LEBENSMITTELVERSCHWENDUNG Essen für den Müll

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DAS THEMA: LEBENSMITTELVERSCHWENDUNG
Essen für den Müll
Unser Umgang mit Lebensmitteln treibt seltsame Blüten. Ein Großteil landet im Abfall - und wird
mancherorts dort von Menschen aufgesammelt, die das eigentlich nicht nötig haben. Warum sind wir eine
Wegwerfgesellschaft und welche Alternativen gibt es?
VON CHRISTIAN GESELLMANN
CHEMNITZ - Für ihre Eltern sei Kaufen noch ein Stück Freiheit gewesen, sagt Susann. "Jedes neue
Produkt mussten sie gleich haben - wenn es denn überhaupt zu bekommen war. Und jetzt macht
es sie halt irgendwie stolz, wenn der Kühlschrank voll ist", erzählt die 23-jährige Studentin,
während sie mit einer kleinen Holzkiste voller Obst und Gemüse durch die Nacht streift. "Und wir?
Wir sind die Generation, die nach demselben Gefühl im Müll sucht." In Susanns Kiste befinden sich
Sellerie, Kohlrabi, Orangen, Kirschen, Gurken - mehr als sie und ihre drei Freunde tragen können,
haben sie im Müll zweier Supermärkte auf dem Chemnitzer Kaßberg gefunden. Sie stellen die
Kisten in einem Gebüsch ab und laufen zum nächsten Discounter. Die Nacht ist noch jung.
Auf Beutezug durch die Nacht
Halb elf haben sich Alex, Marco, Susann und Nele zum gemeinsamen "Containern" getroffen, wie
die Nahrungssuche im Müll genannt wird. "Dann hat der letzte Supermarkt gerade zugemacht und
es ist auch schon dunkel genug", sagt der 27-jährige Alex, der Ingenieur in einem
Forschungsinstitut ist. Geldmangel treibt ihn also nicht an, mit Taschenlampe und Handschuhen
Mülltonnen zu durchforsten. "Es ist einfach krass, wie viel weggeworfen wird. Gutes Zeug, schau
mal!" Alex deutet auf die Weintrauben, die fein säuberlich in Kisten gestapelt auf die "Mülltaucher"
zu warten scheinen. Sie stehen hinter einer der gehobeneren Supermarktkette vor dem umzäunten
Bereich, in dem die Mülltonnen stehen.
Außerdem sind dort Bananen und Spargel, alles in einwandfreiem Zustand. Die vier nehmen sich
soviel sie brauchen und stapeln dann die immer noch gut gefüllten Kisten ordentlich übereinander.
"Falls noch jemand kommt", sagt Nele.
"Containern hat in Chemnitz eigentlich niemand nötig", findet Christiane Fiedler, Geschäftsführerin
des gemeinnützigen Vereins Chemnitzer Tafel. Für Bedürftige sei gesorgt. Der Verein hat drei
Kühlfahrzeuge, "die von Montag bis Freitag, von 7 bis 17 Uhr ununterbrochen unterwegs sind, um
überschüssige Lebensmittel einzusammeln", erzählt Fiedler. Jeden Tag kommen auf diese Weise
2,6 Tonnen Nahrungsmittel zusammen, mit denen wöchentlich 5000 Bedürftige in Chemnitz
versorgt werden. "Das meiste kommt von den Supermärkten. Das ist Obst und Gemüse, das den
Ansprüchen der Kunden nicht genügt. Gurken mit einem Fleck, Bananen mit braunen Stellen,
Backwaren vom Vortag oder Sachen, bei denen das Haltbarkeitsdatum bald abläuft", erzählt Fiedler
und beteuert: "Da ist nichts dabei, was nicht einwandfrei genießbar wäre!" Auch die
ehrenamtlichen Mitarbeiter der Tafel müssen die Kühlkette einhalten, die Lebensmittel- und
Hygienestandards erfüllen.
Mehr als 100.000 Tonnen werden jährlich an die Tafeln in Deutschland gespendet. Immer noch
eine geringe Menge im Vergleich zu den 20 Millionen Tonnen Lebensmittel, die laut der
Welternährungsorganisation der Uno in deutschen Haushalten pro Jahr in den Müll wandern. Jedes
fünfte Brot, jeder zweite Kopfsalat, jede zweite Kartoffel, die Hälfte des in EU-Gewässern
gefangenen Fisches landen im Müll. Die Uno-Experten schätzen, dass ein Drittel aller weltweit für
den Menschen produzierten Lebensmittel nie auf dem Teller landet.
Vieles wird bereits aussortiert bevor es auf den Markt kommt, weil es nicht gut genug aussieht,
oder weil sich krumme Gur?ken eben nicht so gut in Kisten einsortieren lassen wie kerzengerade.
Hinzu kommen die Speisereste, die täglich in den Kantinen und Mensen des Landes anfallen.
Tierpark als Konkurrenz
Große Abnehmer von Waren, die gut genug zum Essen aber zu schlecht für den Handel sind, sind
auch die Zoos. "Gerade im Winter, wenn es knapper wird mit Obst und Gemüse, ist es ein
regelrechter Konkurrenzkampf zwischen uns und dem Tierpark", erzählt Fiedler.
"Was letztlich im Müll landet, ist nur noch das, was die Tafel nicht mitnimmt", sagt Erik
Zimmermann, Filialleiter eines Edeka-Supermarktes in Chemnitz. Was übrigbleibt müssen wir ja
schließlich selbst bezahlen. Deshalb haben wir das schon ziemlich optimiert, wie viel wir beim
Großhändler bestellen."
Gurken habe er nach der Ehec-Warnung eben einfach nicht mehr bestellt. "Für den Großhändler ist
das natürlich nicht so gut - die müssen langfristiger planen", sagt Zimmermann. Wenn
beispielsweise bei Joghurt nur noch ein bis zwei Tage bis zum Ablauf des Haltbarkeitsdatums
fehlen, bringe es in der Regel auch nichts mehr, die Ware preisreduziert anzubieten, berichtet
Zimmermann. "Das kriegen wir nicht mehr los", sagt der 35-Jährige.
"Mein Kühlschrank ist ziemlich leer", erzählt Marco. Nicht weil ich arm bin. Aber ich finde,
Lebensmittel wegzuschmeißen ist dekadent und respektlos. Ich gehe nur nach Bedarf einkaufen."
Mitunter schaue er eben jeden Tag im Supermarkt vorbei. Ganz regulär. Und ab und zu dann auch
nachts.
Makrele und Kartoffelsalat
Die vier Mülltaucher finden nicht nur Obst und Gemüse, sondern auch verpackte Waren mit
gültigem Mindesthaltbarkeitsdatum. Mettwurst, Räuchermakrele, Kartoffelsalat. "Das kannst du
alles noch essen. Das Zeug ist doch verschweißt und abgekocht und voll mit
Konservierungsstoffen. Das hält noch locker drei, vier Wochen", sagt Marco. Nele wendet sich leicht
angewidert ab. "So Fertigzeug ess ich überhaupt nicht", sagt die Studentin. Marco, der an der TU
Chemnitz als wissenschaftlicher Mitarbeiter angestellt ist, bespricht dagegen schon mit Alex das
Menü, das der heutige Container-Gang hergeben könnte: "Aus dem Sellerie und dem Schmelzkäse
können wir eine Suppe machen. Danach gibt's Spargel und als Nachtisch Obstsalat." Die Händler
sehen es nicht gern, wenn in ihrem Müll gewühlt wird. Weggeworfene Lebensmittel dürfen nicht
mehr in Verkehr gebracht werden, komplizierte Haftungsfragen könnten entstehen. Seit 2006 darf
Müll laut EU-Verordnung nicht einmal mehr an Schweine verfüttert werden. Stattdessen, so
berichtet der Journalist Tristram Stuart in seinem Buch "Für die Tonne", führt die EU nun jährlich
40 Millionen Tonnen Soja aus Südamerika ein.
Am Ende ihrer Tour treffen sich die vier Mülltaucher noch kurz bei Susann, um die "Beute" dieser
Nacht aufzuteilen. Auch die Mitbewohner bekommen noch was ab. "Willst du nicht Spargel
mitnehmen? Komm, der muss in den nächsten Tagen gegessen werden, sonst wird er schlecht."
Bildtext:
Die Beute der "Mülltaucher": Nach kaum mehr als einer Stunde Suchen ist der Tisch voll mit Obst
und Gemüse in gutem Zustand. - Foto: Privat
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Freiberger Zeitung
Dienstag, den 28. Juni 2011
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