Auszug 3 - Susannah Haberfeld

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Die Kirchenoper
5. Schlussfolgerung
Die vorliegende Arbeit konnte zeigen, dass die Kirchenoper ein sehr lebendiges kulturelles
Phänomen darstellt. Einige der interessantesten zeitgenössischen Komponisten haben sich
diesem Genre gewidmet, das auch viele junge Musiker fasziniert. Die Kommerzialisierung
von Kirchenoper-Produktionen ist zwar schwierig, es lässt sich aber nicht bestreiten, dass das
Interesse des Publikums an dieser Musik sehr gross ist. «Die Kirchenoper, eine interessante
Nische, kann eine spirituelle Ebene ansprechen, die auch Nichtgläubige berührt», sagte im
Interview Thomas Rösner, der im Sommer 2012 die Uraufführung von «Sara und ihre
Männer» dirigierte. Der Initiator dieser Produktion, Thomas Daniel Schlee, sagte: «Die
Kirchenoper kann mit musikalisch eingeschränkten Mitteln inhaltlich essentielle Fragen des
Seins berühren und die eigenartige Tabuisierung des Religiösen in der westlichen Welt
durchbrechen».
Einige der Fragen, die zu Beginn der Arbeit formuliert wurden, konnten beantwortet werden.
Es haben sich aber auch neue Fragen gestellt: Kann die «Tabuisierung des Religiösen»
vielleicht erklären, warum die Kirchenoper von der Musikwissenschaft stiefmütterlich
behandelt wird? Resultiert dieses Desinteresse aus der Tatsache, dass der Versuch, die
spirituellen Bedürfnisse der Massen musikalisch zu befriedigen, sehr viel Kitsch
hervorgebracht hat? Oder konnte dieser Kitsch, New-Age-Gregorianik-Pop, durch die
«Tabuisierung des Religiösen» überhaupt erst entstehen, weil so ernst zu nehmende Musiker
und Komponisten davon abgehalten wurden, in diesem Bereich tätig zu werden?
Die Definition, die zu Beginn dieser Arbeit gewählt worden war, setzte für die Kirchenoper
die Kirche als Aufführungsort voraus. Würde man dieses Kriterium aufweichen, sähe man
sich mit einer grossen Vielfalt des zeitgenössischen Musikschaffens beschäftigen, das in
unzähligen Produktionen spirituelle Bedürfnisse befriedigen, die Einkehr fördern möchte. Ein
Blick in den Katalog der deutschen Firma ECM mit seinen mehr als 1200 Titeln vermittelt
einen Eindruck von dieser Vielfalt. Von Manfred Eicher 1969 gegründet, wurde das deutsche
Label zuerst mit sphärischem Jazz bekannt. 1984 erschien mit Arvo Pärts Tabula Rasa die
erste Veröffentlichung der Reihe «ECM New Series», die sich vor allem der notierten Musik
widmet. Seither entstanden Aufnahmen mit Kompositionen von György Kurtág, Alfred
Schnittke, Heinz Holliger, Helmut Lachenmann, Steve Reich, Meredith Monk, Erkki-Sven
Tüür, Thomas Larcher, Heiner Goebbels, Eleni Karaindrou, Giya Kancheli, Tigran Mansurian,
Valentin Silvestrov, Betty Olivero und anderen.
«Die Verflachung von Musik, die für den Sakralraum bestimmt ist, ist eine unselige
Erfindung des 20. Jahrhundert», sagte im Interview Daniel Thomas Schlee. Er möchte mit
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dem «Carinthischen Sommer» ein Musikfestival realisieren, das nicht nur religiös ist, aber
schon, wie er sagt, die «Sensibilisierung des Publikums bezüglich der grossen Fragen nach
Sinn und Sein» anstrebt. Wie lässt sich für ein solches Vorhaben eine tragfähige finanzielle
Basis finden? Der «Carinthische Sommer» ist in hohem Mass von staatlichen Subventionen
abhängig. Diese Finanzierung ist aber unsicher, je nach politischer Grosswetterlage kann es
leicht passieren, dass Beachvolleyball der Kirchenoper vorgezogen wird. Die Gefahr besteht,
dass ein Festival, um die Geldgeber nicht zu verärgern, der Harmlosigkeit anheimfällt. Doch
Kunst ist, so Schlee, «kein Mittel zur Verdauungshilfe».
Wer sich für Kirchenoper im engeren Sinn interessiert, kommt um britische Komponisten
nicht herum. Komponisten wie Benjamin Britten, Peter Maxwell Davies, Jonathan Dove
haben sich um das Genre verdient gemacht und wurden deshalb im Rahmen dieser Arbeit
prominent behandelt. In Deutschland scheint eine reiche kirchenmusikalische Tradition den
Zweiten Weltkrieg nicht überdauert zu haben. Viele Musiker wollten sich bewusst von allen
Formen des musikalischen Ausdrucks distanzieren, die zur Zeit des Naziregime noch gepflegt
wurden. Sie bemühten sich um einen «Kahlschlag», suchen das Neue um des Neuen willen.
Solche Musik, die sich allen Hörgewohnten verweigern will, wirkt oft mathematisch,
kopflastig. Möglicherweise ist deshalb in Deutschland auch der Graben zwischen E- und UMusik sehr viel tiefer. Die E-Musik muss hier Menschen, die nicht nur intellektuell, sondern
auch spirituell angesprochen werden möchten, enttäuschen.
Ganz anders in England. Ein Komponist, der wie John Tavener sich als Beatles-Fan «outet»
muss nicht befürchten, von der Musikkritik belächelt zu werden. Auch nicht ein Popmusiker
wie Damon Albarn, der nach vielen Brit-Pop-Hits neuerdings Opern schreibt. Diese Offenheit
erlaubt es den Musikern, ihre Sinnlichkeit auszuleben, ohne der Seichtheit verdächtigt zu
werden. So kann anstelle von mathematischen Konzepten das Naturerlebnis zur
Inspirationsquelle werden. Es ist auffällig, dass viele jener britischen Komponisten, die sich
für religiöse Themen interessiert haben, auch der Natur in ihrem Werk einen Platz eingeräumt
haben. Natur ist ja vielleicht der elementarste, reinste Ansatzpunkt für Religion und
Spiritualität.
Drängender als noch zu Beginn der Arbeit stellt sich die Frage nach einer finanziell soliden
Zukunft der Kirchenoper. Es braucht, damit dieses Genre blühen kann, vor allem kreative,
initiative Künstler, Regisseure, Intendanten, überzeugte und überzeugende Menschen, die
sich mit voller Kraft für solche Aufführungen einsetzen. Giovanni Netzer in Graubünden,
Thomas Daniel Schlee in Kärnten, Alexander Pereira in Salzburg, Jane Moss in New York
oder Michael Häfliger in Luzern – sie allen haben in jüngster Vergangenheit bewiesen, dass
es für religiöse Themen ein Publikum gibt. Solche Persönlichkeiten, die für ihr Projekt
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«brennen», können auch ohne Subventionsreichtümer ein Feuer entfachen und Künstler und
Zuschauer in Begeisterung versetzen. Weiter braucht es kraftvolle Orte, hochrangige Künstler
und
Musiker.
Nicht
unwichtig
ist
auch
eine
gute
Werbestrategie,
die
neue
Bevölkerungsschichten anspricht und neugierig macht. Ein interessanter Ansatz, um für
anspruchsvolle Musikaufführungen Resonanz zu finden, stellt Community-Work dar, die
Laien und Profis zusammenbringt. So gelingt der Ausbruch aus dem Ghetto der Hochkultur,
so lässt sich auch ein anspruchsvolles Festival in der Bevölkerung verankern. So können, um
die Regisseurin Mascha Pörzgen zu zitieren, «in einer vornehmlich materialistisch
ausgerichteten Gesellschaft Gegenpole geschaffen, in einer Welt voll Dummheit und Gewalt
kleine Gegenwelten entworfen werden».
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