Anmerkungen zur Klassischen Mechanik Vorlesungsunterlagen

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Anmerkungen zur Klassischen Mechanik
Vorlesungsunterlagen
Armin Scrinzi
October 14, 2015
Contents
1 Klassische Mechanik im Phasenraum
1.1 Ort und Impuls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2 Hamiltonformalismus der klassischen Mechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2.1 Phasenraum und Darstellung von Messungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1.1
1
1
1
2
Klassische Mechanik im Phasenraum
Ort und Impuls
Ort und Impuls sind die zentralen Bausteine der klassischen Mechanik: kennt man alle Orte und
Impulse eines Ensembles von Teilchens, sowie alle Kräfte die auf sie wirken, dann kennt man, im
Prinzip, die gesamte Zukunft und auch die gesamte Vergangenheit des Ensembles von Teilchens.
Hier gibt es ein Problem: nach allem was wir heute wissen, besteht die selbe Inkompatibiliät
wie zwischen “Farbe” und “Härte” in unserem abstrakten Beispiel, zwischen der Orstkoordinate und
der Impulskoordinate jedes einzelnen Teilchens: je besser wir den Ort eines von Teilchens räumich
eingrenzen, desto weniger wissen wir über seinen Impuls und umgekehrt. Damit verlieren wir aber
ein zentralen Begriff der klassischen Physik: die präzise Beschreibung des Bewegungszustands eines
Teilchens durch 2 Zahlen: Ort und Impuls. Diese beiden Zahlen scheinen ihre unabhängige Bedeutung zu verlieren, und damit wird der ganze fantastische Apparat der klassischen Mechanik zur
Beschreibung der mikroskopischen Welt nutzlos.
1.2
Hamiltonformalismus der klassischen Mechanik
Genau betrachtet ist die Differenz zwischen klassischer und Quantenmechanik nicht so gross, wie
Sie ihnen bei der ersten Begegnung erscheinen wird. Man kann beide Theorien von einem gemeinsamen Prinzip ausgehend formulieren. Der einzige Unterschied besteht darin, dass Messprozesse in
der klassischen Mechanik prinzipiell (nicht notwendig in der Praxis) beliebig vertauschbar sind, in
der Quantenmechanik im allgemeinen nicht. Alle anderen Grundprinzipien sind die gleichen. Diese
1
philosophisch sehr instruktive, aber jedenfalls zu Beginn kaum nützliche Darstellung, ist leider mathematisch sehr aufwänding und wir werden sie aus diesem Grund nicht behandeln.
Es bleiben aber dennoch eine Menge formaler Analogien zwischen den beiden Theorien, wenn man
die Standardformulierung der Quantenmechanik und die Hamiltonsche Formulierung der klassischen
Mechanik vergleicht.
1.2.1
Phasenraum und Darstellung von Messungen
Der Einfachheit halber betrachten wir ein Punkteilchen in einer räumlichen Dimension x mit Impulskoordiante p.
Kenntnis von einem klassischen System Unsere reale Kenntnis des Systems entspricht eine
Wahrscheinlichkeitsdichte ρ(x, p), die uns angibt, mit welcher Wahrscheinlichkeit wir das Teilchen in
einem Abschnitt des Phasenraums wissen:
Z x+∆x
Z p+∆p
0
P ([x, x + ∆x], [y, y + ∆y]) =
dx
dp0 ρ(x0 , p0 ) ≈ ρ(x, p)∆x∆p.
(1)
x
p
Je kleiner der Bereich ist, auf dem ρ(x, p) von null verschieden ist, desto besser wissen wir über Ort
und Impuls unseres Teilchens Bescheid. In realen Experimenten konnten wir unsere Kenntnis nie
auf einen beliebig keinen Bereich in x und p eingegrenzen, aber wir hatten uns immer vorgestellt,
sie könnte es sein. Niemand hat ernsthaft den Limes ∆x → 0, ∆p → 0 versucht. Als man im
Rahmen der Atomphysik erstmals in Bereich sehr genauer Lokalisierung in Ort und Impuls vordrang, musste man bald eingestehen, dass anscheinend das Produkt ∆x∆p nach unten beschränkt
ist. Das Phasenraumvolumen schein in mysteriöser Weise “körnig” zu sein. Nach der Qantenmechanik ist das kleinste mögliche Volumen, das ein fiktives ρ einnehmen kann gerade ∆x∆p & h, das
Planck’sche Wirkungsquantum! (So hat das Heisenberg zunächst ausgedrückt. Nach mathematischer
Präzisierung von ∆x und ∆p als Varianzen erhalten wir eine strenge Ungleichung, ∆x∆p ≥ ~/2.)
Warnung: die Quantenmechanik ist nicht einfach klassische Mechanik mit einer Untergrenze für
das Phasenraumvolumen! Da kommt noch mehr.
Grösse von h Das Problem des endlichen Phasenraumvolumens konnte unbemerkt bleiben, weil
h extrem klein ist: sein Wert ist
h = 6.6 × 10−34 m2 kg/s
Kurze Illustration was das bedeutet: angenommen, wir hätten vor ca 3000 Jahren eine Masse von
1kg auf einer perfekt glatten Fläche mit einer Geauigkeit von 1 nm lokalisiert und völlig zur Ruhe
gebracht. Die Unsicherheit in der Geschwindikeit ergibt sich als
∆v = ∆p/m ∼
h
10−33 m2 kg/s
≈
= 10−24 m/s,
∆x
1kg × 10−9 m
(2)
3000 Jahre entsprechen ca 3000 × 300 × 86000 ≈ 1010 Sekunden. Als Folge der quantenmechanischen
Unschärfte müssen wir erwarten, dass unser Kilogramm Masse seinen Ort um
∆v × 1010 s ≈ 10−14 m
2
(3)
seit der Positionierung seinerzeit geändert haben kann: das ist nun, auch für einen sehr kritischen
Experimentalphysiker, kaum eine beunruhigende Ortsungenauigkeit.
Geistesgeschichtlich ist interessant, dass diese für uns so selbstverständliche Idee eine “Bewegungszustands”, der sich im Impuls p ausdrückt, für die griechschen Philosophen noch ein grosses
Problem war. Mal Hand aufs Herz: ist nicht jedenfalls das Wort “Bewegungszustand” ein Widerspruch in sich, also was jetzt, “Zustand” oder “Bewegung”? Dieses fehlende Konzept des “Bewegungszustands” wird im Zeno-Paradox manifest, wo Bewegung immer nur als Veränderung von einem
Punkt zu nächsten gedacht wird, aber nicht als eine konstante, gleichförmige Eigenschaft.
Messgrössen Jede Messgrösse an einem klassischen System ist eine Funtion von Ort und Impuls.
Entspricht die Messgrösse “Impuls” der identischen Funktion, schreiben wir p̂ : p̂(p, x) = p, analog
fur den Ort. Die Messgrösse “Kinetische Energie” ist Tb(p, x) = p2 /2m. Hier sehen wir schon etwas
Bemerkenswertes: was wir messen präjudiziert, welche Messwerte wir grundsätzlich finden können.
Impuls und Ort können im ganzen Bereich der rellen Zahlen liegen, das
“Spektrum” der Messwerte ist σ(p̂) = (−∞, ∞), ebenso für den Ort. Die kinetische Energie
ist trivialer Weise nicht-negativ: σ(Tb) = [0, ∞).
Wir können uns auch eine Messandordung vorstellen, wo wir sehen, ob sich ein Teilchen in einem
gewissen Raumabschnitt [x0 , x1 ] befindet: dies ist binäre Information: drinnen = 1, nicht drinnen =
0. Wir assoziieren mit einer solchen Messanordnung die
charakteristische Funktion am Phasenraum
b 0 , x1 ] = χ[x ,x ] (x, p) =
C[x
0 1
1 für x ∈ [x0 , x1 ]
.
0 sonst
(4)
b = {0, 1}.
Das Wertespektrum einer solchen Messgrösse enthält offensichtlich nur 2 Zahlen: σ(C)
Messgrössen sind also Funtionen auf dem Phasenraum mit einem gewissen Spektrum möglicher Messresultate.
Erwartungswerte realer Messungen Bleiben wir im Bild einer nur probabilistischen Kenntnis
des Systems, dargestellt durch ρ. Als Konsequenz ist auch die Vorhersage über jede Messung an dem
System nur probabilistisch. Wir können wiederholt ein System mit Verteilung ρ herstellen. Nehmen
b In jeder einzelnen Messung können wir einen der Funktionswerte von der mit
wir eine Messgrösse O.
b assozierten Funktion O(x, p) finden. Im Mittel über viele Messungen finden wir
O
Z ∞
Z ∞
b
hOiρ :=
dx
dp O(x, p)ρ(x, p).
(5)
−∞
−∞
Je nach der genauen Form von ρ werden die Messungen um diesen Mittelwert streuen. Wenn ρ auf
einen ganz engen Bereich um x0 , p0 beschränkt ist, dann können wir (fast) mit Sicherheit sagen,
dass wir O(x0 , p0 ) messen werden: wir können eine Vorhersage machen, wie wir sie aus der klassischen Mechanik gewohnt sind. Wenn unsere Kenntnis schlechter ist, können wir keine solch genau
Vorhersage machen.
3
Normierung von Wahrscheinlichkeitsdichten Wenn wir wissen, dass unser 1-dimensionales
Punktteilchen überhaupt gibt, dann ist der Erwartungswert, es irgendwo zu finden, natürlich gleich 1.
Wir definieren die etwas unsinnige Messgrösse, dass das Teilchen irgendeinen Impuls und irgendeinen
b(−∞,∞)×(−∞,∞) und Berechnen den Erwartungswert
Ort hat, also C
Z ∞
Z ∞
Z ∞
Z ∞
!
b(...) iρ =
hC
dx
dpχ(−∞,∞)×(−∞,∞) ρ(x, p) =
dx
dpρ(x, p) = 1
(6)
−∞
−∞
−∞
−∞
Wir haben die triviale Einsicht reproduziert, dass Integral über eine Wahrscheinlichkeitsdichte 1
ergeben muss. Klarerweise findet man auch ρ(x, p) ≥ 0 mit ganz ähnlichen trivialen Überlegungen.
Lineare Kombination von Wahrscheinlichkeitsdichten Wir könnten eine Serie von Messungen an einem Teilchen mache, das aus aus 2 unterschiedlichen Quellen kommen kann. Die Quellen
lieferten unterschiedliche ρ1 und ρ2 . Wir wissen nur, dass ein Anteil 0 ≤ α ≤ 1 aus der einen Quelle
ρ1 , der andere Teil β = 1 − α aus ρ2 komme. Die Wahrscheinlichkeitsdichte, die unsere Kenntnis des
Systems widerspiegelt, ist
ρ = αρ1 + βρ2 .
(7)
Erwartungswerte sind
b ρ = αhOi
b ρ1 + βhOi
b ρ2
hOi
(8)
Dies ist die Linearität des Erwartungswerts. Spätestens an diesem Punkt — wie wir unsere Kenntnis
über unterschiedlich präparierte Systeme kombinieren — werden wir einen zentralen Unterschied zur
Quantenmechanik finden. Wenn wir auf dem klassischen Wege beharren, dann werden Beobachtungen wie die Farbe/Härte Messungen eingangs völlig unerklärlich.
Beachten Sie auch, dass wegen der Normierung von Wahrscheinlichkeitsdichten gelten muss
α + β = 1.
Neue Messgrössen Man kann sich vorstellen, jede denkbare Funktion O(x, p) als mögliche Messgrösse
aufzufassen. Wenn Ihnen das seltsam vorkommt, dann bedenken Sie, dass man jede Funktion eine
Summe von Charakteristischen Funktionen auf disjunkten Gebieten sehr gut approximieren kann:
X
O(x, p) ≈
O(xi , pj )χ[xi ,xi+1 ]×[pi ,pi+1 ] (x, p).
(9)
ij
Diese Summe übersetzt sich in die denkbare, wenn auch etwas alberne Messvorschrift: wenn das
Teilchen im Phasenraumvolumen [xi , xi+1 ] × [pi , pi+1 ] gefunden wird, schreibe den Messwert O(xi , pj )
zu. Das ist zugegebenermassen etwas schwerfällig, aber für ein Gedankenexperiment ganz in Ordnung.
b und Pb 2 Messgrössen, dann ist also Sb := O
b + Pb wieder eine Messgrösse. Das gilt in
• Seien O
der klassischen wie in der Quantenmechanik.
• Ebenso ist
b := O
bPb = PbO
b
Q
eine mögliche Messgrösse.
4
• Der letzte Punkt gilt in der Quantenmechanik nicht! Wie wir in dem abstrakten Eingangsbeispiel gesehen haben, finden wir in der Quantenmachnik Messvorgänge, deren Reihenfolge
das Resultat beeinflusst:
b(qu) Pb(qu) 6= Pb(qu) O
b(qu) .
(10)
O
Dies ist der alles entscheidende Unterschied zwischen klassischer und Quantenmechanik. Alle
anderen Differenzen folgen nahezu zwingend.
Impuls als “Erzeugende” der Verschiebung In der KM haben Funktionen der Phasenraumpunkte
eine doppelte Aufgabe: einerseits ist ihr Spektrum (die Menge der Funktionswerte) gleich der Menge
möglicher Messergebnisse. Andrerseits kann man sie benützen, um Veränderungen anderer Funktionen zu definieren. Das prominenteste Beispiel ist die Funktion “Energie”, die Hamiltonfunktion H(x, p). Sie definiert die Zeitentwicklung aller anderen Funktionen, z.B. unserer Wahrscheinlichkeitsverteilung
d
ρ = {H, ρ}.
(11)
dt
Dies beschreibt, nach welcher Vorschrift (Differentialgleichung), man aus einer Verteilung zum Zeitpunkt t0 die Verteilung zum Zeitpunkt t1 erhält. Der Einfachheit halber nehmen wir hier an, dass
sowohl H als auch ρ nicht durch irgendwelche anderen Prozesse noch direkt von der Zeit abhängen:
sie sollten nicht “explizit” zeitabhängig sein.
Man kann für H natürlich jede beliebige Funktion f (x, p) einsetzen: das erzeugt zwar nicht die korrekte Veränderung nach der Zeit, aber jedenfalls eine Veränderung, die die definierende Eigenschaft
von ρ(x, p) erhält: Positivität und Integral ≡ 1 (siehe Übungen).
Mit der Wahl f (x, p) = p findet man, dass
d
ρ = {p, ρ}
da
(12)
Verschiebungen beschreibt: ρ(x, p) → ρ(x − a, p)! (Übungen) Dies kann äquivalent als definierende
Eigenschaft des Impulses betrachten!
Zeitentwicklung der Messgrössen Man kann bezüglich der Zeitentwicklung 2 verschiedene
Standpunkte einnehmen: (a) unser Information über das System, d.h. ρ(x, p) vern̈dert sich mit der
Zeit nach der obigen Formel. Diese Änderung ist kontrolliert und im Allgemeinen umkehrbar gedacht,
d.h. eigentlich gewinnen oder verlieren wir in der Zeitentwicklung keine Information. (b) Stattdessen
koennen wir auch eine Zeitentwicklung für unsere Beobatchtbaren Grössen angeben, während ρ(x, p)
nicht von der Zeit abhägnt: dies ist gerade die Entwicklung in umgekehrter Zeitrichtung, also
−
d
O = {H, O} .
dt
(13)
Im Phasenraumintegral, das die Messwahrscheinlichkeiten vorhersagt, kann entweder ρ(x, p) neu
verteilen, oder alternativ O(x, p) im genau entgegegestzten Sinn neu sich entwicklen lassen. Nenne
5
wir q = (x, p) und die Zeitenwicklung q(t) = Tt (q(0), so können wir in dem Integral einfach die
Koordinaten wechseln um zu den beiden alternativen sichtweisen zu kommen:
Z
Z
Z
2
dxdpO(x, p)ρ(x(t), p(t)) = dq O(q)ρ(Tt (q)) = dq̃q 2 |JT |O((Tt )−1 (q̃))ρ(q̃)
(14)
wo JT die Jacobi Matrix von Tt symbolisiert. Die Jacobi Determinante ist aber |JT | = 1: dies ist
eine Form, das Liouville Theorem der klassichen Mechanik auszudrücken.
Wir können die Zeitentwicklung also alternative als Entwicklung der Dichte ρ oder der beobachtbaren Grössen O auffassten. In der QM spielt dies Unterscheidung eine wichtige technischen Rolle
und ist als bekannt als “Schrödingerbild” (= Entwicklung der Information über das System) und
“Heisenbergbild” (=Entwicklung der beobachtbaren Grössen).
Trivia: die beiden stritten sich damals herzlich darüber, wer recht hat, bis Dirac zeigte, das es
keine logische und wohl auch keine erkenntnistheoretische Differenz zwischen den beiden Sichtweisen
gibt.
Analogien zur QM Es bestehen zumindest in 2 Punkten enge Analogien zwischen der Hamilton’schen Formulierung der KM und der Standardformulierung der QM:
b Pb} übersetzen sich in Vertauschungrelationen (“Kommu(a) die klassischen Poissonklammern {O,
tatoren”)
b(qu) , Pb(qu) ] := O
b(qu) Pb(qu) − Pb(qu) O
b(qu)
[O
(15)
(b) In der klassischen wie in der Quantenmechanik folgt die allgemeine Form von Bewegungsgleichungen aus der Erhaltung der Wahrscheinlichkeit, dass das System überhaupt existiert: in der
klassischen Mechanik die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen für eine Messgrösse O(x, p):
−
d
O = {H, O} ,
dt
(16)
in der Quantenmechanik die
Schrödingergleichung
d
b (qu) Ψ,
Ψ=H
dt
b(qu)
bzw. äqivalent für eine beliebige Messgrösse Q
i
−i
d b(qu) 1 b (qu) b(qu)
Q
= [H , Q ]
dt
~
(17)
(18)
Den quantenmechanischen Symbolen müssen erst Bedeutung zuschreiben, aber Sie können sie
nicht früh genug sehen.
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