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Prof. Dr. Wjatscheslaw Daschitschew
Stalins Deutschlandpolitik 1945-1952
Motive Stalins in der Deutschlandpolitik
Mit diesem viel umstrittenen Thema habe ich mich schon in mehreren Publikationen
auseinandergesetzt1. In der westlichen und russischen Geschichtsschreibung gibt es eine
große Palette von Meinungen, Auffassungen und Deutungen der Hintergründe der
manchmal
schwer
erklärbaren
Wenden
und
Zickzackkurse
in
der
damaligen
Deutschlandpolitik Moskaus. Das liegt vor allem daran, daß es an zuverlässigen
Dokumenten fehlt, die ermöglichen könnten, den Sinn der persönlichen Entscheidungen
Stalins festzustellen. Im Unterschied zu Hitler, in dessen Hauptquartier seine
Lagebesprechungen, Aussagen, Befehle und Weisungen
protokolliert worden waren,
hinterließ Stalin den Historikern keine Akten und Belege solcher Art. Es scheint, als ob er
die Geheimnisse seiner Deutschlandpolitik mit ins Grab genommen hätte. Zu einer relativ
schlüssigen Einschätzung kann jedoch eine vergleichende
Analyse seiner Denk- und
Handlungsweise, seiner außenpolitischen Auffassungen von dem Kräftespiel auf dem
europäischen Kontinent und von der Rolle Deutschlands in diesem Kräftespiel verhelfen.
Ausgehend aus seinem kommunistischen Sendungsbewusstsein und dem Ziel, das
sowjetische
System in Europa auszuweiten, betrachtete Stalin Deutschland als ein
genehmes Werkzeug zur Erreichung dieses Ziels. Aus dem Programmwerk Hitlers „Mein
Kampf“ war ihm sehr gut bekannt, daß der „Führer“ entschlossen war, im Falle eines
neuen europäischen Krieges den ersten strategischen Blitzschlag gegen den Westen
(Frankreich) zu versetzen, um sein Hinterland für den Feldzug gegen Russland
freizumachen und die Notwendigkeit des Kampfes an zwei Fronten auszuschalten. Das
veranlaßte Stalin, in den für Deutschland kritischen Jahren 1930-1933, als das Schicksal
des Landes im harten innenpolitischen Kampf entschieden werden sollte, günstige
politische Verhältnisse für Hitler in seinem Streben nach der Machergreifung zu schaffen.
Gemäß der von ihm für die KPD festgelegten Taktik mußten nicht die Nazis, sondern
Sozialdemokraten („Sozialfaschisten“) als Hauptfeinde betrachtet und behandelt werden.
Nicht selten kamen die Kommunisten und Nationalsozialisten zu gemeinsamen Aktionen
Siehe, z. B.: Aspekte der sowjetischen Politik in der deutschen Frage nach dem Krieg. Im Sammelband „Als
der Krieg zu Ende war – 40 Jahre danach“, Düsseldorf, 1986; Deutschland in der Politik Stalins. In der
Zeitschrift „Deutschland Archiv“, 3/2003; Die deutsche Frage in dem Nachkriegseuropa. In: „Mittelöstliches
Europa in der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts“ in drei Bänden, Bd. I, Moskau, Akademieverlag „Nauka“,
2000, S. 233-250; Deutschland im sowjetisch-euroatlantischen Kräftespiel. Ein Kapitel in meinem Buch
„Moskaus Griff nach der Weltmacht“, Verlag E. S. Mittler & Sohn, Hamburg, 2002, S. 289-298 u. a.
1
2
gegen die Sozialdemokraten. Das erleichterte Hitler wesentlich, an die Macht zu kommen.
So begann der Amoklauf zum zweiten Weltkrieg, mit dem Stalin viele „revolutionäre“
Hoffnungen verband.
Die logische Folge dieses politischen Konzepts von Stalin war die Unterschreibung des
deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes im August 1939, der das grüne Licht für Hitler
zur raschen Niederwerfung Polens und zum Feldzug gegen Frankreich gab. So verhalf
Stalin, den Zweiten Weltkrieg zu entfesseln. Er glaubte, die deutsche Wehrmacht und die
französische Armee werden an der Maginot-Linie in langwierige Kämpfe hineingezogen
und verbluten. Danach könnte die Sowjetunion europäischen Ländern ihren messianischen
kommunistischen Willen diktieren. In diesen Kalkulationen verrechnete sich Stalin fatal.
Im Westen kam es nicht zu zermürbenden, lang dauernden Kämpfen. Frankreich wurde in
einem siegreichen Blitzfeldzug in die Knie gezwungen. Danach wandte sich Hitler gegen
die Sowjetunion, deren Streitkräfte durch die stalinistischen „Säuberungen“ in den 30er
Jahren ihre Kampffähigkeit und Kampfbereitschaft eingebüßt hatten. Über 40 Tausend
höhere Offiziere wurden während dieser „Säuberungen“ erschossen. Für den „Drang nach
dem Osten“ eröffneten sich für Hitler verlockende Aussichten. In seinen heimtückischen
strategischen Kalkulationen verrechnete sich Stalin fatal. Er musste auch für seine
Säuberungsaktionen und Verbrechen gegen das eigene Volk büssen.
In Zusammenhang mit den Plänen Stalins, die deutsche Wehrmacht gegen den Westen
aufmarschieren zu lassen, blieb in meinem Gedächtnis eine Episode, über die mir Oberst
Kononenko, mit dem ich in der Zeitschrift „Militärwissenschaft“ (Wojennaja mysl) in den
1950-er Jahren zusammengearbeitet hatte, erzählte. Am 14.Mai 1940 veröffentlichte er in
der Zeitschrift „Krasnaja swesda“ (Roter Stern) einen Artikel, in dem es hieß, die deutsche
Wehrmacht hätte die Magino-Linie durchbrochen. Am gleichen Tag erschienen in der
Zeitungsredaktion, wo Kononenko die Abteilung „Fremde Heere“ leitete, zwei Zivilisten,
die sich als NKWD-Mitarbeiter vorstellten und ihn aufforderten, ihnen zu folgen. Draußen
erwartete sie ein Auto. Kononenko dachte, er wäre verhaftet und bedauerte sehr, dass er
den kleinen Koffer mit notwendigen Sachen, die für diesen Fall bei den meisten
sowjetischen Offizieren immer zu Hause zur Verfügung standen, in die Redaktion nicht
mitnahm. Wie groß aber sein Erstaunen war, als er in den Kreml gefahren und direkt in das
Arbeitszimmer von Stalin eingeführt wurde. Stalin sah ihn an und, ohne begrüßt zu haben,
fragte: „Ist es wahr, daß die Deutschen die Magino-Linie durchbrochen haben?“.
Kononenko antwortete bestätigend, obwohl das nicht stimmte, denn die Magino-Linie ist
von den Deutschen durch Holland und Belgien umgangen worden. Ihm fiel auf, wie seine
3
Antwort Stalin in eine große Bestürzung brachte. Ratlos flüsterte er vor sich hin: „Was
werden wir jetzt tun?“. Dann sagte er: „Sie sind frei“ und ließ ihn in die Redaktion
zurückbringen. Diese kleine, aber viel sagende Episode verdeutlicht sehr anschaulich,
welche Absichten Stalins hinter dem Pakt mit Hitler steckten.
Interessenlage der Westmächte
In dem Kräftespiel in Europa vor 1939 trugen die Westmächte nicht minder als Stalin
zur Ergreifung der Macht durch Hitler und zur Entfesselung eines europäischen Krieges
bei. Die herrschenden Kreise der Finanzoligarchie in den USA waren an solch einem
Krieg sehr interessiert. Für sie war es wichtig, die Europäer entscheidend zu schwächen
und die Bedingungen für die amerikanische Hegemonie in der Welt zu schaffen. Das war
einer der wichtigsten Gründe, warum
die Finanzmagnaten, vor allem
die großen
Bankhäuser wie Warburg und Deterding massiv die Hitlerbewegung in den 30er Jahren
finanzierten2. Sie träumten davon, die Aggressivität Hitlers nach Osten zu kanalisieren.
1935 bewunderte Winston Churchill die Erfolge von Hitler und schrieb über ihn wie folgt:
„Die Geschichte ist reich an Männern, die mit Hilfe dunkler Taten
an die Macht
gekommen sind, die aber, wenn man ihr Leben in seiner Gesamtheit betrachtet, trotzdem
als große Gestalten gelten dürfen, die die Geschichte der Menschheit bereichert haben. Ein
solcher Mann könnte Hitler sein…“. Der Historiker Leo Sievers hat zurecht
hervorgehoben, daß Churchill dieses Loblied in dem Glauben geschrieben hätte, in dem
erklärten Anti-Marxisten Hitler einen Verbündeten im Kampf gegen die Sowjetunion
gefunden zu haben3.
Im Laufe des Zweiten Weltkrieges traten unterschiedliche Tendenzen im Herannahen
der Westmächte und der Sowjetunion an die deutsche Frage in Erscheinung. Während
Stalin, seinen heimtückischen Plänen treu und gar nicht durch die Achtung für die
Deutschen bewegt, die Formel „Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk bleibt
bestehen“ proklamierte, gingen die herrschenden Kreise der USA und Englands davon aus,
daß das ganze deutsche Volk an den Verbrechen der Hitlerclique die kollektive Schuld
trüge und daß die Macht Deutschlands für immer gebrochen werden müsse. Deswegen
weigerten sie sich, die deutsche Opposition gegen Hitler und jeden Machtwechsel in
Deutschland zu unterstützen und vereinbarten in Casablanca im Januar 1943 die Formel
der „bedingungslosen Kapitulation“. Die Politik der USA fand ihren Niederschlag in dem
2
Siehe unter anderem: Sidney Warburg. Die Geldquelle des Nationalsozialismus. Drei Gespräche mit Hitler.
Amsterdam, 1933 und 1994.
3
Sievers Leo. Deutsche und Russen. Tausend Jahre gemeinsame Geschichte von Otto dem Großen
bis Gorbatschow. Hamburg, 1991, S. 438.
4
„Morgentau-Plan“ der Agrarisierung Deutschlands. Es kam so weit, dass der
amerikanischen Administration der Plan vorgelegt worden war, das deutsche Volk total zu
sterilisieren, damit Deutschland von der europäischen Karte in 50-70 Jahren verschwinden
müßte. Nur die Nachkriegskonfrontation mir der SU zwang Washington, auf diese Pläne
zu verzichten.
Verderbliche Folgen der Beschlüsse von Potsdam
Während des „Kuhhandels“ auf der Potsdamer Konferenz versuchte
Stalin, die
Westmächte zu bewegen, eine einheitliche deutsche Administration für ganz Deutschland
zu etablieren. Daraus kann man seine „deutsche Tendenz“ und seine Überzeugung ersehen,
zwischen Deutschland und dem Westen würden früher oder später „imperialistische
Gegesätze“ entbrennen, die der Kreml zu seinen Gunsten implementieren könnte. Die USA
und England dagegen zogen vor, Deutschland in Besatzungszonen zu zerstückeln und ihm
nicht erlauben, einen „deutschen Talleyrand“ zu haben. Es war für sie nicht schwer, Stalin
von seinem
Nachdruck in dieser Forderung abzubringen. Zum Beispiel die Teilung
Europas in Einflusssphären zwischen Hitler und Stalin 1939 nicht anerkennen und so
Osteuropa dem sowjetischen Zugriff zu entziehen versuchen. Der anglo-amerikanischen
Formel - Deutschlands Macht zu brechen – beinhaltete ihre Zustimmung für die Abtretung
bedeutender östlicher Gebiete vom deutschen Territorium. Die Folge war die Vertreibung
von 12 Millionen Deutschen von ihrem Heimatland. Das war eine unmenschliche,
grausame und völkerrechtswidrige Tat. Wie schwer der Krieg für die Sowjetunion auch
immer gewesen war, durfte Stalin die Änderung der staatlichen Grenzen Deutschlands im
Osten nicht zulassen. In Potsdam hat Stalin seine Formel „Hitler kommen und gehen, aber
das deutsche Volk bleibt besehen“ vergessen. Imperiales Denken hat bei ihm die politische
Vernunft und Weitsicht überwogen. Die amerikanischen und englischen Politiker freuten
sich, zwischen Russland und Deutschland im weiteren Verlauf der Ereignisse Keile treiben
zu können.
Das Potsdamer Abkommen war für die US-Politik höchst vorteilhaft, für die nationalen
Interessen Russlands - sehr nachteilig. Es brachte die Spaltung Europas und Deutschlands,
die Ost-West-Konfrontation, das Wettrüsten, eine ständige Gefährdung der Sicherheit und
des Friedens in Europa, die Ablenkung der materiellen und geistigen Ressourcen der
Sowjetunion von der Erfüllung weit wichtigerer Aufgaben im Inneren des Landes. Für
Deutschland war es viel schlimmer als der Vertrag von Versailles.
Optionen der sowjetischen Deutschlandspolitik
5
Nach dem Kriegsende wurde die deutsche Frage zum Angelpunkt der sowjetischen
Europapolitik. In der führenden sowjetischen Elite gab es in den ersten Nachkriegsjahren
unterschwellige Kontroversen um die Zielsetzungen der Politik gegenüber Deutschland4.
Einem Forscher fällt auf, daß die Einstellung des Kremlherrschers Stalin und seiner Riege
zu dieser Frage durch gewisse Schwankungen, innere Widersprüche und Zweifel
gekennzeichnet war. Dies läßt sich aus der sowjetischen Außenpolitik in den Jahren 1945
bis 1952 ablesen.
Einerseits liegt es auf der Hand, daß sich der Kreml in diesem Zeitraum für die Einheit
Deutschlands einsetzte, was in der so genannten Stalin-Note an die Westmächte vom 10.
März 1952 gipfelte. Andererseits gab es in dieser Zeit Anzeichen für die Absicht Moskaus,
Ostdeutschland vom Westen abzuschotten. Was waren also die wirklichen Zielsetzungen
Stalins, der die sowjetische Politik als ein uneingeschränkter Diktator
gegenüber
Deutschland bestimmte?
Professor Gerhard Wettig – einer der besten deutschen Kenner der sowjetischen
Deutschlandpolitik dieser Periode – stellt die Frage: „War Stalin bereit, Deutschlands
Einheit in Freiheit zu gewähren?“. In seinem Buch gibt er darauf eine eindeutig negative
Antwort5. Die Frage könnte jedoch auch anders formuliert werden: „War Stalin bereit,
Deutschlands Einheit unter den Prämissen seiner Neutralität und seiner Freiheit
anzuerkennen?“. In diesem Fall wäre die Antwort aus meiner Sicht nicht so eindeutig
negativ. Gerhard Wettig schreibt richtig von einem „inneren Spannungsverhältnis“ der
Ziele Stalins in Bezug auf Deutschland. Er meint, es gälte für ihn, das westdeutsche
Potential zu paralysieren und aus dem besiegten Deutschland eine Bastion des Sozialismus
zu machen. Beide Ziele hätten unverbunden nebeneinander gestanden6.
Obwohl diese widersprüchlichen und realitätsfernen Zielsetzungen die Planung der
sowjetischen Deutschlandpolitik wirklich beeinflußten, gab es für Stalin andere, noch
gewichtigere Faktoren, die er einzukalkulieren gezwungen war. Es handelte sich um die
geopolitischen und geostrategischen Überlegungen, die vorwiegend mit der Politik der
USA verbunden waren. Wie würden sich die Amerikaner zum sowjetischen Vordringen
Alexej Filitow. Stalins Deutschlandplanung und – Politik während und nach dem Zweiten Weltkrieg.
In: 50 Jahre sowjetische und russische Deutschlandpolitik sowie ihre Auswirkungen auf das
gegenseitige Verhältnis. Hrsg. von Boris Messner und Alfred Eisfeld. Duncker & Humblot Berlin 1999, .S.
43-55.
5
Gerhard Wettig Bereitschaft zu Einheit in Freiheit? Die sowjetische Deutschlandpolitik 1945-1955.
Olzog Verlag, München 1999
6
Gerhard Wettig. Stalins Deutschlandpolitik 1945-1953: Kontinuität und Wandel. In: 50 Jahre sowjetische
und russische Deutschlandpolitik S. 15.
4
6
nach Zentraleuropa verhalten? Könnte man hoffen, daß sie bereit wären, wie seinerzeit
Hitler, mit der Sowjetunion Europa in Einflußsphären aufzuteilen?
Sehr bald nach dem Kriegsende konnte sich Stalin vergewissern, daß die USA gewillt
waren, gegen die sowjetische Vormachtstellung in Ostmitteleuropa zu kämpfen. Mitte
1947 stand für Stalin fest, daß sich Washington anschickte, eine große antisowjetische
Koalition aufzubauen, die für die Sowjetunion eine tödliche Gefahr bedeuten könnte,
besonders wenn Westdeutschland darin eingegliedert würde.
So mußte Stalin zwischen zwei Zielsetzungen wählen: entweder die Sowjetisierung des
östlichen
Teils
Deutschlands
voranzutreiben
oder
der
Herausbildung
einer
sowjetfeindlichen Weltkoalition vorzubeugen. Es war unmöglich diese beiden Ziele
gleichzeitig zu verfolgen. Hinsichtlich der Prioritäten war die zweite Zielsetzung für die
Sicherheitsinteressen
der
Sowjetunion
viel
bedeutsamer.
Das
kommunistische
Sendungsbewußtsein der sowjetischen Deutschlandpolitik geriet also in einen tiefen
Gegensatz zu geopolitischen Realitäten, die für die Sowjetunion im Falle ihrer Expansion
nichts Gutes verhießen.
Stalins Deutschlandpolitik in dem Zeitraum 1945 bis 1952 könnte man als Lavieren
zwischen diesen zwei Zielsetzungen definieren. Er war bestrebt, mit den Westmächten so
lange wie möglich bei der Lösung gesamtdeutscher Fragen zusammenzuarbeiten und sein
aus der Nachkriegsregelung resultierendes Mitspracherecht in Bezug auf Westdeutschland
aufrechtzuerhalten. Dem liefen aber viele Maßnahmen der sowjetischen Politik in
Ostdeutschland, die den Beigeschmack des sowjetischen Totalitarismus und der
Sowjetisierung hatten, zuwider.
Im Hinblick auf die Durchsetzung seiner Ziele war Stalin bestrebt, die Bevölkerung
beider Teile Deutschlands auf die Seite der Sowjetunion zu ziehen. Dies wollte er
hauptsächlich durch die Ausspielung der nationalen Gefühle der Deutschen erreichen.
Aber außer dem Slogan der Einheit Deutschlands konnte er ihnen nichts darbieten – weder
politisch, noch wirtschaftlich, noch sozial, noch moralisch. Nach der Berlin-Blokade 19481949, die die wahren Herrschaftspläne und Gewaltmethoden Stalins entblößte, hatte sich
der Spielraum der sowjetischen Politik bezüglich der Beeinflußung der deutschen
Bevölkerung sehr stark eingeengt. Mit dieser und anderen Gewaltaktionen auf dem
deutschen Boden trieb Stalin die Deutschen in die Arme der USA und ihrer Verbündeten.
Die Archivdokumente verdeutlichen, daß Stalin anfangs zwischen drei Optionen der
Deutschlandpolitik, die von den sowjetischen außenpolitischen Experten ausgearbeitet
worden waren, - ein „sozialistisches Teil- oder Gesamtdeutschland“, „harter Frieden u nd
7
Konfrontation“ oder ein „bürgerlich-demokratischer Staat“ - die letztgenannte Option
bevorzugte7. Das erklärt, warum im Aufruf des ZK der KPD vom 11. Juni 1945 festgestellt
wurde, „daß der Weg, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen, falsch wäre, (...) daß
die entscheidenden Interessen des deutschen Volkes in der gegenwärtigen Lage für
Deutschland einen anderen Weg vorschreiben, und zwar den Weg der Aufrichtung eines
antifaschistischen, demokratischen Regimes, einer parlamentarischen demokratischen
Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das deutsche Volk“8.
Hat Stalin den Gefahren der westlichen Reaktion auf die Sowjetisierung Deutschlands
damals Rechnung getragen? Wollte er dieses Problem mit Vorsicht behandeln, um den
Westen nicht zu reizen und nicht zu provozieren? Oder trugen die Ideen einer bürgerlichdemokratischen deutschen Republik einen rein propagandistischen Charakter?
Ich glaube, Stalin neigte anfangs immerhin zur Idee eines bürgerlich-demokratischen
Deutschland. Das findet in vielen Akten der damaligen sowjetischen Deutschlandpolitik
seinen Ausdruck, beispielsweise in dem von der Sowjetunion der Moskauer
Außenministerkonferenz
politischen und
im März 1947 vorgelegten Plan zur Wiederherstellung der
wirtschaftlichen Einheit Deutschlands. Darin war die Rede von der
„Beibehaltung der bestehenden gesellschaftlich-ökonomischen Verhältnisse des deutschen
Einheitsstaates“, d. h. von der geeinten bürgerlich-demokratischen deutschen Republik9.
Aber wie konnte man erklären, daß fast gleichzeitig mit der Tagung dieser
Außenministerkonferenz Anton Ackermann im November 1947 in der SED - Zeitschrift
„Einheit“ verkündete: Als Vorbild für die Entwicklung Ostdeutschlands müsse die
Sowjetunion dienen, und die frühere Richtlinie des KPD-Programms sei falsch gewesen?
Aus meiner Sicht spiegelte dies Schwankungen innerhalb des politischen Establishments
der Sowjetunion wider. Stalin war sich nicht sicher, ob es überhaupt gelingen könnte, ganz
Deutschland, wenn es zu einer bürgerlich - demokratischen Republik würde, aus der
Dominanz der USA herauszuhalten.
Die Deutschlandpolitik der Westmächte formierte sich unter der Einwirkung einer
tiefen Antipathie und eines Mißtrauens gegenüber dem totalitären Regime Stalins, das von
Geheimnissen des Kreml umhüllt war. Diese Politik war durch die Angst vor seinem
Terrorapparat, seiner Expansionssucht und seiner Militärmacht durchdrungen.
7
Alexej Filitow, ebenda, S. 54
Zitiert nach: Zur Geschichte der neuesten Zeit. Die Niederlage Hitlerdeutschlands und die Schaffung
der antifaschistisch - demokratischen Ordnung. Bd. I, Berlin 1955, S. 375
9
Die Geschichte der Außenpolitik der Sowjetunion, Moskau 1981, Bd. 2, S.76. (Russisch)
8
8
Es gab noch einen weiteren gravierenden Gegensatz zwischen der Sowjetunion und
dem Westen in ihrem Herangehen an Deutschland. Es handelte sich um einen untrennbaren
geopolitischen Zusammenhang zwischen der Entwicklung der deutschen Frage und der
sowjetischen Politik in Osteuropa.
Die Herrschaft der Sowjetunion über die
osteuropäische Region - neben anderen Gründen - erlaubte nicht, eine gemeinsame Politik
mit den Westmächten gegenüber Deutschland zu betreiben und gemeinsame Lösungen zu
finden. Denn der sowjetische Verzicht auf die Dominanz in Osteuropa war damals eine
unabdingbare Voraussetzung für das Einlenken der Westmächte in der Frage der
Wiederherstellung der Einheit Deutschlands als eines souveränen neutralen Staates.
Waren sich Stalin und seine Umgebung darüber im klaren? Es ist schwer zu sagen. Die
sowjetische Note an die Westmächte vom März 1952 läßt allerdings daran zweifeln.
Die Westmächte sichern Ihre Interessen in Deutschland ab
In der nach dem Krieg entstandenen Lage in Europa, gekennzeichnet durch das
offensive Handeln Moskaus, waren die USA und westeuropäische Länder gezwungen, ihre
Interessen gegen die sowjetische Expansion abzusichern und die Spaltung Deutschlands zu
beschleunigen.
Im
Dezember
1946
vereinigten
die
USA
und
England
ihre
Besatzungszonen in der Bizone, deren Handel vom Januar 1947 auf die Dollarbasis
gestellt wurde. Mitte 1947 entstand in der Bizone eine separate Administration. Frankreich,
das jede Zentralisierung der Macht in Deutschland befürchtete und ablehnte, weigerte sich
zuerst, sich an die Bizone anzuschließen. Aber nach dem kommunistischen Umsturz in
Prag am 25. Februar 1948 willigte es ein, eine einheitliche Westzone (Trizone) zu
schaffen. Auf der Londoner Konferenz der Westmächte und der Benelux-Länder (Februar
bis Juni 1948) wurde vereinbart, eine gemeinsame Verwaltung für drei Zonen als eine
politische und wirtschaftliche Einheit zu bilden. Das bedeutete faktisch die Entstehung
eines separaten westdeutschen Staates. Im Mai-Juni 1948 wurde in Westdeutschland die
Währungsreform durchgeführt. Das hat Deutschland wirtschaftlich geteilt.
George Kennan, der damals Direktor des Planungsstabes des US-Außenministeriums
war, hatte Vorbehalte gegen die Spaltung Deutschlands. Als Folge dessen befürchtete er
die Teilung des Kontinents, die Verschärfung des Kalten Krieges und die Verstärkung der
gefährlichen Atomrüstung. Seine Ansichten wurden weder von Dean Acheson, noch von
John Foster Dulles, noch vom General Lucius Klay und dem Pentagon geteilt. Auch die
Franzosen und Briten sowie Konrad Adenauer
waren dagegen. „Übrigens - schreibt
Kennan - schätzte ich die Ansichten jener guten Freunde nicht gering. Viele von ihnen
fürchteten ein geeintes Deutschland mehr als die Konsolidierung der sowjetischen Macht
9
in der östlichen Hälfte Mitteleuropas. Sie glaubten, jeder Versuch einer Verständigung mit
Moskau über einen beiderseitigen Abzug der Besatzungstruppen aus der Mitte
Deutschlands und die daraus zu erwartende politische Aufwertung des Landes könnte die
westliche Allianz entzweien und Anlaß zu neuer Instabilität werden. Sie hielten es für
sicherer, jedenfalls einstweilen, die politischen Unbequemlichkeiten und Unsicherheiten
eines geteilten Europas in Kauf zu nehmen, hoffend, daß die wachsende militärische Macht
des Westens eines Tages eine europäische Lösung nach westlichen Vorstellungen gestatten
würde - eine Lösung, so müßte man folgern, bei der die Sowjets ihre Streitkräfte einseitig
abziehen und zulassen würden, daß diese Region der Bundesrepublik angeschlossen und
Mitglied der Nato würde“10
So wurde allmählich die Spaltung des Landes zustande gebracht. Vier Jahre nach dem
Krieg entstanden auf dem deutschen Boden zwei deutsche Staaten, die an die zwei sozialpolitischen Systeme und an ihre Zentren - Moskau und Washington - gebunden waren.
Ungleicher Wettkampf zwischen beiden deutschen Staaten
Im Unterschied zur DDR erlangte die Bundesrepublik unvergleichbar größere Vorteile
in dem wirtschaftlichen und technologischen Bereich und dementsprechend im
Lebensstandard der Bevölkerung. Zunächst einmal war das mit der Hilfe für
Westdeutschland seitens der USA verbunden. Washington verzichtete auf die Pläne der
Agrarisierung Deutschlands, die Ende des Krieges vom amerikanischen Finanzminister
Morgentau entworfen worden waren, und leistete einen wesentlichen Beitrag zur
Wiederherstellung des westdeutschen wirtschaftlichen und militärischen Potentials im
Interesse der Eindämmungspolitik gegenüber der Sowjetunion.
Zweitens entstand in der Bundesrepublik das Wirtschaftsmodell der sozial orientierten
Marktwirtschaft, die dem unbeweglichen, schwerfälligen sowjetischen Modell, das auf die
SBZ/DDR allmählich übertragen wurde, nach Effizienz und Innovationsmöglichkeiten
weit überlegen war. Das hat die Voraussetzungen für das „Wirtschaftswunder“ in der
Bundesrepublik in den 50er Jahren geschaffen
Drittens wurde in der Bundesrepublik das nationalsozialistische totalitäre System
erfolgreich demontiert, und es wurden die Grundlagen einer stabilen Demokratie und einer
effektiv funktionierenden föderalen Staatlichkeit geschaffen. Das Grundgesetz – die
provisorische Verfassung der Bundesrepublik – stellte die Interessen der Person, ihre
Würde und die Möglichkeiten ihrer Selbstentfaltung und Selbstäußerung in den
Mittelpunkt.
10
Kennan George. Leichter mit der Teilung leben. „Die Zeit“, 14. April 1989, S.6
10
Demgegenüber kam in der DDR an die Stelle des totalitären nationalsozialistischen
Systems der Totalitarismus sowjetischer Prägung mit seiner Einschränkung der
Menschenrechte und -freiheiten, mit der Überzentralisierung und Bürokratisierung der
Macht,
mit der Bespitzelung und der polizeilichen Überwachung des politischen
Verhaltens der Bürger, mit seinen privater wirtschaftlicher Initiative auferlegten Fesseln.
Außerdem konnte dieses Regime nur in einer hermetischen Abschottung von der
Außenwelt, von den Ideen von außen, unter einem strengen Informationsmonopol der
regierenden Partei existieren. In einer mehr und mehr zusammenwachsenden Welt war das
Achillesferse des Regimes.
Den USA gelang es schon in den ersten Nachkriegsjahren, für Westdeutschland sehr
günstige politische und wirtschaftliche Voraussetzungen für den Aufschwung und das
Wettbewerb mit Ostdeutschland zu schaffen. Das “Demonstrationseffekt“ der Erfolge der
Bundesrepublik in der Entwicklung der Wirtschaft und der Förderung der Demokratie trug
wesentlich zur Unterhöhlung der Positionen der Sowjetunion in Zentraleuropa bei.
Demgegenüber wandte die sowjetische Politik für die Absicherung ihrer Interessen in
dieser Region die ihr eigene ebenso einfache wie
Abriegelung
primitive Methoden an – die
ihrer Herrschaftssphäre gegen das politische und propagandistische
Eindringen und den Einfluß des Westens. Die Effektivität dieser Abriegelung in der Ära
schnell fortschreitender elektronischer Informationstechnologien war sehr niedrig.
Dazu kamen noch andere Schwächen und Sinnlosigkeiten der sowjetischen Politik.
Anstatt die Wirtschaft von Ostdeutschland zu stärken und den Wohlstand seiner
Bevölkerung zu heben, veranlaßte sie Massendemontage in den Industriebetrieben der SBZ
als Reparationen und legte dem Land eine große Bürde an Kontributionen auf. Kein
Wunder, daß bald nach dem Krieg eine Massenflucht der Deutschen aus dem östlichen in
den westlichen Teil Deutschlands begann.
Die Rätsel um die Stalin-Note vom 10. März 1952
Nach dem Scheitern der Versuche Stalins, die Westmächte durch die Blockade aus
Berlin zu verdrängen, schien sich die Lage in Deutschland für die sowjetischen Politik
nicht besonders günstig zu entwickeln. Sie wurde im Ergebnis der Schaffung der NATO
und der Pläne zur Einbeziehung der Bundesrepublik in diese Organisation noch düsterer.
Neue Kopfschmerzen bereitete dem Kreml die Anfang 1952 entstandene Gefahr der
Schaffung
eines
neuen
westeuropäischen
Militärblocks
-
der
Europäischen
Verteidigungsgemeinschaft - unter Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland.
11
In dieser Situation wurde am 10. März 1952 die Note der Sowjetregierung an die
USA, England und Frankreich überreicht. Sie ging als Stalin - Note in die Geschichte ein
und wurde zu einem der umstrittensten
Züge auf dem Schachbrett der sowjetischen
Deutschlandpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. Moskau legte dem Westen damals den
Entwurf eines Friedensvertrags mit Deutschland vor. Dessen wichtigste Punkte:
-
Die Entwicklung Deutschlands zu einem einheitlichen, unabhängigen,
demokratischen und friedliebenden Staat solle gefördert werden.
-
Deutschland müsse sich verpflichten, keinerlei Koalitionen oder Militärbündnisse
einzugehen, die sich gegen irgendeinen Staat richten, der am Krieg gegen
Deutschland teilgenommen habe.
-
Deutschland müsse berechtigt sein, nationale Streitkräfte für die eigene
Verteidigung zu unterhalten und die dafür notwendigen Waffen und technischen
Ausrüstungen zu produzieren;
-
Ein Jahr nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags müssten die Truppen der
Besatzungsmächte vom deutschen Territorium abgezogen und ihre Stützpunkte
und Basen liquidiert werden;
-
Der endgültige Friedensvertrag müsse unter Teilnahme der zu bildenden
gesamtdeutschen Regierung ausgearbeitet und unterzeichnet werden.
Am 9. April 1952 richtete die sowjetische Seite an die USA, England und Frankreich
eine weitere Note, in der vorgeschlagen wurde, freie Wahlen in ganz Deutschland unter
der Aufsicht einer Kommission, bestehend aus Vertretern der vier Mächte, durchzuführen.
Die sowjetische Regierung hatte bis dahin gegen die Durchführung von Wahlen in
Deutschland unter Aufsicht einer internationalen Kommission fortwährend ihr Veto
eingelegt, denn sie konnte
bei einer freien Abstimmung nicht mit der Mehrheit der
Stimmen rechnen. Und plötzlich räumte Stalin dieses Hindernis zur Verständigung mit
dem Westen in der deutschen Frage aus dem Weg. Das konnte man nicht mehr als reinen
Propagandatrick betrachten.
Allerdings ließ die sowjetische Politik zur gleichen Zeit an der innerdeutschen Grenze
Sperranlagen errichten und die Zahl der Übergangsstellen drastisch reduzieren, was im
Widerspruch zum Konzept der Note stand. War das ein Drohgebärde für den Westen, dass
die Abschottung der DDR einen endgültigen Charakter annehmen wird? Oder wurde das
auf Drängen der neuen DDR-Elite gemacht?
Bis heute divergieren die Meinungen vieler Historiker und Politiker hinsichtlich der
Motive der Stalin - Note und der Haltung des Westens. War das Angebot Stalins ernst
12
gemeint? War die negative Reaktion des Westens und der Bundesregierung von Adenauer
auf diese Note richtig? Wurden einmalige Chancen zur deutschen Einheit damals vom
Westen verpaßt? Oder war die Note wirklich nur ein Trick?11 Was erwartete Stalin
eigentlich von den Westmächten? War er sicher, daß sie die Note zurückweisen? War er
überhaupt an ihre Annahme interessiert? Wollte er sein „ungeliebtes Kind“ - so Wilfried
Loth12 - opfern, um eine sicherheitspolitische und wirtschaftliche Entlastung der
Sowjetunion zu erzielen?
Um diese Fragen beantworten zu können, müßte man zunächst einmal in den Archiven
von Kreml, des sowjetischen Außenministeriums und des KGB diesbezügliche Akten von
Stalin finden und analysieren. Aber diese fehlen oder sind bis jetzt unzugänglich. Die
Zeugnisse Molotows, Gromykos und anderer sowjetischer Politiker stalinscher Schule
besagen eindeutig, die Note sei ernst gemeint gewesen, die sowjetische Regierung hätte
sich um die Wiederherstellung der deutschen Einheit bemüht. Diese Versicherung findet
sich in allen von der kommunistischen Parteiführung damals genehmigten Publikationen.
Aber in Wirklichkeit ging es um viel Größeres und Wichtigeres als die deutsche
Einheit, nämlich um die existentiellen Fragen der Sowjetunion und um die Grundprobleme
ihrer Politik und ihrer Beziehungen zum Westen. Was also verfolgte Stalin mit dieser
Note?
Aus meiner Sicht waren für seine Haltung vier Punkte ausschlaggebend: a) er wollte die
Einbeziehung Westdeutschlands in das westliche Militärbündnis verhindern, b) er glaubte,
11
Die meisten Forscher im Westen sind der Meinung, die Stalin-Note sei ein Propagandatrick.
Dieser Standpunkt ist am deutlichsten vertreten in: Graml, H. „Die Legende von der verpaßten Gelegenheit.
Zur sowjetischen Notenkampagne des Jahre 1952. (Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Heft 2, 1981);
Wettig G. „Die sowjetische Deutschland - Note vom März 1952. Wiedervereinigungsangebot oder
Propagandaaktion?“ , in: Deutschland Archiv, 2/1982; „Die Deutschland - Note vom 10. März 1952
nach sowjetischen Akten“, in: „Die Deutschlandfrage von der staatlichen Teilung Deutschlands bis zum
Tode Stalins“, in: Studien zur Deutschlandfrage, Berlin 1994, Bd. 13, auch seine oben zitierten Schriften.
Zu dieser Schule gehören auch die amerikanischen Historiker Vojtech Mastny („The Cold War and Soviet
Insecurity. The Stalin Years“. New York, 1996) John Lewis Gaddis („We Now Now. Rethinking Cold War
History“. Oxford 1997, russischerseits Michail Narinskij. Der namhafte Verfechter einer entgegengesetzten
Meinung – die Stalin -Note war ernst gemeint – ist der österreichische Historiker Rolf Steininger, der an
Hand von englischen und amerikanischen Akten dieses Problem erforschte und interessante Fakten in
seinem Buch „ Eine Chance zur Wiedervereinigung? Darstellung und Dokumentation auf der Grundlage
unveröffentlicher britischer und amerikanischer Akten“ ( Archiv für Sozialgeschichte , Beiheft 12), Bonn
1985;
In einem gewissen Maße schließt sich an diese Auffassung Wilfried Loth an: „Ost-West-Konflikt und
deutsche Frage“, München 1989 sowie „Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte“,
Berlin 1994 . Auf derselben Position in der russischen Geschichtsschreibung steht M. Melamid - Melnikow.
Der russische Historiker Alexej Filitiw vertritt die Meinung, die Stalin-Note war dazu berufen, die DDRFührung unter Druck zu setzen („Germanskij wopros: ot raskola k objedineniju“ – „Die deutsche Frage: von
der Spaltung bis zur Wiedervereinigung“, Moskau 1993). Die oben erwähnten Standpunkte der deutschen
Wissenschaftler über Stalins Note werden eingehender vertreten in dem Buch „Die Stalin-Note vom 10.
März 1952. Neue Quellen und Analysen. Mit Beiträgen von Winfried Loth, Hermann Graml und Gerhard
Wettig“ Hrsg. Jürgen Zarusky. Oldenbourg Verlag, München, 2002.
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zwischen einem geeinten neutralen Deutschland und den Westmächten entstünden
unausweichlich „imperialistische Gegensätze“ und Divergenzen, die die Sowjetunion mit
Erfolg, wie 1939, implementieren könnte, c) im Hinblick auf das große innere Potential
und die historischen Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung hoffte er, auf
gesamtdeutscher Basis die revolutionäre Bewegung viel effektiver entfachen zu können. d)
er wollte den nationalen Gefühlen der Deutschen schmeicheln und sich im Unterschied zu
den USA und ihren Verbündeten als Befürworter der deutschen Einheit hinstellen.
Bei der Bewertung der Ziele Stalins, die er mit seiner Note verfolgte, muß auf die
Rolle der „imperialistischen Gegensätze“ in seinem außenpolitische Denken und deren
Ausnutzung zu Gunsten der Sowjetunion besonderes Gewicht gelegt werden. Das
Ausspielen der Gegensätze zwischen realen und vermeintlichen Gegnern nach dem Prinzip
divide et impere entsprang der Psychologie Stalins. Das war stets Leitidee seiner innen und außenpolitischen Praxis. Demgemäß war er überzeugt, daß zwischen Deutschland und
Westmächten wieder unüberwindbare Gegensätze entstehen würden, die sogar zu einem
Krieg zwischen ihnen führen könnten.
Diese Auffassungen vertrat er in seiner im Februar 1952, also ein Monat vor der Note
an die Westmächte, veröffentlichten Broschüre „Ökonomische Probleme des Sozialismus
in der UdSSR“. Darin hieß es unter anderem: „Einige Genossen behaupten: die Tatsache,
daß sich die neuen internationalen Verhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt
hätten, bedeutet, daß Kriege zwischen den kapitalistischen Ländern nicht länger
unvermeidbar seien. Sie sind der Meinung, daß die Gegensätze zwischen dem Lager des
Kapitalismus und dem Lager des Sozialismus stärker seien als die Gegensätze zwischen
kapitalistischen Ländern, daß die Vereinigten Staaten von Amerika andere kapitalistische
Länder unter ausreichende Kontrolle gestellt hätten, um ihnen zu verbieten, miteinander
zu kämpfen und einander zu schwächen, daß die vernünftigen Vertreter des Kapitalismus
richtige Schlüsse aus zwei Weltkriegen, die der ganzen kapitalistischen Welt einen ernsten
Schaden zugefügt hätten, gezogen hätten und nicht zulassen würden, daß die
kapitalistischen Länder wieder in den Krieg miteinander hineingezogen würden(....)
Diese Genossen irren sich. Sie sehen nur äußere Erscheinungen, die auf der Oberfläche
auftauchen. Sie sehen aber Tiefkräfte nicht, die den Gang der Ereignisse dennoch
bestimmen werden, obwohl sie einstweilen unbemerkbar wirken.
Nach dem Ersten Weltkrieg meinte man auch, daß Deutschland
endgültig
kampfunfähig gemacht worden sei (....) Es erhob sich aber, stellte sich auf die Beine als
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Wilfried Loth, Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte.
14
eine Großmacht in etwa 15 bis 20 Jahren nach seiner Niederlage, indem es sich von
Fesseln befreite und einen selbständigen Entwicklungsweg beschritt. Dabei ist es
kennzeichnend, daß niemand anderer als England und die Vereinigten Staaten von
Amerika Deutschland halfen, wirtschaftlich emporzusteigen und sein Rüstungspotential zu
stärken(....) Aber Deutschland richtete seine Streitkräfte in der ersten Linie gegen den
englisch - französisch - amerikanischen Block(...) Der Kampf der kapitalistischen Länder
um die Märkte und der Wunsch, ihre Konkurrenten auszubooten, erwiesen sich in der
Praxis also als stärker als die Gegensätze zwischen dem Lager des Kapitalismus und dem
Lager des Sozialismus(...) Daraus ergibt sich, daß die Unvermeidbarkeit der Kriege
zwischen kapitalistischen Ländern in Kraft bleibt"13.
Ich führe dieses lange Zitat an, um zu verdeutlichen, welche Rolle diese
Gedankengänge Stalins bei der Planung der damaligen sowjetischen Deutschlandpolitik
spielten. Von der Bedeutung, die Stalin diesen Vorstellungen beimaß, zeugt seine Rede auf
dem XIX. Parteitag der KPdSU im Herbst 1952, wo er dasselbe Konzept der Ausnutzung
der „imperialistischen Gegensätze“ vorbrachte.
Die Idee, daß ein souveränes neutrales Deutschland zu einem schwer kalkulierbaren
Akteur der internationalen Politik würde, war nicht nur Stalin eigen. Das befürchteten
auch die Westmächte und selbst die Adenauer-Regierung. In diesem Zusammenhang merkt
Gerhard Wettig: „Aus der Tatsache, daß Adenauer am Anfang der Bundesrepublik steht
und deren Außenpolitik weithin grundgelegt hat, muß nicht auf die deutsche Vereinigung
als das notwendige Endresultat dieser Politik geschlossen werden. Umgekehrt kann die
Annahme, Stalin habe im Frühjahr 1952 tatsächlich eine Wiedervereinigung Deutschlands
zu demokratischen Bedingungen für akzeptabel gehalten, noch nicht eo ipso die
Verfehltheit von Adenauers Politik dartun. Denn auch bei einem solchen sowjetischen
Angebot wäre noch immer nicht sicher gewesen, daß es im Gefolge einer solchen Vereinigung auch zu einer für das deutsche Volk bekömmlichen Entwicklung gekommen wäre.
Das Schicksal des - im Vergleich zu einem wiedervereinigten Deutschland der frühen
Nachkriegszeit ungleich besser dastehende - Bismarck-Reichs von 1871 bis 1945 zeigt, daß
mit Erreichen der nationalen Einheit die Gefahren für das deutsche Volk nicht
notwendigerweise überwunden sind, sondern sogar noch zunehmen können. Wie sich
Deutschland mit auferlegter politisch-militärischer Neutralität am Brennpunkt des OstWest-Konflikts zwischen den Fronten hätte behaupten können, ist eine offene Frage"14.
13
14
I.Stalin Wirtschaftliche Probleme des Sozialismus in der UdSSR. Moskau 1952, S. 32-35
Gerhard Wettig. Stalins Deutschlandpolitik, a.a.O., S.38.
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Welche Ziele Stalin mit seinem Angebot an die Westmächte auch immer verfolgte,
klar ist: In beiden Fällen – bei der Annahme der Note oder bei ihrer Zurückweisung – hätte
er sich als Gewinner fühlen können. Wären die oben genannten vermeintlichen Vorteile
für die sowjetische Politik nicht erlangt worden, so hätte man doch die Schuld an der
Spaltung Deutschlands endgültig in die Schuhe des Westens schieben können. Jedenfalls
lag dieser Note ein ausgeklügelter Plan zugrunde. Aber sein Hauptziel – die Entstehung
einer antisowjetischen Weltkoalition unter der Beteiligung der Bundesrepublik zu
vereiteln, – konnte Stalin nicht erreichen.
Allem Anschein nach wäre für ihn die Option der sicherheitspolitischen und
wirtschaftlichen Entlastung der Sowjetunion vorteilhafter gewesen als die Konfrontation
mit der überlegenen Macht des Westens. Deswegen kann man behaupten: die Note war
ernst gemeint. Als Alleinherrscher konnte er sich erlauben, die sowjetische Politik um 90
oder mehr Grad umzudrehen, wenn dies seine Taktik erforderte. So war es vor dem Krieg,
als er den „Teufelspakt“ mit seinem Erzfeind Hitler schloß und alle kommunistischen
Gemüter aufregte. Um so mehr konnte er nach dem siegreichen Krieg, als seine Macht
unbegrenzt wurde und sich der Spielraum seiner Beschlußfassung im Inneren des Landes
enorm erweiterte, überraschende Entscheidungen treffen.
Die Vertiefung der Spaltung Deutschlands und Europas
Sehr bezeichnend ist es, daß der Kurs auf den planmäßigen Aufbau des Sozialismus
in der DDR erst im Juli 1952, nach der Ablehnung der Stalin – Note, eingeschlagen
wurde. Die Idee der deutschen Einheit verlor in den Plänen Moskaus ihre Aktualität. Die
Versuche Berias, nach Stalins Tod seine Deutschlandpolitik wieder auf die Tagesordnung
zu setzen, scheiterten. Als er verhaftet wurde, wurde ihm unter anderem den Verrat am
Sozialismus in der DDR zur Last gelegt. Jetzt galt es, die deutsche Teilung so stark wie
möglich zu festigen und die Gräben zwischen zwei deutschen Staaten tiefer zu machen.
Entgegen der gängigen Meinung, die Spaltung Deutschlands sei ein Ergebnis der
Veränderungen in der Gesellschaftsordnung und in den Eigentumsverhältnissen in der SBZ
in den Jahren 1945 bis 1949, kann man sagen, daß die Moskauer Führung in dieser Zeit im
Grunde genommen nichts Besonderes unternahm, was für die Einheit des Landes
unüberbrückbare
Hindernisse
hätte
schaffen
können.
Die
Entnazifizierung,
Demilitarisierung, Nationalisierung der Unternehmen der Naziverbrecher und die
Dekartellisierung waren kein geeignetes Mittel dazu. Die „klassenmäßigen“ Maßnahmen
der sowjetischen Politik in der SBZ bis zum Jahre 1949 und später bis 1952 in der DDR
unterschieden sich wesentlich von denen, die in anderen mittel - und osteuropäischen
16
Ländern angewandt wurden. Das beruhte offensichtlich darauf, daß der Kreml bis 1952,
obwohl schwankend und unentschlossen, für die Einheit Deutschlands auftrat.
Das Scheitern des Konzepts der Stalin-Note hat eine neue Etappe der sowjetischen
Deutschlandpolitik eingeleitet. Die weitere Entwicklung der deutschen Frage wurde durch
zwei Haupttendenzen der europäischen Politik ausschlaggebend beeinflußt: durch die
beschleunigte Sowjetisierung Osteuropas und die Atlantisierung (Amerikanisierung)
Westeuropas. Sie präsentierten in der Folgezeit ein Gegeneinander der NATO- und der
Warschauer-Pakt-Länder sowie ein europäisches Sicherheitssystem, das auf einer relativen
balance of power und auf einem Gleichgewicht des nuklearen Schreckens basierte.
In dem Zeitraum 1945-1955 wurden zwei deutsche Staaten in unterschiedliche
politische, wirtschaftliche und militärische Strukturen, geführt von den USA und der
Sowjetunion, voll integriert. Die Wege ihrer historischen Entwicklung gingen auseinander.
Unter der Einwirkung unterschiedlicher politischer Systeme und Werte formierten sich
eine unterschiedliche soziale Psychologie und ein unterschiedliches soziales Verhalten der
Deutschen, unterschiedliche Typen der sozialen Beziehungen im Westen und im Osten
Deutschlands.
Beide deutsche Staaten befanden sich in einer überaus verwundbaren Lage an der
Nahtstelle einer neuen Kräftekonstellation in Europa. Sie wurden zu dem empfindlichsten
Glied in der Konfrontationskette des Kalten Krieges. Als ein Erzeugnis dieses Krieges
entstanden, wurde die deutsche Frage im Laufe der Zeit selbst zu einer starken Quelle der
Spannungen zwischen der Sowjetunion und den Westmächten. In demselben Maße wie die
Spaltung Deutschlands zum Symbol der Spaltung Europas wurde, war die Überwindung
der Spaltung Europas nicht denkbar ohne die Aufhebung der Teilung Deutschlands. Die
deutsche Frage wurde in einen fest zugezogenen Knoten der Interessen der Großmächte
geschlungen. Diesen Knoten zu lösen, waren nur die Sowjetunion und die USA im Falle
des Ausgleichs ihrer politischen Interessen fähig.
In dieser Etappe der europäischen Geschichte formierte sich das Konzept der USAPolitik in Europa, das später Generalsekretär der NATO Lord Ismay ziemlich zutreffend
formulierte: „To keep Americans in, to keep Germans down, to keep Russians out“. Am
Ende dieser Etappe hat sich der Expansionsdrang der sowjetischen Politik in Europa
ausgeschöpft. Moskau war gezwungen, von der Offensiv- zur Verteidigungsstrategie
überzugehen und den sich abwechselnden Varianten der westlichen Strategie – der
Eindämmung, des Zurückwerfens, der flexiblen Antwort, der friedlichen Penetration u.a. zu widerstehen, um seine Herrschaft in Osteuropa zu behaupten. Zum Garanten der
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Unversehrtheit
dieser Herrschaft wurde strategische nukleare Waffe. Sie hat auch
sichergestellt, daß die Ost-West-Konfrontation in einen europäischen Krieg nicht ausartete.
Der Kalte Positionskrieg war aber für die Sowjetunion im Hinblick auf die Schwächen
und Mängel ihres Systems, besonders in der Wirtschaft, sehr ungünstig. Die Perspektiven
eines sowjetischen Erfolgs in einem solchen Krieg
waren überaus zweifelhaft. Die
Versuche der Breshnew-Führung, den in Europa entstandenen Status quo durch die
Helsinki-Akte zu verankern, konnten die Lage nicht retten und der inneren Erosion des
sowjetischen Systems nicht vorbeugen. Die strategischen Atomwaffen waren machtlos; sie
konnten den Anreiz der westlichen Ideen der Demokratie, der Freiheit, des Rechts und der
Prosperität nicht unterdrücken.
Der Teufelskreis der Herrschaft über Ostmitteleuropa begann die sowjetische Politik
und Wirtschaft wie eine Schlinge am Hals zu erwürgen. Die Sowjetunion war gezwungen,
unannehmbare wirtschaftliche Opfer hinzunehmen, um ihre Herrschaftssphäre in Europa
auf die Dauer abzusichern und gleichzeitig die von Breschnew verkündete Doktrin der
„strategischen Parität“ mit den USA und anderen Großmächten
zu realisieren. Ein
klaffendes Mißverhältnis entstand zwischen diesen Aufgaben der sowjetischen
Außenpolitik und realen Ressourcen für ihre Durchsetzung.
=============
Es ist kaum zu fassen, dass die große Nation Europas - das deutsche Volk - mehr als
ein halbes Jahrhundert in zwei Teile auseinander gerissen war. Das war nicht nur die Folge
der Hitlerherrschaft, die Deutschland in eine nie da gewesene nationale Katastrophe
gestürzt hatte, sondern das Ergebnis der verderblichen Politik der Siegermächte nach dem
Krieg. Für sie waren nicht die Sicherheit und das Wohl der europäischen Völker wichtig,
sondern ihre egoistischen imperialen und ideologischen Interessen. Solange das deutsche
Volk gespalten war, konnte Europa in Ruhe und in Sicherheit nicht leben. Die
Überwindung der widernatürlichen Spaltung Deutschlands war eine der wichtigsten
Voraussetzungen für die Einstellung des Kalten Krieges.
Die Bedingungen dafür reiften erst Mitte der 1980er Jahre, als in der Sowjetunion
unter Michail Gorbatschow der historische
Projekt begonnen wurde, das totalitäre
sowjetische Regime zu reformieren und es in ein System des demokratischen Sozialismus
„mit dem menschlichen Gesicht“ umzuwandeln. Das führte eine radikale Abkehr von den
überholten und konfrontationsträchtigen Prinzipien der sowjetischen Außenpolitik herbei,
und zwar ihre Entideologisierung, die Gewährung der Freiheit für jedes Volk, den Weg
seiner nationalen Entwicklung zu wählen, der Verzicht auf die Breschnew-Doktrin der
„beschränkten Souveränität“; d. h. auf die militärische Einmischung in jedes sozialistische
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Land zwecks der Aufrechterhaltung der sowjetischen Herrschaft, die Verkündung des Ziels
des .Aufbaus eines „gemeinsamen europäischen Hauses“ ohne Trennungslinien u. s. w. All
das müßte zu einer allmählichen Überwindung der Ost-West-Konfrontation führen. Diese
Prinzipien hatten mit dem Stalins Konzept der Schürung und Ausnutzung der
„imperialistischen Gegensätze“ nichts gemein.
Die Reformen in der Sowjetunion brachten endlich eine Wende auch in das Schicksal
Deutschlands. Sie weckten im deutschen Volk, vor allem in der DDR, das Gefühl der
nationalen Einheit und das Streben auf, die Selbstbestimmung zu verwirklichen. Die
Gewähr dafür war vor allem die Verwerfung der Breschnew-Doktrin. Der Fall der Berliner
Mauer; den die Gorbatschowführung ruhig hinnahm und sogar begrüßte, markierte den
Anfang des stürmischen Prozesses der deutschen Wiedervereinigung. Die entscheidende
Rolle begann dabei die Erhebung des deutschen Volkes zu spielen. Ihm konnte jetzt
niemand den Weg sperren, die deutsche Einheit wiederzugewinnen.
Die deutsche Wiedervereinigung 1990 vollzog sich vor dem Hintergrund neuer
geschichtlicher Erkenntnisse und neuer Imperativen, in einer Lage in Europa und in der
Sowjetunion, die sich grundsätzlich von deren unterschied, die in Stalins Zeiten herrschte.
Einer der Wesenszüge der Entwicklung Europas im XIX und XX Jahrhundert ist durch die
Gegnerschaft und kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Kontinentalmächten
Frankreich, Deutschland und Russland gekennzeichnet. Sie traten abwechselnd
gegeneinander in Kombinationen „Deutschland und Russland gegen Frankreich“ (der
Krieg gegen Napoleon, der Stalin-Hitler-Pakt), „Frankreich und Russland gegen
Deutschland“ (der Erste und der Zweite Weltkrieg), „Deutschland und Frankreich gegen
Russland“ (der Kalte Krieg und im Rahmen der NATO nach dem Kalten Krieg) auf. In
dieses Szenario paßte das Konzept der Deutschlandpolitik Stalins und seine Note vom 10.
März 1952. Die Versuche der Weltmächte, die nationalen Interessen im Geiste dieses
Szenarios durchzusetzen, waren für Europa immer unheilvoll. Einen Ausweg aus dieser
Lage hat die Pariser Charta hingewiesen, die im November 1990 von allen europäischen
Staaten, den USA und Kanada unterschrieben wurde.
Aber die herrschende Elite der USA hatte an einer stabilen, friedlichen Entwicklung
und an der gesamteuropäischen Zusammenarbeit in Europa kein Interesse. Sie profitierte
enorm von den kriegerischen Auseinandersetzungen in Europa. Deswegen hielt sie die
Pariser Charta für ein totgeborenes Kind. Dank drei Weltkriegen, die die geopolitische
Rolle und das wirtschaftliche Potential Europas stark unterminiert hatten, vermochten die
USA Anfang 90er Jahre, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, ihre Dominanz auf
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dem europäischen Kontinent herzustellen. Die europäischen Politiker haben durch ihre
selbstmörderische Politik das alte Abendland den Amerikanern preisgegeben. Auch das
wiedervereinigte Deutschland verwandelte sich zu einer Art des Sattelitenstaates der USA
mit begrenzter Souveränität. Auf seinem Territorium sind bis jetzt die amerikanischen und
englischen Besatzungstruppen stationiert.
Obwohl Europa von niemandem mehr bedroht ist und wird, verstärken und erweitern
die Amerikaner die NATO – das Hauptinstrument ihrer Herrschaft auf dem alten
Kontinent. Diese militärische Allianz ist nach Osten bis an die „Schmerzzone“ Russlands
vorgerückt. Im Rahmen der NATO und der EU gelang es den herrschenden Kreisen der
USA, fast alle europäischen Länder gegen Russland zu mobilisieren. Unter dem Druck
von Amerika hat sich die Konfiguration „Deutschland und Frankreich gegen Russland“ im
Rahmen der NATO herausgebildet. So spielt Washington die destruktivste Rolle in
Europa. Es verhindert die Bildung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems und die
gesamteuropäische Zusammenarbeit. Wie zu Stalins Zeiten haben die Europäer mit der
Spaltung des Kontinents, mit dem wachsenden konfrontativen Potenzial, mit den neuen
künstlich geschaffenen Feindbildern, mit der hegemonialen Politik zu tun. Das ist ein
falscher Weg für Europa. Seine Zukunft liegt in der engen Zusammenarbeit und in der
strategischen Partnerschaft zwischen Paris, Berlin und Moskaus im Interesse
Sicherheit und des Wohlstandes aller Europäer.
der
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