Frauengesundheit in der Praxis Gynäkologe 2008 · 41:381–388 DOI 10.1007/s00129-008-2161-5 Online publiziert: 11. April 2008 © Springer Medizin Verlag 2008 Redaktion L. Beck, Düsseldorf K. Friese, München G. Gille, Lüneburg J. W. Schumann, Hamburg A.M. Möller-Leimkühler Psychiatrische Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität, München Depression – überdiagnostiziert bei Frauen, unterdiagnostiziert bei Männern? Zusammenfassung Seit 2007 in dieser Rubrik erschienen 02/2007 Posttraumatische Belastungsstörung nach Krebs – Krebs als Trauma? 04/2007 Beratung zu sexuellen Problemen bei Patientinnen mit Mammakarzinom 06/2007 Genitale Body-Modifications bei Frauen 07/2007 Altern – Alter und Sexualität (Teil 1) 08/2007 Altern – Alter und Sexualität (Teil 2) 09/2007 Physische Attraktivität und zyklus- abhängige Partnerpräferenzen 10/2007 Juristische Aspekte bei Minderjährigen in der gynäkologischen Praxis 11/2007 Leitliniengerechte Diagnostik und Therapie der postmenopausalen Osteoporose 01/2008 Arterielle Hypertonie bei Frauen 02/2008 Funktionelle gynäkologische Syndrome als larvierte Sexualstörungen Frauen erkranken etwa 2- bis 3-mal so häufig an einer Depression wie Männer. Als Ursachen dafür müssen methodische, biologische, psychosoziale und sozioökonomische Faktoren angenommen werden. Die soziale Geschlechterrolle ist dabei ein entscheidender Faktor. Eine Überdiagnostizierung der Depression bei Frauen wird durch die bisherigen Forschungsergebnisse nicht belegt, vielmehr muss die hohe Depressionsrate auf belastungsreiche Lebenslagen von Frauen, einer spezifisch weiblichen Vulnerabilität für soziale Stressoren und einer ebenfalls spezifisch weiblichen emotionsbezogenen Stressverarbeitung zurückgeführt werden. Bei Männern dagegen kann die geringere Depressionsrate am ehesten mit einer Unterdiagnostizierung erklärt werden. Gründe dafür sind mangelnde Hilfesuche, männerspezifische Stressverarbeitung und eine einseitige Depressionsdiagnostik. Die bisherigen Befunde zur Depression bestätigen, wie wichtig eine geschlechtersensible Perspektive in Forschung und Praxis ist, insbesondere bei Erkrankungen, die als geschlechtstypisch gelten. Schlüsselwörter Depression · Geschlechtsrolle · Gender bias · Stressverarbeitung · Männliche Depression Major depression – overdiagnosed in women, underdiagnosed in men? Abstract Major depression is two to three times as common in women as in men. Explanations for this difference include methodological, biological, psychosocial, and socioeconomic factors. Gender roles are most important in this context. Previous findings suggest that depression in women is not mainly due to overdiagnosing but to stressful life situations, a specific vulnerability to social stressors, and an emotion-focused stress response. In men, depression can more likely be explained by underdiagnosing resulting from men’s insufficiency in seeking help; men’s externalizing of the stress response, thus masking typical depressive symptoms; and a gender bias in diagnosing. A gender-sensitive approach in research and clinical practice is necessary for improving assessment and treatment of men and women, especially with regard to diseases that are held to be gender-specific. Keywords Depression · Gender role · Gender bias · Stress response · Male depression 04/2008 Perinatale Prägung und lebenslange Krankheitsrisiken Der Gynäkologe 5 · 2008 | 381 7 Soziale Geschlechtsrolle Die Geschlechtsrolle strukturiert den Zugang zu personalen, sozialen und materiellen Ressourcen Trotz des gesellschaftlichen Wandels sind traditionelle Geschlechterstereotype weiterhin existent und insbesondere für Männer handlungsleitend 7 G ender 7 Systematische Verzerrungen Belegt ist, dass eine psychische Störung umso eher diagnostiziert wird, je deutlicher Symptome aus dem Normbereich des Geschlechterstereotyps herausfallen 7 R ollenkonforme Attribute Körperliche und psychische Erkrankungen werden nicht nur durch die biologische Geschlechtszugehörigkeit über genetische und hormonelle Faktoren beeinflusst, sondern auch durch die 7 soziale Geschlechtsrolle über gesellschaftliche Konstruktionen von Weiblichkeit (Expressivität) und Männlichkeit (Instrumentalität). Die Geschlechtsrolle hat nicht nur eine zentrale Funktion für die Identität und das Selbstkonzept des Einzelnen, sondern strukturiert als soziale Kategorie gleichzeitig den Zugang zu personalen, sozialen und materiellen Ressourcen, und zwar unterschiedlich für Männer und Frauen. Insofern sind Geschlechtsrollen verbunden mit jeweils geschlechtsspezifischen Einstellungen und Gesundheitskonzepten, Erkrankungsrisiken und Krankheitsentwicklungen. Obwohl sich die Geschlechterrollen infolge des gesellschaftlichen Wandels deutlich verändert haben – die Frauenrolle sehr viel stärker als die Männerrolle – sind die traditionellen Geschlechterstereotype weiterhin existent und insbesondere für Männer handlungsleitend [17, 7]. In der Medizin gewinnt die Erkenntnis, neben den biologischen auch die sozialpsychologischen Aspekte des Geschlechts ( 7 gender) in Forschung, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation zu berücksichtigen, zunehmend an Bedeutung, um eine bedarfsgerechte Versorgung zu fördern: Dies bedeutet auf medizinischer Seite, dass häufig nachgewiesene 7 systematische Verzerrungen bei Diagnose und Therapie infolge impliziter stereotyper Vorstellungen von „weiblich“ und „männlich“ vermieden werden müssen. Es ist empirisch belegt, dass für Frauen ebenso wie für Männer eine psychische Störung umso eher diagnostiziert wird, je deutlicher die Symptome aus dem Normbereich des Geschlechterstereotyps herausfallen, sei es im Sinne einer Übererfüllung (bei Frauen z. B. große Ängstlichkeit oder Abhängigkeit von anderen, bei Männern z. B. sozialer Rückzug oder ausgeprägte Aggressivität) oder einer Untererfüllung (bei Frauen z. B. sozialer Rückzug oder Aggressivität, bei Männern z. B. Weinerlichkeit oder soziale Unterordnung; [2]). Geht man von der klassischen Verknüpfung von Weiblichkeit und Depression über die Zuschreibung 7 rollenkonformer Attribute wie Passivität, Angst, Schwäche, Traurigkeit, Introvertiertheit oder Selbstunsicherheit aus, so könnte die zwei- bis dreifach höhere Depressionrate bei Frauen als das Ergebnis einer möglichen Überdiagnostizierung erscheinen (. Abb. 1). Da sich traditionelle Männlichkeitsnormen in Opposition zu diesen „weiblichen“ Attributen definieren (über Macht, Erfolg, Stärke, Selbstsicherheit, Unabhängigkeit etc.), erscheint es plausibel, dass Männer nur halb so häufig depressiv sind wie Frauen (Lebenszeitprävalenz von 5–12% im Vergleich zu 12–20%). Depression – bei Frauen überdiagnostiziert? 7 A rtefakttheorien Biologische Ansätze liefern keinen hinreichenden Beitrag Die hohen Depressionsraten der Frauen können am besten mit dem psychosozialen Ansatz erklärt werden Die immer wieder bestätigte Geschlechterdifferenz in den Depressionsraten ist bis heute nicht restlos aufgeklärt. 7 Artefakttheorien gehen davon aus, dass die hohen Depressionsraten der Frauen als Folge ihres Hilfesuchverhaltens, ihrer Symptom- und Erinnerungsbereitschaft und offenen Symptomschilderung und/oder als Folge eines diagnostischen Bias zu verstehen sind. Diese geschlechtsspezifischen Artefakte müssen zwar bei der Depressionsdiagnostik berücksichtigt werden, sind aber insgesamt zu gering, um die Geschlechterdifferenz zu erklären. Biologische Ansätze, die auf die reproduktive Funktion, hormonelle oder genetische Faktoren zielen, liefern zwar einen wichtigen, aber keinen hinreichenden Beitrag. Das genetische Depressionsrisiko ist für beide Geschlechter vergleichbar, und es gibt – entgegen verbreiteter Annahme – keine substanziellen Hinweise auf ein erhöhtes hormonell bedingtes Depressionsrisiko bei Frauen, weder in der Pubertät, noch bei der PostpartumDepression noch in der Prä- oder Perimenopause [4]. Biologische Faktoren spielen eine wichtige Rolle, müssen aber in einem multikausalen Zusammenhang mit psychosozialen Faktoren wie Sozialisation, soziale Lebenslage, Rollenstress und Stressbewältigung gesehen werden. Forschungen der letzten 20 Jahre haben belegt, dass die hohen Depressionsraten der Frauen am besten mit dem psychosozialen Ansatz erklärt werden können, d. h. mit ihrer sozialen Lebenslage und den Rollenbelastungen, die aus den Anforderungen der weiblichen Rolle entstehen. Stress und Stressbewältigung – bei Frauen anders als bei Männern Depressive Episoden können als Folge unzureichender Bewältigung von Stress verstanden werden 382 | Der Gynäkologe 5 · 2008 Depression gilt als die Stresskrankheit des 21. Jahrhunderts. Bei depressiv Erkrankten befindet sich die Stressachse in einem dauerhaften Aktivierungszustand, und im Blut ist ein konsistent erhöhter Kortisolspiegel nachweisbar. Damit können depressive Episoden als Folge unzureichender Bewältigung von (chronischem) Stress verstanden werden. 2,5 Frauen Raten % 2,0 Männer 1,5 1,0 0,5 Abb. 1 7 Depressionsraten nach Geschlecht und Alter. (Mod. nach [18]) 9 -4 45 4 -5 50 55 -5 9 9 -3 35 40 -4 4 9 -2 25 4 4 -2 20 -3 15 30 9 -1 4 -1 59 10 0- 4 0,0 Alter 120 Frauen Männer Suizide/100.000 100 80 60 40 20 Abb. 2 7 Suizide in Deutschland nach Alter und Geschlecht im Jahr 2000. (Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes) 0 -9 -19 -29 -39 -49 -59 Altersgruppe -69 -79 -89 Es sind im Wesentlichen drei soziostrukturelle Verschiebungen im letzten Jahrhundert, die die Stressquellen für Frauen vermehrt haben: Fzunehmende Teilnahme am Erwerbsleben, die zwar prinzipiell gesundheitsförderlich ist, aber noch immer mit mehr Benachteiligungen im Vergleich zu Männern verbunden ist und zu einer Mehrfachbelastung durch Hausarbeit und Kindererziehung führt; FVeränderung der Familienstrukturen mit einer Zunahme der Anzahl alleinerziehender Mütter (87% der Alleinerziehenden); FÜberalterung der Gesellschaft: Im Vergleich zu Männern sind Frauen im Alter stärker von Alleinleben, Armut und Multimorbidität betroffen; die Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger wird meistens von Frauen übernommen. Vor diesem Hintergrund sind eine Reihe von 7 Risikofaktoren für Depression bei Frauen identifiziert worden, die in . Tab. 1 zusammengefasst sind. Das höchste Depressionsrisiko haben alleinerziehende Mütter mit geringem Bildungsstand. Wie . Tab. 1 zeigt, haben Männer z. T. andere Risikofaktoren für Depression, soweit dies der eingeschränkten Datenlage bei Männern zu entnehmen ist. Während Frauen mit multiplen Stressquellen konfrontiert sind, erscheint bei Männern die Berufsrolle als die dominierende Stressquelle, zumindest ist diese bei Männern am besten untersucht. Männer haben nicht nur die gefährlicheren Berufe, sie sind stärker von der zunehmenden Arbeitsplatzunsicherheit betroffen, sind stärker durch Arbeitslosigkeit belastet und haben ein höheres psychisches Erkrankungsrisiko infolge ungünstiger psychosozialer Arbeitsbedingungen, sog. Gratifikationskrisen, die durch eine Kombination von hohen Anforderungen und geringer Kontrollmöglichkeit einerseits und hoher Verausgabung und geringer Belohnung andererseits zustande kommen [3, 14]. Schließlich erweist sich die erfolgreiche Emanzipation der Frauen als ein bedeutender Stressfaktor für Männer: dies betrifft nicht nur die Erwerbstätigkeit der Frauen, sondern auch ihre Trennungsbereitschaft. Im Unterschied zu Frauen, die eine Trennung/Scheidung erleben, steigt das Depressions- und Suizidrisiko bei Männern um das Mehr- 7 Risikofaktoren Gratifikationskrisen entstehen durch eine Kombination von hohen Anforderungen und geringer Kontrollmöglichkeit mit hoher Verausgabung und geringer Belohnung Der Gynäkologe 5 · 2008 | 383 Tab. 1 Psychosoziale Risikofaktoren für Depression Risikofaktoren für Frauen Niedriger sozioökonomischer Status Niedriges Bildungsniveau Hausfrau Ehefrau Mutter Alleinerziehende Mutter Geringe soziale Unterstützung Versorgung pflegebedürftiger Angehöriger Sexueller Missbrauch in Kindheit Risikofaktoren für Männer Niedriger sozioökonomischer Status Alleinlebend Scheidung/Trennung Arbeitslosigkeit Berufliche Gratifikationskrisen Pensionierung Chronische Erkrankungen Tab. 2 Vorgeschlagene diagnostische Kriterien für „männliche Depression“. (Mod. nach [12]) – Vermehrter sozialer Rückzug, der oft verneint wird – Burnout: berufliches Überengagement, das mit Klagen über Stress maskiert wird – Abstreiten von Kummer und Traurigkeit – Zunehmend rigide Forderungen nach Autonomie (in Ruhe gelassen werden) – Hilfe von anderen nicht annehmen: das „Ich kann das schon allein“-Syndrom – Ab- oder zunehmendes sexuelles Interesse – Zunehmende Intensität oder Häufigkeit von Ärgerattacken – Impulsivität – Vermehrter bis exzessiver Alkohol- und/oder Nikotinkonsum (süchtig nach TV, Sport, etc.) – Ausgeprägte Selbstkritik, bezogen auf vermeintliches Versagen – Versagensangst – Andere für eigene Probleme verantwortlich machen – Verdeckte oder offene Feindseligkeit – Unruhe und Agitiertheit – Konzentrations-, Schlaf- und Gewichtsprobleme 7 Stressvulnerabilität 7 K ortisol- und ACTH-Ausschüttung Männer reagieren auf Stress mit „fight or flight“ und setzen externalisierende Strategien ein 7 Emotionszentrierte Copingstrategien fache [6, 13]. Auch diese Tatsache bestätigt erneut, dass die Ehe für Männer deutlich mehr gesundheitsprotektive Effekte hat als für Frauen. Frauen und Männer unterscheiden sich nicht nur in ihrer objektiven Stressbelastung, sondern auch in Bezug auf ihre 7 Stressvulnerabilität und -verarbeitung. Da Frauen – evolutionsbiologisch und sozialisationsbedingt – interpersonell orientiert sind, sind sie bedeutend anfälliger für Stress, der aus engen sozialen Beziehungen kommt und weisen diesbezüglich stärkere psychobiologische Stressreaktionen auf als Männer (z. B. höhere 7 Kortisol- und ACTH-Ausschüttung, höhere Hirnaktivität bei emotionalen Reizen und emotionalem Gedächtnis; [15]). Dagegen sind Männer – evolutionsbiologisch und sozialsationsbedingt – an sozialem Status orientiert und weisen stärkere psychobiologische Stressreaktionen bei leistungsbezogenen Stressoren auf, die ihren Status bedrohen könnten. Während Männer auf Stress mit dem typischen „fight or flight“ reagieren und externalisierende Strategien einsetzen mit einem hohen Risiko der Selbst- und Fremdschädigung (assoziiert mit Alkoholmissbrauch, kardiovaskulären Erkrankungen und Suizid), reagieren Frauen auf Stress einerseits prosozial mit kommunikativen Strategien („tend and befriend“), andererseits mit internalisierenden, vor allem 7 emotionszentrierten Copingstrategien wie Selbstbeschuldigung und Grübeln oder auch soziotropen Verhaltensweisen, die wiederum stressverstärkend wirken. Ein Zusammenhang mit Depression, Angststörungen und posttraumatischer Belastungsstörung wurde in mehreren Studien nachgewiesen. Depression – bei Männern unterdiagnostiziert? Bisher wurde erläutert, warum die hohe Depressionsrate bei Frauen in der Summe keine Überdiagnostizierung, sondern ein reales Phänomen ist, das sich aus einer belastungsreichen Lebenslage, der besonderen Vulnerabilität für soziale Stressoren und einem internalisierenden, emotionsbezogenen Bewältigungsstil ergibt. Für Männer liegen dagegen Hinweise für eine Unterdiagnostizierung der De- 384 | Der Gynäkologe 5 · 2008 pression vor. Das wichtigste Argument hierfür ist das 7 Geschlechterparadox von Depression und Suizid: Während die Depressionsrate der Männer nur halb so hoch ist wie die der Frauen, übersteigt ihre Suizidrate die der Frauen mindestens um das Dreifache (. Abb. 2). Geht man davon aus, dass mehr als 90% aller Suizide unmittelbare Folge einer psychischen Erkrankung sind, meist einer Depression, dann unterstützt dies die Annahme, dass Depressionen bei Männern häufig unerkannt bleiben und nicht behandelt werden. In diese Richtung verweisen auch die Ergebnisse internationaler Bevölkerungsstudien, die eine Unterbehandlung der Depression vor allem bei jüngeren Altersgruppen und Männern belegen [20, 5]. Welche Gründe sind für die nachweisliche Unterdiagnostizierung und Unterbehandlung depressiver Männer entscheidend? Aus medizinsoziologischer Sicht erscheinen drei Faktoren wesentlich: mangelnde Hilfesuche, dysfunktionale Stressverarbeitungsmuster und ein 7 Gender bias in der Depressionsdiagnostik. Der gemeinsame Nenner dieser Faktoren ist das Konstrukt der traditionellen Maskulinität: Dies schließt die Erkrankung an einer Depression bei Männern normativ aus, erzwingt ihre Maskierung und leistet damit der sog. „männlichen Depression“ Vorschub. Männer weisen in allen Altersgruppen die geringeren Inanspruchnahmeraten professioneller Hilfe auf (m:w=1:2). Psychische oder emotionale Probleme sind selten ein Konsultationsgrund und werden bei einem Arztkontakt entsprechend selten angesprochen, stattdessen wird über körperliche Beschwerden geklagt. Vor dem Hintergrund traditioneller Maskulinitätsnormen ist ein solches Vermeidungsverhalten nicht verwunderlich, da es gilt, (bedrohte) männliche Identität aufrechtzuerhalten. Hilfesuche ist im Männlichkeitsstereotyp nicht vorgesehen, da sie Inkompetenz und Abhängigkeit, Aufgabe von Autonomie und Selbstkontrolle signalisiert, kurzum „Unmännlichkeit“. Statt Hilfe zu suchen, wird bedrohte Männlichkeit (über)kompensiert mit rollenkompatiblen, aber (selbst)destruktiven Strategien: Alkoholmissbrauch, Ausagieren, Gewalt, Suizid. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass sich Depressionen bei Männern anders als mit den klassischen Depressionssymptomen äußern können, und zwar mit männertypischen 7 Abwehrstrategien zum Schutz einer „starken“ Fassade [9]. Bisherige Studien zur geschlechtsspezifischen Psychopathologie der Depression kommen zu dem Ergebnis, dass – zumindest bei klinischen Depressionen – sich die Kernsymptome nicht unterscheiden. Allerdings geben Männer konsistent weniger depressive Symptome als Frauen an und weisen mitunter eine höhere Feindseligkeit, einen erhöhten Alkoholkonsum sowie eine erhöhte Agitiertheit auf. Interessant ist weiterhin, dass sich die Depressionsrate und -symptomatik von Männern nicht von derjenigen der Frauen unterscheidet, wenn Alkohol und Suizid gesellschaftlich tabuisiert sind wie in der Jüdisch-Orthodoxen Gemeinde oder die Geschlechtsrollennormen streng egalitär sind wie bei den Amish People. Das Konzept der „männlichen Depression“ wurde erstmals im Rahmen eines Suizidpräventionsprogramms auf der schwedischen Insel Gotland formuliert [17]. Nach einem systematisch durchgeführten Fortbildungstraining der dort ansässigen Ärzteschaft in Bezug auf Depressionsdiagnostik und -behandlung zeigte sich, dass die Suizidrate bei Frauen um etwa 90% reduziert werden konnte, die der Männer aber unverändert blieb. Psychologische Autopsien der männlichen Suizidopfer ergaben, dass diese zwar häufig depressiv und/oder alkoholabhängig waren, aber weniger den dortigen Ärzten als vielmehr der Polizei und den Ordnungsbehörden bekannt waren. Neben den üblichen depressiven Symptomen waren Symptome wie Gereiztheit, Irritabilität, Aggressivität, Ärgerattacken oder antisoziales Verhalten häufiger bei den männlichen als bei den weiblichen Suizidopfern zu finden. Erst als diese 7 männerspezifische Symptomatik in Diagnostik und Therapie berücksichtigt wurde, konnte auch hier eine Reduktion der Suizidrate erreicht werden. Erfahrungen aus der psychotherapeutischen Praxis vervollständigen das Symptomprofil einer männlichen Depression (. Tab. 2). Auch die wenigen bisher vorliegenden Studien zur männlichen Depression bestätigen weitgehend die theoretischen Annahmen: In einer dänischen Bevölkerungsstudie zeigte sich, dass unter den Bedingungen reduzierten Wohlbefindens Frauen direkt eine Major Depression entwickelten, während Männer mit Stress, Aggression und Alkoholmissbrauch reagierten [1]. Wurden in einer Stichprobe von alkoholabhängigen Patienten neben den klassischen Depressionssymptomen auch die untypischen, aber für Männer typischen 7 Abwehrmuster erfasst, konnte ein deutlich höherer Prozentsatz von depressiv erkrankten Männern identifiziert werden [21]. In Bezug auf stationär behandelte depressive Patienten zeigte sich eine stärker ausgeprägte affektive Rigidität sowie höhere Irritabilität und signifikant häufigere Ärgerattacken bei Männern als bei Frauen [19]. In einer eigenen Studie an ebenfalls stationär behandelten depressiven Patienten [8] ließen sich unterschiedliche geschlechtsspezifische Symptommuster aufdecken: Irritabilität, Aggressivität und antisoziales Verhalten bei Män- 7 Geschlechterparadox Internationale Bevölkerungsstudien belegen eine Unterbehandlung der Depression vor allem bei jüngeren Altersgruppen und Männern 7 Gender bias Bedrohte Männlichkeit wird (über)kompensiert mit rollen- kompatiblen, aber (selbst) destruktiven Strategien 7 Abwehrstrategien Im Rahmen eines Suizidpräventionsprogramms wurde das Konzept der „männlichen Depression“ formuliert 7 Männerspezifische Symptomatik 7 Abwehrmuster Der Gynäkologe 5 · 2008 | 385 Mit steigender Depressionsgefährdung können die typisch depressiven Symptome unverändert bleiben bzw. dissimuliert werden In den führenden Depressions- inventarien sind untypische Verhaltensmuster nicht enthalten 7 D epressionsabwehrende Strategien Die Depressionsdiagnostik muss verbessert werden 7 R ollenwandel Wichtig für eine bedarfsgerechte wie effiziente Versorgung von Männern und Frauen ist eine geschlechtersensible Perspektive nern, Unruhe, depressive Verstimmung und Klagsamkeit bei Frauen. Die Untersuchung einer Bevölkerungsstichprobe von 18-jährigen Männern ergab ein 22%iges Risiko einer „männlichen Depression“ (bei Erfassung männlicher Symptome) und Hinweise darauf, dass sich mit steigender Depressionsgefährdung die männlichen Symptome verstärken, während die typisch depressiven Symptome unverändert bleiben bzw. dissimuliert werden [10]. Diese ersten Befunde zur männlichen Depression verweisen darauf, dass geschlechtsspezifische Unterschiede in der Symptomatik vornehmlich in den frühen Stadien der Erkrankung dominieren, und zwar als Folge der geschlechtsspezifischen Copingstrategien. Die Unterdiagnostizierung von Depression bei Männern kann nicht nur auf mangelnde Hilfesuche der Betroffenen zurückgeführt werden, sondern auch auf einen Gender bias in der Depressionsdiagnostik. Bei den genannten männlichen Symptomen bzw. Abwehrstrategien handelt es sich um untypische Verhaltensmuster, die nicht in den führenden Depressionsinventarien enthalten sind. Die üblichen Beurteilungsverfahren zur Erfassung von Depression gehen vom Prototyp der weiblichen Depression aus und enthalten überwiegend Symptome und Copingstrategien, die von Frauen berichtet werden (z. B. Antriebslosigkeit, depressive Verstimmung, Grübeln, Selbstvorwürfe). Die typisch männlichen 7 depressionsabwehrenden Strategien wie Aggressivität, Ärgerattacken, Feindseligkeit, Irritabilität, Aktivismus oder exzessiver Alkoholkonsum werden nicht erfasst. Dies führt nicht nur dazu, dass Depressionen bei einem Teil der betroffenen Männer nicht erkannt werden, sondern begünstigt tendenziell auch Fehldiagnosen in Richtung Alkoholabhängigkeit und antisozialer Persönlichkeitsstörung, Diagnosen, die mit dem männlichen Stereotyp zusammenhängen und bei Männern im Vergleich zu Frauen überrepräsentiert sind. Zusammenfassend lässt sich schlussfolgern, dass die Depression bei Männern noch intensiverer Forschung bedarf. In der ärztlichen Praxis müsste die Depressionsdiagnostik bei Männern verbessert werden, indem die üblichen Kriterien um männertypische Stresssymptome erweitert werden. Weiteren Untersuchungen bleibt die Klärung der Frage vorbehalten, wie männerspezifisch die „männliche“ Depression ist, denn aufgrund des 7 Rollenwandels kann sie durchaus auch bei Frauen erwartet werden [11]. Die bisherigen Befunde zu geschlechtsspezifischen Unterschieden bei der Depression machen deutlich, wie wichtig eine geschlechtersensible Perspektive in Forschung und Praxis, Weiterbildung und Öffentlichkeitsarbeit ist, um den Einfluss geschlechtsbezogener Merkmale auf die Ätiologie und Symptomatik psychischer und körperlicher Erkrankungen, aber auch auf ihre Diagnostik und Therapie zu identifizieren und eine bedarfsgerechte wie effiziente Versorgung von Männern und Frauen zu gewährleisten. Korrespondenzadresse PD Dr. rer. soc. A.M. Möller-Leimkühler Psychiatrische Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität Nußbaumstr. 7, 80366 München [email protected] Interessenkonflikt. Die korrespondierende Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Literatur 1. Bech P (2001) Male depression: stress and aggression as pathways to major depression. In: Dawson A, Tylee A (eds) Depression – social and economic timebomb. British Medical Journal Books, London, pp 63–66 2. Kämmerer A (2001) Weibliches Geschlecht und psychische Störungen – Epidemiologische, diagnostische und ätiologische Überlegungen. In: Franke A, Kämmerer A (Hrsg) Klinische Psychologie der Frau. Ein Lehrbuch. Hogrefe, Göttingen, S 51– 88 386 | Der Gynäkologe 5 · 2008 3. Karasek R, Theorell T (1990) Healthy work: stress, productivity, and the reconstruction of working life. Basic Books, New York/NY 4. Kühner C (2006) Frauen. In: Stoppe G, Bramesfeld A, Schwarz F-W (Hrsg) Volkskrankheit Depression? Bestandsaufnahme und Perspektiven. 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