Geistlichen Erfahrungen Raum geben

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Dokument 4438
Sperrfrist:
17.06.2004; 14:30 Uhr
Veranstaltung:
Geistlichen Erfahrungen Raum geben
Lernprozesse ökumenischer Spiritualität
Referent/in:
Voss OSB, Dr. Gerhard
Ort:
Haus der Begegnung 1.OG Chorraum, Grüner Hof 7 (Ulm)
Programm Seite:
69
1. Entfaltung der Fragestellung
1.1 Ökumenische Spiritualität: ein Dialog des Lebens
Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ist in unseren Kirchen ein Bewusstsein dafür
gewachsen, dass Kirchenspaltungen dem Willen Christi und dem Wesen der Kirche
widersprechen und für das Zeugnis der Kirche hinderlich sind. Daraus erwuchs ein reger
interkonfessioneller Dialog – nicht nur auf der Ebene der wissenschaftlichen Theologie. Es
kam zu einem vielfältigen, häufig von gemeinsamem Gebet getragenen Dialog des Lebens
im Miteinander von Ortsgemeinden unterschiedlicher Konfessionalität, im breit gefächerten
gesellschaftspolitischen Engagement einer großen Zahl ökumenischer Gruppierungen, in
den Arbeitsgemeinschaften christlicher Kirchen, vor allem und mit besonderer Intensität in
konfessionsverbindenden Ehen und in den Begegnungen geistlicher Gemeinschaften ganz
unterschiedlicher Tradition. Für viele Christinnen und Christen wurde dieser dialogische
Lebensstil zu einer beglückenden und befreienden Erfahrung.
Höhepunkte waren vielerorts die gemeinsamen Bemühungen um eine Rezeption der LimaDokumente von 1982 über Taufe, Eucharistie und Amt oder der Gemeinsamen Erklärung zur
Rechtfertigungslehre von 1999, dann der Ökumenische Kirchentag 2003 in Berlin. Andere
wurden stärker durch die Spiritualität des Konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden
und die Bewahrung der Schöpfung geprägt, durch die Impulse, die von den Ökumenischen
Versammlungen dieses Prozesses ausgingen, besonders von den beiden Europäischen
Ökumenischen Versammlungen 1989 in Basel und 1997 in Graz. Eine Frucht dieses
Prozesses ist die während des ökumenischen Kirchentages voriges Jahr auch von den
deutschen Kirchen unterzeichnete Charta Oecumenica mit ihren Leitlinien für die wachsende
Zusammenarbeit unter den Kirchen in Europa. Sie ist die Magna Charta einer ökumenischen
Spiritualität, die sich als inspirierende Kraft dafür einsetzt, „dass der christliche Glaube und
die Nächstenliebe Hoffnung ausstrahlen für Moral und Ethik, für Bildung und Kultur, für
Politik und Wirtschaft in Europa und in der ganzen Welt“.
1.2 Ökumenische Lernprozesse in Erinnerung rufen und weiterführen
Es ist freilich nicht zu übersehen, dass die neue ökumenische Offenheit quer durch die
Kirchen bei vielen ein Gefühl religiöser Heimatlosigkeit hervorgerufen hat und damit ein
neues Verlangen nach konfessioneller Identität und Profilierung, vielleicht gerade bei
solchen, denen der allgemeine Säkularisierungsprozess in unserer Gesellschaft mit seinen
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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Auswirkungen bis ins kirchliche Leben hinein besonders zu schaffen macht, der ihnen Angst
macht. Für eine ökumenische Spiritualität zu werben, geschieht heute also nicht
unangefochten. Dass wahrhaft ökumenische Spiritualität geprägt ist von einer Weite und
Freiheit des Herzens, in die der Geist Gottes uns führen will, ohne uns kirchlich heimatlos zu
machen, das bedarf heute eines vertieften Aufweises.
Dabei sind vor allem und zunächst die Erfahrungen und Lernprozesse wieder in Erinnerung
zu rufen, die das Leben vieler ernsthafter Christinnen und Christen im ökumenischen
Aufbruch der letzten Jahrzehnte geprägt und getragen haben. Vieles davon scheint wieder
vergessen zu sein. Es ist daran zu erinnern, wie vieles, was uns heute gemeinsam ist,
ursprünglich getrennten und sich befehdenden Konfessionen entstammt. Ich denke
beispielsweise an den großen Schatz heute gemeinsamer Gebete und Lieder. Vieles haben
die Kirchen voneinander gelernt in ihrer Gottesdienstgestaltung, im Umgang mir der Heiligen
Schrift. In der Aufarbeitung ihrer Geschichte ist vieles geschehen zur Reinigung des
Gedächtnisses. Wenn trotzdem wieder konfessionelle Profilierung angestrebt wird, ist zu
fragen, was dabei auch an nichtreligiösen Faktoren mitspielt.
Und es ist zu fragen, ob wir uns gegenseitig wirklich schon genügend kennen gelernt haben,
auch in dem geistlichen Leben, das wir sozusagen hinter unserer Haustüre führen, da, wo
unser christliches Herz wirklich schlägt. Möglicherweise sind wir uns gegenseitig in vielem
doch noch fremd geblieben. Wie gehen wir damit um? Haben wir Anders-fromm-Sein
vielleicht allzu schnell als Weniger-fromm-Sein interpretiert? Was sind die Konstitutiva
wahrer Frömmigkeit, wahrer Gläubigkeit? Welchen Spielraum gestehen wir
unterschiedlichen geistlichen Erfahrungen zu? Wie weit gestehen wir es anderen zu, sich
suchend nach dem Sinn des Lebens auf den Weg zu machen, ohne gleich die geprägten
Antworten des überlieferten Glaubens zu übernehmen? Wie weit gestehen wir es ihnen zu,
auch Neues zu entdecken?
1.3 Sich gegenseitig ernst nehmen
Ganz ohne Zweifel gibt es weiterhin auch theologische Unterschiede, die sich trennend
auswirken: konfessionsspezifische Unterschiede im Verständnis von Kirchlichkeit und
kirchlicher Gemeinschaft und von daher auch in der gegenseitigen Anerkennung der Kirchen
und ihrer Ämter, in der gegenseitigen Zulassung zur Eucharistie. Damit gibt es gerade im
ökumenischen Miteinander auch schmerzliche Erfahrungen gegenseitiger Ausgrenzung.
Wenn Mitglieder anderer Kirchen beispielsweise meine Taufe nicht anerkennen, muss ich
mir sagen, dass das unser gemeinsames Problem ist, die Konsequenz einer noch nicht
behobenen Inkompatibilität der Logiken unseres konfessionellen Denkens. Ich selbst bin
überzeugt, getauft zu sein, und ich lebe daraus. Evangelischen Pfarrern geht es ähnlich
hinsichtlich der Heilsbedeutung ihrer Ordination, der „Gültigkeit“ ihrer Feier der Eucharistie,
des Heiligen Abendmahles. Entscheidend ist zunächst wohl, dass wir unsere Überzeugung
auch überzeugend leben und die Überzeugungen der Anderen ebenso ernst nehmen, wie
wir selbst ernstgenommen werden möchten.
1.4 Persönlichen Erfahrungen Raum geben
Dass unsere Kirchen in der Frage gegenseitiger Anerkennung nicht entscheidend
weiterkommen, nicht genügend offen sind füreinander, auch das hat nicht wenige dazu
gebracht, ihre Kirche als Raum religiöser Beheimatung aufzugeben. Schon Ende der 60er
Jahre entstand die plakative Frontstellung von „Amtskirche“ und „Basis“. Schon damals gab
es in den Ortsgemeinden ökumenische Gruppen, die für konfessionelle Abgrenzungen kein
Verständnis mehr hatten, während die Kirchenleitungen in solcher „Ökumene am Ort“ oft so
etwas wie eine neue Konfession neben den bestehenden Kirchen sahen. Das ist der
Hintergrund für die Gegenüberstellung von „Amtskirche“ und „Basis“. Mit ihr soll nicht nur
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Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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gesagt werden, dass es in den Kirchen ein gewisses Gegenüber von ordinierten
Amtsträgern/Amtsträgerinnen und „nur“ getauften Laien gibt. Auch soll nicht unterstellt
werden, dass alle kirchenleitenden Personen generell unökumenisch und alle anderen
Gläubigen ebenso generell ökumenisch offen sind. Die Begriffe „Amtskirche“ und „Basis“
sind vielmehr Apostrophierung einer Spannung, ja einer Polarisierung von offizieller
Theologie und persönlicher Erfahrung. „Amtskirche“ meint vor allem die Sanktionierung der
offiziellen Theologie durch die Machtmittel, die den Kirchenleitungen zur Durchsetzung ihrer
Lehrautorität zur Verfügung stehen – Kirchenstrafen etwa. Und mit der persönlichen
ökumenischen Erfahrung ist eine ökumenische Grundhaltung gemeint, der ein Teil der
ökumenisch „Fortschrittlichen“ sich verpflichtet weiß aufgrund persönlicher
Gewissensentscheidungen, so wie sie sich in konkreten Situationen aufgedrängt haben.
Kann man von vornherein unterstellen, dass diese Gewissensentscheidungen nicht das
Ergebnis eines ernsthaften Hörens auf das Wort Gottes sind? Oft genug hat es das in der
Geschichte der Kirche ja gegeben, dass einzelne die Notwendigkeit bestimmter Reformen
erkannten und diese dann auch gegen den Widerstand der Kirchenleitungen vorangetrieben
haben. Das II. Vatikanische Konzil hat in vielen solcher Vorstöße etwas erkannt, was der
Geist heute den Kirchen sagt, hat es aufgegriffen und integriert. Das ist mitzubedenken,
wenn sich die „Ökumene am Ort“ in der Tat oft als „Basis“ und Vorhut des Kommenden
versteht. Zu dieser „Basis“ gehören besonders die in unseren Kirchen, die überzeugt sind,
dass ein neues Festhalten an konfessionellen Positionen sehr viel mit Ängsten zu tun hat, in
denen sich ein Mangel an Vertrauen in die Verheißungen Christi und seines Heiligen Geistes
zeigt; sehr viel auch mit einem Bedürfnis nach Absicherung, das nicht am Beispiel Christi
und seiner Selbstentäußerung (vgl. Phil 2,5ff.) orientiert ist.
2. „Spiritualität“: Ausdruck eines Paradigmenwechsels
2.1 Spiritualität: ein neuer Begriff für das Zusammenspiel von Wort Gottes und Geist Gottes
Allein schon der Begriff „Spiritualität“ ist Ausdruck eines Lernprozesses. Es gibt ihn im
kirchlichen Sprachgebrauch noch nicht lange. Soweit ich sehe, taucht er – in bewusster
Anlehnung an das französische „spiritualité“ – literarisch zum ersten Mal 1958 in einem
Artikel des katholischen Theologen Hans Urs von Balthasar auf. Von Balthasar wollte mit
dem Begriff „Spiritualität“ auf Zusammenhänge aufmerksam machen, die lange Zeit kaum
mehr bewusst waren. Spiritualité wurde manchmal mit „Geisteshaltung“ übersetzt. Im
Deutschen haben wir da aber ein Problem: Als Adjektive von „Geist“ haben wir zwei Wörter:
„geistig“ und „geistlich“, und die bringen wir kaum zusammen. Bei „geistig“ denken wir an
den menschlichen Geist, an unseren Intellekt mit seinen Erfahrungen und Einsichten,
Überlegungen und Sorgen. „Geistlich“ ist das Adjektiv zum Heiligen Geist. Wer von beiden
bestimmt unsere „Geisteshaltung“?
Innerkirchlich war das Geistige die Theologie, das Geistliche die Frömmigkeit. Theologie und
Frömmigkeit hatten lange Zeit wenig miteinander zu tun. Das gilt, wenn auch in sehr
verschiedener Weise, für die evangelische wie für die katholische Kirche. Die liberale
evangelische Theologie des 19. Jahrhunderts ging in ihrer religionsgeschichtlichen
Interpretation der Heiligen Schrift, methodisch jedenfalls, von einem rein innerweltlichen
Geschichts- und Wirklichkeitsverständnis aus, sicut deus non daretur – als wenn es Gott
nicht gäbe. Die neutestamentlichen Aussagen über die Gottessohnschaft Jesu, über seine
Geburt aus einer Jungfrau, seine Wunder, seine Auferstehung und Himmelfahrt wurden allzu
undifferenziert als Anleihen aus der babylonischen und ägyptischen Mythologie interpretiert.
Für Studierende aus pietistisch-frommem Elternhaus war das oft eine nicht zu bewältigende
Anfechtung ihres Glaubens. Nur wenige Professoren gaben Hilfen zu einem gläubigen
Verstehen der Bibel, das offen ist für ein Wirken Gottes in der Geschichte dieser Welt.
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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Die katholische Theologie wurde zwar von Professoren gelehrt, die als Priester und oft auch
als Ordensleute in die Formen des geistlichen Lebens in der katholischen Kirche
eingebunden waren. Doch war die scholastische Theologie, die sie zu dozieren hatten, bis in
die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein einerseits sehr rationalistisch und andererseits zugleich
vorkritisch – von einigen Neuaufbrüchen in Frankreich und Deutschland einmal abgesehen.
Literarkritik in der Exegese war in einer Weise tabu, die bei geistig regen Menschen, auch
wenn sie gläubig waren, meist nur ein Kopfschütteln hervorrufen konnte. Die scholastische
Theologie stellte die traditionelle Frömmigkeit nicht in Frage, befruchtete sie aber auch nicht.
Als in den 50er Jahren einer meiner Dogmatiklehrer einmal gefragt wurde, was das
Mysterium der Heiligsten Dreifaltigkeit, über das er seine Vorlesungen hielt, für das geistliche
Leben bedeute, wusste er darauf keine Antwort zu geben. Andererseits waren die
Vorstellungen und Formen der Frömmigkeit des christlichen Volkes – selbst seiner
eucharistischen Frömmigkeit, seiner Marienverehrung und Heiligenverehrung – nur sehr
unzulänglich von theologischer Reflexion bestimmt und manchmal sehr viel mehr von
Visionen einzelner Personen geprägt.
Hans Urs von Balthasar – natürlich nicht er allein, aber im deutschsprachigen Raum er
vielleicht am wirksamsten – wies nun darauf hin, dass das Wort Gottes nur geistlich zu
verstehen ist, in einem vom Geist Gottes geleiteten Verstehen. Paulus sagt in seinem Brief
an die Römer (8,16; vgl. 1 Kor 2,12), dass der Heilige Geist es ist, der unserem Geist
bezeugt, dass wir Kinder Gottes sind. Wann immer wir in uns so etwas erfahren wie
gläubiges Vertrauen und gütige Liebe, dann ist das Frucht des Heiligen Geistes (vgl. Gal
5,22f.), dann ist das Erfahrung des Wirkens des Geistes Gottes, Erfahrung der
Gotteskindschaft in unserem Geist. Ohne solche Erfahrungen ist es nicht möglich, kompetent
über die Gotteskindschaft zu sprechen. Geistliche Erfahrungen können zwar sehr
verschieden sein – wie es die Menschen sind, die diese Ehrfahrungen je in ihrem Geist
machen. Doch ohne geistliche Erfahrung kann es keine authentische Theologie und kein
authentisches christliches Leben geben (vgl. 1 Kor 12,3). Theologische Reflexion ist immer
etwas Sekundäres. Trotzdem ist sie unverzichtbar – als geistige, als kritische Klärung, als
Überprüfung und dann auch als Weiterführung der geistlichen Erfahrung im Bedenken des
offenbarten und offenbarenden, in der Kirche tradierten Wort Gottes. Dieses Wort Gottes ist
das unverzichtbare Kriterium christlicher Spiritualität.
Der Begriff „Spiritualität“ steht im kirchlichen Sprachgebrauch also für eine
Lebensgestaltung, die bestimmt ist vom Wort Gottes und vom Geist Gottes, von den zwei
„Händen“, durch die Gott in seiner Schöpfung, durch die Gott vor allem in den Menschen
wirkt, wie Irenäus von Lyon es im 2. Jahrhundert bildhaft zum Ausdruck brachte. Bestimmt
sein vom Wort Gottes, das bedeutet Orientierung an Jesus Christus, an seinem Wort und an
seinem Weg, wie sie bezeugt sind in der apostolischen Überlieferung. Diese Überlieferung
lebt fort in der Lebensgemeinschaft der Kirche. Christliche Spiritualität ist wesentlich
kirchliche Spiritualität, als solche geprägt von einem Zusammenspiel verschiedener
kirchlicher Bezeugungsinstanzen. Das Dokument „Communio Sanctorum“ des
katholischen/evangelisch-lutherischen Dialogs auf deutscher Ebene nennt fünf solcher
Instanzen der Glaubensvermittlung: die Heilige Schrift, die kirchliche Tradition, das kirchliche
Lehramt, die Theologie und den Glaubenssinn des ganzen Volkes Gottes. Sie alle bezeugen
auf je eigene Weise den christlichen Glauben.
Der Glaubenssinn des Volkes Gottes hat da ein eigenes Gewicht. Er ist nachhaltig wirksam
im Glaubensleben von Eltern, wenn sie ihre Kinder in dieses Glaubensleben einführen. Er
zeigt sich besonders eindrucksvoll im Zeugnis der Heiligen. Offenbar gibt es das: ein in der
geistgewirkten Liebe wurzelndes Gespür für die Wahrheit. Ebenso wie die anderen
Bezeugungsinstanzen hat der Glaubenssinn als eine Gabe des Heiligen Geistes eine
eigenständige und nicht ersetzbare Aufgabe – doch nicht ohne, sondern gerade im
Zusammenspiel mit den anderen Bezeugungsinstanzen: „In der Glaubensgemeinschaft der
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Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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Kirche sind sie einander zugeordnet und aufeinander angewiesen, sie bedingen sich
gegenseitig und wirken ineinander“, heißt es in „Communio Sanctorum“ (72).
2.2 Die neue Spiritualität: österlich und pfingstlich
Der hermeneutische Schlüssel für das Verständnis des Wortes Gottes Alten wie Neuen
Testamentes ist gemäß christlicher Überzeugung Jesus Christus als die geschichtliche
Gestalt, in der das Wort Gottes Mensch geworden ist. Entscheidend ist nun aber, dass das
neutestamentliche Zeugnis von Jesus Christus nachösterlich und nachpfingstlich ist. Die
Evangelien sind in ihrer Intention nicht erfasst, wenn man sie nur als möglichst genaue
Protokolle des Lebens Jesu in seinem historischen Verlauf versteht. Sie sind nachösterliche
und nachpfingstliche missionarische Bezeugungen der Worte und Taten Jesu im Lichte des
apostolischen und urkirchlichen Glaubens an seine Auferstehung und geprägt von den
geistgewirkten Erfahrungen der Konsequenzen dieses Glaubens für das Verständnis und die
Gestaltung des Lebens der Glaubenden.
Der österliche und pfingstliche Charakter des christlichen Zeugnisses war in der
abendländischen Theologie lange Zeit nicht mehr bewusst. Jahrhunderte lang war bis in
unsere Zeit hinein katholische wie evangelische Frömmigkeit vor allem auf den irdischen
Jesus ausgerichtet – in der typisch abendländischen Weihnachts- und Passionsfrömmigkeit
und mit besonderer Betonung der Nachfolge Christi. Weit weniger wurde betont, dass
Christus in seiner Kirche, in seinem Wort und Sakrament, in der Monstranz, in uns
gegenwärtig ist als der Auferstandene, der zu Gott, seinem Vater, hinübergegangen ist und
von daher in uns wirkt durch seinen Heiligen Geist. Hier hat ein Wandel stattgefunden. Es
gibt auch in den Kirchen des Westens heute eine von Ostern und Pfingsten geprägte
Spiritualität. Damit gehört es wesentlich zu dem Paradigmenwechsel, der mit der Einführung
des Begriffes „Spiritualität“ seinen sprachlichen Ausdruck gefunden hat, dass das neue
Leben, von dem die christliche Botschaft spricht, heute wieder als Teilhabe am Leben des
dreifaltigen Gottes verstanden wird.
Der neue Begriff „Spiritualität“ hat weitgehend den in der katholischen wie in der
evangelischen Tradition geläufigen Begriff „Frömmigkeit“ wie auch die in der katholischen
Tradition ebenfalls geläufigen Begriffe „Aszese“ und „Mystik“ abgelöst. Im verengten Blick
auf die Krippe und den Leidensweg Jesu war „Frömmigkeit“ mit der Zeit zu sehr zu einem
Ausdruck bloßer Innerlichkeit geworden. „Aszese“ klang zu sehr leistungsorientiert. Und
„Mystik“ ließ an weltabgewandte Versunkenheit und visionäre Erlebnisse denken, die nur
wenigen besonders Begnadeten geschenkt sind. Mit dem Paradigmenwechsel ist neu in den
Blick gekommen, dass christliche Spiritualität sich als solche erweisen muss durch österliche
Zuversicht und geistgewirkte Liebe. Das hat Konsequenzen, und man sollte es bedenken,
wenn man glaubt, sich irgendwo in oder außerhalb der Kirche mit Eifer für die Wahrheit
einsetzten zu müssen. Der heilige Benedikt schreibt am Ende seiner Klosterregel, dass es
auch einen bösen, einen bitteren Eifer gibt, der tödlich ist. Der gute Eifer glühender Liebe
müsse sich auszeichnen durch gegenseitige Achtung und gegenseitiges Ertragen der
körperlichen und charakterlichen Schwächen in großer Geduld. Die christliche Wahrheit ist ja
nicht eine Summe von Sätzen, sondern eine Person, Jesus Christus als die Wahrheit, als die
Liebe Gottes in Person. Die Wahrheit in Liebe tun, wie es der Epheserbrief (4,15) fordert,
das ist das Zeichen dafür, dass Christus, der von den Toten Auferstandene, in uns Gestalt
gewonnen hat durch den Heiligen Geist, wie Paulus sagt: „Wir alle spiegeln ... die
Herrlichkeit des Herrn wider und werden so in sein eigenes Bild verwandelt ... durch den
Geist des Herrn“ (2 Kor 3,17f.).
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
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2.3 Die neue Spiritualität: Kampf und Kontemplation
In der evangelischen Kirche in Deutschland setzte eine Rezeption des Begriffes „Spiritualität“
nach der V. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1975 in Nairobi ein. Die
Vollversammlung formulierte in ihrer „Botschaft“: „Wir sehnen uns nach einer neuen
Spiritualität, die unser Planen, Denken und Handeln durchdringt.“ In der danach im Auftrag
des Rates der EKD erstellten Schrift „Evangelische Spiritualität. Überlegungen und Anstöße
zur Neuorientierung“ wird als Gewinn des Begriffs „Spiritualität“ in Ablösung des bis dahin
geläufigen Begriffs „Frömmigkeit“ herausgestellt, „dass er Glaube, Frömmigkeitsübung und
Lebensgestaltung zusammenschließt“: „Er bietet also eine Alternative zu
spätprotestantischer, entweder einseitig wortorientierter oder ebenso einseitig
handlungsorientierter oder ebenso einseitig stimmungsorientierter Frömmigkeit“, heißt es da.
Als biblischer Bezugstext wird die Mahnung des Apostels Paulus genannt (Röm 12,1f.), dass
wir uns selbst als lebendiges und heiliges Opfer hingeben. Das sei unser „vernünftiger
Gottesdienst“. Er setze voraus, dass wir uns nicht dieser Welt angleichen, sondern uns
wandelten und unser Sinnen erneuerten, um prüfen und erkennen zu können, was der Wille
Gottes ist.
Nairobi sprach von einer „Spiritualität des Kampfes“, von einer Spiritualität, zu der es gehört,
Verantwortung zu übernehmen, Stellung zu beziehen und notwendigen
Auseinandersetzungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik nicht aus dem Weg zu gehen.
Schon 1973 hatte der Prior von Taizé dem von ihm initiierten „Konzil der Jugend“ das Motto
gegeben „Kampf und Kontemplation“. Damit sollten zwei Verhaltensweisen angesprochen
werden, die sich gegenseitig bedingen: „Kontemplation“ oder – wie heute oft auch gesagt
wird – „Mystik“ als Ergänzung der Spiritualität des Kampfes, „um nach und nach unseren
Blick neu wandeln zu lassen, bis wir schließlich auf die Menschen und die ganze Welt mit
den Augen Christi sehen können“.
Ich sagte schon, dass die scholastische Theologie der katholischen Kirche nicht nur
vorkritisch war, sondern zugleich rationalistisch. Sie hatte kein Verständnis für die
Bildsprache der Kirchenväter und der altkirchlichen Hymnen. Die bildhaften dichterischen
Aussagen beispielsweise, dass die Jungfrau Maria den göttlichen Samen des Wortes Gottes
durch das Ohr oder das Knie empfangen habe, wurden aufgrund eines ausschließlich
biologischen Jungfräulichkeitsverständnisses nur als Kuriosa referiert. Dass das Wort Gottes
von Maria zunächst einmal hörend, durch das Ohr also, und in der geistlichen Offenheit
gläubiger Gottesfurcht, bildlich gesprochen: kniend, empfangen werden musste, um in ihr
fruchtbar werden zu können, das kam in der Theologie nicht in den Blick. Ich habe den
Eindruck, dass christliche Spiritualität heute wieder von einer neuen Poesie beflügelt ist – als
Ausdruck wohl der neuen Wertschätzung von Kontemplation und Mystik. Es gibt ein neues
Verständnis für die Symbolsprache der Seele und damit auch ein neues Verständnis für die
Bildsprache der Bibel. Wir haben neue Methoden, uns mit dieser Bildsprache vertraut zu
machen – bis hin zum Bibliodrama. Und wir haben neue Methoden eines ökumenischen
Austausches unserer Erfahrungen mit der Bibel.
3. Spiritualität: Erfahrung des Geistes Gottes
3.1 Die Freiheit des Geistes
Schon seit den 70er Jahren wird der Begriff „Spiritualität“ sehr inflationär gebraucht. Er ist
nicht mehr auf einen spezifisch christlichen Sprachgebrauch beschränkt. Mir scheint aber,
dass der Begriff „Spiritualität“ im Allgemeinen so gebraucht wird, dass er eine
Lebensgestaltung bezeichnet, die eine Ehrfurcht vor dem Leben einschließt und ein
meditatives Bei-sich-Sein voraussetzt. Eine solche geistliche Lebensgestaltung ist aus
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
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christlicher Sicht nur als Wirkung des Geistes Gottes im Menschen verständlich, auch wenn
wir hier eine Prägung durch das Wort Gottes nicht sehen.
„Der Wind weht, wo er will“, heißt es im dritten Kapitel des Johannesevangeliums (3,8). Das
sei ein Gleichnis für die Geburt aus dem Heiligen Geist. Das Gleichnis beruht darauf, dass
das griechische Wort „pneuma“ sowohl Geisthauch als auch Windhauch heißen kann.
„Pneuma“ ist aber auch der Lebenshauch, der Atem. Das ist ja bei jeder Geburt eines Kindes
der spannende Augenblick, wenn es mit einem Mal anfängt zu atmen. Du hörst den Atem
und weißt: Das Kind lebt. Woher das kommt, dieses Wunder des Lebens, das wissen wir
nicht. So ist es auch beim Heiligen Geist. Es ist es das Geheimnis des Geistes, dass er
souverän atmet, wo er will; dass er „Herr ist und lebendig macht“, wie es im
Glaubensbekenntnis heißt.
Westliche Theologie hat jedoch immer sehr stark betont, dass der Heilige Geist, der uns
geschenkt ist, kein anderer ist als der Geist, der in Jesus Christus wirksam war. Westliche
Theologie hat sich immer schwer getan mit unberechenbaren, vom Wort Gottes nicht mehr
gedeckten Ausdrucksformen charismatischer – vielleicht sollten wir heute sagen:
esoterischer – Begeisterung. Mehr und mehr sah man den Geist nur noch in dem
institutionellen Rahmen am Werk, in dem das Wort Gottes tradiert wird und wirkt: in der
Kirche, im Wort der Heiligen Schrift. Als Kriterium für die Gegenwart des Heiligen Geistes
bekam damit die dogmatische Rechtgläubigkeit ein Übergewicht gegenüber der geistlichen
Erfahrung. Weitgehend ist das der Grund für den Konflikt zwischen Theologie und Erfahrung,
den ich schon angesprochen habe. Doch, so hat es Kardinal Walter Kasper als Professor
einmal (1973) formuliert: „Die praktische Erfahrung ist nicht nur Anwendung der Wahrheit,
sondern ein Ort der konkreten Wahrheitsfindung.“ Das führt freilich immer wieder zu
Konflikten.
Ein konkretes Beispiel der Spannung von offizieller Theologie und persönlicher Erfahrung
haben wir innerhalb der katholischen Kirche in Deutschland vor einigen Jahren schmerzhaft
erlebt: Die staatlichen Gesetze der Bundesrepublik erlauben einen
Schwangerschaftsabbruch nur nach einer vorherigen Beratung, über die eine Bescheinigung
vorgelegt werden muss. Wir in Deutschland – auch die Bischöfe – waren froh, auf diese
Weise beratend auf die Entscheidungsfindung schwangerer Frauen einwirken zu können, bis
Rom darauf hinwies, dass ein solcher Beratungsnachweis auch als eine Lizenz zur Tötung
ungeborenen Lebens interpretiert werden könnte. Rom verlangte, dass kirchliche
Beratungsstellen solche Scheine nicht weiterhin ausstellen. Die Kirche dürfe nicht auch nur
den Anschein erwecken, positiv an der Tötung ungeborenen Lebens beteiligt zu sein. Das ist
eine durchaus einsichtige, aber nicht unbedingt zwingende theologische Konsequenz. Viele
der Beraterinnen und Berater waren in ihrem Gewissen sehr viel stärker von der Erfahrung
geprägt, wie oft ihre Beratung faktisch zur Rettung des Lebens geführt hatte. Sie tun ihre
Arbeit weiterhin – im Rahmen von Donum Vitae, d.h. nicht mehr in offizieller kirchlicher
Verantwortung. Sie respektieren die von Rom durchgesetzte theologische Forderung. Sie
wissen sich in ihrer weiteren Arbeit aber mindestens ebenso getrieben von einer
Verantwortung für das Leben. Diese ihre Verantwortung für das Leben wurzelt in ihrem
christlichen Glauben. Kann man ihnen da wirklich Beihilfe zur Tötung ungeborenen Lebens
vorwerfen? Muss man ihre Überzeugung kirchlich ausgrenzen? Es ist ein Unterschied, ob
man sich ein Urteil bildet nur aufgrund der erschreckend hohen Zahl der Abtreibungen, oder
ob man es auch selbst schon einmal unternommen hat, in Not geratene schwangere Frauen
konkret zu begleiten, um ihnen in ihren Konflikten behilflich zu sein. Und wie ist theologisch
die Beratungstätigkeit derer zu werten, die persönlich keiner Kirche angehören, sich vielleicht
auch nicht zum Christentum bekennen, sich aber trotzdem für die Erhaltung des Lebens
einsetzen? Caritas und Innere Mission sind offizielle kirchliche Werke christlicher
Nächstenliebe. Aber auch sie sind nicht die einzigen Organisationen, die die Armut in der
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
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Welt bekämpfen und in Notsituationen helfen. Worin unterscheidet sich die Spiritualität
dieser von der Spiritualität jener?
3.2 Das Wirken des Geistes Gottes im ganzen Kosmos
In unseren Kirchen wird heute auch neu gesehen, dass die Gnade Gottes in allen Menschen
wirksam ist „von Anbeginn der Welt“, wie es im Zweiten Eucharistischen Hochgebet heißt,
selbst in den nichtchristlichen Religionen, obwohl das Wort Gottes, wie wir es kennen, noch
nicht zu ihnen gelangt ist. Der Geist Gottes atmet, wo er will. Viele Christinnen und Christen
haben bereits die Erfahrung gemacht, dass sie durch den interreligiösen Dialog für ihre
eigene Spiritualität sogar etwas lernen können – etwa in der Praxis der Meditation, in der
Achtsamkeit gegenüber der Schöpfung.
Mit außerchristlichen religiösen Phänomenen ist in der Missionsgeschichte der Kirche
unterschiedlich umgegangen worden, wie auch schon die Heilige Schrift unterschiedlich
damit umgeht. „Was ihr verehrt, ohne es zu kennen, das verkünde ich euch“, sagt Paulus in
der Apostelgeschichte (17,23). In dem unbekannten Gott sieht Paulus verborgen eine Spur
des wahren Gottes. Die frühe und die mittelalterliche Kirche hat meistens die heidnischen
Kultstätten zerstört. Doch hat es immer auch eine Offenheit für das Wirken des Heiligen
Geistes schon vor Christus gegeben, eine Rezeption – eine „Taufe“ – vorchristlicher
Religiosität, Mythologie und Symbolik. So sehr der „unerlöste“ Mythos auch verführerisch
und zerstörerisch sein kann und oft Menschen in Angst gefangen hält, so sehr ist er mit
seinen archetypischen Bildern auch ein Spiegel der Sehnsucht, die der Geist Gottes in den
Menschen wirkt. Katholische Theologie spricht hier von einer analogia entis, von einer trotz
aller unüberbrückbaren Differenz doch auch tiefen Entsprechung zwischen dem natürlichen
und dem übernatürlichen Sein, zwischen der Schöpfung selbst noch in ihrer Entstellung
durch die Sünde und dem Schöpfer, nach dessen Bild der Mensch ursprünglich erschaffen
ist und auf das hin er in Christus neu geschaffen wird. Vor allem reformierte Theologen
sahen in der Bejahung bzw. Ablehnung dieser Entsprechung die eigentliche
katholisch/protestantische Differenz und verstanden sie als Differenz von letztlich doch
heidnisch gebliebener Religiosität im Katholizismus und wahrem christlichen Glauben im
Protestantismus. Vieles aber hat in den letzten beiden Jahrzehnten dazu geführt, dass –
besonders bei Frauen, aber nicht nur bei ihnen – heute auch im Protestantismus der Blick
neu geschärft worden ist für das Wirken des Geistes Gottes, für das Wirkten der „Ruach“
Gottes, der „Sophia“ Gottes im Mythos wie überhaupt im Kosmos.
Die christliche Spiritualität der frühen Kirche hat in ihrer liturgischen Ordnung der
Gebetszeiten des Tages und der Feste im Rhythmus des Jahres wie auch in ihren Hymnen
immer schon ein Gespür dafür gezeigt, dass der ganze Kosmos als der Lebensraum der
Menschen in die Erlösung einbezogen ist und an der „Herrlichkeit der Kinder Gottes“
teilhaben wird, wie Paulus im Römerbrief sagt (vgl. Röm 8,21). Auch für diesen
ursprünglichen Zusammenhang von Mensch und Kosmos gibt es heute ein neues Gespür,
wie auch für das Geheimnis des Lebens in all den Dimensionen der Erde, in denen dieses
Leben heute vergewaltigt wird und dem Tode ausgesetzt ist. In ihrer Sorge um dieses Leben
haben katholische Gläubige durch die Jahrhunderte immer wieder die Gottesmutter Maria
angerufen. In ihrem Schoß hat die Menschwerdung des Sohnes Gottes ihren Anfang
genommen. Von hier aus ist sie ihren Weg gegangen bis ins Herz der Erde (Mt 12,40). Die
abendländische Tradition kennt zwar nicht wie die ostkirchliche die Höhle als den Ort der
Geburt Christi. Doch sieht sie im Schoß der Jungfrau Maria gleichsam den Exponenten des
Schoßes der Erde, in den der Sohn Gottes hinabgestiegen ist, um dort neues Leben
erblühen zu lassen. Dadurch ist die mütterliche Erde in die Auferstehung zu neuem Leben
hineingenommen, deren Frucht seit Pfingsten die Ausgießung des Heiligen Geistes „über
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
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alles Fleisch“ (Apg 2,17) ist. Es geht in einer genuin christlichen kosmischen Spiritualität also
nicht nur um eine Bewahrung der Schöpfung seitens der Menschen, sondern mehr noch um
unsere Hoffnung auf ihre Verklärung durch den Heiligen Geist.
4. Ökumenische Spiritualität in theologischer Verantwortung
4.1 Konfessionsspezifische Unterschiede
Bei vielen, deren Frömmigkeit traditionell evangelisch geprägt ist, wird kosmische Spiritualität
auf großes Befremden, oder sogar auf heftige Ablehnung stoßen. Es ließen sich noch
weitere Punkte benennen, an denen traditionell katholische und traditionell evangelische
Spiritualität nicht leicht zueinander finden, zumal wenn mitbedacht wird, dass protestantische
Tradition in einer großen Breite unterschiedlicher Strömungen lebt, zu denen auch die
evangelischen Freikirchen gehören. Das Spektrum katholischer Spiritualität ist nicht minder
breit, wenn man nur an die unterschiedlichen Spiritualitäten der verschiedenen Orden und
der neuen geistlichen Bewegungen denkt.
Ein markanter Unterschied zwischen evangelischer und katholischer Spiritualität wird oft mit
Worten Dietrich Bonhoeffers markiert, der von einem Gespräch berichtet, das er mit einem
katholischen Priester führte über die Frage, „was wir mit unserem Leben eigentlich wollten“.
Dieser sagte, er wolle ein Heiliger werden. Bonhoeffer wollte das nicht. Er wollte – ohne „aus
sich selbst etwas zu machen“ – „glauben lernen“, einen Glauben, in dem man sich Gott ganz
in die Arme wirft „in der vollen Diesseitigkeit des Lebens ..., in der Fülle der Aufgaben,
Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten“.
Heilig werden – glauben lernen: So sehr diese beiden Antworten typisch sind, so sehr ist der
Unterschied zwischen beiden überzogen, wenn man „heilig werden wollen“ im Sinne einer
„Werkgerechtigkeit“ interpretiert. Es mag Katholiken geben, die Gutes tun, „um in den
Himmel zu kommen“, wie es Protestanten gibt, die mit einer allzu billigen Gnade spielen.
Und in beiden Traditionen kann ein falsches Verständnis christlicher Demut und Buße zu
ekklesiogenen Neurosen führen. Doch weder in der einen noch in der anderen Tradition
kann es christliche Spiritualität geben ohne Glauben und Liebe, ohne eine daraus
erwachsene Zuversicht, mit der man sich bis in den Tod der gnädigen Führung Gottes
anvertraut und sich darum auch des ewigen Lebens gewiss ist. Es ist ökumenisch
entscheidend wichtig, dass die christlichen Konfessionen keine geschlossenen Systeme
sind. Konfessionelle Identität ist weitgehend dadurch bestimmt, wie die Angehörigen der
verschiedenen Konfessionen sich selbst sehen bzw. gesehen werden möchten, wo
konfessorisch ihr Herz schlägt (und dann auch leicht verwundbar ist).
Es bleiben Unterschiede. Heilig werden wollen – glauben lernen: Diesem Unterschied
entsprechen auch Unterschiede im Verständnis der christlichen Weltverantwortung, in der
Ethik, in der Frage einer christlichen Gestaltung des außerkirchlichen öffentlichen Lebens.
Am gravierendsten sind die Unterschiede im Verständnis der Kirche, der Bindung der
Einzelnen an ihre Kirche, der Betonung von Freiheit oder Bindung hinsichtlich der Vorgaben
für persönliche Gewissensentscheidungen. Wie ist es möglich, angesichts der Wahrheit des
Wortes Gottes, der sich die Kirchen in unterschiedlicher Weise verpflichtet wissen, trotzdem
in einer theologisch verantwortbaren Weise eine ökumenische Spiritualität zu leben? Ich
möchte dazu abschließend aus katholischer Sicht in aller Kürze fünf Prinzipien nennen.
4.2 Theologische Prinzipien ökumenischer Spiritualität
4.2.1 Christliche Existenz ist wesentlich dialogische Existenz gemäß dem Bild des
dreieinigen Gottes. Papst Paul VI. war es, der den Begriff „Dialog“ ins kirchliche Vokabular
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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eingeführt hat. Dabei war er beeinflusst von der personalistisch orientierten Philosophie des
20. Jahrhunderts. Der neuzeitliche Dialog ist nicht nur eine Disputation, um Kontroversen
auszufechten. Es geht in ihm um die Möglichkeiten eines Zusammenlebens, in dem die
personale Würde und Freiheit der Menschen und ihre kulturelle Prägung ernst genommen
werden, unabhängig von den Positionen, die sie vertreten. Ein solcher Dialog der liebenden
Zuwendung lebt von einer Bejahung der Vielfalt und ist weder auf Überredung noch auf
Bekehrung aus, sondern auf vollere Gemeinschaft. Er zielt auf ein vertieftes Verstehen, in
dem das Bild der Anderen nicht entstellt ist, ja in dem man die Welt auch mit ihren Augen zu
sehen sucht und dadurch auch für sich eine Bereicherung erfährt, wie Martin Buber sagt:
„Der Mensch wird am Du zum Ich.“ Urbild eines solchen dialogischen Lebensstiles ist nach
christlicher Überzeugung die Einheit der drei göttlichen Personen, wie Christus sie uns
geoffenbart hat. Papst Paul VI. schreibt, der Dialog habe seine Autorität durch die Wahrheit,
die er darlegt, durch seine Liebe, die er ausstrahlt, durch das Beispiel, das er gibt. Er müsse
friedfertig sein, ohne zu einer Abschwächung der Wahrheit zu führen.
4.2.2 Christliche Identität erfordert Mut zu Katholizität gemäß der Vielfalt der Heiligen Schrift.
Gemeinsame Norm für die Theologie und die Spiritualität in unseren Kirchen ist die Bibel. Sie
ist die maßgebliche Norm der Apostolizität der Kirche. Soweit es heute noch unterschiedliche
Ergebnisse der exegetischen Forschung gibt, sind diese kaum konfessionsspezifisch. Und
doch lässt sich nicht leugnen, dass es sozusagen konfessionsspezifische Brillen beim Lesen
der Bibel gibt – in dem, worauf besonders Wert gelegt wird, was ausgeblendet wird. Die
ganze Vielfalt der in der Heiligen Schrift angelegten Möglichkeiten christlichen Lebens als
Wesensmerkmal der einen wahren Kirche Christi wird in der christlichen Tradition mit dem
Begriff „Katholizität“ bezeichnet. Katholizität gehört wesentlich zur christlichen Identität: „Wir
glauben ... an die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche.“ In einem
Studiendokument der Gemeinsamen Arbeitsgruppe der Römisch-katholischen Kirche und
des Ökumenischen Rates der Kirchen von 1970 über Katholizität und Apostolizität heißt es,
die Kirchen müssten „den Mut haben zu erkennen, was ihrer Katholizität fehlt“ und „ihr Leben
und Handeln immer mehr ‚katholisch’ werden lassen“. Das Ziel des II. Vatikanischen Konzils
in den Jahren 1962-65 ist sicher richtig wiedergegeben, wenn man es auf die Formel bringt:
Vom geschlossenen Katholizismus wieder zur offenen Katholizität. Katholizität bedeutet
nicht, dass alle Möglichkeiten christlichen Lebens überall verwirklicht sein müssen. Sie
dürfen aber nicht ausgegrenzt werden. Katholizität und Dialog sind korrespondierende
Begriffe.
4.2.3 Die Hierarchie der Wahrheiten ermöglicht Konzentration. Evangelische Spiritualität ist
durch eine Konzentration auf die Rechtfertigungsbotschaft als die völlig genügende „Mitte“
und „Summe“ des Evangeliums geprägt. Evangelische müssen auch nicht aus ökumenischer
Rücksichtnahme bei sich eine Marienstatue aufstellen. Das Ökumenismusdekret des II.
Vatikanischen Konzils (Nr. 11) trägt dem durch die Feststellung Rechnung, „dass es eine
Rangordnung oder ‚Hierarchie’ der Wahrheiten ... gibt, je nach der Art ihres
Zusammenhangs mit dem Fundament des christlichen Glaubens“. Nicht alle
Glaubenswahrheiten, vor allem nicht solche, die primär der Präzisierung dieses
Fundamentes dienen sollen, müssen in gleichem Maße in unserem Glaubensbewusstsein
präsent sein. Das bedeutet ja nicht, dass wir sie leugnen. Man muss ja auch sagen, dass die
komplexen theologischen Sachverhalte den meisten Gläubigen kaum verständlich sind.
4.2.4 Eine Differenziertheit der Konsense ermöglicht kirchliche Beheimatung aufgrund einer
Begrenzung der gegenseitigen Zumutungen. In der wieder entdeckten Weite und Pluralität
ökumenischer Katholizität sehen viele heute eine Gefährdung ihrer kirchlichen Identität.
Doch spielen in diesem Verständnis von Identität, wie mir scheint, neben den theologischen
auch psychologische Faktoren eine Rolle, auch politische, ethnische und soziale. Mit
konfessioneller Identität ist kirchliche Beheimatung gemeint. Insofern sind Ängste
verständlich. Aber man muss sich darüber klar werden, was man zu verlieren fürchtet.
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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Konfessionelle Identität ist kaum genau zu umschreiben. Alle Versuche, das wesentlich
Katholische oder Evangelische eindeutig zu definieren, waren bisher unbefriedigend. Man
darf die Kirchen auch in ihrer Konfessionalität nicht mit konfessionalistischen Milieus
verwechseln.
Es ist aber richtig: Ökumenischer Fortschritt darf nicht zu kirchlicher Heimatlosigkeit führen.
Hier gewinnt nun das Modell des differenzierten Konsenses seine Bedeutung. Es darf in der
christlichen Gemeinschaft Unterschiede geben, sofern in den Grundwahrheiten
Übereinstimmung besteht und diese Übereinstimmung durch die verbleibenden
konfessionellen Unterschiede nicht in Frage gestellt wird. Der differenzierte Konsens
ermöglicht es, in Wahrung der bestehenden Unterschiede zusammenzuleben. Oder sagen
wir es ehrlicher und als ökumenische Aufgabe: Das Modell des differenzierten Konsenses ist
die Voraussetzung dafür, dass die getrennten Kirchen auf ihrem Weg wachsender
Gemeinschaft weitergehen können, ohne Identitätsverlust befürchten zu müssen. Man sollte
dieses Modell auf allen Ebenen beachten: Was kann in voller Überzeugung gemeinsam
getragen werden? Und was kann ich mittragen, obwohl es mir vielleicht fremd ist? Was darf
ich den Anderen zumuten, was nicht?
Kirchliche Identität hat zur Voraussetzung, dass man in eine bestimmte kirchliche Tradition
hineingewachsen ist. Viele säkularisiert aufgewachsene Menschen finden heute erst ganz
langsam neu zu einer kirchlichen Sozialisation. Ein solcher Weg hat Konsequenzen für die
Gestalt der Spiritualität. Auf der Suche nach Geborgenheit ist dann die Gefahr besonders
groß, sich exklusiven Gruppierungen anzuschließen. Ich behaupte aber: Wenn wir unserem
Leben eine geistliche Ordnung geben in dialogischer Offenheit, dann gewinnt sie umso mehr
Tiefgang bis in den Grund unserer Seele hinein, dann wird sie sich heilend auswirken, dann
gibt es aber auch ökumenische Kompatibilität mit anderen geistlichen Ordnungen, die im
Grunde das gleiche Ziel haben. Traditionen mit wirklicher geistlicher Tiefe stehen im gleichen
Strom, der aus der Quelle des Lebens kommt, der von Gott kommt und – wie wir hoffen – zu
Gott hinführt.
4.2.5 In allen innerkirchlichen Richtungsstreitigkeiten hat die Ausrichtung auf das Reich
Gottes Priorität. Christlicher Glaube steht immer in einer Spannung von Ich und Wir: Er
erfordert eine persönliche Entscheidung. Diese aber bildet sich in der Gemeinschaft der
Glaubenden und prägt ihrerseits diese Gemeinschaft mit – positiv oder auch negativ. Alle
innerkirchlichen Entscheidungen und Beurteilungen bedürfen also kommunikativer
Rücksichtnahme, sowohl auf Seiten der Einzelnen als auch auf Seiten der Gemeinschaft, der
Communio, und derer, die sie repräsentieren und leiten.
Paulus verdeutlicht das im 1. Korintherbrief (Kap 8-10) an der Frage, ob es erlaubt sei,
Fleisch zu essen, das vor dem Verzehr heidnischen Göttern geopfert wurde. Wie hat man
sich da zu verhalten – bei öffentlichen Festmählern oder wenn solches Fleisch auf dem
Markt besonders günstig angeboten wird? Paulus nimmt zunächst eine harte dogmatische
Position ein (in 1 Kor 10,1-22, wohl einem in den 1. Korintherbrief eingebundenen früheren
Brief): Götzenopferfleisch essen bedeutet Abfall von dem einen wahren Gott. Dann aber
lässt er sich doch auf das Argument der Korinther ein, dass es ja gar keine Götzen gibt, dass
es also nichts mit Götzendienst zu tun hat, wenn man solches Fleisch isst. Paulus kann das
als persönliche Gewissensentscheidung akzeptieren – unter zwei Voraussetzungen: Erstens
muss ich bedenken, dass ich eine besondere Verantwortung für meinen Glauben trage,
wenn ich ganz persönlich Entscheidungen für mein religiöses Verhalten treffe. Zweitens darf
die persönliche Freiheit nur so gebraucht werden, dass sie niemand zum Anstoß wird. Auch
hier also: Wahrheit ohne Liebe ist für die Gemeinschaft zerstörerisch.
Heißt das aber, dass immer nur die Ängstlichen, die vor allzu großer Freiheit Warnenden in
der Kirche ausschlaggebend sein dürfen? Wir kennen das ja auch heute: Ja keine
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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Präzedenzfälle, keine Aufregung, keine Verwirrung! Doch beim Plädoyer für die Liebe darf
der andere Pol nicht übersehen werden, die Freiheit, zu der uns Christus befreit hat. Hier
steht dann Gewissen gegen Gewissen, und darum kann es auch nötig sein, ein
ökumenisches Zeugnis zu geben in einem Eintreten für die Freiheit des Gewissens anderer.
Beide Seiten sollen einander in Liebe annehmen, wie Christus sie angenommen hat, sagt
Paulus in einer ähnlichen Situation im Römerbrief (Röm 15,7): Zerstört nicht das, was Gott
eigentlich wirken will. „Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, es ist
Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist“ (Röm 14,17). Hier werden die Prioritäten
einer wahrhaft christlichen Spiritualität deutlich, einer christlichen Spiritualität, die zugleich
ökumenisch ist.
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Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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