spannende Aufgaben für Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten im Fach Mathematik SAL-Bulletin Nr. 102 Seite 1 Dezember 2001 Monika Doebeli. Einleitung dipl. math. ETH Bei der Arbeit in meinem MathematikAtelier, als Lehrerin an Mittelschulen und Ausbildungsstätten für angehende Primarlehrkräfte, aber auch als Leiterin von Mathematik-Kursen stelle ich immer wieder fest, dass die Mathematik, wenn man sie nicht auf das Rechnen reduziert, auf viele Menschen, Kinder, Jugendliche und Erwachsene eine hohe Faszination ausübt. Gerade denjenigen, die mit der Mathematik (oder mit dem Rechnen?) Mühe haben, wird diese Faszination häufig verunmöglicht, weil man ihnen zu viel Drill von Fertigkeiten und einen Lernprozess in kleinen und kleinsten Schritten zumutet. Es gibt eine Fülle von schönen Aufgabenfeldern, die das Rechnen in Sinnzusammenhängen, die man auf verschiedenen Leistungsniveaus leicht MathematikAtelier st. Gallen verstehen kann, ermöglichen. Dadurch wird das Rechnen dank dem Reiz von aktivem selbstgesteuertem Tun und der Möglichkeit, selber Zusammenhänge aufzudecken, interessant und für die Lernenden bedeutungsvoll. Im folgenden werden drei solche Aufgabenfelder skizziert. 1. "Biigeli mit Pfiff" Rechnen Sie zunächst einmal die folgenden beiden "Biigeli" durch. Sie dürfen ruhig den Taschenrechner nehmen! 72413 + 13679 = 42135 + 39798 = 30738 + 47194 = 40756 + 41177 = 28304 + 36956 = 39377 + 42556 = 49048 + 28479 = 37998 + 45314 = 27084 + 18956 = 36619 + 46693 = 40726 + 19407 = 35240 + 48072 = Aus: Rechnen 5. Klasse Lehrmittelverlag des Kantons Zürich, 1968 Aus: Das Zahlenbuch 5 (Übungsheft) Verlag Klett und Balmer, Zug 1999 Sie finden auch heute noch in vielen Mathematik-Lehrmitteln unstrukturierte Aufgaben der Art, wie sie im Biigeli links vorliegen. Ich frage mich, welches der Nutzen ist, wenn sich Lernende mit solchen Aufgaben herumschlagen müssen. Besonders dringlich stellt sich diese Frage, wenn es sich um Lernende handelt, welchen Einsicht in Zusammenhänge, Verständnis und häufig auch Motivation fehlt. Das Biigeli rechts sieht, von aussen betrachtet, genau gleich aus wie dasjenige links. Zweifellos werden auch genau die gleichen Fertigkeiten geübt, nämlich die schriftliche Addition von zwei 5-stelligen Zahlen. Die Struktur innerhalb des Biigeli führt jedoch dazu, dass sich Lernende selber kontrollieren können. Lernschwierigkeiten im Fach Mathematik Seite 2 SAL-Bulletin Nr. 102 Lernschwierigkeiten Im Fach Mathematik SAL-Bulletin Nr. 102 Seite 3 Dezember 2001 Dezember 2001 Nach der Rechenarbeit kann eine Reflexionsphase anschliessen, in welcher Muster und 2. Rechenbaum Gesetzmässigkeiten aufgedeckt und erklärt werden. Selbstkontrolle gibt im Gegensatz zu einer Kontrolle von aussen ein besseres Gefühl (für die Sache aber auch für das Primarschulstufe Sekundarschulstufe Selbstbewusstsein). Es kann auch sehr motivierend sein, wenn Lernende für ihre Mit- Rechenbaum A Rechenbaum B schülerinnen und Mitschüler selber solche "Biigeli mit Pfiff" erfinden dürfen. Fig. A gemeint sind Ideen, um ein mathematisches Problem ganz oder teilweise zu lösen, neue Fragestellungen aufzudecken, eine vorgegebene Aufgabe abzuändern und zu lösen sowie ähnliches Fig. B Kreatlvltllt gemeint sind Ideen, um ein mathematisches Problem ganz oder teilweise zu lösen, neue Fragestellungen aufzudecken, eine vorgegebene Aufgabe abzuändern und zu lösen sowie ähnliches Die fett gedruckten Zahlen (Pri l11 arschulstufe) bzw. Terme (Sekundarschulstufe) sind gegeben. Die Kursiv gedruckten Zahlen bzw. Terme sind zu bestimmen. In der Fig. A sind die drei Bereiche «Leistung», «Engagement» und «Kreativität» Mögliche Aufgaben zu den Rechenbäumen (Beispiele für die Primarschulstufe): isoliert. Das ist bei lern schwachen Kindern meistens so. Wenn man sie nach dem Sinn 1. Wähle anstelle der fett gedruckten Zahlen in den grauen Kästchen eigene Zahlen und berechne die Zahlen in den weissen Kästchen. fragt, den die Mathematik für ihr persönliches Leben heute hat, dann können sie darauf oft keine Antwort geben. Sie engagieren sich nicht wirklich für die Mathematik, 2. Beginne mit dem Rechenbaum A. echtes Interesse an der Sache fehlt ihnen und Kreativität erleben sie nicht in Bezug auf Vergrössere nur die Zahl im hellgrauen Kästchen mathematische Fragestellungen. Leistung (besonders auch gute Leistung) bedingt jedoch Engagement, Interesse und Kreativität. Umgekehrt kann eine gute Idee so viel a) um 1 b) um2 Energie freisetzen, dass man nicht ruhen mag, bevor man sie ausprobiert hat oder c) um3 dank dieser Idee sogar ein Problem gelöst ist. Nach der Lösung des Problems kennt d) usw. und berechne die Zahlen in den weissen Kästchen. man sich damit so gut aus, dass sich unter Umständen eine weiterführende Frage geradezu aufdrängt. Damit ist klar, dass die Fragestellung, d.h. die mathematische Aufgabe gehaltvoll sein muss. Gerade lernschwache Kinder sollten in der Mathematik Vergleiche die Zahlen im untersten Kästchen. Was fällt dir auf? 3. oder das dunkelgraue. immer wieder Gelegenheit bekommen, ihre eigenen Ideen und Lösungswege verfolgen zu dürfen. Erstens können dann Lehrkräfte von diesen Kindern lernen, wie sie denken und ihnen auf ihren Denkwegen zur Seite stehen, zweitens erleben sich Kinder als aktiv Gleich wie vorher, wähle aber anstelle des hellgrauen Kästchens das mittelgraue 4. Erfinde eigene Rechenbäume und stelle dir ähnliche Fragen wie oben. Siehe dazu auch "Das Zahlenbuch ", Band 6, Seite 11. Gestaltende und nicht als Muster nachvollziehende Ausführerinnen und Ausführer. Leider sind die Aufgaben, mit welchen lernschwache Schülerinnen und Schüler in der Der Auftrag in Aufgabe 1 ermöglicht den Kindern ein freies Erkunden des für sie Mathematik konfrontiert sind, sehr oft völlig uninteressant. Wie soll sich da Engage- vielleicht noch neuen Aufgabentyps. Viele Kinder probieren hier auch an die Grenzen ment und Kreativität einstellen? des ihnen bekannten Zahlenraumes zu gehen. Beispiele: Über 100 hinaus rechnen; zuerst nur mit reinen Zehnerzahlen, dann auch mit gemischten Zahlen rechnen; mit Buchzahlen rechnen; mit negativen Zahlen rech- In der Fig. B überschneiden sich die drei Bereiche. Wie kann man das erreichen? Die Antwort ist überraschend einfach! Wir haben sie bereits gegeben. Es braucht interessante Aufgaben. Noch interessanter als das "Biigeli mit Pfiff" sind freilich substantielle Aufgabenformate wie etwa der Rechenbaum, die Zahlenmauer und viele andere. Sie nen ("unter Null" finden viele Lernende sehr spannend!) und ähnliches. Falls sie so etwas nicht von sich aus tun, kann man sie dazu anregen: "Mach mal einen sehen im folgenden zwei Ideenskizzen, die zeigen wie Schülerinnen und Schüler auf Rechenbaum, mit ganz schwierigen Zahlen." Im Gegenzug dazu aber auch: "Mach verschiedenen Schulstufen mit solchen Aufgabenformaten arbeiten können. mal einen Rechenbaum mit ganz einfachen Zahlen." Lernschwierigkeiten Im Fach Mathematik SAL-Bulletin Nr. 102 Lernschwierigkeiten im Fach Mathematik Seite 4 Dezember 2001 o o Aufgaben 2 und 3 regen zu operativem Verändern der Aufgabe an. So zu üben ist sehr produktiv, da sich dank operativen Veränderungen Strukturen zeigen. Zum Beispiel: - Wenn ich die Zahl im hellgrauen Kästchen um 1 erhöhe, dann erhöht sich die Zahl im untersten Kästchen um 13 (respektive um b). - Wenn ich die Zahl im mittelgrauen Kästchen um 1 erhöhe, dann erhöht sich die Zahl im untersten Kästchen um 12 (respektive um a). - Wenn ich die Zahl im dunkelgrauen Kästchen um 1 erhöhe, dann wird die Zahl im untersten Kästchen um 1 kleiner. SAL-Bulletin Nr. 102 Seite 5 Dezember 2001 3. zahlenmauer Lässt man den Kindern genug Zeit für solche Betrachtungen wird es für sie ganz selbstverständlich, selber weitere Fragen zu stellen. Beispiele: - Was passiert, wenn ich alle drei Zahlen um 1 vergrössere? (Antwort: Wenn ich alle drei Zahlen um 1 vergrössere, dann wird die Zahl im untersten Kästchen um 25 grösser. Das ist die Summe der beiden Zahlen im hellgrauen und im mittelgrauen Kästchen.) - Was passiert, wenn ich die Zahl im mittelgrauen und diejenige im dunkelgrauen Kästchen verdopple? (Antwort: Wenn ich die Zahlen im mittelgrauen und im dunkelgrauen Kästchen verdopple, dann wird auch die Zahl im untersten Kästchen doppelt so grass.) Primarschulstufe Sekundarschulstufe Zahlenmauer A Zahlenmauer B Die fett gedruckten Zahlen (Primarschulstufe) bzw. Terme (Sekundarschulstufe) sind gegeben. Die Kursiv gedruckten Zahlen bzw. Terme sind zu bestimmen. Mögliche Aufgaben zu den Zahlenmauern (Formulierung für die Sekundarschulstufe): 1. Beginne mit der Zahlenmauer A. Vergrössere in der Grundschicht eine Zahl um eine beliebige Zahln. Wie verändert sich der Deckstein? 2. Beginne wieder mit der Zahlenmauer A. Verändere in der Grundschicht den zweiten Stein von links so dass im Deckstein die Zahl 35 herauskommt. 3. Beginne mit der Zahlenmauer B. Vergrössere den Term links aussen in der untersten Schicht a) um 1 b) um2 c) um 3 Auf ganz natürliche Art und Weise ergibt sich in diesem Rahmen auch Sprachunterricht. Lernende können Antworten formulieren und aufschreiben, neue Fragen stellen und beantworten sowie kleine Berichte oder mathematische Aufsätze schreiben über das, was sie gemacht und herausgefunden haben. Freuden und Leiden sollen dabei ebenso zum Ausdruck kommen wie mathematische Beobachtungen und Entdeckungen. Darüber hinaus zeigt sich in diesem Beispiel wie Lernende im Fach Mathematik neue Bereiche ihrer Kreativität entwickeln können. Sei es, indem sie die Fragen weiter variieren, sei es, indem sie neue Rechenbäume zeichnen und rechnen, sei es, indem sie zu Rechenbäumen eigene Rechengeschichten erfinden. (Siehe dazu: "Das Zahlenbuch", Band 6, Seite 14-15). Durch solche Fragestellungen angeregt wird ohne Zweifel viel gerechnet und geübt. Da die Strukturen, die sichtbar werden, überraschend sind, besteht die Chance, dass die Welt der Zahlen das Interesse der Lernenden weckt. umk und berechne die übrigen Terme. Vergleiche die Decksteine. Was fällt dir auf? 4. Gleich wie vorher, aber anstelle des Terms links aussen wählst du einen der mittleren oder denjenigen rechts aussen. 5. Gleich wie vorher, aber anstatt nur einen Grundstein, wählst du zwei, drei oder alle vier Grundsteine und erhöhst sie je um 1,2,3, ... und um k. 6. Beginne mit der Zahlenmauer B. Verändere einen, zwei, drei oder alle vier Terme in der Grundschicht a) halbiere sie b) verdopple sie c) addiere x und berechne die übrigen Terme. Vergleiche die Terme der Decksteine. Was fällt dir auf? d) o Aufgaben für die Primarschulstufe findet man in den Zahlenbüchern. (Zum Beispiel Band 1, Seite 51 oder Band 6, Seite 32-33) Lernschwierigkeiten Im Fach Mathematik SAL-Bulletin Nr. 102 Lernschwierigkeiten im Fach Mathematik Seite 6 Dezember 2001 o o SAL-Bulletin Nr. 102 Seite 7 Dezember 2001 Lösung zu Aufgabe 3: Lösung zur Aufgabe 1: Erste Zahl von links um n vergrössern: Der Deckstein wird um n grösser. Zweite Zahl von links um n vergrössern: Besonders überraschend fällt das Resultat aus, wenn man bevor zuerst Vermutungen anstellt. Häufig vermuten Lernende, dass sich der Deckstein auch um n vergrössert (gleich wie vorher) oder dass er sich um 2 n vergrössert (weil nun der zweite Stein von links vergrössert wird). Es ist aber anders. Man stellt fest: Der Deckstein wird um 1, bzw. 2, bzw. 3 ... grösser. Allgemein kann man sagen: "Wenn ich den Stein links aussen in der Grundschicht um k erhöhe, dann erhöht sich auch der Deckstein um k." In diesem Beispiel erleben die Lernenden die Algebra nochmals, aber anders als vorher, als eine gros se Hilfe. Anstelle der Zahlen 1, 2,3, ... nimmt man einen Platzhalter k und kann so mit einem einzigen Satz eine Regel formulieren, die für alle Zahlen (insbesondere auch für diejenigen, die man in den Aufgaben a) bis c) genommen hat) gilt. Mit dieser Regel ist es nun leicht, eine Zahlenmauer anzugeben, bei welcher der Deckstein zum Beispiel 100 beträgt. Lernende begegnen hier auf eine ganz natürliche Weise noch einer anderen Art von Gleichungen. Hier ist es eine Gleichung mit fünf Variablen. Sie lautet a + 3b + 3e + d + k = 100 Zweite Zahl von links um n vergrössern: Der Deckstein wird um 3 n grösser. Analog lö~t man die Aufgabe für den dritten und vierten Grundstein. Aufgabe 2 kann man natürlich durch Probieren lösen. (Unbedingt machen!) Nach einem Blick zurück zu Aufgabe 1 geht es aber auch mit Hilfe einer einfachen Gleichung. Für den Deckstein gilt 20 + 3 n =35. Diese Gleichung kann man nun nach n auflösen. 20 + 3n =35 1-20 3n =15 I3 n=5 Hier begegnen die Schülerinnen und Schüler den Gleichungen in einem innermathematischen Sinn-Zusammenhang. Es ist für Lernende immer einfacher, sich auf ein abstraktes Thema einzulassen, wenn sie einsehen, wie und wo Gleichungen auftreten können. Besonders schön ist hier, dass sie bei der Beschäftigung mit den Zahlenmauern erleben können, wie sie mit der Hilfe von Gleichungen Fragen ohne aufwendiges Zur Lösung darf man für vier Variable Zahlen wählen. Die fünfte muss dann passend berechnet werden. Beispiel: Lösung zu Aufgabe 4 "Pröbeln" beantworten können. o 0 Lernschwierigkeiten im Fach Mathematik SAL-Bulletin Nr. 102 Seite 8 Dezember 2001 Man stellt fest: Der Deckstein wird um 3, bzw. 6, bzw. 9 ... grösser. Allgemein kann man sagen: "Wenn ich den zweiten Stein links aus sen in der Grundschicht um k erhöhe, dann erhöht sich der Deckstein um 3 k." Der Term im Deckstein gibt nun auch zu Überlegungen der folgenden Art Anlass. - Wenn die Summe a + d durch drei teilbar ist, dann ist auch der Deckstein durch drei teilbar. - Wenn d doppelt so gross ist wie a, dann ist der Deckstein ein Vielfaches der Zahl 3. - Wenn k = 0 und a = b = c = d ist, dann ist der Deckstein ein Vielfaches der Zahl 8. Die Beispiele zeigen, wie auch im Algebra-Unterricht ganzheitlich und produktiv geübt werden kann. Die Lernenden können mit Zahlenmauern spielerisch an wichtige Themen der Algebra herangeführt werden. Gerade dann, wenn Schülerinnen und Schüler bereits Blockaden aufgebaut haben, kann es möglich sein, sie mit so offenen Aufgaben wieder für das Fach zu gewinnen. zusammenfassung Ganzheitliche Zugänge zu neuen Themen (sei es der Einstieg in einen neuen Zahlenraum, der Einstieg in das kleine lxI, in die Algebra oder ein anderes Gebiet der Mathematik) geben Lernenden die Möglichkeit, selber Fragen zu stellen. Dadurch lässt sich ein Mathematikunterricht etablieren, in welchem nicht die Lehrperson die Fragen stellt, deren Antworten sie schon kennt. Vielmehr kommen die Fragen von den Lernenden selbst. Es entsteht eine echte Gesprächssituation. Die Variation und das SelberErfinden von Aufgaben ermöglicht den Lernenden darüber hinaus Einsichten in die Strukturen der Mathematik. Sie merken dabei "worauf es ankommt" und sind so auch besser in der Lage, Aufgaben zu lösen. Es gibt viele Aufgabenfelder, die dafür geeignet sind! Fortsetzung in der nächsten Ausgabe Literatur Hans Magnus Enzensberger: Der Zahlenteufel, Hanser Verlag John Mason: Das Hexen lxI, Verlag Oldenbourg Petra Scherer: Aktiv entdeckendes Lernen im Mathematikunterricht in der Schule für Lernbehinderte, Edition Schindele Wieland/Hengartner (Hrsg.): Das Zahlen buch, Band I bis 6, Verlag Klett&Balmer, Zug Wittmann/Müller: Handbuch produktiver Rechenübungen, Band I und 2, Klett Verlag Stuttgart