STRUKTUREN DES MATERIALS – STRUKTUREN UNSERER GESELLSCHAFT Der Dramatiker Bertolt Brecht schrieb einmal über Hässlichkeit realistischer Kunst: „Der realistische Künstler meidet die Hässlichkeit nicht. Er scheidet einen hässlichen Menschen, eine hässliche Umgebung, einen hässlichen Vorgang nicht aus. Aber er belässt es auch nicht bei der Hässlichkeit, und zwar überwindet er sie in zweifacher Hinsicht, erstens durch die Schönheit seiner Gestaltung (die nichts mit Schönfärberei oder Beschönigung zu tun hat). Zweitens dadurch, dass er Hässlichkeit als gesellschaftliches Phänomen darstellt.“ Was kann diese Aussage für uns Komponisten heute noch (ca. 75 Jahre nachdem sie zu Papier gebracht wurde) oder wieder bedeuten? 1. Ich würde mich nicht mehr als seriellen Komponisten bezeichnen. Ich fasse ein bestimmtes Material, was dann durch den anfänglichen kreativen Prozess in den Stand versetzt wird, das Rückgrat eines Stückes oder eines einzelnen Satzes innerhalb einer Komposition zu bilden, prinzipiell als eine innere Einheit auf, sowohl topologisch in der sich entwickelnden Zeit als auch historisch. Ein voraussetzungsloses Komponieren, das nur durch vorgeschaltete naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten quasi aus dem Nichts heraus erzeugt und entwickelt werden kann, halte ich für falsch; denn es gibt kein voraussetzungsloses Material. Es ist bereits Ausdruck einer anderen, schon befleckten Existenz, und zwar einer gesellschaftlich vermittelten und produzierten. Diese Existenz führt jedoch im Wesentlichen entweder ein unentdecktes, der Allgemeinheit wenig bekanntes Dasein, oder dieses Dasein ist durch eine wenig schmeichelhafte Praxis eines Teils der Produzenten, die sich Komponisten rufen, so verzerrt und entstellt (und dieses wäre dann das von Brecht oben so treffend umschriebene Phänomen der „Hässlichkeit“), dass niemand etwas (mehr) mit diesem Material anfangen kann und will. 2. Es ist also im engeren Sinne eine gesellschaftliche Arbeit für den Komponisten, jedwedes Material, das ihm in die Finger kommt, seiner „eigentlichen“, d.h. wahrhaftigen Bestimmung zuzuführen, das in einen offenen Widerspruch zur gesellschaftliche falschen Anwendung dieses Materials tritt, wodurch ihm sein momentan hässlicher Charakter genommen werden soll und das Material wieder hin zu einer neuen Schönheit transzendiert wird. Das Belassen kompositorischen Materials in seinem hässlichen Charakter hat – und das ist sein untrüglicher und offener gesellschaftlicher Gradmesser – eine gewisse bzw. sogar völlige Missachtung und Ablehnung des Publikums zur Folge, somit es zu den vornehmsten Aufgaben des Komponisten gehört, die Befreiung des kompositorischen Materials mit gesellschaftlicher Aufklärungsarbeit zu verknüpfen. Ein grundsätzlich anderes gesellschaftliches Phänomen besteht darin, dass auch eine nur vorgegaukelte Schönheit des musikalischen Materials, die sich dann aber bei bloßem Hinsehen und geschärfter Wahrnehmung als überaus hässliches Material herausstellt, trotzdem einer sehr großen (u.U. momentanen) Beliebtheit des Publikums erfreuen kann. In diesem Falle ist es dann durchaus normal festzustellen, dass die Produzenten solcher Werke, die wir als „vorgegaukelt schön“ betrachten, es nicht kampflos hinnehmen werden, dass andere – seien es nun Produzenten oder Rezipienten – diese falsche Schönheit durch ihre eigene relevante gesellschaftliche Praxis und politische Arbeit entlarven bzw. für jedermann erkennbar machen und somit an den Pranger stellen. Nun, dieses Ringen um die richtige, weil wahrhaftige Musik, um die richtig empfundene Tradition des musikalischen Denkens ist der täglich sich vollziehende Klassenkampf zwischen den Ausbeutern und Verwertern kreativer Prozesse, deren Produkte nicht auf selbst erarbeiteten Erkenntnissen und Werten beruht, das heisst auch überhaupt nicht beruhen kann, weil eine fundamentale Entfremdung zwischen den in Umlauf gebrachten Werken und den von ihnen in geistiger Entfremdung lebenden, d.h. von ihren eigenen Produkten faktisch abgeschnittenen Produzenten (d.h. Komponisten) auf der einen Seite besteht, und auf der anderen Seite die quasi identitären Tonschöpfer diese Entfremdung dadurch aufheben und beseitigen, weil sie im kompositorischen Material selbst, mit dem sie arbeiten, die Struktur der Gesellschaft im Einklang mit ihrer eigenen subjektiven Tätigkeit selbst freilegen und zum Sprechen bringen, eine Struktur, die durch das Heben in die Erscheinung für alle Menschen ihre eigene Potentialität, ihre eigene Luzidität und damit Identität durchscheinen lässt. 3. Im Lichte des oben genannten Zitats von Bertolt Brecht muss der in der Ästhetik und Musikwissenschaft häufig verwandte Terminus „Neue Musik“ dringend auf den Prüfstand gebracht werden. Nicht, um ihm von vornherein seine theoretisch-gesellschaftliche Berechtigung abzustreiten, aber doch in der Hinsicht, um die Stoßrichtung hin zu einer Musik zu eröffnen, die sich a) als Teil einer in der Gesellschaft immer weitere Kreise ziehenden Bewegung greift, und dies auch notwendig muss, will die Musik nicht den Anspruch aufkündigen, auch die gesellschaftliche Befreiung eines Tages herbeizuführen. b) alle Sondersituationen, zu denen ursprünglich auch die „Neue Musik“ zählte und qua ihrer – nicht selten von der heutigen kapitalistischen Gesellschaft von außen aufgezwungenen minoritären Praxis - oft heute noch zählt, in ihrer immanenten Widersprüchlichkeit und Fragilität begreift, die es gilt, zu attackieren und schrittweise zu überwinden, weil sie den Keim eines erneut entstehenden gesellschaftliche Falschem in sich tragen, das es ja zu überwinden gilt. c) mit keinem, auch nicht mit vermeidlich „unbedeutendem“ vorgefundenen Material als schon abgeschlossen und gewesen abfinden darf. Die Liebe zum Detail bedingt die Liebe zum ganz Großen, das spürt auch noch der letzte Zuhörer oder Medienkonsument, wenn er sich als Zuhörer oder Mitgestalter Werken zuwendet, die nach diesen Regeln der Kunst erarbeitet wurden. Art-Oliver Simon, Okt. 2013