Univ.-Doz. Dr. Georg Cavallar, Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft der Universität Wien: Die Kompetenzorientierung in der Philosophiedidaktik 1. Einleitung Die Diskussion um Bildungsstandards und Kompetenzen wird in Deutschland und Österreich seit Jahren geführt, teilweise ausgelöst durch die PISA-Ergebnisse in beiden Ländern. Befürworter der Kompetenzorientierung kritisieren etwa die angeblich nebulose Präambelrhetorik in den Lehrplänen, die für die Bildung folgenlos geblieben sein soll (Langlet 2004: 166), während Kritiker vor einem teaching to the test oder illusionären Erwartungen warnen (Gefert 2005: 135). Die teilstandardisierte, kompetenzorientierte AHS-Reifeprüfung, die ab 2014 geplant ist, macht das Thema Kompetenzorientierung mittlerweile für alle LehrerInnen dieses Schultyps höchst aktuell. Überraschend ist jedenfalls, dass kompetenzorientierte Ansätze in der Fachdidaktik Philosophie lange vor dem gegenwärtigen, „offiziellen“ Diskurs über Kompetenzen und Bildungsstandards in Deutschland und Österreich entwickelt wurden, nämlich von France Rollin, Michel Tozzi, Karel van der Leeuw und Pieter Mostert (vgl. Pfister 2010: 191-200). Diese sind aber – verglichen mit dem dialogischpragmatischen Ansatz von Ekkehard Martens oder dem dialektischen Ansatz von Roland Henke - im deutschsprachigen Raum wenig bekannt. 2. Der Begriff der Kompetenz Kompetenzen sind formal, nicht inhaltlich festgelegt und werden meistens als komplexe Fähigkeiten definiert. Bekannt wurde die Begriffsbestimmung von Franz Weinert: Kompetenzen sind kognitive „Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen [E] und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (Weinert 2001: 27f., vgl. Langlet 2004: 166 und Rösch 2009: 37). Es lassen sich einige Elemente des Kompetenzbegriffs anführen: die Erlernbarkeit, der Kontextbezug, die Übertragbarkeit, die Vernetzung der Kompetenzen sowie die Einbeziehung der empirischen Bildungsforschung (vgl. Rohbeck 2004: 8f., Langlet 2004: 167 und Rösch 2009: 11). 1 2.1 Kompetenzorientierung in der Philosophie Wie schon in der Einleitung erwähnt, wurden seit den 1980er Jahren Ansätze in der Fachdidaktik Philosophie entwickelt, nämlich von France Rollin und anderen, die als kompetenzorientiert bezeichnet werden können. Die bislang umfassendste Studie zur Kompetenzorientierung im Philosophieund Ethikunterricht hat Anita Rösch vorgelegt (Rösch 2009, siehe auch Gefert 2005 und Dege 2008). Sie beschreibt, wie kompetenzorientierter Unterricht in der Fächergruppe Philosophie, Ethik, Praktische Philosophie, Werte und Normen sowie LER (Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde, etwa in Brandenburg) umgesetzt werden kann (vgl. Rösch 2009: 23f. über die Unterschiede zwischen den deutschen Bundesländern). Sie entwickelt einheitliche Kompetenzraster oder Rubrics, die 16 Kompetenzen umfassen, die wiederum in fünf übergeordnete Kategorien gegliedert sind, nämlich Sich-Orientieren und Handeln, Wahrnehmen und Verstehen, Analysieren und Reflektieren, Argumentieren und Urteilen sowie Interagieren und Sich-Mitteilen (Rösch 2009: 150-311). Der neue Fokus auf Schüleraktivität soll mit älteren fachdidaktischen Ansätzen kompatibel sein (ibid. 15f.). Die Kompetenzraster werden aus dem Europäischen Referenzrahmen für das Lernen moderner Fremdsprachen übernommen, wo die Vertikale Teilkompetenzen formuliert, die in der Horizontalen durch Kompetenzniveaus oder -stufen konkretisiert werden (Rösch 2009: 136-44). Als Beispiel mag die moralische Urteilsfähigkeit dienen. Rösch formuliert sechs Stufen, die aus drei Niveaus (A, B und C) bestehen und – analog zu GERS (dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen Sprachen) – in jeweils zwei Unterkategorien (mit C 1 und C 2 als höchstes Niveau) geteilt sind. Die Niveaustufen sollen den Lernprozess von AnfängerInnen bis zu den ExpertInnen beschreiben, sie kennzeichnet eine „Ausweitung vom Konkreten zum Abstrakten oder eine Erweiterung des Horizonts vom Einzelnen zur Gemeinschaft“ (Rösch 2009: 143). Die Stufe „C 1 Postkonventionell“ wird folgendermaßen umschrieben: Die Schülerin/der Schüler „kann so handeln, dass es zum Wohl und Nutzen anderer ist. Dabei fühlt sie/er sich verpflichtet, bei eigenen Handlungen die Bedürfnisse möglichst vieler Menschen zu berücksichtigen“ (Rösch 2009: 273). „C 2 Prinzipienorientiert“ bedeutet: „E kann Personen als Zwecke an sich anerkennen und behandeln“ und 2 „sich universalen moralischen Prinzipien verpflichtet fühlen und das eigene Handeln daran ausrichten“ (ibid.). Hintergrund des Kompetenzrasters „Moralische Urteilsfähigkeit“ ist explizit die Theorie von Lawrence Kohlberg (Rösch 2009: 258-73), die, wie auf der Darstellung ersichtlich, auf der Stufe C 1 eine utilitaristische Ethik formuliert (der Nutzen und das Wohl möglichst vieler Menschen) und auf C 2 mit der Kantischen Prinzipienethik endet. Kohlbergs Theorie ist bekanntlich umstritten. Vor allem Vertreterinnen der feministischen Ethik haben sie – etwa aus der Perspektive einer ethics of care – kritisiert (vgl. Pauer-Studer 2003: 109-33). Einer dieser Kritikerinnen, nämlich Carol Gilligan, wird zwar von Rösch erwähnt, aber sie betont, dass Gilligan ihre Kritik an Kohlberg später zurücknahm (vgl. Rösch 2009: 264f. und 271). Tatsächlich wird Kohlberg viel stärker in Frage gestellt als das der Kommentar von Rösch nahe legt. 3. Kritik an der Kompetenzorientierung Das Problem der Gewichtung Welche Kompetenzen sollen vor allem gefördert werden? Die Lesekompetenz wegen vorhandener Defizite speziell in RG-Klassen? Die Argumentationskompetenz? Julian Nida-Rümelin etwa fordert die folgende Schwerpunktsetzung: „Das wichtigste kognitive Bildungsziel ist die Urteilskraft“ (NidaRümelin 2010: 1). Er begründet dies mit der zeitgenössischen Informationsflut, die vom Einzelnen verstärkt Kritikfähigkeit und Urteilskompetenz verlange. Tatsächlich gibt es in den verschiedenen fachdidaktischen Ansätzen eine große Anzahl anderer, miteinander konkurrierender „wichtiger“ Kompetenzen. Vielleicht, um ein weiteres Beispiel zu nennen, ist überhaupt die ominöse Selbstkompetenz, die Selbstmotivation, das Interesse, das Weiterforschen am wichtigsten? So Volker Steenblock (in Rohbeck 2004: 38): „Die Philosophiedidaktik möchte [E] Interessen freilegen [E]. Entscheidend ist, Schülerinnen und Schüler zum ‚Weitermachen’ und ‚Weiterforschen’ zu bringen“. Im Sinne der Verfechter des kompetenzorientierten Ansatzes kann hier wohl folgende Antwort gegeben werden: es bleibt der Urteilskraft der LehrerInnen überlassen, welche Schwerpunkte sie setzten oder ob sie sich um ein 3 ausgewogenes Verhältnis bemühen. In einer Klasse mit Defiziten in der Lesekompetenz wird es sinnvoll sein, vorrangig diese zu fördern. Der kompetenzorientierte Ansatz bietet einen Bezugsrahmen, keine detaillierten Vorschriften oder Rezepte. Das gesellschaftskritische Argument Der gegenwärtige Kompetenzdiskurs sei vor dem Hintergrund ökonomischer Interessen der Wirtschaft und Politik zu sehen, so ein gängiger Einwand von Kritikern. Ziel sei die flexible, verschiedene Kompetenzen beherrschende Arbeitskraft, die bereit ist, Jobs zu wechseln und aufgrund vor allem politischer Unbildung nicht in der Lage ist, kritische Fragen an die Regierenden oder an das Establishment zu stellen. Ziel sei Ausbildung und employability, nicht eine (kritische) Bildung, die hinterfragt. In den Worten von Liessmann: Bildung wird auf Ausbildung reduziert und „Wissen zu einer bilanzierbaren Kennzahl des Humankapitals“ degradiert (Liessmann 2006: 10; siehe auch ibid. 39-43, 48, 173f.; Rösch 2009: 12; Pongratz 2007: 162; Schirlbauer 2007). Kompetenzmodelle dienen daher vor allem der Qualitätsmessung, d. h. der Diagnose von Lerndefiziten und dem monitoring und der Steuerung des Schulsystems. Es geht – überspitzt formuliert - um Vermarktung der Ressource Mensch, um Kontrolle und Macht. Das empiristische Paradigma Kompetenzen definieren sich auch als empirisch überprüfbare und testbare Fähigkeiten (Klieme et al. 2003: 16 und Gefert 2005: 136), Einstellungen oder Haltungen wie etwa die Wertschätzung von philosophischen Texten werden konsequent ausgeblendet, auch, wie Breinbauer vermerkt, die „Frage nach dem ‚rechten Handeln’“ (zit. In Engagement 2007: 157), die nicht nur für den Ethik- oder Philosophieunterricht relevant ist. Natürlich schleichen sich normative Prämissen gleichsam durch die Hintertür ein, erkennbar etwa an der Formulierung der OECD, bei der Lesefähigkeit handle es sich darum „to function in society“ (ibid. 157). Dabei wird auch ein bestimmtes normatives Menschenbild transportiert, nämlich eines der beliebigen Formbarkeit von anpassungsbereiten Plastikwesen (ibid. 158-9). Der Kompetenzdiskurs gibt sich wertfrei, ohne es sein zu können. Eine Antwort auf die letzten beiden Kritikpunkte könnte so aussehen: zugegeben, ökonomische Interessen stehen bei vielen – nicht allen – Befürwortern von Kompetenzmodellen im Vordergrund. 4 Andererseits stellt die Förderung philosophischer Kompetenzen wie Urteilskraft und Kritikfähigkeit jene „Werkzeuge“‘ zur Verfügung, die eine Kritik mündiger StaatsbürgerInnen an dieser „Ökonomisierung des Wissens“ erst ermöglicht. Anders formuliert: Diese Kritik ist auch ohne klassischen Bildungsbegriff, eben mit Hilfe von Kompetenzen möglich. Der Verlust oder Schwund des Faktenwissens bzw. der Inhalte Vor allem von LehrerInnen wird manchmal der Vorwurf erhoben, die modische Kompetenzorientierung führe zu einem Verlust oder Schwund des Faktenwissens bzw. der Inhalte. Hier wird offenbar mit – vielleicht falschen - binären Oppositionen gearbeitet, denn Kompetenzen stehen per definitionem im Gegensatz zum Faktenwissen. Natürlich stellt sich die Frage, wieweit es sinnvoll ist zu glauben, auf Faktenwissen verzichten zu können bzw. es zu marginalisieren. Ich verweise auf die mittlerweile 200 Jahre alte Polemik Hegels gegen die „moderne Sucht“, den Inhalt der Philosophie zu ignorieren, als ob man „ohne Inhalt philosophieren lernen“ könne (Hegel in Meyer 2010: 76). Das Ergebnis ist dann „das perennierende inhaltslose Suchen und Herumtreiben, E das Gedankenleere der Köpfe“ und SchülerInnen, die „nichts können“ (ebda. 77). Diese Polemik richtete sich offensichtlich gegen eine Philosophiedidaktik, die das Philosophieren im Sinne des eigenständigen Denkens gegen ein negativ besetztes „bloßes“ Philosophie Lernen abwertete, wo vor allem die Gedanken angeblich großer Philosophen nach-gedacht wurden. Die Antwort auf diesen Einwand kann knapp so ausfallen: natürlich geht es nicht um den Abschied vom Lernstoff (Rösch 2009: 29), sondern um eine sinnvolle Verbindung von Bildung bzw. Inhalten und Kompetenzen. Kompetenzen stehen dem Erlernen von Inhalten nicht im Wege. Die Kompetenzorientierung warnt nur vor einer Dominanz der traditionellen Kompetenz des Reproduzierens von Gelerntem. Das Problem der praktischen Umsetzung Hans-Bernhard Petermann verweist auf die Situation in Deutschland, wo manchmal das neue kompetenzorientierte Bildungskonzept in den Einzelplänen gar nicht Eingang findet, sondern bloße Erklärung in den Einleitungen bleibt. Hinzu komme, dass in der Schulpraxis die „konsistente Umsetzung“ der Bildungspläne mangelhaft bleibe, „weil dazu tragfähige Anleitungen und wirklich überzeugende Modelle fehlen“ (Petermann 2007: 39). Es wird also der Vorwurf des modischen adhoc Reformierens erhoben. 5 Die Nähe zum Begriff der Bildung bzw. der philosophischen Bildung wird im Ansatz von Anita Rösch suggeriert (z. B. Rösch 2009: 12f.), aber nicht nachgewiesen. Rösch erhebt auch den Anspruch, eine neue Fachdidaktik Philosophie zu bieten (Rösch 2009: 150), die Umsetzung der Kompetenzorientierung im Philosophie- oder Ethikunterricht wird jedoch eher angedeutet als ausbuchstabiert. Was Anita Rösch den älteren Bildungsmodellen vorwirft, kann wohl auch gegen ihren eigenen Ansatz vorgebracht werden: er zeigt nicht im Detail, „mit welchen Unterrichtsmethoden und Medien diese Kompetenzen im Unterricht E vermittelt werden können“ (Rösch 2009: 14). Die Umsetzung der Kompetenzorientierung sieht zumindest teilweise vielleicht so aus, wie das in einem Band von „Ethik und Unterricht“, 1/10 (Friedrich Verlag 2010) exemplarisch vorgezeigt wird. Die Kopiervorlage, die im Ethik- oder Philosophieunterricht eingesetzt werden kann, beinhaltet einen eine Seite umfassenden Textauszug aus Hannah Arendts „Macht und Gewalt“ (1970). Daran schließen sich 14 Aussagen, die anhand des Textes mit „richtig“ oder „falsch“ beantwortet werden sollen. Als positiv werte ich die Tatsache, dass eine genaue Überprüfung der Lesekompetenz intendiert wird, die zu einer sorgfältigen Textanalyse anregt und außerdem überprüfbar ist. Weitgehend verhindert wird ein oberflächliches „Herumreden“. Problematisch wird der Ansatz meiner Meinung nach, wenn große Teile von Lehrbüchern nach diesem Modell geschrieben werden, wie das bereits im Unterrichtsfach Englisch der Fall ist. Der kompetenzorientierte Ansatz würde dann das Gegenteil einer erfolgreichen Fachdidaktik darstellen. Auch hier kommt es wohl auf die sinnvolle Balance im Unterricht an. Kompetenzorientierter Unterricht bedeutet nicht, dass während einer Unterrichtseinheit nur Kästchen angekreuzt oder Schlagwörter eingefüllt werden. 4. Versuch einer Synthese von Bildung und Kompetenzen: kompetenzorientierte Bildung Viele BildungstheoretikerInnen äußerten in den letzten Jahren Vorbehalte gegen die Kompetenzorientierung und führten dabei auch Argumente an, die ich soeben referiert habe (siehe etwa Alfred Schirlbauer 2007). Die binäre Gegenüberstellung von „Bildung oder Kompetenzen“ ist jedoch irreführend und reflektiert zu wenig gemeinsame Schnittmengen oder eine mögliche Synthese. Hans-Bernhard Petermann (2007) schlägt eine Synthese von Kompetenzen und 6 Bildung vor, unter dem Titel „kompetenzorientierte Bildung“. Diese soll im Folgenden kurz skizziert werden. Funktionale Bildung umfasst in meiner Definition die vielseitige Persönlichkeitsentfaltung und Selbstbildung mit dem Ziel des Menschseins, der Autonomie oder Selbstständigkeit in Denken und Handeln und einer gelebten Humanität (vgl. Lehner 2009: 87; Pongratz 2007: 161f.; allgemein zum Bildungsbegriff siehe Bieri 2005, Dzierzbicka et al. 2005, Hentig 1996, Liessmann 2006, Pieper 2003, Schneider 2005, Schneider-Taylor 2009b, Steenblock 2009: 4957, Thurnherr 2005; auch Liessmann 2006: 21, 54). Aspekte sind die Fähigkeit zur Orientierung in der Welt und im Denken, Selbstbildung oder Selbstformung, politische Bildung (Hentig 1996: 11-2, 39), die hermeneutische Dimension, nämlich das Verstehen von Kulturen - der eigenen und von fremden - welches zur Teilnahme an Kulturprozessen befähigt (Schneider 2005: 255, Steenblock 2009: 48), das Verstehen von Zusammenhängen (Liessmann 2006: 25), die Verfeinerung der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit (der Gebildete kann sich artikulieren; Schneider 2005: 253 und 258), schließlich die Reflexionsfähigkeit: die gebildete Person hat ein reflektiertes Verhältnis zu sich selbst, der Welt, der eigenen Kultur und zu anderen und ist zur reflexiven Prüfung von eigenem und fremden Denken und Handeln fähig (Hentig 1996: 56). Bildung bezieht sich auf Erkenntnis und Wahrheit (ibid. 26f., 29, 150; Reichenbach 2007: 200). Normative Ziele der so verstandenen Bildung sind vor allem Selbsterkenntnis (Bieri 2005: 5), Charakterbildung oder moralische Bildung (Reichenbach 2007: 195f.), die Freiheit bzw. Autonomie des Denkens und Handelns (Liessmann 2006: 52f., 56, Bieri 2005: 5) sowie Kants „erweiterte Denkungsart“, also die Fähigkeit, sich in die Lage anderer zu versetzen oder soziale Phantasie (Reichenbach 2007: 200, Bieri 2005: 6) – Ziele, die in der Idee eines harmonischen Ganzen kulminieren (Fichte, Humboldt). Philosophische Bildung Wird Philosophie – in einem erweiterten Begriff – im Anschluss an Ekkehard Martens als kulturelles Grundvermögen verstanden (aufgrund anthropologischer Konstanten und aufgrund der Moderne, Steenblock 2003: 32), dann ist Philosophieren ein Bildungsprozess, der die Möglichkeit der Lebensorientierung, der Identitätsgewinnung, der systematischen Reflexion und der Entfaltung von 7 Autonomie beinhaltet (vgl. Steenblock 2003: 25-33, Steenblock 2009: 50). In wesentlichen Bereichen überschneidet sich philosophische Bildung mit der oben genannten funktionalen Bildung, der Unterschied liegt in der Schwerpunktsetzung auf Prozessen, die mit Denken und Urteilen zu tun haben. In den Worten von Steenblock: „Die Philosophie gehört der Bildung E konstitutiv an E: sie bildet gleichsam die reflexive Spitze kultureller Orientierung“ (Steenblock 2009: 54). Kant hat diese Bildung mit dem Ziel des autonomen Menschen in vier Aspekte aufgeschlüsselt (Kant 1968: 706f., Pieper 2003: 66f.): die Disziplinierung (als Kunst der Grenzziehung für Triebe, Bedürfnisse und Aggressionen, die nicht mit Vernunftprinzipien vereinbar sind), die Kultivierung (als Geschicklichkeit in der Realisierung selbst gesetzter Zwecke), die Zivilisierung (als Klugheit im Umgang mit anderen), und die Moralisierung (als Verwirklichung eines moralisch guten Willens und moralischer Tugend). Der Einzelne wird im Idealfall vom Objekt zum „Subjekt seiner selbst“ (Steenblock 2009: 52). Formale Bildungstheorien überschneiden sich mit kompetenzorientierten Ansätzen, da beide (auch) formale Fähigkeiten wie analytisches Denken oder Urteilsfähigkeit als normative Ziele postulieren. So schrieb Heinrich Roth, einer der Pioniere der Kompetenzorientierung, bereits 1971, das Ziel von Erziehung sei „Mündigkeit als Kompetenz für verantwortliche Handlungsfähigkeit“, wobei er zwischen Selbst-, Sach- und Sozialkompetenz unterschied (Roth 1971: 180; vgl. Engagement 2007: 156). Die Lehrpläne aus dem Jahr 1997 für die Länder Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern schlossen direkt an Kants bekannte Trias, nämlich selbständiges Denken, erweiterte Denkungsart und widerspruchsfreies Denken an (Petermann 2007: 35f.). Selberdenken, kritisches Urteilen oder autonomes Handeln sind Kompetenzen und Fähigkeiten, nicht Inhalte, auch wenn sie an Inhalten erlernt werden. Wie schon erwähnt, haben kompetenzorientierte Ansätze in der Fachdidaktik Philosophie eine schon längere Tradition, die dann in Konkurrenz mit traditionelleren fachdidaktischen Ansätzen stand. Als Beispiel kann die Rehfus-Martens-Kontroverse aus den 1980er Jahren in Deutschland dienen (Steenblock 2009: 30-2, Pfister 2010: 178-87), wobei auch Wulff Rehfus, der sich gegen eine Reduktion von Philosophie auf Didaktik und gegen den Primat der Kompetenzen vor dem Inhalt verwahrte, eine Synthese anstrebte: Kompetenzen und Inhalte sollten so verknüpft werden, dass „im 8 Lernen von bestimmten Inhalten bestimmte Kompetenzen erworben werden können“ (Rehfus 1980: 160, zitiert in Rösch 2009: 81). Eine Synthese ist möglich, wenn ein erweiterter Kompetenzbegriff entfaltet wird, der nicht nur die kognitive Dimension umfasst, sondern auch Dispositionen und die Orientierungskompetenz (der enge Kompetenzbegriff gehört hingegen zum Lernbegriff). Formale Bildung benötigt sicherlich Inhalte. „Es gibt keine Bildung ohne Bildungsgehalte, d. h. ohne eine „materiale“ Seite, Objektseite“ (Steenblock 2009: 52), nämlich die materialen Gehalte der Kultur(en). Bisherige philosophische Kompetenzmodelle haben die höchste Stufe einer Kompetenz dargestellt, es fehlten noch die Zwischenstufen und Differenzierungen, die Ansätze wie jener von Anita Rösch bieten wollen (Rösch 2009: 14). Sie eignen sich besonders für den Ethikunterricht der Sekundarstufe I von der fünften bis etwa zur neunten Schulstufe. Kompetenzmodelle beziehen die empirische Bildungsforschung mit ein und sind „letztendlich“ deskriptiv (Rösch 2009: 15), obwohl diese These nicht ganz überzeugen kann, wie das an Kohlberg orientierte Stufenmodell der moralischen Urteilsfähigkeit zeigt. Rösch lehnt deshalb in manchen Entwürfen formulierte Bildungsstandards wie „Die eigenen Fähigkeiten und Grenzen erkennen“ oder „Eigene Gefühle kennen“ als nicht messbar und deshalb problematisch ab (Rösch 2009: 94). Dem gegenüber steht die normative, regulative Idee der philosophischen Bildung unter dem Motto: „Wichtig ist auch, was nicht (oder nur schwer) gemessen werden kann“, etwa Verstehensprozesse oder Autonomie. Das bedeutet, dass der empirische Ansatz eine begrenzte Berechtigung hat (die noch näher zu präzisieren wäre), Bildungsprozesse sich diesem Ansatz und damit der Messung und Überprüfung aber entziehen. Diese prinzipielle Differenz zwischen empirisch und normativ wiederholt sich in der zugrunde liegenden philosophischen Anthropologie, wo die Idee der menschlichen Würde und das Verständnis des Menschen als Selbstzweck der Auffassung des Einzelnen als „Objekt der Vermessung“ und einer „Erziehung zum Marktpreis“ einander gegenüber stehen (Jörg Ruhloff in Stefanie Schlüter 2009: 296). Es wird sich zeigen, wie kompetenzorientierte Ansätze diese prinzipielle und unaufhebbare Differenz und Spannung thematisieren und reflektieren werden. Literatur 9 Bieri, Peter, „Wie wäre es, gebildet zu sein?“, Festrede am 4. November 2005, http://www.hwrberlin.de/fileadmin/downloads_internet/publikationen/Birie_Gebildet_s ein.pdf, abgerufen am 26. November 2010. Bildungsreform für Österreich. Das Gesamtkonzept in der Umsetzung, September 2010, http://www.bmukk.gv.at/schulen/sb/bildungsreform.xml, abgerufen am 1. November 2010. Birnbacher, Dieter, Joachim Siebert, und Volker Steenblock, Hrsg. 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