergebnisse aus den
unterschiedlichsten Ländern im Überblick referiert und auf die enorme Variabilität der
entsprechenden ethischen Positionen und Praktiken verwiesen. Die globalen Differenzen
beruhen meistens auf regionalen aber auch internen kulturellen und religiösen Unterschieden.
In einigen Bereichen existiert beispielsweise in Europa ein „Nord-Süd-Gefälle“ bei der
Einbindung von Pflegekräften oder Angehörigen in die Entscheidungs­findung: so wird das
Pflegpersonal in Nord- und Mitteleuropa von 62% der Ärzte in entsprechende Entscheidungen
mit einbezogen – während dies in Südeuropa nur bei 32% der Ärzte der Fall ist. Ähnliche
Unterschiede ergaben sich bei der Analyse, ob in den jeweiligen Ländern mehr
Therapie­unterlassungen oder –abbrüche im Vordergrund stehen: hier dominierten in
nordeuropäischen Ländern die Abbrüche und im Süden Europas das „Einfrieren“ der Therapie
und eine Vermeidung von Therapieabbrüchen.
Neben einer Reihe von eher allgemeinen Ausführungen zur Ethik bei EOLD wird der
Seminar-Artikel an einigen Stellen auch erfreulich konkret: so wird ein Acht-Punkte-Katalog bei
der Beendigung der maschinellen Beatmung vorgestellt: (1) Transparente Kommunikation mit
allen Beteiligten und Dokumentation der Entscheidung (2) Kommunikation und Aufklärung aller
Beteiligten über die zu erwartenden Folgen und den Zeitverlauf (3) Fahndung nach
Beschwerden des Patienten wie Atemnot, Schmerz usw. (4) Abstellen von PEEP und
Reduktion des FiO2 auf 21% (5) Erneutes Fahnden nach Beschwerden des Patienten (6)
Reduktion der Atemunterstützung um 50% (7) Wiederholung der Schritte (5) und (6) bis zur
Beendigung der Beatmung (8) Beendigung der mechanischen Beatmung und Extubation oder
Aufsatz eines T-Stück mit befeuchteter Luft. Die Autoren plädieren dafür, ethisch unterfütterte
Protokolle für alle ICU-Bereiche - von der Aufnahme und Triage bis zum palliativen Weaning –
2/4
Ethics and end-of-life care for adults in the intensive care unit.
zu erstellen und damit alle Abläufe auch unter ethischen Aspekten zu regeln und zu
standardisieren.
Schlussfolgerung:
Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass sowohl in der Theorie als auch in der praktischen
Handhabung der ethischen Aspekte am Lebensende auf einer ICU eine beträchtliche
Variabilität um den Globus herum existiert. Diese dürfte auch trotz einer gewissen globalen
Übereinstimmung in medizinethischen Kernprinzipien unvermeidlich sein. Wichtigste Aufgabe
sei es, die ethischen Herausforderungen der ICU-Behandlung zu erkennen, zu diskutieren und
als unabdingbares Kompetenzfeld der Intensivmedizin in der Aus-, Fort- und Weiterbildung der
Teams zu vermitteln und wissenschaftlich zu evaluieren.
Kommentar:
Die größte Bedeutung des Artikels liegt in seiner “politischen” Positionierung des Themas
„Ethik“ als Serienteil 2 einer dreiteiligen Seminar-Reihe über die wichtigsten Aspekte der
“Intensivmedizin“ in einem der wichtigsten Medizin-Journale und die damit verbundene
Signalwirkung. So weist denn bereits die Einleitung darauf hin, dass ein professioneller Zugang
zu den ethischen Aspekten der Intensivmedizin überfällig ist. Mit einfachen und simplen
deontologischen Ethikprinzipien wie etwa „Leben erhalten um jeden Preis“ wird man heute
angesichts der modernen Möglichkeiten der Intensivmedizin nicht bestehen können. Die
notwendige Differenziertheit ethischer Entscheidungen impliziert notwendige Abwägungen und
Entscheidungsspielräume, die nicht widerspruchsfrei und ohne Brüche verlaufen können. Von
daher weist der Artikel mit Recht auf die entscheidende Wichtigkeit der Kommunikation
zwischen allen Beteiligten hin. Das kann man nur unterstützen: die Lehre aus fast allen
Strafprozessen gegen Ärzte wegen vorgeworfener Tötungshandlungen im Behandlungskontext
ist, dass mehr kommuniziert werden muss. Die zum Schluss freigesprochenen Ärzte waren
meistens vom Pflegepersonal verklagt worden - andererseits äußern sich Mitarbeiter der Pflege
im Alltag oft kritisch gegenüber den ärztlicherseits gestellten kurativen Indikationen und mahnen
mehr palliativmedizinische Ansätze an. In einigen Punkten ist die Diskussion des Artikels aus
deutscher Sicht überholt, weil hierzulande ethisch und rechtlich klar die Rollenverteilung und
Kommunikation zwischen Arzt und dem Patientenvertreter durch die neugefassten §§1901ff
BGB – auch im Hinblick auf die Patientenverfügung – alltagstauglich geregelt sind. Das
Vertrauen der Autoren in die positiven Auswirkungen von Protokollen bei der Implementierung
„ethischer Standards“ erscheint mir etwas zu angloamerikanisch-positivistisch und
SOP-verliebt. Etwas langweilig wirkt der Artikel dadurch, dass er bei fast allen ethischen
Themenkomplexen gebets­mühlenartig auf die regionale Variabilität erweist; dadurch ist das
Ganze ein deskriptiv-ethisches Potpourri ohne besonders konkrete Bezüge zum deutschen
3/4
Ethics and end-of-life care for adults in the intensive care unit.
Alltag. Diese muss man sich woanders suchen. Jedoch ist die Botschaft des Artikels positiv und
unterstützens­wert, dass nämlich „Ethik“ ein Top-Thema der Intensivmedizin ist und Teil des
professionellen Diskurses des ICU-Teams werden muss. Das Thema muss aus den Nischen
betulicher Ethik-Kamingespräche kirchlicher Akademien heraus in den ICU-Alltag transferiert
werden. Weil der Artikel das klar herausstreicht, rechtfertigt sich trotz des etwas unkonkreten
Inhalts meine relativ gute Bewertung.
F. Erbguth
4/4
Herunterladen