Die Kompetenzorientierung in der Philosophiedidaktik

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Univ.-Doz. Dr. Georg Cavallar, Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft
der Universität Wien:
Die Kompetenzorientierung in der Philosophiedidaktik
1. Einleitung
Die Diskussion um Bildungsstandards und Kompetenzen wird in Deutschland
und Österreich seit Jahren geführt, teilweise ausgelöst durch die PISA-Ergebnisse in
beiden Ländern. Befürworter der Kompetenzorientierung kritisieren etwa die
angeblich nebulose Präambelrhetorik in den Lehrplänen, die für die Bildung folgenlos
geblieben sein soll (Langlet 2004: 166), während Kritiker vor einem teaching to the
test oder illusionären Erwartungen warnen (Gefert 2005: 135). Die teilstandardisierte,
kompetenzorientierte AHS-Reifeprüfung, die ab 2014 geplant ist, macht das Thema
Kompetenzorientierung mittlerweile für alle LehrerInnen dieses Schultyps höchst
aktuell.
Überraschend ist jedenfalls, dass kompetenzorientierte Ansätze in der
Fachdidaktik Philosophie lange vor dem gegenwärtigen, „offiziellen“ Diskurs über
Kompetenzen und Bildungsstandards in Deutschland und Österreich entwickelt
wurden, nämlich von France Rollin, Michel Tozzi, Karel van der Leeuw und Pieter
Mostert (vgl. Pfister 2010: 191-200). Diese sind aber – verglichen mit dem dialogischpragmatischen Ansatz von Ekkehard Martens oder dem dialektischen Ansatz von
Roland Henke - im deutschsprachigen Raum wenig bekannt.
2. Der Begriff der Kompetenz
Kompetenzen sind formal, nicht inhaltlich festgelegt und werden meistens als
komplexe Fähigkeiten definiert. Bekannt wurde die Begriffsbestimmung von Franz
Weinert: Kompetenzen sind kognitive „Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte
Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen [E]
und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen
Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (Weinert 2001:
27f., vgl. Langlet 2004: 166 und Rösch 2009: 37). Es lassen sich einige Elemente
des Kompetenzbegriffs anführen: die Erlernbarkeit, der Kontextbezug, die
Übertragbarkeit, die Vernetzung der Kompetenzen sowie die Einbeziehung der
empirischen Bildungsforschung (vgl. Rohbeck 2004: 8f., Langlet 2004: 167 und
Rösch 2009: 11).
1
2.1 Kompetenzorientierung in der Philosophie
Wie schon in der Einleitung erwähnt, wurden seit den 1980er Jahren
Ansätze in der Fachdidaktik Philosophie entwickelt, nämlich von France Rollin und
anderen, die als kompetenzorientiert bezeichnet werden können.
Die bislang umfassendste Studie zur Kompetenzorientierung im Philosophieund Ethikunterricht hat Anita Rösch vorgelegt (Rösch 2009, siehe auch Gefert 2005
und Dege 2008). Sie beschreibt, wie kompetenzorientierter Unterricht in der
Fächergruppe Philosophie, Ethik, Praktische Philosophie, Werte und Normen sowie
LER (Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde, etwa in Brandenburg) umgesetzt
werden kann (vgl. Rösch 2009: 23f. über die Unterschiede zwischen den deutschen
Bundesländern). Sie entwickelt einheitliche Kompetenzraster oder Rubrics, die 16
Kompetenzen umfassen, die wiederum in fünf übergeordnete Kategorien gegliedert
sind, nämlich Sich-Orientieren und Handeln, Wahrnehmen und Verstehen,
Analysieren und Reflektieren, Argumentieren und Urteilen sowie Interagieren und
Sich-Mitteilen (Rösch 2009: 150-311). Der neue Fokus auf Schüleraktivität soll mit
älteren fachdidaktischen Ansätzen kompatibel sein (ibid. 15f.). Die Kompetenzraster
werden aus dem Europäischen Referenzrahmen für das Lernen moderner
Fremdsprachen übernommen, wo die Vertikale Teilkompetenzen formuliert, die in der
Horizontalen durch Kompetenzniveaus oder -stufen konkretisiert werden (Rösch
2009: 136-44).
Als Beispiel mag die moralische Urteilsfähigkeit dienen. Rösch formuliert
sechs Stufen, die aus drei Niveaus (A, B und C) bestehen und – analog zu GERS
(dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen Sprachen) – in jeweils zwei
Unterkategorien (mit C 1 und C 2 als höchstes Niveau) geteilt sind. Die Niveaustufen
sollen den Lernprozess von AnfängerInnen bis zu den ExpertInnen beschreiben, sie
kennzeichnet eine „Ausweitung vom Konkreten zum Abstrakten oder eine
Erweiterung des Horizonts vom Einzelnen zur Gemeinschaft“ (Rösch 2009: 143). Die
Stufe „C 1 Postkonventionell“ wird folgendermaßen umschrieben: Die Schülerin/der
Schüler „kann so handeln, dass es zum Wohl und Nutzen anderer ist. Dabei fühlt
sie/er sich verpflichtet, bei eigenen Handlungen die Bedürfnisse möglichst vieler
Menschen zu berücksichtigen“ (Rösch 2009: 273). „C 2 Prinzipienorientiert“
bedeutet: „E kann Personen als Zwecke an sich anerkennen und behandeln“ und
2
„sich universalen moralischen Prinzipien verpflichtet fühlen und das eigene Handeln
daran ausrichten“ (ibid.).
Hintergrund des Kompetenzrasters „Moralische Urteilsfähigkeit“ ist explizit
die Theorie von Lawrence Kohlberg (Rösch 2009: 258-73), die, wie auf der
Darstellung ersichtlich, auf der Stufe C 1 eine utilitaristische Ethik formuliert (der
Nutzen und das Wohl möglichst vieler Menschen) und auf C 2 mit der Kantischen
Prinzipienethik endet. Kohlbergs Theorie ist bekanntlich umstritten. Vor allem
Vertreterinnen der feministischen Ethik haben sie – etwa aus der Perspektive einer
ethics of care – kritisiert (vgl. Pauer-Studer 2003: 109-33). Einer dieser Kritikerinnen,
nämlich Carol Gilligan, wird zwar von Rösch erwähnt, aber sie betont, dass Gilligan
ihre Kritik an Kohlberg später zurücknahm (vgl. Rösch 2009: 264f. und 271).
Tatsächlich wird Kohlberg viel stärker in Frage gestellt als das der Kommentar von
Rösch nahe legt.
3. Kritik an der Kompetenzorientierung
Das Problem der Gewichtung
Welche Kompetenzen sollen vor allem gefördert werden? Die Lesekompetenz
wegen
vorhandener
Defizite
speziell
in
RG-Klassen?
Die
Argumentationskompetenz? Julian Nida-Rümelin etwa fordert die folgende
Schwerpunktsetzung: „Das wichtigste kognitive Bildungsziel ist die Urteilskraft“ (NidaRümelin 2010: 1). Er begründet dies mit der zeitgenössischen Informationsflut, die
vom Einzelnen verstärkt Kritikfähigkeit und Urteilskompetenz verlange. Tatsächlich
gibt es in den verschiedenen fachdidaktischen Ansätzen eine große Anzahl anderer,
miteinander konkurrierender „wichtiger“ Kompetenzen.
Vielleicht, um ein weiteres Beispiel zu nennen, ist überhaupt die ominöse
Selbstkompetenz, die Selbstmotivation, das Interesse, das Weiterforschen am
wichtigsten? So Volker Steenblock (in Rohbeck 2004: 38): „Die Philosophiedidaktik
möchte [E] Interessen freilegen [E]. Entscheidend ist, Schülerinnen und Schüler
zum ‚Weitermachen’ und ‚Weiterforschen’ zu bringen“.
Im Sinne der Verfechter des kompetenzorientierten Ansatzes kann hier wohl
folgende Antwort gegeben werden: es bleibt der Urteilskraft der LehrerInnen
überlassen, welche Schwerpunkte sie setzten oder ob sie sich um ein
3
ausgewogenes Verhältnis bemühen. In einer Klasse mit Defiziten in der
Lesekompetenz wird es sinnvoll sein, vorrangig diese zu fördern. Der
kompetenzorientierte Ansatz bietet einen Bezugsrahmen, keine detaillierten
Vorschriften oder Rezepte.
Das gesellschaftskritische Argument
Der gegenwärtige Kompetenzdiskurs sei vor dem Hintergrund ökonomischer
Interessen der Wirtschaft und Politik zu sehen, so ein gängiger Einwand von
Kritikern. Ziel sei die flexible, verschiedene Kompetenzen beherrschende
Arbeitskraft, die bereit ist, Jobs zu wechseln und aufgrund vor allem politischer
Unbildung nicht in der Lage ist, kritische Fragen an die Regierenden oder an das
Establishment zu stellen. Ziel sei Ausbildung und employability, nicht eine (kritische)
Bildung, die hinterfragt. In den Worten von Liessmann: Bildung wird auf Ausbildung
reduziert und „Wissen zu einer bilanzierbaren Kennzahl des Humankapitals“
degradiert (Liessmann 2006: 10; siehe auch ibid. 39-43, 48, 173f.; Rösch 2009: 12;
Pongratz 2007: 162; Schirlbauer 2007). Kompetenzmodelle dienen daher vor allem
der Qualitätsmessung, d. h. der Diagnose von Lerndefiziten und dem monitoring und
der Steuerung des Schulsystems. Es geht – überspitzt formuliert - um Vermarktung
der Ressource Mensch, um Kontrolle und Macht.
Das empiristische Paradigma
Kompetenzen definieren sich auch als empirisch überprüfbare und testbare
Fähigkeiten (Klieme et al. 2003: 16 und Gefert 2005: 136), Einstellungen oder
Haltungen wie etwa die Wertschätzung von philosophischen Texten werden
konsequent ausgeblendet, auch, wie Breinbauer vermerkt, die „Frage nach dem
‚rechten Handeln’“ (zit. In Engagement 2007: 157), die nicht nur für den Ethik- oder
Philosophieunterricht relevant ist. Natürlich schleichen sich normative Prämissen
gleichsam durch die Hintertür ein, erkennbar etwa an der Formulierung der OECD,
bei der Lesefähigkeit handle es sich darum „to function in society“ (ibid. 157). Dabei
wird auch ein bestimmtes normatives Menschenbild transportiert, nämlich eines der
beliebigen Formbarkeit von anpassungsbereiten Plastikwesen (ibid. 158-9). Der
Kompetenzdiskurs gibt sich wertfrei, ohne es sein zu können.
Eine Antwort auf die letzten beiden Kritikpunkte könnte so aussehen:
zugegeben, ökonomische Interessen stehen bei vielen – nicht allen – Befürwortern
von Kompetenzmodellen im Vordergrund.
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Andererseits stellt die Förderung
philosophischer Kompetenzen wie Urteilskraft und Kritikfähigkeit jene „Werkzeuge“‘
zur Verfügung, die eine Kritik mündiger StaatsbürgerInnen an dieser
„Ökonomisierung des Wissens“ erst ermöglicht. Anders formuliert: Diese Kritik ist
auch ohne klassischen Bildungsbegriff, eben mit Hilfe von Kompetenzen möglich.
Der Verlust oder Schwund des Faktenwissens bzw. der Inhalte
Vor allem von LehrerInnen wird manchmal der Vorwurf erhoben, die modische
Kompetenzorientierung führe zu einem Verlust oder Schwund des Faktenwissens
bzw. der Inhalte. Hier wird offenbar mit – vielleicht falschen - binären Oppositionen
gearbeitet, denn Kompetenzen stehen per definitionem im Gegensatz zum
Faktenwissen. Natürlich stellt sich die Frage, wieweit es sinnvoll ist zu glauben, auf
Faktenwissen verzichten zu können bzw. es zu marginalisieren. Ich verweise auf die
mittlerweile 200 Jahre alte Polemik Hegels gegen die „moderne Sucht“, den Inhalt
der Philosophie zu ignorieren, als ob man „ohne Inhalt philosophieren lernen“ könne
(Hegel in Meyer 2010: 76). Das Ergebnis ist dann „das perennierende inhaltslose
Suchen und Herumtreiben, E das Gedankenleere der Köpfe“ und SchülerInnen, die
„nichts können“ (ebda. 77). Diese Polemik richtete sich offensichtlich gegen eine
Philosophiedidaktik, die das Philosophieren im Sinne des eigenständigen Denkens
gegen ein negativ besetztes „bloßes“ Philosophie Lernen abwertete, wo vor allem die
Gedanken angeblich großer Philosophen nach-gedacht wurden.
Die Antwort auf diesen Einwand kann knapp so ausfallen: natürlich geht es
nicht um den Abschied vom Lernstoff (Rösch 2009: 29), sondern um eine sinnvolle
Verbindung von Bildung bzw. Inhalten und Kompetenzen. Kompetenzen stehen dem
Erlernen von Inhalten nicht im Wege. Die Kompetenzorientierung warnt nur vor einer
Dominanz der traditionellen Kompetenz des Reproduzierens von Gelerntem.
Das Problem der praktischen Umsetzung
Hans-Bernhard Petermann verweist auf die Situation in Deutschland, wo
manchmal das neue kompetenzorientierte Bildungskonzept in den Einzelplänen gar
nicht Eingang findet, sondern bloße Erklärung in den Einleitungen bleibt. Hinzu
komme, dass in der Schulpraxis die „konsistente Umsetzung“ der Bildungspläne
mangelhaft bleibe, „weil dazu tragfähige Anleitungen und wirklich überzeugende
Modelle fehlen“ (Petermann 2007: 39). Es wird also der Vorwurf des modischen adhoc Reformierens erhoben.
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Die Nähe zum Begriff der Bildung bzw. der philosophischen Bildung wird im
Ansatz von Anita Rösch suggeriert (z. B. Rösch 2009: 12f.), aber nicht
nachgewiesen. Rösch erhebt auch den Anspruch, eine neue Fachdidaktik
Philosophie zu bieten (Rösch 2009: 150), die Umsetzung der Kompetenzorientierung
im Philosophie- oder Ethikunterricht wird jedoch eher angedeutet als
ausbuchstabiert. Was Anita Rösch den älteren Bildungsmodellen vorwirft, kann wohl
auch gegen ihren eigenen Ansatz vorgebracht werden: er zeigt nicht im Detail, „mit
welchen Unterrichtsmethoden und Medien diese Kompetenzen im Unterricht E
vermittelt werden können“ (Rösch 2009: 14).
Die Umsetzung der Kompetenzorientierung sieht zumindest teilweise vielleicht
so aus, wie das in einem Band von „Ethik und Unterricht“, 1/10 (Friedrich Verlag
2010) exemplarisch vorgezeigt wird. Die Kopiervorlage, die im Ethik- oder
Philosophieunterricht eingesetzt werden kann, beinhaltet einen eine Seite
umfassenden Textauszug aus Hannah Arendts „Macht und Gewalt“ (1970). Daran
schließen sich 14 Aussagen, die anhand des Textes mit „richtig“ oder „falsch“
beantwortet werden sollen. Als positiv werte ich die Tatsache, dass eine genaue
Überprüfung der Lesekompetenz intendiert wird, die zu einer sorgfältigen
Textanalyse anregt und außerdem überprüfbar ist. Weitgehend verhindert wird ein
oberflächliches „Herumreden“. Problematisch wird der Ansatz meiner Meinung nach,
wenn große Teile von Lehrbüchern nach diesem Modell geschrieben werden, wie
das bereits im Unterrichtsfach Englisch der Fall ist. Der kompetenzorientierte Ansatz
würde dann das Gegenteil einer erfolgreichen Fachdidaktik darstellen.
Auch hier kommt es wohl auf die sinnvolle Balance im Unterricht an.
Kompetenzorientierter
Unterricht
bedeutet
nicht,
dass
während
einer
Unterrichtseinheit nur Kästchen angekreuzt oder Schlagwörter eingefüllt werden.
4. Versuch einer Synthese von Bildung und Kompetenzen:
kompetenzorientierte Bildung
Viele BildungstheoretikerInnen äußerten in den letzten Jahren Vorbehalte
gegen die Kompetenzorientierung und führten dabei auch Argumente an, die ich
soeben referiert habe (siehe etwa Alfred Schirlbauer 2007). Die binäre
Gegenüberstellung von „Bildung oder Kompetenzen“ ist jedoch irreführend und
reflektiert zu wenig gemeinsame Schnittmengen oder eine mögliche Synthese.
Hans-Bernhard Petermann (2007) schlägt eine Synthese von Kompetenzen und
6
Bildung vor, unter dem Titel „kompetenzorientierte Bildung“. Diese soll im Folgenden
kurz skizziert werden.
Funktionale
Bildung
umfasst
in
meiner
Definition
die
vielseitige
Persönlichkeitsentfaltung und Selbstbildung mit dem Ziel des Menschseins, der
Autonomie oder Selbstständigkeit in Denken und Handeln und einer gelebten
Humanität (vgl. Lehner 2009: 87; Pongratz 2007: 161f.; allgemein zum
Bildungsbegriff siehe Bieri 2005, Dzierzbicka et al. 2005, Hentig 1996, Liessmann
2006, Pieper 2003, Schneider 2005, Schneider-Taylor 2009b, Steenblock 2009: 4957, Thurnherr 2005; auch Liessmann 2006: 21, 54). Aspekte sind die Fähigkeit zur
Orientierung in der Welt und im Denken, Selbstbildung oder Selbstformung,
politische Bildung (Hentig 1996: 11-2, 39), die hermeneutische Dimension, nämlich
das Verstehen von Kulturen - der eigenen und von fremden - welches zur Teilnahme
an Kulturprozessen befähigt (Schneider 2005: 255, Steenblock 2009: 48), das
Verstehen von Zusammenhängen (Liessmann 2006: 25), die Verfeinerung der
sprachlichen Ausdrucksfähigkeit (der Gebildete kann sich artikulieren; Schneider
2005: 253 und 258), schließlich die Reflexionsfähigkeit: die gebildete Person hat ein
reflektiertes Verhältnis zu sich selbst, der Welt, der eigenen Kultur und zu anderen
und ist zur reflexiven Prüfung von eigenem und fremden Denken und Handeln fähig
(Hentig 1996: 56). Bildung bezieht sich auf Erkenntnis und Wahrheit (ibid. 26f., 29,
150; Reichenbach 2007: 200).
Normative Ziele der so verstandenen Bildung sind vor allem Selbsterkenntnis
(Bieri 2005: 5), Charakterbildung oder moralische Bildung (Reichenbach 2007:
195f.), die Freiheit bzw. Autonomie des Denkens und Handelns (Liessmann 2006:
52f., 56, Bieri 2005: 5) sowie Kants „erweiterte Denkungsart“, also die Fähigkeit, sich
in die Lage anderer zu versetzen oder soziale Phantasie (Reichenbach 2007: 200,
Bieri 2005: 6) – Ziele, die in der Idee eines harmonischen Ganzen kulminieren
(Fichte, Humboldt).
Philosophische Bildung
Wird Philosophie – in einem erweiterten Begriff – im Anschluss an Ekkehard
Martens als kulturelles Grundvermögen verstanden (aufgrund anthropologischer
Konstanten und aufgrund der Moderne, Steenblock 2003: 32), dann ist
Philosophieren ein Bildungsprozess, der die Möglichkeit der Lebensorientierung, der
Identitätsgewinnung, der systematischen Reflexion und der Entfaltung von
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Autonomie beinhaltet (vgl. Steenblock 2003: 25-33, Steenblock 2009: 50). In
wesentlichen Bereichen überschneidet sich philosophische Bildung mit der oben
genannten funktionalen Bildung, der Unterschied liegt in der Schwerpunktsetzung auf
Prozessen, die mit Denken und Urteilen zu tun haben. In den Worten von
Steenblock: „Die Philosophie gehört der Bildung E konstitutiv an E: sie bildet
gleichsam die reflexive Spitze kultureller Orientierung“ (Steenblock 2009: 54).
Kant hat diese Bildung mit dem Ziel des autonomen Menschen in vier Aspekte
aufgeschlüsselt (Kant 1968: 706f., Pieper 2003: 66f.): die Disziplinierung (als Kunst
der Grenzziehung für Triebe, Bedürfnisse und Aggressionen, die nicht mit
Vernunftprinzipien vereinbar sind), die Kultivierung (als Geschicklichkeit in der
Realisierung selbst gesetzter Zwecke), die Zivilisierung (als Klugheit im Umgang mit
anderen), und die Moralisierung (als Verwirklichung eines moralisch guten Willens
und moralischer Tugend). Der Einzelne wird im Idealfall vom Objekt zum „Subjekt
seiner selbst“ (Steenblock 2009: 52).
Formale Bildungstheorien überschneiden sich mit kompetenzorientierten
Ansätzen, da beide (auch) formale Fähigkeiten wie analytisches Denken oder
Urteilsfähigkeit als normative Ziele postulieren. So schrieb Heinrich Roth, einer der
Pioniere der Kompetenzorientierung, bereits 1971, das Ziel von Erziehung sei
„Mündigkeit als Kompetenz für verantwortliche Handlungsfähigkeit“, wobei er
zwischen Selbst-, Sach- und Sozialkompetenz unterschied (Roth 1971: 180; vgl.
Engagement 2007: 156). Die Lehrpläne aus dem Jahr 1997 für die Länder
Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern schlossen direkt an Kants
bekannte Trias, nämlich selbständiges Denken, erweiterte Denkungsart und
widerspruchsfreies Denken an (Petermann 2007: 35f.). Selberdenken, kritisches
Urteilen oder autonomes Handeln sind Kompetenzen und Fähigkeiten, nicht Inhalte,
auch wenn sie an Inhalten erlernt werden.
Wie schon erwähnt, haben kompetenzorientierte Ansätze in der Fachdidaktik
Philosophie eine schon längere Tradition, die dann in Konkurrenz mit traditionelleren
fachdidaktischen Ansätzen stand. Als Beispiel kann die Rehfus-Martens-Kontroverse
aus den 1980er Jahren in Deutschland dienen (Steenblock 2009: 30-2, Pfister 2010:
178-87), wobei auch Wulff Rehfus, der sich gegen eine Reduktion von Philosophie
auf Didaktik und gegen den Primat der Kompetenzen vor dem Inhalt verwahrte, eine
Synthese anstrebte: Kompetenzen und Inhalte sollten so verknüpft werden, dass „im
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Lernen von bestimmten Inhalten bestimmte Kompetenzen erworben werden können“
(Rehfus 1980: 160, zitiert in Rösch 2009: 81).
Eine Synthese ist möglich, wenn ein erweiterter Kompetenzbegriff entfaltet
wird, der nicht nur die kognitive Dimension umfasst, sondern auch Dispositionen und
die Orientierungskompetenz (der enge Kompetenzbegriff gehört hingegen zum
Lernbegriff). Formale Bildung benötigt sicherlich Inhalte. „Es gibt keine Bildung ohne
Bildungsgehalte, d. h. ohne eine „materiale“ Seite, Objektseite“ (Steenblock 2009:
52), nämlich die materialen Gehalte der Kultur(en). Bisherige philosophische
Kompetenzmodelle haben die höchste Stufe einer Kompetenz dargestellt, es fehlten
noch die Zwischenstufen und Differenzierungen, die Ansätze wie jener von Anita
Rösch bieten wollen (Rösch 2009: 14). Sie eignen sich besonders für den
Ethikunterricht der Sekundarstufe I von der fünften bis etwa zur neunten Schulstufe.
Kompetenzmodelle beziehen die empirische Bildungsforschung mit ein und
sind „letztendlich“ deskriptiv (Rösch 2009: 15), obwohl diese These nicht ganz
überzeugen kann, wie das an Kohlberg orientierte Stufenmodell der moralischen
Urteilsfähigkeit zeigt. Rösch lehnt deshalb in manchen Entwürfen formulierte
Bildungsstandards wie „Die eigenen Fähigkeiten und Grenzen erkennen“ oder
„Eigene Gefühle kennen“ als nicht messbar und deshalb problematisch ab (Rösch
2009: 94). Dem gegenüber steht die normative, regulative Idee der philosophischen
Bildung unter dem Motto: „Wichtig ist auch, was nicht (oder nur schwer) gemessen
werden kann“, etwa Verstehensprozesse oder Autonomie. Das bedeutet, dass der
empirische Ansatz eine begrenzte Berechtigung hat (die noch näher zu präzisieren
wäre), Bildungsprozesse sich diesem Ansatz und damit der Messung und
Überprüfung aber entziehen.
Diese prinzipielle Differenz zwischen empirisch und normativ wiederholt sich in
der zugrunde liegenden philosophischen Anthropologie, wo die Idee der
menschlichen Würde und das Verständnis des Menschen als Selbstzweck der
Auffassung des Einzelnen als „Objekt der Vermessung“ und einer „Erziehung zum
Marktpreis“ einander gegenüber stehen (Jörg Ruhloff in Stefanie Schlüter 2009:
296). Es wird sich zeigen, wie kompetenzorientierte Ansätze diese prinzipielle und
unaufhebbare Differenz und Spannung thematisieren und reflektieren werden.
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