«Gilt es doch, sich ein Wissen von sehr vielen

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16.
Einspielung
Über die
«Gilt es doch, sich ein Wissen von sehr vielen Dingen anzueignen, ohne
dass die bloße Wortgewandtheit leer und lächerlich erscheint, der Rede
selbst nicht nur durch die Auswahl der Worte, sondern auch durch ihre
Fügung die rechte Form zu geben und alle Regungen des Herzens, die
die Natur den Menschen gab, genau zu untersuchen; denn alle Wirkung
und Methode der Redekunst hat sich in der Besänftigung oder Erregung
der Zuhörer zu erweisen. Dazu gehört noch ein gewisser Charme und
Witz, Bildung, die eines freien Mannes würdig ist, sowie Schlagfertigkeit
und Kürze bei Erwiderungen und Attacken, mit der sich feine Anmut
und Eleganz verbindet.»
Marcus Tullius Cicero, De oratore/Über den Redner, hrsg. von Harald Merklin, Reclam Stuttgart 1976, S. 51
Angemessen—
Neue Musik im Spiegel
Natürlich kann man eine Xenakis-Aufführung mit
dem gleichen Sprachsound wie eine Beethoven-Sinfonie beschreiben, ja sogar mit den gleichen Worten.
Auf einer gewissen abstrakten Ebene der Darstellung
könnte man das auch als Spiel betreiben: Was habe ich
gerade dargestellt? Ein Rockkonzert, einen Auftritt
der musikFabrik oder des Ensemble Modern oder
doch einen »typischen« Philharmonie-Besuch?
Genau das ist aber nicht gewünscht – zunächst einmal von den Künstlern selbst, präziser: den
der Avantgarde zugerechneten, sich selbst zurechnenden. Denn die Neue Musik definiert sich – zum einen
durch ihre Geschichte, ihre Kämpfe um Anerkennung,
zum anderen, und das ist wesentlicher als die historische Haltung, über ihren Materialbegriff – in Abgrenzung zur Tradition. Zwar hat sich etwa Pierre
Boulez als Dirigent und Programmmacher verstärkt
um die Tradition bemüht, aber eben unter radikal gegenwärtigem Blickwinkel: Die Neue Musik ist der
Schlüssel zur Musikgeschichte, nicht umgekehrt.
Man kann also die gleiche Sprache verwenden und
würde eben dadurch den ikonoklastischen oder auch
ent-ideologisierenden Anspruch der Neuen Musik
betrügen. Sprachlich, genauer: über die Mittel der
journalistischen Rezeption, würde man Neue Musik
wieder eingemeinden, den fundamentalen Unterschied,
der sie von der Tradition und mehr noch: von der
Pop-Kultur und der sie hervorbringenden Kulturindustrie trennt, einebnen. Zwei radikale Folgerungen
1. Man sollte
kann man daraus ableiten:
Neue Musik nur nach ihren eigenen Maßstäben beurteilen. Das setzt auf der Seite der Schreibenden einen
gewisssen Standard an technischen Begriffen voraus
und eine Kenntnis der Geschichte (dieser Techniken).
Stil, Gestus, Dringlichkeit der Sprache – sie wären
zweitrangig, verschwänden hinter der möglichst korrekten Beschreibung und Einordnung und blieben
dem abschließenden Urteil – der Kür – vorbehalten.
2. Man muss eine Sprache finden, die der
Radikalität der Neuen Musik entspricht. Eine Sprache, die die musikspezifische Radikalität in ihr eigenes
Idiom übersetzt. Technische Kenntnisse, historische
—heit
von Felix Klopotek
der Sprache
Korrektheit – sie wären zweitrangig, verschwänden
hinter der Souveränität der Urteils. Beispiele für den
zweiten Schluss gibt es, und es sind nicht selten Komponisten, die dazu in der Lage sind. Man denke an
Dieter Schnebel, der als Schriftsteller und Journalist
mindestens ebenso großartig wie als Komponist ist
(und der natürlich über den höchsten Standard musikalischer Begriffe verfügt, sein Wissen aber nie überlegen ausspielt, sondern immer nur so viel einsetzt, dass
der Leser nicht überrumpelt wird). Man denke aber
auch an die Poeme John Cages, die folgerichtig Ernst
Jandl ins Deutsche übertragen hat.
In der Praxis findet man diese beiden Formen dieses prinzipiell angemessenen Schreibens über
Neue Musik kaum in Reinform vor. Häufig gibt es
Mischformen zwischen den beiden Formen, das wäre
dann der feuilletonistische Plauderton (muss nicht per
se schlecht sein), meistens mischt sich aber noch ein
weiteres Element hinzu: eines, das jenseits der Musik
liegenden Zwängen unterliegt. Diese liegen zum einen
im journalistischen Tagesgeschäft (redaktionelles Spar-
tendenken, zunehmende Ignoranz gegenüber voraussetzungsvollen Themen etc.), zum anderen im Betrieb
der Neuen Musik selbst. Denn selbstverständlich bewegen sich die Protagonisten der Neuen Musik in einem
künstlerisch-sozialen Umfeld, ist ihre Musikerexistenz
nicht getrennt von Vermittlern (Konzertveranstaltern,
Musikologen, Beamten der städtischen Kulturbürokratie, Mäzenen) zu verstehen. Innerhalb dieses Geflechts
verselbstständigen sich Idiome, entstehen Empfindlichkeiten, nicht mehr zu hinterfragende Gesten. Das
ist alles kein Drama und wohl unvermeidlich, es trifft
generell auf alle «Szenen» zu. Problematisch wird es
dann, wenn mit der Ausbildung einer Szene, die ja ganz
wesentlich zur Stabilität prekärer Künstlerexistenzen
beiträgt, eben das, weswegen sie sich in diesem spezifischen Fall überhaupt gebildet hat, nämlich die Radikalität des musikalischen Ausdrucks, verschüttgeht.
Oder: Zunehmend hermetisch verkapselt geriert und
sich ganz auf die eigene Szene beschränkt, die in der
Lage ist, die musikalische Sprache für sich zu dechiffrieren.
16. Einspielung
Solche Selbstbezüglichkeiten oder meinetwegen InzestPhänomene sind nicht auf die Szene der Neuen Musik
beschränkt, sondern dürften in allen musikalischen
Subkulturen vorkommen. Die meisten Szenen sind
aber größer, sodass es auf der Seite der Rezipienten für
Quereinsteiger leichter ist, sich zu profilieren.
Aber – und das ist interessanter: sie sind
nicht dermaßen kanonisiert. Der Kanon der Neuen
Musik ist immer noch auf einen überschaubaren Kreis
herausragender Komponisten beschränkt. Diese Komponisten haben zudem an ihrer eigenen Kanonisierung maßgeblich mitgearbeitet, was aus ihrer Sicht
legitim ist. Heute gilt die Epoche, in der die Neue Musik sich konsequent dem Sozialen und Politischen
öffnete und somit auch die Rolle des Komponistenübervaters in Frage stellte, bloß noch als Episode. In
den 1960er Jahren entwickelte sich aus der Dekonstruktion des Serialismus und der konsequenten Weiterführung der Cage’schen Indeterminismus-Ästhetik
eine Bewegung, die auf die konkrete Selbstaufhebung
des Komponisten hinauslief. Eine Bewegung, die sich
an andere Kunstformen koppelte – Fluxus, Straßenund Improvisationstheater, Beatpoesie, Free Jazz –
und die vor allem politisch aufgeladen war. Pierre
Boulez wollte die Opernhäuser in die Luft jagen,
Dieter Schnebel konzipierte Musik resp. Aufführungspraktiken für Nicht-Musiker, das Londoner Scratch
Orchestra verstand sich als eine komponierende und
musizierende Volkskommune, selbst Karlheinz Stockhausen dachte Ende der 1960er Jahre ernsthaft daran,
die unter seinem Autorennamen firmierenden, aber
de facto improvisierten Konzepte «seines» Ensembles
der GEMA als Kollektivkompositionen zu melden.
Es ist überhaupt keine Frage, dass in diesen
Jahren sich auch das Schreiben über Neue Musik
änderte und sich ebenfalls öffnete: John Cage wird ins
Deutsche übersetzt, Schnebel legt einen seiner wichtigsten Textbände vor (Denkbare Musik), Heinz-Klaus
Metzger avanciert zum wichtigen Kritiker, in der Reihe
Hanser erscheinen die Ulrich Dibelius herausgegebenen Bände Herausforderung Schönberg, Verwaltete
Musik und Musik auf der Flucht vor sich selbst, Mauricio Kagel oder Konrad Boehmer legen markante, provokante Statements vor. Weitere Beispiele ließen sich
leicht finden. Das Schreiben über Neue Musik wird in
dem Moment spannend, wo es «um etwas geht», wo
die Musik mehr sein will als eine gelungene Aufführung und die maßvolle Weiterentwicklung einer bestimmten Tradition. Dieser Funke springt auf die Re-
zipienten über, denen bewusst wird, dass dieser Sprung
mit dem herkömmlichen Vokabular nicht mehr einzuholen ist. Das Schreiben änderte sich, weil sich die
musikalische Praxis geändert hatte.
Wie gesagt, die Epoche gilt heute als Zwischenspiel, und die Vergötterung des genialen Komponisten ist in den Jahrzehnten nach «1968» vielleicht
sogar noch angewachsen, das darf man schon restaurativ nennen. Wahrscheinlich würde bereits die Hinterfragung des gängigen Neue-Musik-Kanons dazu
führen, dass man als Autor und Journalist nicht mehr
auf das immergleiche (ggf. vom Meister auch noch
sanktionierte) Vokabular zurückgreifen kann.
Andererseits wäre es schlicht absurd, von
heute arbeitenden Komponisten zu verlangen, «1968»
zu wiederholen, zumal es vor vierzig Jahren böseste
Verirrungen gab (erinnert sei an den bizarren Maoismus albanischer Prägung, dem Cornelius Cardew,
einst die treibende Kraft hinter dem Scratch Orchestra,
schließlich huldigte!). Aber es hilft dem Schreibenden,
sich klar zu machen, dass Neue Musik nicht im luftleeren Raum gedacht, geschrieben, gespielt wird; dass
auch die Kunst der größten Innovatoren einen Moment in einer bestimmten ästhetisch-gesellschaftlichen
Bewegung darstellt; schließlich: dass sich Neue Musik
über Tabubrüche und Grenzüberschreitungen konstituiert hat, und dass sich diese konstruktiv-zerstörerische Kraft auch im Schreiben widerspiegeln sollte.
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