In der Welt der Bonobos Die Bonobos bevölkern den tropischen Regenwald südlich des Kongoflusses, der auch die Grenze zum Verbreitungsgebiet der Schimpansen nördlich davon markiert. Sie leben also in einem zutiefst äffischen Milieu, das keinerlei Anreiz bietet, andere als äffische Lebensformen zu entwickeln. Sie leben – anders gesagt – ohne evolutionären Anpassungsdruck. Und es gibt keinen zwingenden Grund für die Annahme, dass sie diesen ihren angestammten Lebensraum je verlassen hatten. Wir können also getrost davon ausgehen, dass sie am ehesten von allen rezenten Menschenaffen jene paradiesische Daseinsweise leben, die uns das Buch Genesis vermittelt. Nach allem, was wir heute über die Lebenswelt unserer frühesten direkten Vorfahren, der Australopithecinen wissen, dürfte jene der Bonobos dieser weitestgehend entsprechen. Ist es dann noch wirklich überraschend, wenn der weltweit anerkannte Experte der Bonoboforschung, der niederländische Psychologe und Primatologe Frans de Waal den direkten Vergleich wagt: „Wenn diese Affen aufrecht stehen oder gehen, wirken sie wie direkt einer künstlerischen Phantasie über frühe Hominiden entsprungen.“1 Was erzeugt diesen Eindruck? Was unterscheidet den eindrücklichen Habitus der Bonobos von jenem der Schimpansen? Bonobos sind entgegen ihrer ersten Bezeichnung als Zwergoder kleine Schimpansen nicht wirklich von geringerer Körpergröße als ihre nächsten Verwandten, zeigen aber einen deutlich grazileren Habitus. Ihr Kopf ist weniger wuchtig und rundlicher, das Gesicht flacher und die Stirn höher, die Schultern sind schmäler und der Nacken deutlich weniger ausgeprägt. Ebenso sind die Hüften auffallend schmäler und die Gliedmaßen länger und schlanker. Obwohl die Bonobos wie alle Affen längere Arme als Beine haben, ist es ganz offensichtlich, dass ihr äußeres Erscheinungsbild mehr dem unseren gleicht als das der Schimpansen. Und damit sind wir auch schon bei der Frage nach ihrer gewöhnlichen Fortbewegungsweise. Diese ist nicht unerwartet vielfältig. Auf dem Boden bewegen sich Bonobos wie Schimpansen meist im vierfüßigen Knöchelgang. In ihrem hauptsächlichen Milieu jedoch, im Geäst der Bäume, herrscht hohe Flexibilität. Vier- und Zweifüßigkeit sind ebenso wie Hangeln mit den Armen in etwa gleich verteilt. Damit allein haben wir schon eine eindrucksvolle Bestätigung der Hypothese, dass das Aufrichten des Körpers primär nichts mit einem Wechsel von Vier- zu Zweibeinigkeit zu tun hat. Ganz im Gegenteil scheint eher der für Menschenaffen so charakteristische vierbeinige Knöchelgang auf dem Boden eine sekundäre Entwicklung aufgrund einer mehr bodennahen Lebensweise zu sein, während der nur vermeintlich neue aufrechte Gang bloß die direkte Fortführung einer bisher schon hinlänglich erprobten und ausgeübten Lokomotionsform ist.2 Und so ist es denn auch nur „When the apes stand or walk upright, they look as if they stepped straight out of an artists impression of early hominids” (de Waal 1995, 83). 2 Eben das haben Thorpe et al. (2007) als die Lösung des Problems der Entstehung der Zweibeinigkeit präsentiert. 1 1 mehr bedingt verwunderlich, dass Bonobos immerhin rund ein Viertel auch ihrer Bodenaktivität zweibeinig verbringen und Jungtiere einen ausgeprägten spielerischen Umgang damit zeigen. Alles in allem haben wir mit der gewöhnlichen Lokomotionsweise der Bonobos einen mehr als deutlichen Beleg dafür, dass die potentielle Zweibeinigkeit eine alte Erbschaft des Waldes ist und flexibel je nach Bedarf und Laune eingesetzt werden kann und auch eingesetzt wird. Das enthebt uns zwar nicht der Frage nach der oder den Ursachen der spezifisch menschlichen, der ausschließlichen Zweibeinigkeit, macht aber mehr als deutlich, dass diese uns zeitlich viel näher liegen könnten und mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar erst mit dem Werden des Homo Erectus wirksam wurden. Ich habe mehrfach als eine der möglichen Bedingungen für permanente Zweibeinigkeit die Transformation der Sexualität angeführt. Haben uns die Bonobos dazu etwas zu sagen? Oh ja, sie haben. Sehr viel sogar. Sie sind mit Ausnahme von Homo sapiens die einzigen Primaten, deren Sexualleben sich weitestgehend von seiner Periodizität befreit hat. Der Zyklus weiblicher Bonobos umfasst durchschnittlich 45 Tage, der Östrus hat daran einen Anteil von rund 20 Tagen, übertrifft also den der Schimpansen um ein mehrfaches. „Statt weniger Tage innerhalb des Zyklus ist der weibliche Bonobo nahezu ununterbrochen sexuell attraktiv und aktiv“, so Frans de Waal.3 Das Sexualleben der Bonobos hat offensichtlich nur sehr bedingt etwas mit Reproduktion zu tun. Dessen hauptsächliche Funktion scheint vielmehr zutiefst allgemein sozialer Natur zu sein. Frans de Waal drückt das noch ein wenig prägnanter aus, wenn er sagt, dass Sexualität der Schlüssel zum Sozialleben der Bonobos ist. Sexuelle Aktivitäten werden bei den verschiedensten Gelegenheiten ausgeführt und es hat den überwältigenden Anschein, dass ihnen die hauptsächliche Funktion in der sozialen Steuerung der Emotionen zukommt. Ein paar Beispiele mögen das erläutern. Bonobos verkehren sexuell vor der gemeinsamen Nahrungsaufnahme, bei der ersten Kontaktaufnahme mit Fremden, zur Vermeidung eines aggressiven Konflikts wie auch zur Versöhnung nach einem solchen und schließlich bei allen möglichen Gelegenheiten, die das gemeinsame Interesse mehrerer Bonobos erwecken. Nahrung, Fremdheit, Konflikt, Aggression, Interesse. Der gemeinsame Nenner hinter diesen Konstellationen zeichnet sich deutlich ab. Überall da, wo Intentionen, Triebe, Wünsche und spontane Emotionen eines Bonobos denen eines anderen in die Quere kommen könnten oder bereits gekommen sind, werden sexuelle Handlungen zum emotionalen Ausgleich eingesetzt. Sexualität ist tatsächlich der Kitt, der diese Gemeinschaften zusammenhält und alle möglichen Spannungen löst. Man wird bei einer solchen Generalisierung unwillkürlich an Sigmund Freud erinnert, der behauptet hat, dass jede emotionale Erregung einer entsprechenden „Abfuhr“ bedürfe und die kulturelle Behinderung gerade der sexuellen „Abfuhr“ jedes Mitglied „Instead of a few days out of her cycle, the female bonobo is almost continuously sexually attractive and active” (1995, 86). 3 2 einer Gesellschaft wie auch die Gesellschaft insgesamt krank mache. In der Welt der Bonobos wäre Freud völlig fehl am Platz. Oder deren Gott. Wenn wir zu dem allgemeinen Schluss kommen, dass sexuelle Aktivitäten das soziale Leben der Bonobos in vielen wesentlichen Bereichen maßgeblich regeln, dann erhebt sich natürlich die Frage, wie sie das im konkreten Detail tun. Kurzum: Wer verkehrt wie mit wem? Und auch zu dieser Frage haben die Bonobos einiges an Überraschungen zu bieten. Wenn wir es in einem Satz zusammenfassen müssten, dann könnten wir ohne nennenswerte Abstriche sagen: Jeder verkehrt mit jedem. Männchen mit Weibchen sowieso, aber auch Männchen untereinander und noch deutlich verstärkt Weibchen untereinander. Und schließlich, jeder Form von politischer Korrektheit abhold, verkehren auch in jeder der angeführten Konstellationen Erwachsene mit Jungtieren. Wenn sich der erste Schreck dieser Sodom und Gomorra heraufbeschwörenden Praxis gelegt hat, wird sich zuallererst die Frage einstellen, wie denn das vonstatten geht. Welche sexuellen Praktiken sollten es denn ermöglichen, dass …? Die Puritaner unter uns werden sich trotz grundverschiedener Haltungen mit den liberalen, politisch Korrekten in einer sonderbaren Einheit wieder finden und sich schaudernd abwenden. Ist den einen die gleichgeschlechtliche Sexualität ein zutiefst sündiger Dorn im Auge, so ist den anderen eine Generationen übergreifende Sexualität grundsätzlich ein krimineller Akt. Bei den Bonobos ist beides nicht der Fall. Wie gelingt ihnen das? Wie ist es möglich, sexuelle Aktivitäten so zu gestalten, dass die vermeintlich normale Fixierung auf geschlechtsreife Männchen und Weibchen keine Rolle zu spielen scheint? Wir haben die Antwort darauf schon erhalten: Durch die nahezu vollständige Loslösung sexueller Aktivitäten von der Funktion der Reproduktion, von vorgegebenen Rhythmen. Aber das klingt ein wenig spröde und ist deshalb als befriedigende Antwort denkbar ungeeignet. Was ist damit konkret gemeint? Nichts weniger als dass Sexualität eben nicht mehr sexuell in einem engeren Sinne ist oder dass Sexualität fast nichts mehr damit zu tun hat, was wir darunter verstehen. Paradox formuliert heißt das, dass die sexuellen Aktivitäten der Bonobos eben nicht sexuell sind, sondern eine soziale Methode, das gemeinschaftliche Leben möglichst konfliktfrei zu gestalten. Kommen wir damit zu der pikanten Frage nach dem Wie. Den Bonobos gelingt es dabei ein weiteres Mal, uns reichlich zu überraschen. Sie sind die einzigen Menschenaffen, die eine breite Palette von Sexualpraktiken entwickelt haben, die der unseren nicht nur in nichts nachsteht, sondern in ihrer Vielfältigkeit die jeweils beschränkten Muster einzelner menschlicher Kulturen sogar deutlich übersteigt. Bonobos sind neben uns die einzigen Hominoiden, bei denen Genitalmassage, oraler Sex und ausgiebige Zungenküsse zum gewöhnlichen Repertoire gehören. Sie haben eine ganze Reihe besonderer Praktiken entwickelt, von denen hier nur einige wenige erwähnt seien. Die bekannteste ist wohl die in der angloamerikanischen Literatur als „GG rubbing“ bezeichnete wechselseitige sexuelle 3 Befriedigung von Weibchen. Sie begeben sich dazu in eine halb sitzende, halb stehende Position von Angesicht zu Angesicht, umarmen einander und reiben ihre Genitalien gegeneinander. Die dabei geäußerten Grimassen und Laute lassen keinen Zweifel darüber aufkommen, dass sich dabei orgasmische Empfindungen einstellen. Nicht anders bei den Männchen. Sie pflegen entweder ein Reiben der Genitalien gegen den Hintern des Gegenübers oder frönen dem „penis-fencing“, bei dem sie ebenso von Angesicht zu Angesicht in den Ästen hängend ihre Penise gegeneinander reiben. Auffallend ist jedenfalls, dass die sexuelle Begegnung der Bonobos in vielfacher Hinsicht von Angesicht zu Angesicht stattfindet. Und auch das unterscheidet sie markant von allen anderen Primaten. Nach den bisherigen Beobachtungen vollziehen sie mindestens ein Drittel ihrer sexuellen Aktivitäten von Angesicht zu Angesicht. Dem entspricht, wie Frans de Waal ausdrücklich anmerkt, die deutlich frontale Position von Vagina und Klitoris, die offensichtlich genau diesem Zweck entspricht.4 Unsere Ausgangsfrage nach dem kausalen Zusammenhang von Zweibeinigkeit und (frontaler) Sexualität ist damit freilich noch nicht zweifelsfrei beantwortet. Aber wir können zumindest festhalten, dass Bewegungsweise und Sexualpraxis deutlich korrelieren. Am wahrscheinlichsten scheint mir daher ein positiv rückgekoppelter Prozess zu sein, an dessen Beginn die beschriebene fakultative Zweibeinigkeit (einschließlich „aufgerichtetem“ Hangeln an den Ästen) steht, die frontalen Sexualpraktiken genügend Raum bietet, so dass diese wiederum die Tendenzen zur „aufrechten“ Daseinsweise verstärken können. Stimmig ist dieser Zusammenhang allerdings nur dann, wenn gleichzeitig die Lockerung der sexuellen Zyklen die Häufigkeit sexueller Kontakte deutlich erhöht. Wenn es keine ausgeprägte periodische Steuerung sexuellen Verhaltens gibt und prinzipiell jeder mit jedem sexuell verkehrt, dann können einige der ansonsten üblichen Begleiterscheinungen von Sexualität erst gar nicht aufkommen. Zuallererst ist hier die bevorzugte Partnerwahl und damit zusammenhängend die Konkurrenz zu nennen. Wenn ohnehin jeder mit jedem darf und kann, erübrigt sich das zeitraubende und konfliktträchtige Getue der Männchen von selbst. Ebenso ist es bei dieser sozialen Praxis von Sexualität denkbar unwahrscheinlich, dass dauerhafte sexuelle Bindungen oder gar ein regelrechtes sexuelles Besitztum entstehen oder sich halten können. Und schließlich ist es offensichtlich, dass die Praxis der Bonobos jeden wahrnehmbaren Zusammenhang zwischen Sexualität und Reproduktion geradezu ausschließt. Die Aufzucht der Jungen ist ausnahmslos Sache der Weibchen, die Männchen haben dazu keinerlei Bezug. Es scheint allerdings eine Ausnahme von dieser allgemeinen Regel der Austauschbarkeit zu geben. Alle bisherigen Beobachtungen an Bonobos haben niemals einen sexuellen Kontakt zwischen einer Mutter und einem ihrer erwachsenen Söhne feststellen können. Ob, wie und warum es sich dabei „Furthermore, the frontal orientation of the bonobo vulva and clitoris strongly suggests that the female genitalia are adapted for this position” (1995, 84). 4 4 um eine Art Tabu handelt, kann noch nicht mit Sicherheit gesagt werden.5 Deutlich dafür spricht, dass männliche Bonobos zeit ihres Lebens ihrer Mutter verbunden bleiben und sie in allen Belangen ihres Daseins unterstützen. Diese scheinbar einzige exklusive verwandtschaftliche Beziehung bestimmt denn auch den sozialen Status der Männchen. Und damit sind wir auch schon bei der nächsten Überraschung angelangt. Wie bei den Schimpansen herrscht auch bei den Bonobos die Sitte, dass geschlechtsreife Weibchen ihre Herkunftsgruppe verlassen und Anschluss an eine andere Gruppe suchen. Aber damit ist der Gemeinsamkeit auch schon genug. Denn eine junge Bonoba6 startet ihr Ansuchen um Aufnahme mit einem eindeutig sexuellen Angebot an eine oder mehrere der älteren Bonobas der ausgewählten Gruppe. Wird es angenommen und zumeist auch gleich umgesetzt, so befindet sich die neu hinzugekommene junge Bonoba fortan unter dem Schutz ihrer erwählten älteren Patin. Wir stoßen hier auf eine fundamentale Stufung im Sozialleben der Bonobos, die die bisher beschriebene, scheinbar unterschiedslose Egalität deutlich differenziert. Obwohl die männlichen Bonobos ihr gesamtes Leben in jener Gruppe verbringen, in der sie geboren wurden und somit jeden ihrer Geschlechtsgenossen von klein auf kennen, bilden sie – anders als die Schimpansen – keine männlichen Verbrüderungsgemeinschaften. Der Umgang der männlichen Bonobos miteinander ist vergleichsweise wenig intensiv und kaum organisiert. Die einzige dauerhafte Bindung eines männlichen Bonobos ist wie schon gesagt die zu seiner Mutter. In einem schroffen Gegensatz dazu stehen die gleichgeschlechtlichen Beziehungen der Bonobas. Sie pflegen generell einen viel ausgiebigeren Kontakt untereinander und haben darauf aufbauend eine regelrechte soziale Hierarchie entwickelt. Rund um einige ältere Bonobas bilden sich weibliche Clans, die einander zwar in keiner Weise feindselig gegenüberstehen, aber doch klar erkennbar Beistands- und Schutzgemeinschaften sind. Das besonders Auffallende daran ist, dass diese Clanbildungen eben nicht auf Verwandtschaftsbeziehungen beruhen und daher auch nicht durch einen Rückgriff auf vermeintlich genetische Fakten erklärt werden können. Es handelt sich vielmehr ganz offensichtlich um echte Traditionsgemeinschaften, die die ansonsten allgemein geltende Regel, dass verwandte oder in der Herkunftsgemeinschaft verbleibende Individuen die stärksten sozialen Bindungen entwickeln, nachhaltig erschüttert. Einen wirklich stichhaltigen Grund dafür gibt es nicht. Die vordergründige Hypothese, dass dies mit der „paradiesischen“ Umwelt des Waldes zu erklären sei, überzeugt auch Frans de Waal nicht.7 Vor allem deshalb, weil wir es bei den Dieses „Tabu“ teilen die Bonobos mit den Schimpansen. Ein vergleichbares Tabu zwischen Vätern und ihren erwachsenen Töchtern erübrigt sich, da geschlechtsreife Weibchen ihre Geburtsgruppe verlassen 6 Wenn ich mit dem Begriff Bonoba eine eigene Weiblichkeitsform von Bonobo einführe, so hat dies weniger systematische Gründe, sondern ist eher auf eine ganz persönliche Abneigung zurückzuführen. Je mehr sich im Zuge der Darstellung bonobischen Lebens herausstellt, dass wir es mit einer uns sehr ähnlichen Lebensform zu tun haben, desto mehr widerstrebt mir einfach die Verwendung des ohnehin unschönen Begriffs „Weibchen“. 7 „The answer may lie in the different ecological environments of bonobos and chimpanzees – such as the abundance and quality of food in the forest. Bur it is uncertain if such explanations will suffice” (1995, 85). 5 5 Bonobos nicht nur mit einer auf weibliche Seilschaften zentrierten Gemeinschaft zu tun haben, sondern mit einer, in der diese weiblichen Clans das gemeinschaftliche Leben regelrecht dominieren. Mag es bei der sexuellen Befriedigung lockere Freiräume geben, so hört sich dies bei der Nahrungsverteilung auf. Hier sind es immer und ausschließlich die Bonobas, die zuerst zum Zug kommen, während die Bonobos höchst unruhig und zuweilen vergeblich bettelnd warten müssen, bis das weibliche Mahl beendet ist. Diese Rangordnung bei der Nahrungsaufnahme ist bislang ausnahmslos in allen Bonobogemeinschaften beobachtet worden, in ihrem angestammten Milieu ebenso wie in den verschiedensten Zoos. Noch deutlicher zeigt sich die weibliche Dominanz bei zwischengeschlechtlichen Konflikten. Allfällige männliche Übergriffe auf eine Bonoba haben von vornherein keine Chance auf Erfolg. Sofort sind mehrere Bonobas zur Stelle, die den Konflikt allein durch ihre kollektive Präsenz beenden bevor er noch richtig begonnen hat. Man darf dieses „Matriarchat“ der Bonobas weder überbewerten noch in seiner Bedeutung herunterspielen. Tatsache ist, dass Bonobogemeinschaften sozial durch ein Gefüge von weiblichen Clans strukturiert sind, denen die Söhne der Mütter assoziiert sind. Eine eigenständige männliche Sozialstruktur ist nicht entwickelt. Der Status eines männlichen Bonobos innerhalb der Gruppe seiner Geschlechtsgenossen ist ausschließlich über die gesellschaftliche Position seiner Mutter definiert. Ebenso eine Tatsache ist jedoch, dass dieses „Matriarchat“ im gewöhnlichen Alltag das Leben der männlichen Bonobos nicht zwangsläufig einschränkt. Eine Bonobogemeinschaft ist grundsätzlich egalitär strukturiert und man darf angesichts der Beispiele aus anderen Primatengemeinschaften, insbesondere der der Schimpansen, mit einiger Berechtigung vermuten, dass es gerade die zumeist verhaltene soziale Dominanz des Weiblichen ist, die der Bonobogemeinschaft ihren egalitären Charakter verleiht und bewahrt. Das gilt auch und vor allem für ihre soziale „Grundwährung“, ihre beispiellose sexuelle Variabilität. Denn auch diese fußt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf der weiblichen Innovation der Deregulierung des Östrus, der mehr oder weniger dauerhaften Präsentation der rot glänzenden Schwellungen einer nach vorne verlagerten Vulva. Ich kann an dieser Stelle einfach nicht umhin, einen Vorgriff auf Späteres zu wagen. Ist diese bei aufrechtem Gang frontale, rot glänzende Vulva nicht vielleicht die Ahnherrin des mythischen roten Apfels im Buch Genesis? Als ob all das nicht schon genug wäre, halten die Bonobos aber noch eine weitere Überraschung für uns bereit. Schimpansen sind dafür bekannt, dass sie in ihrer natürlichen Umwelt eine ganze Reihe von Techniken anwenden, die man mit gutem Recht als echten Werkzeuggebrauch bezeichnen kann. Bonobos zeigen solche Verhaltensweisen in ihrer natürlichen Umwelt nicht. Sie sind neugierig und spielerisch in ihrem Verhalten, haben aber keinerlei „handwerkliche“ Traditionen kultiviert. Ihre Lebensweise in einem nahezu perfekten 6 „Garten Eden“ verlangt das auch nicht. Nahrung ist im Übermaß vorhanden, braucht nur gepflückt zu werden. Es wäre also zu erwarten, dass Bonobos gegenüber ihren lebensweltlich weitaus mehr geforderten Vettern eine intellektuell weniger anspruchsvolle Existenz pflegen. Umso erstaunlicher muss es dann aber anmuten, wenn Bonobos aus ihrem angestammten Habitat entfernt werden und in einer menschennahen Umgebung Verhaltensweisen entwickeln, die weit über das bisher von Schimpansen bekannte Repertoire hinausreichen. Der Vergleich ist vor allem deshalb so frappierend, weil die beeindruckendsten Ergebnisse mit Schimpansen in der Regel dort erzielt wurden, wo die Tiere exklusiv in menschlicher Gemeinschaft aufgezogen wurden. Das ist nun aber bei dem hier vorzustellenden Bonobo-Projekt keineswegs der Fall. Die Bonobo-Kolonie der amerikanischen Primatologin Susan Savage-Rumbaugh besteht aus einer Gruppe von acht Individuen, Erwachsenen und Jungen, der wie in ihrem primären Lebensraum eine Matriarchin vorsteht, die im Kongo geborene Matata. Das soziale Leben der Gruppe ist, gemessen an den besonderen Bedingungen einer künstlichen Kolonie mit starker menschlicher Beeinflussung, durchaus artgemäß zu nennen. Mit einer vielleicht bezeichnenden Ausnahme. Kanzi, der „Sohn“ von Matata und damit das ranghöchste Männchen der Gruppe, ist nicht ihr leibliches Kind. Sie hatte ihn kurz nach seiner Geburt dessen Mutter, einem rangniedrigeren Weibchen, regelrecht entwendet und ihn quasi als ihren Adoptivsohn großgezogen. Es ist müßig, über die Bedeutung dieses Vorgangs zu spekulieren. Wahrscheinlich handelt es sich ja um eine Variante jenes bloßen Zufalls, den wir von den Epigonen der Evolutionstheorie nur allzu gut kennen.8 Tatsache aber ist, dass Kanzi durch diesen Umstand vom frühesten Säuglingsalter an dem mit Matata gerade erst begonnenen Programm zur Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten zwangsläufig beiwohnen musste, ohne freilich das geringste Interesse dafür erkennen zu lassen. Wie schon bei den mit Schimpansen durchgeführten Projekten bestand Matatas Aufgabe darin, mittels einer Tastatur mit so genannten Lexigrammen, einfachen Symbolen für Begriffe der englischen Sprache, den Zusammenhang von Lexigramm und Bedeutung zu lernen und so mit den Menschen eine Kommunikation nach deren Muster aufzubauen. Zwei lange Jahre lang dauerten die Bemühungen an. Aber die in der Freiheit des kongolesischen Regenwalds geborene und aufgewachsene Matriarchin zeigte kaum Fortschritte. Die englische Sprache blieb ihr allen Versuchen zum Trotz nachhaltig fremd. Gerade als sich die Resignation im Team um Susan Savage-Rumbaugh breit machen wollte, trat der kindliche Kanzi auf den Plan. Während einer kurzfristigen Abwesenheit seiner Mutter wurde er dabei beobachtet, wie er scheinbar höchst kompetent mit den Lexigrammen auf der Tastatur hantierte. Eine sofort eingeleitete Überprüfung ergab, dass der erste Eindruck keineswegs getäuscht hatte. Mit nur wenig Unterstützung beherrschte Kanzi innerhalb kürzester Zeit die zehn Lexigramme, an In vielen alten – allerdings menschlichen – Mythen ist der künftige Kulturheros einer, der nicht von seiner Mutter, sondern einer anderen, zumeist sozial höhergestellten Frau großgezogen wird. 8 7 denen seine Mutter zuvor gescheitert war. Und in der Folge lernte er sehr schnell einige hundert dieser Lexigramme sinnvoll zu verwenden und über 3000 englisch gesprochene Worte zu verstehen. Wie ist das zu erklären? Immerhin wäre Kanzi damit der erste und bislang einzige Menschenaffe, der ohne direktes Training zumindest mit Grundzügen einer menschlichen Sprache vertraut wurde. Für Savage-Rumbaugh liegt der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage zuallererst in der möglichst frühen Einbindung in einen Kontext des Menschlichen. Das ist zweifellos richtig und auch von unserer eigenen Art her an sich wohlbekannt. Nicht minder wichtig scheint mir aber eine zweite Bedingung zu sein. Wir unterwerfen unsere Kinder in ihren jüngsten Jahren normalerweise nicht ausgeklügelten Trainingsprogrammen. Und so ist es ganz offensichtlich auch für Kanzi die absichtslose, die nicht trainingsorientierte, also die schlicht alltägliche Einbindung gewesen, die diese Offenheit für die – wesentlich sprachlichen – menschlichen Interaktionsformen erzeugt oder hervorgerufen hat. Seine Lebenswelt wurde durch diese ungeplante Vorgangsweise nicht strikt getrennt in äffischer Alltag hier und menschliche Experimente dort. Beide Lernsituationen waren vielmehr dadurch verschränkt, dass sie für ihn gleichermaßen naturwüchsig daherkamen. Verstärkt wird diese Wirkung noch, wenn zumindest ein weiteres Jungtier an einem solchen Prozess teilnimmt. Und auch hier war die Überraschung im Team von Savage-Rumbaugh groß, als diese Dimension erstmals entdeckt wurde. „Zu Beginn des Projekts hatten wir den Eindruck, dass Kanzi versuchte, zu seinen Pflegern zu sprechen, und wir konnten zeigen, dass er eine Reihe von Lauten produzierte, die bei Bonobos in einer vergleichbaren Kolonie in Gefangenschaft nicht zu hören sind. Kanzi hat nicht nur mit seinen Betreuern in dieser Lautsprache kommuniziert, sondern auch mit Matata, seiner Adoptivmutter. Matata hat ihre Lautsprache allerdings im Kongo erworben und ist mit menschlicher Sprache nicht vertraut. Auch wenn Kanzi im Rahmen der anatomischen Gegebenheiten seines Stimmtrakts zu sprechen versuchte, war es unwahrscheinlich, dass seine Mutter diese Versuche verstand.“9 Diese isolierte Position Kanzis veränderte sich erst als seine Schwester, Matatas leibliches Kind Panbanisha, unter vergleichbaren Bedingungen heranwuchs. Auch sie zeigte zunächst ähnliche Versuche, mit ihren Pflegern zu sprechen. Eines Tages aber kam es zu einem unerwarteten Kurzschluss. Kanzi und Panbanisha begannen miteinander zu reden. „Erstmals haben zwei Bonobos, die in einer intellektuell stimulierenden Umgebung aufwuchsen, über eine Lautsprache miteinander kommuniziert. Die Laute, die Kanzi und Panbanisha austauschen, klingen mitunter wie eine Nachahmung menschlicher Sprache und dann wieder wie eine Imitation der Lautsprache Matatas – als ob sie zweisprachig wären.“ So großartig sich das auch anhört, so differenziert muss es freilich bewertet werden. Zweifellos sprechen die beiden Bonobos mit ihren Pflegern und untereinander kein wirkliches 9 Dieses und alle weiteren Zitate Susan Savage-Rumbaughs in diesem Abschnitt sind einem Vortrag entnommen, den sie 2005 auf dem Symposion „Hybrid – living in paradox“ in Linz hielt. 8 Englisch, wie es unter Menschen, die dieser Sprache mächtig sind, üblich ist. Es ist vielmehr eine eigens entwickelte lautliche Ausdrucksweise, die die menschliche Sprechweise (einschließlich deren nonverbaler Gesten) zwar nach den Gegebenheiten der Bonobos nur nachahmt, die aber dennoch umgekehrt auch von Menschen, die an dem Bonobo-Projekt völlig unbeteiligt sind, durchaus verstanden wird. Ist das nun eine der menschlichen vergleichbare Sprache oder nicht? Wir werden diese Frage hier nicht klären können, bevor wir nicht die viel grundsätzlichere Frage beantwortet haben, was denn eine menschliche Sprache überhaupt ist. Das würde aber hier zu weit führen. Die Bonobos von Susan Savage-Rumbaugh heben sich gegenüber ihren Artgenossen und nahen Verwandten aber nicht nur durch ihre Kommunikationsweise hervor. Kanzi und mit einigem Abstand auch die jüngere Panbanisha haben gelernt, Steinwerkzeuge selbständig durch Abschlagen herzustellen, wenn sie diese benötigen. Kanzi kann darüber hinaus „Material sammeln, Feuer machen und dieses auch wieder löschen. Er war auch rasch imstande, Futterpflanzen anzubauen und zu betreuen“. All diese Fähigkeiten werden von anderen Bonobos, die nicht von klein auf in einem menschlichen Kontext lebten, trotz intensivster Versuche nicht einmal ansatzweise erreicht. Es scheint also so zu sein, dass es in der ontogenetischen Entwicklung von Bonobos ein frühes Zeitfenster gibt, jenseits dessen neue Lernprozesse nicht mehr oder jedenfalls nicht ausreichend erfolgreich wirksam werden können. Im Prinzip sind solche zeitlichen Beschränkungen der Lernfähigkeit bei den verschiedensten Tierarten längst bekannt und daher im Falle der Bonobos auch nicht weiter überraschend. Aber Savage-Rumbaugh geht noch einen Schritt darüber hinaus. „Neuere genetische Forschungen lassen zunehmend den Schluss zu, dass sich Umweltvariable ab dem Zeitpunkt der Empfängnis stark auf die Ausprägung von genetischen Variablen auswirken. Leichte Änderungen der Zeitabläufe, eventuell als Folge von Umweltvariablen, können sich direkt auf den Phänotyp auswirken. Wir glauben, dass wir diesen Effekt bereits bei Jungtieren sehen, deren Mütter eine unterschiedliche Entwicklung hinter sich haben. Dass Matata in der Wildnis aufgewachsen ist, hat zu kürzerer Trächtigkeit, kleineren Jungen, kürzeren Wehen und einer rascheren Milchbildung nach der Geburt geführt. Dass Panbanisha in menschlicher Obhut aufgewachsen ist, hatte längere Trächtigkeit, höheres Geburtsgewicht, längere Wehen und eine später eintretende Milchbildung nach der Geburt zur Folge. Da Matata Panbanishas Mutter ist, ist sehr wahrscheinlich, dass diese Veränderungen die Folge von Umweltvariablen sind, die sich in einer einzigen Generation direkt auf den Phänotyp ausgewirkt haben.“10 10 Es ist nicht klar erkennbar, ob sich Savage-Rumbaugh hier auf die im selben Jahr 2005 publizierte These des schon mehrfach erwähnten Zellbiologen Bruce Lipton bezieht. Die Wahl ihrer Worte spräche jedenfalls dafür. Der Einfluss pränataler Bedingungen auf die phänotypische und ontogenetische Entwicklung von Menschen wurde übrigens im selben Jahr in Deutschland von Gerald Hüther überzeugend dokumentiert. 9 Wir kennen diese Hypothese schon. Wir haben sie versuchsweise eingeführt, um die ansonsten kaum verständliche „Evolution“ des aufrechten Gangs zu erklären. Ein nachhaltiger Beweis für die Richtigkeit unserer Annahme ist das natürlich noch lange nicht. Die mehr oder weniger abrupte Versetzung von Bonobos aus ihrem angestammten Milieu in ein ausgeprägt menschliches Umfeld kann wohl kaum als Beispielfall für die ursprüngliche Entwicklung von Menschsein genommen werden. Aber sie zeigt uns mehr als deutlich, welches Potential in einer äffischen Lebensart steckt, die sich in ihren Grundzügen kaum von jener unterscheidet, die wir im Zuge der Analyse der alten Knochen als jene unserer Vorfahren erschlossen haben. Ich möchte noch einmal betonen, dass die gegenwärtige Lebensweise der Bonobos selbstverständlich kein zwingender Beweis dafür ist, dass sie allein die mutmaßliche Ausgangsposition des Menschlichen repräsentieren. Aber nach allem was wir bisher erarbeitet haben, spricht auch kaum etwas dagegen. Immerhin sind sie die einzigen rezenten Menschenaffen, die in eben jenem Milieu leben, das wir als das der unmittelbaren Vorfahren des Homo rekonstruieren konnten. Jegliche Spekulation darüber, dass die Vorfahren der Bonobos ein anderes Habitat bewohnt hätten und gewissermaßen erst sekundär in den Wald zurückgekehrt wären, ist durch keinerlei Fakten und auch nicht durch plausible Gründe zu rechtfertigen. Wir müssen also mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass die besondere Lebensart der Bonobos in eben jenem Milieu entstand, das auch die Australopithecinen bewohnt hatten. Im Nachhinein betrachtet ist dies eigentlich auch die einzige Hypothese, die wirklich Sinn macht. Wir sind in der Regel durch die strikten Scheuklappen, die uns die militante Selektionstheorie anlegt, nicht in der Lage, die allzu offensichtlichen Fragen zu stellen. Geradezu umgekehrt entwickeln wir eine unglaubliche Kreativität in der Produktion von Antworten auf Fragen, die allein die Theorie als solche aufwirft. Probieren wir das doch einmal am Beispiel der rezenten Bonobos durch. Welcher äußere Selektionsdruck hat dazu geführt, dass die Bonobos ein Matriarchat entwickelt haben? Welchem starken Anpassungsdruck mussten die Bonobos folgen, um ihre eigenartige sexuelle Praxis zu entwickeln? Und schließlich: Welchen ungemein starken Überlebensvorteil hat die implizite kulturelle Kompetenz der Bonobos? Wir stehen vor einem Rätsel. Bei der Produktion von Antworten auf vergleichbare Fragen hinsichtlich der Australopithecinen tun wir uns hingegen viel leichter. Wir konstruieren diverse ausgesuchte Milieubedingungen, die solche Entwicklungen geradezu zwingend machen würden. Was aber machen wir im Fall der Bonobos? Hier ist das Milieu vorgegeben und bietet als solches keinerlei greifbare Ansatzpunkte für rigide Selektionsbedingungen. Ganz im Gegenteil haben wir es mit einem Milieu zu tun, das vom Standpunkt des physischen Überlebens aus als geradezu paradiesisch bezeichnet werden kann. Es gibt 10 Nahrung im Überfluss und so gut wie keine bedrohlichen Fressfeinde.11 Anstatt nun aber diesen Mangel an theoretisch zwingendem „Kampf ums Dasein“ durch die Entwicklung innerartlicher Konkurrenzen zu simulieren, haben die Bonobos den genau gegenteiligen Weg gewählt und diese über ihre eigenartig sexuelle Sozialordnung weitgehend ausgeschaltet. Es hat geradezu den Anschein, als ob die Lebensweise der Bonobos einzig und allein dem überaus starken Selektionsdruck gehorchen würde, eben jene Selektionstheorie zu widerlegen. Das mag auf den ersten Blick kaum mehr als ein simples Bonmot sein. Aber dahinter verbirgt sich eine durchaus unangenehme Wahrheit für die militanten Evolutionisten. Ist die Kreativität der „Evolution“ nicht vielleicht dort am größten, wo der selektive „Kampf ums Dasein“ am geringsten ist? Wir werden diese Frage in ihrer Allgemeinheit hier natürlich nicht beantworten können. Hinsichtlich der Entstehung von Menschsein aber haben wir einen guten Grund mehr, alle klassisch „evolutionären“ Szenarien in das Reich einer mythologischen Propaganda zu entlassen, ja zu verbannen. Das Beispiel der Bonobos zeigt uns eindeutig, dass eine Entwicklung hin zu Lebensweisen, die den menschlichen sehr nahe kommen, durch keinerlei äußeren Anpassungsdruck, sondern geradezu umgekehrt durch das weitestgehende Fehlen eines solchen möglich wird. Es ist, um es überspitzt zu formulieren, die Freiheit, die der Garten Eden bietet, die an der Wiege des Menschseins Pate steht. Und es ist nach einer klassischen Formulierung von Erich Fromm nicht die Freiheit von etwas, sondern die Freiheit zu etwas, die dabei zum Ausdruck kommt. Die Bonobos haben den Freiraum ihrer überaus vorteilhaften Lebensbedingungen dazu genutzt, eine Lebensordnung zu entwickeln, die in weiten Teilen ausschließlich ihren internen Bedingungen, ihrem sozialen Leben entspringt. Sie konnten es sich leisten, innerhalb ihrer begünstigten natürlichen Welt einen sozialen Spielraum zu schaffen, der den anderer und selbst den nächstverwandter Arten um Längen überschreitet. Ich möchte den Begriff Spielraum, der noch eine ausgeprägte Rolle bei unseren weiteren Überlegungen einnehmen wird, in seiner ganzen Doppeldeutigkeit verstanden wissen.12 Es ist einerseits ein wohl definierter Rahmen, innerhalb dessen gewisse Variationen möglich sind und es ist andererseits ein weitgehend offener Rahmen, der phasenweise durchaus auch nahezu grenzenlose Spielereien zulässt. Beides hängt auf das Engste zusammen. Ein Raum zum kreativen, absichtslosen Spielen kann nur dort gewährleistet sein, wo gewisse feststehende Spielregeln dessen Rahmen festlegen. Muss das so sein? Es kann gar nicht anders sein. Die gesicherte Reproduktion eines Mindestmaßes an bewährten Regeln ermöglicht erst den lockeren Umgang im Detail. Ein allzu freies Spiel mit Innovationen ohne deren Einbindung in gesicherte Netze birgt immer die Gefahr in sich, dass zutiefst vitale 11 Diese Behauptung spiegelt keineswegs die aktuellen Lebensbedingungen der Bonobos wider. Tatsächlich sind sie akut vom Aussterben bedroht. Verantwortlich dafür sind jedoch die Machenschaften des Menschen. 12 Ich habe die Grundidee, diese Vorgänge anhand des Modells eines Spielraums darzustellen, bereits 1997 in Ansätzen entwickelt und auf einem Symposium vorgetragen. Freilich unausgereift und daher ohne Erfolg. 11 Notwendigkeiten vernachlässigt werden und den Bestand des gesamten Systems in Frage stellen oder im schlimmsten Fall auch zunichte machen könnten. Und damit wären auch die vielleicht zukunftsweisenden Innovationen auf immer verloren. Daher muss ein prinzipiell innovatives System, um historisch überdauern und sich weiter entwickeln zu können, über ausreichende konservative Sicherungsmechanismen verfügen. Wenn es sich bei einem solchen System um eine genetische Population handelt, müssen diese konservativen Sicherungsmechanismen zuallererst der Reproduktion gelten, der Erzeugung einer ausreichenden Menge an Nachkommen, die in der Lage sind, die bisherige Daseinsweise fortzuführen und darüber hinaus eine zumindest hinlängliche Befähigung aufweisen, das bereits entwickelte innovative Potential des Spielraums weiter ausbauen zu können. Die Bonobos zeigen uns einen von vielleicht vielen möglichen Wegen, wie das vor sich gehen kann. Sie haben genau dort, wo die konservative Sicherung am dringendsten ist, bei der Reproduktion, die genetisch vorgegebenen Muster suspendiert. Sie haben ihren Spielraum so weit ausgedehnt, dass selbst die Reproduktion ihrer Lebensart in weiten Teilen in dessen potentiell dynamische Wirkungsmacht geraten ist. Anders und sehr konkret formuliert heißt das, dass sie die Reproduktion ihrer Lebensart dem strengen genetischen Muster entzogen haben. Es ist ansonsten keineswegs unbekannt oder ungewöhnlich, dass sozial lebende Populationen ihr genetisches Gedächtnis durch interaktive Erfahrungen ergänzen und sogar teilweise ersetzen.13 Und es ist ebenso mittlerweile eine Binsenwahrheit, dass es besonders das interaktive spielerische Verhalten sozial lebender Jungtiere ist, das eine solche Modifikation des genetischen Gedächtnisses geradezu befördert. Das aber heißt umgekehrt nichts anderes, als dass im genetischen Programm Sollbruchstellen eingebaut sein müssen, die einer Ergänzung durch interaktive Lernprozesse geradezu bedürfen. Die Bonobos zeigen uns nun beispielhaft, wie dieses mehrfach gesicherte Programm selbst an der gewichtigsten Stelle durchbrochen werden kann. Man mag die weit reichenden Schlussfolgerungen von Susan Savage-Rumbaugh, die sie aufgrund der dramatischen Veränderungen in wesentlichen biologischen Parametern bei den menschennahen aufgewachsenen Bonobos zieht, für überzogen halten. Und man mag das Fehlen einer ausreichenden empirischen Datenmenge zur Bekräftigung dieses Zweifels anführen. Dagegen ist formal auch nichts einzuwenden. Aber demonstriert nicht bereits das gewöhnliche Sozialleben der frei lebenden Bonobos die Stichhaltigkeit von SavageRumbaughs Hypothese? Wir haben gesehen, dass es keinen überzeugenden Hinweis und 13 Eines der bekanntesten Beispiele für einen solchen Prozess, der weitab von Säugetieren stattfindet, ist das erstmals von Konrad Lorenz beschriebene „Hassen“ der Krähen. Taucht im Umfeld einer Krähenschar ein Lebewesen auf, das mit einem schwarzen, baumelnden Gegenstand von etwa der Größe einer Krähe hantiert, so wird dieses Lebewesen mit lautem Geschrei bedacht. Es wird dafür „gehasst“, dass es sich mutmaßlich an einer Krähe vergangen hat. Von diesem Zeitpunkt an wird dieses und alle ihm ähnlichen Lebewesen auch ohne das fragliche Corpus Delicti „gehasst“ und damit als potentieller Fressfeind im kollektiven, interaktiven Gedächtnis der Schar erfasst. Taucht ein solches Lebewesen während eines kompletten Generationenwechsels der Schar nicht mehr auf, ist diese Information aus dem kollektiven, interaktiven Gedächtnis gelöscht. 12 schon gar keinen gültigen Beweis für eine dominant genetische Basis der Sozialordnung der Bonobos gibt. Das Geschäft der Reproduktion ihrer Lebensart liegt ausschließlich in den Händen hierarchisch gegliederter Clans von Bonobas, die definitiv nicht durch Verwandtschaftsgrade strukturiert sind. Alle bekannten Erklärungsmodelle der Soziobiologie laufen hier ins Leere. Wir müssen daher annehmen, dass sich dieses Regelsystem zwischen der interaktiv sozialen Ebene und der Ebene des genetischen Gedächtnisses als eine Ebene sui generis entfaltet hat. Ein solcher Vorgang aber ist – und ich wähle diesen Begriff mit vollem Bedacht – ein kulturhistorischer Prozess, der im Zuge seiner Entfaltung mehr und mehr die eigentliche Lebensrealität definiert. Der lebensweltliche Erfolg eines Bonobos oder einer Bonoba hat daher nur mehr sehr bedingt etwas mit deren genetischer Ausstattung zu tun. Der Erfolg eines Individuums ist vielmehr in dessen Position innerhalb der sozialen Rangordnung gegeben. Und diese beruht ausschließlich im Falle der männlichen Bonobos auf einer genetischen Verwandtschaft, in einem sozialen Segment also, dessen gesellschaftliche Wertigkeit relativ gering ist. Die Rangordnung der sozial dominierenden Bonobas hingegen fußt zur Gänze auf reinen Wahlverwandtschaften und ist damit von genetisch-sexuellen Bedingungen vollständig abgekoppelt. Der biologischen Selektion fehlt also im entscheidenden Segment der bonobischen Lebenswelt schlicht die nötige Angriffsfläche. Ist sie damit schon endgültig ausgeschaltet? Das ist schwer zu sagen. Wenn es überhaupt einen Selektionsdruck in der Welt der Bonobos gibt, dann könnte dieser nur in jenem Bereich ansetzen, den wir bisher Enterbung genannt haben. Die im Rahmen der bonobischen Sozialordnung genetisch begünstigten Individuen wären demnach jene, deren Erbgut ein höheres Maß an ontogenetischer Flexibilität zulässt. Es ist allerdings nicht wirklich ersichtlich, wo angesichts der wahllosen sexuellen Praxis der Bonobos ein solcher Selektionsdruck ansetzen sollte. Die begünstigten Bonobas hätten zwar aufgrund ihrer gesteigerten Lernfähigkeit und dem damit verbundenen kreativen Potential die besten Möglichkeiten, in der Hierarchie der Clans eine hervorragendere Position einzunehmen. Aber es gibt keinen überzeugenden Grund, warum deren biologische Nachkommen eine erhöhte Überlebenswahrscheinlichkeit haben sollten. Denn erstens besteht der Vorteil der weiblichen Nachkommen ja neuerlich primär darin, eine bessere soziale Position in einer anderen als ihrer Geburtsgemeinschaft zu erreichen, während die in der Geburtsgruppe verbleibenden männlichen Nachkommen ihren sozialen Status ohnehin schon ihrer biologischen Herkunft verdanken. Weit schwerer noch wiegt aber ein zweites Argument. Es gibt aufgrund der bisherigen Beobachtungen an Bonobos keine erkennbare Tendenz zu einer geschlechtlichen Auswahl. Das bereits mehrfach erwähnte völlige Fehlen eines Zusammenhangs von Sexualität und Reproduktion schließt eine solche schon von vornherein aus. Der für uns so nahe liegende Umstand, dass sich in ihren sozialen Interaktionsmöglichkeiten fortgeschrittenere Individuen verstärkt paaren (weil sie einander attraktiver finden) ist 13 aufgrund der sozialen Funktion von Sexualität in einer Bonobogemeinschaft einfach nicht gegeben. Wir müssen daher zu dem Schluss kommen, dass, wenn wir überhaupt von einem Selektionsdruck reden wollen, dieser ausschließlich in der sozialen Organisation der Bonobos begründet sein kann und als Tendenz zur Enterbung wirksam wird. Wir können aber nicht genau angeben, wie dieser soziale Druck auf das Genom wirkt.14 Wir sollten uns von dieser kleinen Unstimmigkeit jedoch nicht beirren lassen. Geht es dabei doch um einen aus gut gesicherten Beobachtungsdaten entwickelten Widerspruch zur sakrosankten Evolutionstheorie. Und darin haben wir ja schon einige Übung. So interessant die Welt der Bonobos für sich betrachtet auch ist, haben wir sie doch aus einem ganz bestimmten Grund besucht. Am Ende dieses Abschnitts steht daher die Frage, welche Einsichten wir von dieser Visite für unsere primäre Frage nach der Entwicklung von Menschsein mitnehmen können. Die erste und grundlegendste ist wohl die, dass unsere Rekonstruktion der Lebenswelt unserer Vorfahren knapp vor dem Auftauchen des Homo habilis eine beeindruckende Bestätigung erfahren hat, einen lebenden Beweis sozusagen. Das ist nicht misszuverstehen. Die Einzelheiten der bonobischen Welt können selbstverständlich nicht eins zu eins auf die Lebenswelt der Australopithecinen übertragen werden. Mit geht es bei diesem Vergleich ausschließlich darum, zu zeigen, dass die von den meisten Anthropologen entworfenen Szenarien zur menschlichen Vorgeschichte eher geeignet sind, die Evolutionstheorie zu beweisen als eine plausible und verständliche Erhellung der Wurzeln des Menschlichen zu bieten. Die Bonobos sind jene Menschenaffen, die mit Abstand am häufigsten den „aufrechten Gang“ pflegen, den sexuellen Zyklus weitgehend abgeschafft haben und innerhalb eines breiten Spektrums an sexuellen Praktiken auch einzigartig jene von Angesicht zu Angesicht entwickelt haben. Unter menschlichem Einfluss zeigen sie uns darüber hinaus, dass sie durchaus in der Lage sind, einfache Kulturtechniken wie Steinwerkzeuge herstellen, Feuer machen und Pflanzen anbauen, zu erlernen und selbständig anzuwenden. Selbst eine lautliche und symbolische Kommunikation, die der menschlichen zumindest ähnelt, ist ihnen zugänglich. All diese einzelnen Errungenschaften werden aber noch überstrahlt und untermauert zugleich durch die unter Menschenaffen absolut einzigartige matriarchalische Sozialordnung, die gemeinsam mit der sexuellen Liberalität keinen anderen Schluss zulässt als die Welt der Bonobos mit vollem Recht eine kulturhistorische zu nennen, eine Welt, die sich zwischen dem genetischen Gedächtnis der gesamten Population und den sozialen Interaktionen der einzelnen Gruppen als eine eigenständige Realität entfaltet hat. Das schlussendlich Herausragendste an dieser Lebenswelt aber ist, dass es nicht den mindesten Hinweis dafür 14 In der genetischen Forschung wurden in den letzten Jahren abseits der medial dominierenden gentechnischen Errungenschaften eine Reihe von bahnbrechenden Hypothesen entwickelt, die unseren und den Ansatz von Savage-Rumbaugh untermauern. Im Wesentlichen geht es dabei genau um die hier geforderte direkte Wirkung von lebensweltlichen Einflüssen auf die Entfaltung des Genotyps zum Phänotyp (Lipton 2005). 14 gibt, diese unter Menschenaffen einzigartige Entwicklung als ein Produkt des evolutionären „Kampfs ums Dasein“ darzustellen zu müssen. Geradezu im Gegensatz zu dieser ach so harten These haben die Bonobos ihre Lebenswelt in einer Atmosphäre entwickelt, die jener des althebräischen Garten Edens durchaus nahe kommt. Sie haben sich in diesem glückseligen Ambiente schlicht die Freiheit erlaubt, ihren eigenen Weg zu gehen und der göttlichen Ordnung der genetischen Baupläne ihre genuin soziale bonobische Identität abzutrotzen. Ein Doyen der philosophischen Anthropologie, Arnold Gehlen, hat den Menschen mit bis heute anhaltender Wirkung als „Mängelwesen“ charakterisiert, als eine Lebensform, die der Sicherheit all der genetischen Strategien im „Kampf ums Dasein“ entbehrt. Eben deshalb sei der Mensch ein „Kulturwesen von Natur aus“, das seine natürliche Minderwertigkeit durch Kultur kompensieren muss. Die Bonobos zeigen uns, dass diese These in ihrer geläufigen Lesart nicht zwangsläufig stimmen muss, ja nicht einmal besonders wahrscheinlich ist. Aber man kann sie ja auch anders lesen. Gehlens Formulierung „Kulturwesen von Natur aus“ drückt einen genuinen Zusammenhang aus, der prinzipiell richtig ist und auch richtig sein muss. Wenn wir nicht annehmen wollen, dass Kultur schlicht vom Himmel gefallen ist, dann müssen wir von einer zwangsläufigen Verschränkung von Natur und Kultur ausgehen. Von den Bonobos lernen wir, wie das im Konkreten vor sich gehen kann. Sie haben den Spielraum des interaktiven Lernens, den sie mit vielen sozial lebenden Arten teilen, anders als diese über Generationen so ausgeweitet, dass er immer weitere Bereiche ihrer Lebenswelt durchdrungen hat. Ihr tagtäglicher Umgang miteinander und mit ihrer Umwelt wurde zunehmend jenen Mustern untergeordnet, die sie in ihrem interaktiven Spielraum entwickelt hatten. Genau so entsteht Gehlens vermeintliches „Mängelwesen“. Es ist ein Wesen, das zu seiner vollen Entfaltung der Teilnahme an einem über Generationen mehrfach überlagerten interaktiven Prozess bedarf. Es ist ein Wesen, das seine Kultur braucht, um überhaupt als solches existieren zu können. Es ist ein Wesen, das ohne Kultur einen Mangel hat. Nur so lässt sich die Paradoxie eines „Kulturwesens von Natur aus“ auflösen. Kultur, verstanden als kreative und historische Existenzweise aus einem interaktiven Spielraum heraus, ist älter als der Mensch und ganz sicher nicht dessen Erfindung unter einem obskuren Selektionsdruck. Kommen wir zu einem vorläufigen Abschluss. Auch wenn wir die Welt der Bonobos nicht in ihren Details mit jener der Australopithecinen in eins setzen, so sollte in diesem Abschnitt doch deutlich geworden sein, dass der Abstand zwischen einer äffischen Welt und der der Vor- und Frühmenschen nicht überbewertet werden darf. Wir haben die Existenzweise der Bonobos vor allem hinsichtlich ihrer Sozialordnung als eine kulturhistorische erkannt und gesehen, wie sie innerhalb eines menschlichen Kontexts erworbene kulturelle Errungenschaften scheinbar mühelos in ihre innerartliche, pardon, kulturelle Interaktion 15 integrieren. Das lässt keinen anderen Schluss zu als dass das interaktive Potential des bonobischen Spielraums sich offenbar bereits weit über die in ihrem angestammten Habitat gegebenen Erfordernisse hinaus entwickelt hat. Sie verfügen anders gesagt über weit mehr potentielle Fähigkeiten als dies in ihrer Lebenswelt notwendig wäre. Das ist freilich eine durchaus missverständliche Formulierung. Denn eine „potentielle Fähigkeit“ kann es natürlich streng genommen gar nicht geben. Entweder eine Fähigkeit wie etwa Feuer machen ist da oder sie ist nicht da. Keinesfalls aber ist sie irgendwo (z.B. in den Gehirnwindungen) vorgeformt. Denn dann wäre sie ja so etwas wie ein Instinkt. Nennen wir es daher besser eine potentielle Freiheit innerhalb des interaktiven Spielraums. Wenn wir also schlampig sagen, Bonobos verfügen über eine potentielle Fähigkeit zum Feuer machen, so soll das ausdrücken, dass die innerhalb ihres interaktiven Spielraums entwickelten Freiheitsgrade den kreativen Umgang mit Feuer ermöglichen oder doch zumindest nicht von vornherein verhindern. Von da aus bis zur tatsächlichen Entwicklung der Fähigkeit zum Feuer machen liegt freilich ein weiter Weg, der nicht vorherbestimmt und durchaus mit allerlei Zufälligkeiten gepflastert ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass frei lebende Bonobos die Fähigkeit zum Feuer machen entwickeln, ist annähernd so groß wie die, dass sie sie nicht entwickeln. Aber sie ist unvergleichlich größer als jene von Gibbons, Pavianen und selbst Gorillas. Das ist es, was ich mit Freiheit des interaktiven Spielraums meine. Der Möglichkeiten gibt es viele. Welche davon tatsächlich realisiert werden, hängt von den jeweils akuten Umgebungsbedingungen ebenso ab wie von den innerhalb des interaktiven Spielraums entwickelten Traditionen. Das ist in etwa die Situation, wie ich sie für die Australopithecinen bis zum Übergang zu jener umstrittenen Erscheinungsform vermute, die Luis Leakey Homo habilis genannt hat. Wir haben es trotz einer noch sehr affennahen Lebensweise bereits mit einer ausgeprägten kulturhistorischen Tradition zu tun, die sich zumindest ein gutes Stück weit über die alten genetischen Muster erhoben hat. Erinnern wir uns daran, dass die Anthropologen keine Einigkeit darüber erzielen konnten, ob das eine oder andere Steinartefakt, das als potentielles Werkzeug gedient haben könnte, erst dem Homo habilis oder bereits den Australopithecinen zuzuordnen wäre. Das ist aber gar nicht nötig. Die erhaltenen Reste dieser beiden vermeintlichen „Arten“ zeigen dermaßen viele Gemeinsamkeiten, dass es durchaus berechtigt erscheint, einen fließenden Übergang – und damit meine ich natürlich einen kulturhistorischen Übergang – anzunehmen. Das gilt auch noch für jene „Arten“, die im Umfeld des späten Homo habilis als „Übergangsformen“ zum Homo erectus gewertet wurden. Was sagt es uns denn, wenn die alten Knochen in immer kürzer werdenden Abständen ihre Variationsbreite erhöhen? Viele Möglichkeiten zur Interpretation haben wir ja nicht. Unsere sakrosankte Theorie belässt uns nur deren zwei. Entweder ist aus unerfindlichen Gründen die Mutationsrate sprunghaft gestiegen oder der Selektionsdruck hat 16 mit einem Mal eine bislang unerreichte Diversifikation erzwungen. Beides bedürfte einer jeweils eigenen Erklärung, die aber aufgrund der Sakrosanktheit, der geradezu magisch zu nennenden Wirkung dieser Begriffe in der Regel unterbleibt. Es ist eben so oder noch besser es hat eben so zu sein. Ich halte dem entgegen, dass eine Erklärung, die zwar nicht ausschließlich, aber doch in ihren Grundzügen der These einer kulturhistorischen Entwicklung folgt, die weitaus schlüssigere Alternative ist. 17