Der neue Chefdirigent Fawzi Haimor im Gespräch mit Frank Armbruster Herr Haimor, was bedeutet Musik für Sie? Ich glaube, meine Bestimmung, warum ich überhaupt auf der Erde bin, liegt darin, Musik zu machen. Musik kann so vieles: Ein Lächeln auf die Gesichter von Menschen zaubern, sie kann unterhalten, sie kann heilen, Menschen glücklich machen. Manchmal ist sie auch einfach Zaubern, dazu gut, für eine Weile eine Auszeit von den Widrigkeiten der Welt zu nehunterhalten, heilen, men. Wo liegen ihre biografischen Wurzeln? glücklich machen Ich wurde in Chicago geboren, habe aber dort nicht gelebt. Ich habe die ersten elf Jahre meines Lebens in Riad gewohnt, mein Vater hat in Saudi-Arabien für die Vereinten Nationen gearbeitet. Dort habe ich eine amerikanische Schule besucht. Wir waren auch zwischendurch immer wieder in den USA. 1994 sind wir dann in die Gegend von San Francisco gezogen. Wie war das Leben in Saudi-Arabien? Es ist ja ein sehr restriktives Land, Frauen dürfen nicht einmal Auto fahren. nicht mehr kennengelernt hatte, war wohl musikalisch und soll eine sehr schöne Stimme gehabt haben. Welche Art von Musik haben Sie als Kind gehört? Dieselbe wie jetzt. Natürlich klassische Musik, aber auch Rock n’Roll, Pop, Hip-Hop, Rap, Country, Weltmusik. Es ist eigentlich ganz einfach: Wenn mir die Musik gefällt, ist es egal, welche Stilrichtung das ist. Viele denken, dass klassische Musiker auch nur klassische Musik hören, aber das stimmt nicht. Als Jugendlicher habe ich Gitarre in verschiedenen Rockbands gespielt, war sogar Leadsänger und habe auch selbst Songs komponiert. Sie haben neben Musik auch Neurobiologie studiert. War es schwierig für Sie, sich letztlich für einen Beruf zu entscheiden? Ja, das war sehr schwierig! Ich habe mich schon als Kind für Wissenschaft und Musik interessiert und immer beides parallel gemacht. Als es dann auf das Ende des Studiums zuging, habe ich mehrere Monate gebraucht um herauszufinden, wofür ich mich entscheiden sollte. Ich habe mich dann immer intensiver mit Musik beschäftigt, und letztlich wurde es die klassische Musik. Mittlerweile bin ich sehr froh, dass es so gekommen ist. Wobei ich nie aufgehört habe, mich mit Wissenschaft zu beschäftigen. Hat das Studium der Neurobiologie ihr Verständnis von Musik verändert? Hören ist ja ein neuronaler Vorgang. Ja, sehr. Ich habe mich viel damit beschäftigt, welche Wirkung Musik auf das Gehirn und den Körper hat. Musik löst diverse chemische Reaktionen im Körper aus, die dazu führen könMusik löst diverse nen, dass man sich besser fühlt. chemische Reaktionen Ähnlich wie Medizin kann Musik eine heilende Wirkung haben. im Körper aus Sie haben selbst in verschiedenen Ländern gelebt. Denken Sie, dass Musik eine Rolle bei der Integration der Menschen spielen kann, die im Zuge der Flüchtlingsbewegungen nach Deutschland kamen? Ich bin Musiker! 24 Meine Mutter ist Filipina und hatte in Riad eigentlich eine angenehme Zeit. Klar, sie konnte nicht Auto fahren, aber ansonsten fühlte sie sich nicht sehr eingeschränkt. Die Gesetze sind streng, aber wir haben unser Leben nicht als reglementiert empfunden. Konnten Sie sich dort musikalisch betätigen? Ja, natürlich. Ab dem Alter von vier Jahren habe ich praktisch jeden Tag Musik gemacht, ich hatte Geigenunterricht, spielte im Streichorchester, in verschiedenen Ensembles. Diese Zeit hatte einen großen Einfluss auf mein Leben. Spielten Ihre Eltern Musikinstrumente? Nein. Mein Vater hat einen Abschluss in Wirtschaft, meine Mutter ist Krankenschwester. Meine Großmutter, die ich Foto: Jürgen Lippert Auf jeden Fall, für meine Arbeit hier spielt dieser Aspekt eine große Rolle. Mein Vater stammt aus Jordanien, ich kenne das Land, habe dort auch dirigiert. Es gibt ja nicht eben viele arabischstämmige Muslime, die in Deutschland als Dirigenten tätig sind. Ich will auch diesen Menschen einen Zugang zur Musik ermöglichen – weil ich glaube, dass Musik auch ihr Leben leichter machen kann, gerade wenn man bedenkt, was sie hinter sich haben. Das hat auch einen therapeutischen Aspekt. Aber für dieses Publikum müssen Sie ihre Programme anpassen? Sicherlich. Ich kenne viele Komponisten aus dem Mittleren Osten, aus dem Libanon, aus Syrien, Israel, Jordanien, Ägypten, die wunderbare Stücke schreiben. Ich möchte ihnen eine Plattform bieten. Lassen Sie uns über das Repertoire reden. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bestanden klassische Konzertprogramme überwiegend aus zeitgenössischer Musik. Heute sind sie meist historisch, das Gros der Werke ist aus dem 18. und 19. Jahrhundert. In Deutschland gab es den Bruch mit der Moderne nach dem 2. Weltkrieg, Komponisten wie Stockhausen konnten sich nie auf den Programmen von Orchestern etablieren. Sehen Sie eine Möglichkeit, den Fokus wieder mehr auf die Musik unserer Zeit zu richten? Das ist eines meiner wichtigsten Anliegen! Auch Beethoven war zu seiner Zeit modern, und die Musik von heute wird in kurzer Zeit klassisch sein. Ich möchte versuchen, bei jedem Konzert ein Ich möchte bei jedem neues Werk aufzuführen. Das muss Konzert ein neues nicht notwendigerweise eine UrWerk aufführen aufführung sein, sondern einfach ein Stück Musik aus unserer Zeit. Sie können das an den Programmen sehen, die ich in der Vergangenheit dirigiert habe. Ich habe eine Liste mit sehr guten Komponisten, die ich fördern möchte. Wen zum Beispiel? Beispielsweise Mason Bates, mit dem ich auch gut befreundet bin, er war im letzten Jahr der am zweithäufigsten aufge- 25 HAIMOR FAWZI führte lebende Komponist in den USA. Bates war DJ in San Francisco, seine Musik vereint viele Elemente, Clubmusik, Hip Hop, elektronische Musik. Ein anderer ist Kareem Rouston, ein syrischer Komponist, Daniel Barenboim hat eines seiner Werke mit dem West Eastern Divan Orchestra aufgeführt. Das sind nur zwei Komponisten, aber ich könnte Ihnen noch viele andere nennen . . . Ich habe auf Ihrer Webseite gesehen, dass sie einige sehr lustige Programme dirigiert haben, etwa „Classical Mystery Tour“ . . . (Lacht) Oh ja, mein Gott!! Wir haben das in Pittsburgh gemacht, zusammen mit einer vierköpfigen Band, die Beatles-Songs gespielt haben. Mit denen bin ich aufgewachsen, ich liebe sie! Wir haben die Band mit dem Orchester begleitet. Wenn man Songs der Beatles analysiert, sind sie ja viel komplexer als man denkt, die Akkordstrukturen, der Aufbau. Ähnlich der Musik von Queen, mit der wir auch mal ein Konzert gemacht haben . . . Die meisten Sinfonieorchester in Deutschland haben das Problem, dass das Publikum immer älter wird. Viele junge Menschen interessieren sich nicht sehr für klassische Musik, obwohl manche selbst ein Instrument spielen. Ist das nicht paradox? Nehmen Sie das Konzert neulich in der Stadthalle mit Bruckners Dritter, ausverkauft! Und es waren einige junge Leute da. Ich betrachte das Publikum immer sehr genau, egal ob ich dirigiere oder nicht, und ehrlich gesagt – ich habe den Eindruck, es kommen heute mehr Jüngere in Konzerte als 26 noch vor zehn Jahren, obwohl ich keine Ich betrachte Statistiken nennen kann, die das belegen. Ich glaube, dass das mit den Education das Publikum Programmen zu tun hat, die wir heutzuimmer sehr genau tage machen und die ein sehr wichtiger Teil meiner Arbeit sind. Das ist mittlerweile selbstverständlich für klassische Orchester, und es funktioniert! In den USA und auch hier in Europa. Was sollte ein guter Dirigent können? Ich denke, dass sich heutige Dirigenten sehr von denen früherer Generationen unterscheiden. Die Zeit der Dikta- toren ist vorbei. Wenn mich jemand fragt, welchen Beruf ich habe, sage ich: Ich bin Musiker, nicht Dirigent, ich bin nur ein Teil des Orchesters. Wenn ich mit den Orchestermusikern arbeite, versuche ich alle Ideen zusammenzuführen, nicht nur meine eigenen. Das sind alles sehr gute Musiker, und manchmal machen sie Vorschläge, die besser sind als meine. Am Ende ist es dann nicht mein Konzept, sondern unser Konzept, weil alle daran mitgearbeitet haben. Haben Sie Vorbilder unter den Dirigenten? Carlos Kleiber ist ein großes Vorbild, auch Leonard Bernstein und Daniel Barenboim, alle aus verschiedenen Gründen. Bernstein war eine Leitfigur für die amerikanische Musik, er hat fantastische Stücke komponiert, und die Art wie er Musik vermitteln konnte, hatte einen großen Einfluss auf mich. Barenboim ist ein Vorbild wegen seiner Idee von Musik als völkerverbindender, friedensstiftender Kraft. Ich hatte das große Glück, ihn persönlich kennenzulernen und von ihm zu lernen. Einen Komponistentypus wie Leonard Bernstein kann man sich hierzulande nur schwer vorstellen. Es gibt ja in Deutschland eine starke Trennung zwischen E und U, klassischer Musik und Unterhaltungsmusik, viele denken, dass klassische Musik ernst zu sein hat und irgendwie schwierig sein muss. Dabei ist Bernsteins Musik sehr schwer zu spielen, rhythmisch, melodisch, vor allem stilistisch. Aber auch Mozart war Foto: Jürgen Lippert mischt sich sehr gut. Ich könnte jetzt noch viel darüber sagen, aber ja: Ich liebe diesen Saal. Was kennen Sie von Deutschland? Ich bin schon ziemlich herumgekommen, habe viele Menschen kennengelernt, vom Norden bis in den Süden, und alle sind so verschieden, allein die Dialekte . . . ich lerne Hochdeutsch, aber das ist gar nicht so verbreitet (lacht). Aber die Deutschen schätzen es, wenn sie merken, dass man sich bemüht, ihre Sprache zu sprechen. Das ist nicht in allen Ländern so, ich bin wirklich berührt von der Liebenswürdigkeit der Deutschen. Und natürlich ist die Landschaft toll. Deutschland ist so ein fortschrittliches Land, so gut organisiert, ich freue mich, es meiner Familie zu zeigen, wenn sie im September kommt. Finden Sie Deutsch schwer? Zuerst schon. Aber nun, da ich es schon eine ganze Weile lerne, finde ich es sehr logisch. Wenn man das Verständnis für den Satzaufbau hat, klappt es ganz gut. Werden Sie mit ihrer Familie hierherziehen? Unsere Basis ist derzeit in San Francisco, aber wir suchen eine zweite in Europa. Meine Familie reist immer mit mir mit, meine Frau unterrichtet unsere drei Töchter zuhause. Wir waren in London, Paris, Neuseeland, Italien, fast überall auf der Welt, und ich glaube, dass die Kinder davon profitieren, so viele verschiedene Kulturen kennenlernen zu können. Als ich in ihrem Alter war, bin ich mit meinen Eltern ebenfalls sehr viel gereist, und es hat mir viel gebracht. Haben Sie schon mal Spätzle probiert? Sind das die kurzen Nudeln, die es zum Schnitzel gibt? Ja. Ich habe sie schon probiert, aber oft gab es Schnitzel nur vom Schwein. Das darf ich als Muslim nicht essen. Kennt man die Schwaben in Amerika? Die meisten kennen nur Bayern und Berlin. Im Apcot Centre in Disneyworld gibt es eine Art Klein-Deutschland, das sieht aus wie München. nicht immer ernst. Und erst Haydn! Was war Ihr erster Eindruck von der Württembergischen Philharmonie? Ich hatte gleich in den ersten Proben und dann auch im Konzert das Gefühl, dass sie es wirklich genießen zu spielen! Sie wollen eine Botschaft vermitteln und Sie sind stolz auf sind stolz auf das, was sie machen, sie möchten sich beweisen und dem Publidas, was sie kum zeigen, wie gut sie sind. Ich komme machen ja viel herum in der Welt, und so manches Mal stand ich vor einem Orchester und dachte: Eigentlich willst du jetzt nicht hier sein. Aber in Reutlingen war es ganz anders. In welche Richtung möchten Sie das Orchester voranbringen? Zuerst müssen wir uns gegenseitig kennenlernen, und dann würde ich sehr gern das Repertoire erweitern. Sie haben schon ein weites Spektrum, aber ich möchte gern mehr neue Stücke aufführen. Mögen Sie die neue Stadthalle? Oh mein Gott, ich liebe sie!! Dieser Saal ermöglicht den Musikern, sich gegenseitig zu hören. Das ist das Allerwichtigste. Man hört jede Kleinigkeit, jede einzelne Melodie, jedes Pizzicato, dennoch klingt es nicht analytisch, sondern 27