In: Widerspruch Nr. 39 Kritik der Globalisierung

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In: Widerspruch Nr. 39 Kritik der Globalisierung - außereuropäische Perspektiven (2003), S. 112-115
Autor: Ignaz Knips
Rezension
Pierre Bourdieu
Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft
Aus dem Französischen von Achim Russer unter Mitwirkung von Hélène
Albagnac und Bernd Schwibs, Frankfurt/Main 2001 (Suhrkamp), geb., 335
S, 19.50 EUR.
Ein soziologischer Selbstversuch
Aus dem Französischen von Stefan Egger; Nachwort von Franz Schultheis,
Frankfurt/Main 2002 (Suhrkamp), kart., 151 S., 8.50 EUR.
Die Meditationen (Méditations pascaliennes, Paris 1997) behandeln Fragen,
die der Autor Pierre Bourdieu (1.8.1930-23.1.2002) „lieber der Philosophie
überlassen hätte“, deren Vertreterschaft im „akademischen Feld“ sich jedoch en gros weigere, konsequent beschreibend und reflektierend auf die
sozialen Voraussetzungen und Bedingungen der eigenen Theorieproduktion(en) Bezug zu nehmen. Anknüpfend an seine umfangreichen Feldstudien
„Die feinen Unterschiede“ und „Homo academicus“ sollen die „Meditationen“ eine „Kritik (im Kantschen Sinne) der gelehrten Vernunft bis zu einem
Punkt treiben, der gewöhnlich unberührt bleibt“.
Der Soziologe Bourdieu fordert den Verzicht „auf die Illusion, dass das Bewusstsein sich selbst durchschaut, und auf die unter Philosophen gängige
Vorstellung von Reflexivität“. „Scholastisch“ nennt er – durchaus die Epoche der Scholastik einbeziehend, aber nicht nur diese – eine „doxa“ der
Voraussetzungslosigkeit, der Entbindung des eigenen, akademischen Feldes
von anderen sozialen Feldern, die allererst möglich werde durch eine privilegierte Situation der „scholé“ (Muße), einer bestimmten Freiheit von ökonomischen Zwängen, die als Möglichkeitsbedingung der Illusion eines „reinen Denkens“ aufzufassen sei.
„Die spezifische Logik des Feldes“, so Bourdieu, „nimmt als spezifischer
Habitus Gestalt an“ und zwar „in einem gewöhnlich als (‚philosophischer’,
‚literarischer’, ‚künstlerischer’ usw.) ‚Geist’ oder ‚Sinn’ bezeichneten Sinn für
das Spiel, der praktisch niemals artikuliert oder vorgeschrieben wird“. Bourdieu exemplifiziert dies vor allem am Betrieb der „Königsdisziplin“ Philosophie an der Pariser École Normale Supérieure, rückblickend auf das eigene
Philosophiestudium an dieser Hochschule. Als den „scholastischen Point
d’honneur“ sieht er eine ausdrückliche Geringschätzung der Sozialwissenschaften, die letztlich Heidegger mit zu einem Garanten „der Würde des
philosophischen Metiers“ erhoben habe.
Bourdieu lehnt sich zwar an J.L. Austins Ausführungen über einen „scholastic view“ an (Sense and Sensibilia), einer „Haltung des ‚Als ob’, dem Spiel
der Kinder und ihrem ‚Tun als ob’ verwandt“. Und er sieht vor allem in
Wittgensteins Werk die „Zerstörung jener Illusionen, die die philosophische
Tradition produziert und reproduziert“. Verschiedene Gründe legten jedoch
nahe, die „Meditationen“ unter das Vorzeichen Blaise Pascals und seiner
„Pensées“ zu stellen. Denn es komme darauf an, nicht nur die Grenzen des
Denkens und der Macht des Denkens zu reflektieren, sondern auch die
Voraussetzungen, die dazu veranlassen, „die zwangsläufig partiellen, geographisch wie sozial begrenzten“ Erfahrungen scheinbar transzendieren zu
können. Pascals „Abweisung des Anspruchs, letztgültige Grundlagen zu
formulieren“, und dessen Überzeugung, „dass die wahre Philosophie über
die Philosophie spottet“, aber unterschlage nicht die eigene Einbindung in
einen religiösen Glauben und in theologische Dispositionen. In Analogie
dazu unterzieht Bourdieu seine Soziologie des Philosophiebetriebes ihrerseits einer soziologischen Untersuchung (Ein soziologischer Selbstversuch).
In den „Meditationen“ hebt Bourdieu „drei Formen des scholastischen Irrtums“ hervor: einen „Epistemozentrismus“, einen „moralistischen Universalismus“ und einen „ästhetischen Universalismus“, die sich allesamt einer
subtilen Ignoranz gegenüber den jeweiligen sozialen Bedingungen des Zuganges zu bestimmten symbolischen Formen und Praktiken verdankten.
Zum zweitgenannten „Irrtum“ schreibt Bourdieu: „Allen, jedoch rein formal die Zugehörigkeit zur ‚Menschheit’ zusprechen heißt, unter humanistischem Mäntelchen alle davon auszuschließen, denen die Mittel entzogen
sind, diese Zugehörigkeit wahrzunehmen“. Er bezieht diese Kritik exemplarisch auf Habermas’ „Theorie des kommunikativen Handelns“, auf das Modell einer „kommunikativen Vernunft“, dem er vorhält, „die Politik unversehens auf das Terrain der Ethik“ zurückzuholen. Mit dem universalistischen Ideal eines „vernünftigen Konsens“, dem Ideal einer Macht der
Argumente, seien die Argumente der Macht ignoriert und damit die sozialen
Bedingungen, überhaupt Argumente geltend machen zu können. Für Bour-
dieu verfügen Angehörige verschiedener sozialer Felder weniger über ein
gemeinsames Ausdrucksrepertoire als dass die sozialen Felder das Wie von
Expressionen prägen. Die Kritik legt dar, dass Habermas’ „scholastische
Schranke“ eine konsequente Eigenbezüglichkeit verhindert, und dies um
den Preis einer Universalisierung des „eigenen Falls“.
So wird auf eine „doppelte Wahrheit“ verwiesen, die den Soziologen nicht
übersehen lassen sollte, „dass die Mühe um die Verdrängung und ihre mehr
oder weniger phantasmatischen Ergebnisse ebenso zur Wahrheit gehören
wie das, was sie zu tarnen versuchen“. Dies pointiert eine Zirkularität, der
Bourdieu konsequent nachzugehen versucht. Mit ihr sieht er einen „Freiheitsspielraum“ verbunden, Idealen einer „Koinzidenz zwischen objektiven
Tendenzen und persönlichen Erwartungen“ entgegentreten zu können und
damit der Illusion, die Welt sei „eine lückenlose Verkettung bestätigter Antizipationen“. Bourdieu verweist auf Kafkas Josef K. und das paradoxale
„Wahrheitsspiel“ im „Prozess“, einen „Standpunkt oberhalb der Standpunkte zu finden“. Nichts sei „grausamer verteilt als das symbolische Kapital, das
heißt die soziale Bedeutung und die Lebensberechtigung“.
Vor allem von Seiten einer journalistisch disponierten Kritik in Frankreich
ist dem „Häretiker“ Bourdieu vorgeworfen worden, mit seiner Etikettierung
‚der’ Philosophie grob verallgemeinernd und aggressiv zu verfahren. Andererseits gibt es Zuweisungen zu Bourdieus Schriften wie ‚Soziologie der Philosophie’, ‚negative Philosophie’ und ‚Philosophie mit den Mitteln einer empirischen Soziologie’. All dies besagt wenig über Bourdieus (soziologische)
Objektivierung von Subjektivierungen und die Bemühungen um eine Objektivierung einer Subjektivität jener programmatischen Objektivierung selber.
In Ein soziologischer Selbstversuch geht es ausdrücklich um die besagte „Objektivierung des Subjekts der Objektivierung, des analysierenden Subjekts,
kurzum: des Forschers selbst“. Der Text basiert auf dem letzten Teil der
letzten Vorlesung am Pariser „Collège de France“ (28. März 2001). Der Titel
der Vorlesungsreihe lautete: „Science de la science“, der des letzten Teils:
„Esquisse pour une autoanalyse“. Die Texte wurden 2001 in Bourdieus eigenem Verlag in Paris veröffentlicht. Nach Bourdieus Verfügung sollte eine
kürzere Fassung zuerst in der deutschsprachigen Übersetzung bei Suhrkamp
erscheinen, dort für das Frühjahr 2002 unter dem Titel „Pierre Bourdieu
über Pierre Bourdieu“ angekündigt. Nach seinem Tod im Januar 2002 wurde die französische Kurzfassung dann widerrechtlich im „Nouvel Observateur“ veröffentlicht, versehen mit Fehldatierungen der Entstehung und Verfälschungen, die suggerieren, Bourdieu habe den Text, dessen Entwürfe auf
das Jahr 2000 zurückgehen, kurz vor seinem Tod geschrieben. Im Nachwort
der jetzigen Suhrkampveröffentlichung der längeren Textfassung werden
diese Vorgänge ausführlich vorgestellt und kommentiert.
Diesem Selbstversuch legt Bourdieu die Verpflichtung zugrunde, „alle
Merkmale zu berücksichtigen, die aus der Sicht des Soziologen erheblich,
das heißt für eine soziologische Erklärung..., und nur dafür notwendig sind“.
In dieser „Antiautobiographie“ schreibt er über die Diskrepanzen zwischen
seiner Herkunft und den Perspektiven, die eine Aufnahme in die „École
Normale Supérieure“ in Aussicht stellte. Vor allem aber seien es die Erlebnisse in Algerien, die Zeit des Militärdienstes während des Algerienkrieges
und die der frühen Feldforschungen in der Kabylei gewesen, die eine „Konversion“ des Philosophen zum Ethnologen und Soziologen bewirkt hätten.
Dabei betont er einen „gespaltenen Habitus“ in der Bearbeitung von „Gegensätzen“, die zu einem „eigenen Stil“ der empirisch-soziologischen Forschung geführt hätten. So scheint der Zirkel einer Objektivierung der kontingenten Dispositionen des Forschers geschlossen. Angesichts des Anspruchs auf „Selbstreflexivität“ ist Bourdieus „Wissenschaft der
Wissenschaft“ (Science de la science) jedoch schwerlich in einer Polarisierung von Soziologie und Philosophie unterzubringen, zumal dem die interdisziplinären Überschneidungen im französischen Hochschulsystem entgegenstehen.
Es ist nicht überraschend, dass eine längere Textpassage auf „Ähnlichkeiten“ mit den Arbeiten Foucaults und deren Verhältnisbestimmungen von
Macht- und Diskurspraktiken Bezug nimmt. Bourdieu schreibt über Verwandtschaften „im Bereich der Forschungen ebenso wie im Hinblick auf die
Art des, im weiteren Sinne, politischen Handelns“. Ungeachtet einer „großen Nähe“ und „Solidarität“ blieb Foucault für Bourdieu – wie groß die
Distanz innerhalb der akademischen Institution sein mochte – doch stets im
philosophischen Feld gegenwärtig. Er grenzt seine eher „kollektiven Unternehmen“ gegenüber Foucaults „einsamer“ Arbeit ab, „die den Erwartungen
der künstlerischen und literarischen Welt“ sehr viel mehr entgegengekommen sei.
Aufschlussreich hinsichtlich der Position einer „Selbstreflexivität“ dürfte ein
Vergleich mit Luhmanns systemtheoretischer Soziologie sein, vor allem mit
der „Wissenschaft der Gesellschaft“ (1992). Die hier tragende Konstruktion
einer Beobachtung der gesellschaftlich eingebundenen Beobachtung und
Beschreibung setzt auf die stufenweise Erzeugung von Unterscheidungen
von Unterscheidungshinsichten, die so als die ‚eigenen’ entparadoxiert wer-
den sollen mit dem Ziel einer „Komplexitätsreduktion“. Demgegenüber besteht Bourdieu auf einer „Implizierung“ des Forschers selber, der habituell
und von den Dispositionen her in den „sozialen Raum“ eingebunden sei.
Ignaz Knips
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