Konfessionen, Religionen und Religiosität in einer säkularen

Werbung
Reinhard Kirste
Konfessionen, Religionen und Religiosität in einer säkularen Gesellschaft
Zur religiösen Situation in Europa
Das Schisma von 1054, das die östlichen von den westlichen Kirchen trennte, gehört zu einer
Bruchlinie im Mittelmeerraum, die schon das west- und oströmische Reich in zwei Hälften geteilt hatte.
Mit der Reformation, der Gegenreformation und dem 30jährigen Krieg von 1618-1648 erweiterte sich
die konfessionelle Spaltung, so dass auch innerhalb der westlich-lateinischen Kirchen nun mehrere
Konfessionen auftraten, die sich mit verschiedenen Abschattungen faktisch bis heute durchhalten. So
profilieren sich im Protestantismus als Konfession bis heute lutherische, calvinistische (reformierte)
und anglikanische Kirchen sowie Unionskirchen, in denen sich Lutheraner und Reformierte
zusammengeschlossen haben. auszugehen ist. Diese Spaltungen m Gefolge der Reformation
bestimmten das politische Geschehen über Jahrhunderte, einmal abgesehen davon, dass aus dem
Protestantismus heraus weitere Gruppen entstanden, die teilweise zur Auswanderung nach Amerika
gezwungen werden.
Erst die Französische Revolution stellte den Zusammenhang zwischen der bisher
selbstverständlichen Verbindung von Religion/ Konfession und Staat in Frage und läutete damit den
Weg in die Säkularisierung ein, die durch die rasante Industrialisierung, das Aufkommen des
Proletariats, aber auch durch philosophische Strömungen, besonders durch den Marxismus mit
getragen wurde . Mit dem Ende des 1. Weltkriegs 1918 und der Abschaffung der Monarchie in
Deutschland war auch der deutsche Kaiser nicht mehr oberste Autorität der evangelischen Kirche des
Deutschen Reiches, während etwa in Frankreich eine konsequente Entwicklung bei der Trennung von
Staat und Kirche schon wesentlich früher zu beobachten ist.
Nach dem 2. Weltkrieg traten einerseits die Migrationsbewegungen in den Vordergrund, und
das Ende der Kolonialherrschaft Englands, Spaniens, Portugals Frankreichs und der Niederlande
veränderten die geopolitische Landschaft in einem bis dahin nicht gekannten Maße. Parallel dazu
entstanden durch die in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzende Gastarbeiterbewegung
neue gesellschaftliche Strukturen in Europa, die weitgehend zu Inkulturationen in die autochthonen
Gesellschaften führen, teilweise aber den Aufbau von „Parallelgesellschaften“ begünstigten, in denen
bestimmte ethnische Gruppen ein fast autarkes Eigendasein führen. Die eingewanderten Muslime
(überwiegend aus der Türkei und dem Maghreb, aber auch aus Süd- und Südostasien) werden bis
heute keineswegs immer als Bereicherung im Sinne einer multikulturellen Gesellschaft gedeutet. Sie
gelten besonders konservativen Politikern als bedenklich islamistisch, oft genug rückwärts gewandt,
der Demokratie feindlich gesinnt und nicht selten zur Gewalt bereit. Die Auswirkungen in die
bisherigen Gesellschaften des Westens hinein sind bis heute nicht abgeschlossen, auch wenn schon
mehrere Generationen im Lande Geborener nach den ersten Einwanderern im Lande leben.
Ein weiter weltpolitischer Umsturz hat sich durch den Zerfall der kommunistischen
Herrschaftssysteme ereignet, weil es weltweit seitdem nur noch eine Hegemonialmacht, nämlich die
USA, gibt und die Regionalkämpfe etwa in der zerfallenden Sowjetunion zugenommen haben. Damit
kommen neben Afrika und Teilen Asiens nun auch noch die zentralasiatischen Gebiete als
Unsicherheitsfaktor hinzu. Der politische und militärische Druck der USA hat darüber hinaus teilweise
auch noch reaktionäre Regime in der sog. 3. Welt und im Mittleren Osten gestärkt. Für viele
Menschen der ehemaligen Kolonialreiche entwickelte sich der Islam mit seiner Verbindung von
Religion und Politik als Chance, diese Religion als gesellschaftspolitische Kraft gegen den „Westen“
systematisch zu instrumentalisieren, so dass die einzelnen Gruppen „den“ Islam oft genug im Sinne
ihrer politischen Ideologie interpretieren und den Koran fundamentalistisch als Rechtfertigung1
sinstrument für Terrorismus und Gewaltanwendung benutzen.
In Mittel- und Westeuropa verloren und verlieren – religiös gesehen – die klassischen
Großkirchen katholischer und protestantischer Provenienz rapide an Bedeutung. Gleichzeitig eröffnet
der Blick nach Osteuropa noch mehr als bisher, welche Vielfalt religiöser und weltanschaulicher
Traditionen in Europa herrscht(e). Hinzu kommt durch die schon erwähnten Migrationsbewegungen
seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts eine verstärkte direkte Begegnung mit dem Islam vor Ort, und
zwar in seinen unterschiedlichsten (ich bin fast geneigt zu sagen „konfessionellen“) Schattierungen. In
Europa hat es die islamische Bevölkerungsminderheit zu einer beachtlichen Zahl gebracht. Nimmt
1. Vgl. dazu:
- Mohamed Charfi: Islam et liberté. Le malentendu historique. Paris. Albin Michel 1998.
- Bruno Etienne: Islam, les questions qui fâchent. Paris: Bayard 2003.
- Andreas Meier: Der politische Auftrag des Islam. Programme und Kritik zwischen Fundamentalismus und
Reformen. Originalstimmen aus der islamsichen Welt. Wuppertal: Peter Hammer 1994.
- Michel Wievoiorka (Hg.): L’avenir des l’islam en France et en Europe. Les Entretiens d’Auxerre. Paris: Balland
2003.
2
man das europäischen Osten mit Russland und den Balkan hinzu, so ist von etwa 20 Millionen
Muslimen in Europa auszugehen.
In den letzten Jahrzehnten haben darüber hinaus östlich geprägte Religionen, besonders der
Buddhismus in Frankreich und Deutschland, viele Anhänger gewonnen, auch wenn hier die
Millionengrenze noch nicht erreicht sein dürfte. Ähnliches gilt vom Hinduismus, von dem als optisches
Signal der große Hindu-Tempel in London und als größter Hindutempel Kontinentaleuropas der
2
Mandir im westfälischen Hamm zeugt. Er wurde im Sommer 2002 eingeweiht.
So geraten die Großkirchen allein demographisch mehr und mehr in eine Randposition, auch
wenn im Westen Deutschlands noch fast 80% der Bevölkerung formal einer der großen Kirchen
angehören, während dies in Ostdeutschland gerade noch 20% sind – und um ein extremes Beispiel
aus den Niederlanden zu nennen: In Amsterdam bekennen sich gerade noch einmal 5% zu den
großen Konfessionen (evangelisch bzw. katholisch).
Was hier nur skizzenhaft angedeutet ist, kann mit dem Schlagwort der Säkularisierung nur
unzureichend umschrieben werden, zumal gleichzeitig eine nicht auf Konfessionen und Dogmen
begründete, also eine Art postmoderner Religiosität im Wachsen begriffen ist. Dazu gehören auch
religiöse Events erheblicher Größenordnung. Als jüngstes Beispiel sei der (katholische) Weltjugendtag
2005 in Köln genannt, bei dem etwa 800 000 Jugendliche aus aller Welt zusammen gekommen waren
und bei der Schlussmesse sich sogar etwa 1 Million Menschen versammelten. Gleichzeitig muss man
natürlich sehen, dass im westlichen Europa die Entfremdung von den traditionellen Kirchen zunimmt,
während in Russland, Lateinamerika, Asien und Afrika das Christentum eher charismatischen und
fundamentalistischen Charakters erheblich anwächst. All dies wird gern mit dem Begriff der
Säkularisierung umschrieben, der die Moderne ausgesetzt sei und deshalb diese als Postmoderne
3
hinterfrage.
Säkularisierung zwischen Moderne und Religiosität
Im Mittelalter waren Religion, Kirche und Welt eine Einheit. Die Lebenskultur von Staat,
Wirtschaft, Wissenschaft und Gesamtgesellschaft lebte aus der christlichen Tradition heraus. Seit der
Französischen Revolution gewinnt die Trennung dieser Lebenszusammenhänge zunehmende Brisanz
und gipfelt zum ersten Mal im „Reichsdeputationshauptschluss“ von 1803 und der 1815 auf dem
Wiener Kongress erfolgten Neuordnung Europas. Mit dem Ende des „Heiligen Römischen Reiches
Deutscher Nation“ geht die Enteignung der riesigen Kirchengüter Hand in Hand. Insgesamt
verselbständigt sich die bürgerliche Kultur, und die Kritik an der Religion, die mit Renaissance und
Aufklärung begonnen hatte, nimmt zu.
Schon Friedrich Schiller formuliert in einem Epigramm von 1797 „Mein Glaube“: „Welche
Religion ich bekenne? Keine, von allen, die du mir nennst! ‚Und warum keine?’ Aus Religion.“
Zum ersten Mal wird durch die Abgrenzung von der organisierten Religion, d.h. den Kirchen,
auch die Verachtung des Christentums salonfähig, bis hin zu Atheismus und Nihilismus. Die Folge ist
eine gleichzeitige Entkirchlichung der alltäglichen Lebenswelten, und zwar für ganze Sozialschichten
wie dem Proletariat, dem Bildungsbürgertum und einem Teil der philosophisch beeinflussten
Oberschicht. Kirchliches Christentum und das Verhalten einzelner Gruppen klaffen in ihrem
Wertekanon und Lebenszielen erheblich auseinander, wie besonders der Marxismus bzw. die
4
Sozialdemokratie deutlich machen.
Dieser Prozess setzt sich nach dem 1. und 2. Weltkrieg so stark fort, dass auch die großen
Kirchen (katholische und evangelische Kirchen) teilweise nur noch geringe Prozentzahlen zu ihren
praktizierenden Mitgliedern angeben können (besonders in Frankreich, den Niederlanden und in
Ostdeutschland).
Zum Verständnis der Säkularisierung gehört angesichts der minderen oder schärferen
Trennung von Staat und Religion unabweisbar die Frage von Laizität und Laizismus. Frankreich ist in
dieser Debatte das herausragende Beispiel, weil hier ein besonders strenges Laizitätsverständnis
herrscht, das in gewisser Weise auch in der heutigen Türkei gilt.
Frankreich: Der Streit um die Laizität (laïcité)
In Frankreich findet auf vielen Ebenen eine Diskussion um die Auseinandersetzung von
2. Martin Baumann, Brigitte Luchesi, Annette Wilke (Hg.): Tempel und Tamilen in zweiter Heimat. Hindus aus Sri
Lanka im deutschsprachigen und skandinavischen Raum. Würzburg: Ergon 2003, bes. S. 169ff.
3. Vgl. dazu auch: Reinhard Kirste, Paul Schwarzenau, Udo Tworuschka (Hg.): Interreligiöser Dialog zwischen
Tradition und Moderne. Religionen im Gespräch, Bd. 3 (RIG 3). Balve: Zimmermann 1994, besonders die
Beiträge von Hartmut Schröter, Goltschere Jung, Marfa Heimbach, Sybille Fritsch-Oppermann, Silvia
Bartelheimer und Reinhard Kirste.
4. Vgl. Drehsen/Häring/Kuschel/Siemers (Hg): Wörterbuch des Christentums. Gütersloh: Mohn / Zürich: Benziger
1988, S.1107-1110.
3
Religion und Moderne statt. Entscheidenden Anstoß brachte die Französische Revolution und die
politische Entwicklung, die im Separationsgesetz von 1905 gipfelte (Ausnahme Elsass-Lothringen, das
zu jener Zeit deutsch war). Aufgrund dieser Wirkungsgeschichte ist die Trennung von Staat und
Kirche, von Religion und Politik zu einem Kennzeichen gesellschaftspolitischen und demokratischen
5
Fortschrittsglaubens geworden.
Die gesellschaftspolitische Debatte kreist darum immer wieder um folgende Begriffe:
Integrismus, Fundamentalismus und Islamismus stehen für die eine Seite, Laizität und Säkularismus
für die andere. Trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft werden die drei ersten Begriffe mehr und mehr
synonym verwendet. Integrismus (intégrisme) ist ein Begriff, der ursprünglich gegen die konservative
Haltung der katholischen Kirche gerichtet war. Er leitet sich von intégriste ab, das auf das
entsprechende spanische Wort zurückzuführen ist, das historisch Mitglieder einer spanischen Partei
bezeichnete, die den Staat der Kirche unterwerfen wollte. Mit der Zeit wurde der Begriff auch auf
andere Religionen wie den Islam angewandt, wo man ähnliche Tendenzen wie im Katholizismus
entdeckte.
Fundamentalismus (fondamentalisme) ist im Französischen weniger geläufig. Dieser Begriff
stammt aus dem Englischen und geht auf eine protestantisch-konservative Bewegung zurück, die sich
im 19. Jahrhundert, vor allem in den USA konstituierte und die Wortwörtlichkeit der Bibel betont(e)
(Verbalinspiration und Biblizismus), z.B. sich bei der Schöpfung auf die biblischen Berichte bezieht
und sich gegen die Evolutionstheorie wendet (sog. Kreationisten).
In der französischen Diskussion um laïcité und intégrisme geht es um den Versuch, die strikte
Trennung von Staat und organisierter Religion zu untermauern, weil eine Staatstheorie letztlich
politisch ein ganzheitliches Konzept erfordert. Betrifft dies den politisch Einfluss nehmenden Islam, so
beschreibt man diese Selbstfindungs- und Abgrenzungstendenzen mit dem Begriff Islamismus
(islamisme), also einen Islam, der sich gegenüber modernen laizistischen Strömungen absetzt. Dabei
geht es nicht um wissenschaftliche Errungenschaften, besonders naturwissenschaftlicher Art – hier ist
der Islamismus erstaunlich "modern", sondern um die Abwehr westlicher geistesgeschichtlicher
Trends und Geistes-Strömungen, die besonders die Ausklammerung Gottes aus dem Denken und ein
nicht-theistisches Weltbild beinhalten, das dann gern als atheistisch bewertet wird. Damit lässt sich
ähnlich wie mit dem Begriff Fundamentalismus die Frontstellung gegenüber den Nichtmuslimen
artikulieren. Man kann den Islamismus allerdings nicht nur als eine Variante des westlichen
Fundamentalismus bezeichnen. Damit würde man eine aus dem westlichen Denken kommende
Begriffsstruktur einfach auf ein islamisches Phänomen übertragen. Die dennoch bestehende
Gemeinsamkeit beider Begriffe liegt in der Kritik säkularer und säkularisierter Gesellschaften, die die
Trennung von Staat und Religion relativ konsequent durchzuhalten versuchen und dem Staat
Wertneutralität bescheinigen. Während fundmentalistisch-christliche Kreise jedoch oft ein erstaunlich
entspanntes Verhältnis zu kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen haben – bis hin zu Ausbeutungsmechanismen in der sog. Dritten Welt, gibt sich der Islamismus weitgehend antikapitalistisch,
allerdings unter Hochachtung des Eigentums und des Besitzes als Möglichkeit ökonomischen
Ausgleichs gegenüber ärmeren Bevölkerungsschichten und „unterentwickelten“ Völkern.
Moderne und Postmoderne
Unter diesen Gesichtspunkten erhebt sich die Frage, nach dem „Zeitgeist“ der heutigen
Gesellschaften im Sinne von Moderne und Postmoderne.
Mit Moderne / Modernität (modernité) versucht man, sich auf Kennzeichen der heutigen
Gesellschaften zu beziehen, die sowohl philosophisch wie soziologisch – zumindest teilweise
konsensfähig sind: Die Ursprünge zur Modernitätsdiskussion in Europa müssen bis in die
Renaissance, den Humanismus und die Reformation zurückverfolgt werden, als die
Selbstverständlichkeit des göttlich begründeten „Naturrechts“ in die Krise geriet. Zwischen einzelnem
und Gesellschaft entsteht eine Spannung, die am Ausgang des Mittelalters beim Streit Erasmus –
Luther um den freien Willen kreiste. In der Französischen Revolution wurden nicht nur die Werte von
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit an die Spitze der Werteskala gesetzt (teilweise in Abgrenzung zu
den 10 Geboten), sondern als Basis der gesellschaftlichen Neuorientierung diente die Vernunft
(raison), die sich aus der kirchlichen Bevormundung befreite. Durch die im 18./19. Jahrhundert
sprunghafte Entwicklung von Wissenschaft und Technik verstärkt sich die Autonomie der Vernunft,
aber auch ein ständig stärker werdender Fortschrittsglaube. Allerdings gab es erhebliche
„Rückschläge“ in der demokratisch-politischen-nationalen Entwicklung. Der wirtschaftliche
Aufschwung im Frühkapitalismus führt gleichzeitig zur Verarmung ganzer Bevölkerungsschichten.
Ideologisch versuchen nur die „Linkshegelianer“ und damit der Marxismus und politisch die
Sozialdemokratie diesen gesellschaftlichen Verschlechterungen entgegenzusteuern. Weil die kirchlich
5. Vgl.: Paul Airiau: Cent ans de laïcité française 1905-2005. Paris: Presses de la Renaissance 2005 und: Jean
Michel Ducomte: La laïcité. Toulouse. Editions Milan 2001.
4
organisierte Religion auf Seiten der herrschenden Klassen steht bzw. das Bürgertum repräsentiert,
sind viele philosophische Versuche (wie z.B. bei Nietzsche, F. Engels, Lenin) antikirchlich und
antireligiös geprägt. Der weitgehende Verzicht auf „Transzendenz“ gekoppelt mit evolutionärem
Denken und ausgeprägtem Fortschrittsglauben erhält die erste tiefgehende Erschütterung durch den
1. Weltkrieg. Doch bleibt säkulares Denken leitend, bis die Ideologien des Faschismus,
Nationalsozialismus und Bolschewismus erneut die Welt an den Abgrund führen. Nach dem 2.
Weltkrieg ist dann die Krise der Moderne nicht mehr wegzudiskutieren (Frankfurter Schule der 60er
Jahre).Diese Entwicklung resümiert der französische Sozialwissenschaftler und Philosoph Alain
6
Touraine, indem er den Weg von einer „vollen Modernität“ zu einer „begrenzten Modernität“ aufzeigt.
Die Tendenzen der Säkularisation, die eben Tendenzen der Moderne sind, haben zur
Entzauberung der Welt geführt (Touraine, aaO 314). So entsprechen Modernität und Säkularität
einander. Die Krise der einen ist die Krise der anderen, bei der es entweder um die
Instrumentalisierung der Logik oder um die Re-Etablierung von Werten geht, die sowohl um das Glück
des Individuums als auch um das der Gesellschaften kreisen, deren Hoffnungen sich wieder an
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit orientieren, die eine „triumphierende Modernität“ zerstörte
(Touraine, aaO 430).
Auf diese Weise gewinnt der Laizismus (laïcisme) ethische Qualitäten, die unabhängig von
religiöser Bevormundung formuliert werden und im öffentlichen und politischen Leben entsprechend
zum Ausdruck kommen sollen, so dass die Religion ganz in den Privatbereich abgeschoben und
eigentlich nur noch als gesellschaftliches Teilphänomen angesehen wird. Die im Französischen
entwickelte Laizität (laïcité) geht nämlich davon aus, dass das öffentliche Leben (besonders in Schule
und Politik) von jeglicher religiösen Bindung und Einflussnahme frei zu sein hat. Laizität als Trennung
von Kirche und Staat bezeichnet darum die gesellschaftspolitische Realisierung dieses Ideals unter
den Bedingungen eines demokratischen Staates (der Republik) und des bürgerlichen Gemeinwesens.
Die meisten islamischen Länder sind in diesem Sinne keine laizistischen Staaten (ausgenommen die
Türkei ihrer Geschichte und Verfassung nach), weil die herrschende Religion des Islam als Teil des
gesellschaftlichen Lebens auch Teil des politischen Handelns sein soll(te).
Wird jedoch der Religion die Privatsphäre zugewiesen und müssen gleichzeitig viele
gesellschaftliche Gruppen mit unterschiedlichen Formen und Riten hergebrachter Religion oder neuen
religiösen Bewegungen leben, dann wird die Frage nach der Religiosität in einer säkularisierten
Gesellschaft akut, die sich in den USA beispielsweise als Zivilreligion (civil religion) etabliert hat und
7
bis weit in den politischen Raum reicht. Religion wird so nicht mehr nur in den festen Formen der
organisierten Religion erlebt, sondern die Kirchen müssen sich mit anderen konkurrierenden Sinnund Wertesystemen auseinandersetzen, was zu einer Vielzahl religiöser Erscheinungsformen führt
und von konservativen Orden bis zu frei flottierenden Religiosität führt, deren Ingredienzien fast wie im
Supermarkt immer wieder neu abgerufen werden können.
Gleichzeitig hat der Rationalitätsdruck der Moderne offenkundig eine Krise deutlich gemacht, so
dass selbst marginale Aufbrüche an Dynamik gewinnen. Das führt bis zu Konzepten, nach denen die
geschichtliche Tradition nicht nur fester Bestand aller menschlichen Entwicklung ist, sondern wo
bestimmte Entwicklungslinien der Geschichte im Sinne einer Wirkungsgeschichte nicht akzeptiert
werden. So werden in der dann so bezeichneten Postmoderne – im Unterschied zur Moderne –
teilweise anders fundamentierte Wertekataloge oder Bezugsrahmen vorgelegt. Die Moderne mit ihrem
Fortschrittsglauben und ihrer ungebrochenen Rationalität wird zum Mythos erklärt. So bezeichnet die
Postmoderne eine Zeitströmung, eine geistig-kulturelle Bewegung, die schwer zu definieren ist, die
sich aber in einer Fülle von möglichen Alltagsphänomenen in der Mode, dem Konsumverhalten, der
Kunst, Literatur und Architektur zeigt. So wird die Vorrangstellung der Vernunft in Frage gestellt,
Emotionalität und Gruppenzugehörigkeit wird wieder stärker betont, Absolutheitsansprüche im Blick
8
auf Wahrheit und Erlösung werden abgelehnt.
Die inzwischen unbestreitbare Globalisierung vieler Lebensbereiche wird als Krise der
Gesellschaft gesehen, weil die Schattenseiten solchen Weltverständnisses eine große Zahl von
9
Menschen systematisch ausgrenzt.
Der Postmoderne gegenläufig scheinen starke neokonservative und fundamentalistische
Strömungen auch in den westlichen Gesellschaften zu sein, so dass der Gedanke des Heils als
Rückkehr zum Paradies gleichzeitig an Boden gewinnt. Das hat zur Folge, dass
gesamtgesellschaftliche Bewertungen immer schwieriger werden.
6. Alain Touraine Critique de la modernité. Paris: Fayard 1992, S. 207ff, 299ff, 420f.
7. Rainer Wihöft: Civil Religion und Pluralismus. Reaktionen auf das Pluralismusproblem im systematischtheologischen Diskurs. Kontexte 25. Frankfurt/M.: P. Lang 1998.
8. Vgl. dazu: Robert Weimann / Hans Ulrich Gumbrecht (unter Mitarbeit von Benno Wagner, Hg.): Postmoderne –
globale Differenz. stw 916. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991.
9. Ann W. Astell (Hg.): Divine Representations. Postmodernism & Spirituality. Mahwah, NJ: Paulist 1994, bes. S.
83ff und Peter Beyer: Religion and Globalization. London u.a.: Sage 2000, 4. Aufl. (bes. Part I).
5
Aufgeklärter Islam und Laizität
Nun greifen auch islamische Wissenschaftler wie der Professor für islamische Studien,
Mohammed Arkoun in Paris, vehement in die Debatte um Moderne und Postmoderne ein. Er, der
durchaus als „aufgeklärter“ Muslim gelten kann, bezeichnet sich zugleich als „Fundamentalist“, da er
10
auf den Fundamenten von Koran und Sunna steht.
Aufgabe der Historiker ist es nach Arkoun zu zeigen, wie unterschiedliche ethno-kulturelle
Gruppen aus einem gemeinsamen Bestand an Zeichen und Symbolen geschöpft haben, um Systeme
des Glaubens oder Unglaubens zu schaffen, die zur Legitimation von Macht gedient haben. Daher
fordert Arkoun, die Sinnfrage nicht länger aus der Sicht einer unbeweglichen Transzendenz zu stellen,
einer Ontologie, die vor jeglicher Historizität geschützt wäre. Stattdessen sollte sie im Lichte der
historischen Kräfte betrachtet werden, die selbst die heiligsten Werte in symbolisches Kapital
verwandeln, das man nicht von den mythischen Gründungserzählungen trennen kann, wo jede ethnokulturelle Gruppe ihre Identität oder Personalität zusammenfasst. In den Offenbarungsreligionen
wurde das symbolische Kapital allerdings zu Gesetzen, mechanischen Ritualen, scholastischen
Lehren und Ideologien der Herrschaft degradiert.
Will man darum die Frage nach dem Zusammenhang von Islam und Laizität bzw.
Säkularisierung stellen, ist es wichtig, sich darüber im klaren zu sein, dass diese Gesetze, staatlichen
Institutionen, die Person und Funktion des Kalifen erst nachträglich sakralisiert und
transzendentalisiert worden sind.
Die säkularen Revolutionen haben die Hierarchien und Ungleichheiten, die mit Hilfe der Macht
der Sakralisierung entstanden sind, aufgehoben. Diese Macht wurde von den Theologen ausgeübt,
die vorgaben, als autorisierte Interpreten der Offenbarung zu handeln. Die Revolutionen enthüllen so
eine verborgene Funktion des Heiligen: den permanenten Übergang zur Transzendenz, die das
Unendliche des Sinns eröffnet, zur Transzendentalisierung, die den Sinn in Lehren, politischen
Ordnungen und Rechtskodices fixiert. In einem Kontext, der von den religiösen Traditionen befreit ist,
wird das republikanische Frankreich mit Hilfe der Rekonstruktion eines nationalen laizistischen Bildes
(imaginaire) von neuem sakralisiert.
Arkoun möchte die Bedeutung der modernen Trennung von legislativer, judikativer und
exekutiver Gewalt für den sozialen Frieden und den Respekt vor den Menschenrechten nicht
schmälern. Aber diese Gewalten verweisen auf tiefer gehende Fragen, die all unserem politischen,
rechtlichen und religiösen Reden zugrunde liegen: die Frage nach dem Sein, nach Werten, dem
Heiligen, nach Transzendenz, Liebe, Gerechtigkeit, der Wunsch nach Unsterblichkeit. So geraten hier
die ungleichen Paare von spiritueller Autorität und politischer Macht ins Blick- und ins Konfliktfeld.
Arkoun unterscheidet zwischen der spirituellen Autorität Gottes und politischer Macht. Er greift
den Begriff der „Sinnschuld“ (dette de sens) von Marcel Gauchet auf, einer moralischen Verpflichtung
im Rahmen des Bundes zwischen Gott und Mensch in den Offenbarungsreligionen. Nur die Macht, die
im Rahmen dieses Bundes ausgeübt wird, ist legitim. Das Aufkommen einer spirituellen laizistischen
Macht mit dem Bürgertum hat die Funktion der Sinnschuld dem allgemeinen Wahlrecht übertragen.
Arkoun spricht von einem „neuen Bund“, der auf das allgemeine Wahlrecht gegründet ist und die
säkularisierte Kirche zur Folge hatte. Mit dem Ende des traditionellen Religiösen kamen die säkularen
Religionen (Raymond Aron) auf. Die Demokratien funktionieren wie Religionen (allerdings ohne den
Zusammenhang von Sinn und Schuld) mit Führern, die nach Taktiken und Strategien suchen, die
Macht zu erlangen und auszuüben und die weniger um “légalité“ als um „légitimité“ bemüht sind. Nun
wird es darum gehen, so meint Arkoun, dass Kirche und Staat nach neuen Vereinbarungen, nach
einer neuen Laizität suchen, die eine neue Spiritualität ermöglichen. Hier liegt übrigens ein
Ansatzpunkt von islamischer Seite, die eine Reihe von „gemäßigten“ Laizisten (wie z.B. Olivier Carré,
s.u.) aufgegriffen haben.
Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges glaubte man in der muslimischen Welt, es würde
reichen, die „Rezepte“ des Westens auf die muslimischen Länder zu übertragen, die den Erfolg der
westlichen Zivilisation ermöglicht haben. Kritiklos übernahm man daher in der nach-osmanischen
Türkei die Laizität, wie es die radikale Neutralität Atatürks gegenüber der Religion zeigt. Doch eine
Entwicklung der muslimischen Welt hin zu einem laizistischen und demokratischen Pluralismus
musste scheitern. Die Rolle der Symbole im Kontext einer mündlichen, mythischen Kultur
unterscheidet sich wesentlich von der im logozentrischen System einer Schriftkultur, eingesperrt in
den Grenzen der Historizität. Die Symbole werden hier zu schlichten Zeichen, an denen sich die
„Modernen“ und die „Konservativen“ erkennen.
Arkoun unterscheidet zwischen „pensée laïque“, einer offenen, kritischen Haltung, die
10. Mohammed Arkoun: Ouvertures sur l'Islam. Paris: Grancher 1989 (Eröffnungen über den Islam und: Essais
sur la pensée islamique. Paris: Maisonneuve & Larose 1984, 3. Aufl. Berühmt geworden ist Mohammed Arkoun
mit seinem Projekt einer“Kritik der islamischen Vernunft“, das die Islamwissenschaftlerin Ursula Günther sehr
differenziert beschrieben hat: Mohammed Arkoun. Ein moderner Kritiker islamischer Vernunft. Würzburg: Ergon
2004.
6
Verantwortung wahrnimmt und die Freiheit der Selbstbestimmung anderer anerkennt, und „pensée
laïciste“, die unter dem Vorwand der Neutralität jeglichen wissenschaftlichen Unterricht über die
Geschichte der Religionen als permanente und universelle Dimension der menschlichen
Gesellschaften aus der staatlichen Schule verbannt. Mit dieser Wertung wendet sich Arkoun gegen
einen positivistischen und szientistischen Rationalismus. Er fordert darum, auf zwei historische Brüche
zu reagieren: den Bruch des „orthodoxen“ islamischen Denkens mit der Philosophie und den Bruch
des westlichen Denkens mit dem religiösen Denken aufgrund dessen semitisch-orientalischer
Wurzeln. Der Islam und der Westen scheinen zwei entgegen gesetzte Pole zu sein. Arkoun weist
daraufhin, dass sie denselben philosophisch-religiösen Ursprung haben.
Die Spannung zwischen Religion und Moderne
Gegenüber einem solch differenzierten Verständnis versucht der Göttinger Politikprofessor
Bassam Tibi eine Europäisierung des Islam, d.h. eine Anpassung des Islam an die Bedingungen einer
säkularisierten Gesellschaft. Damit setzt er anders als Arkoun die Unfähigkeit des traditionellen Islam
11
voraus, der nicht in der Lage ist, sich auf die Bedingungen von Demokratie und Laizität einzulassen.
In manchen Überlegungen trifft er sich dabei mit dem zum Islam übergetretenen Philosophen
Roger Garaudy, der davon ausgeht, dass Religionen, die die Moderne ablehnen, Gefahr laufen,
entweder ausgelöscht zu werden oder in gewalttätige Opposition, Fanatismus oder Integrismus zu
verfallen. So beschreibt der vom Marxismus Geprägte aus einer ursprünglich atheistischen Sicht
heraus das aktuelle Stadium der Beziehungen zwischen dem Islam und dem Westen. Die Werte der
Moderne (Dynamismus, Wandel, kritischer Geist und Kult des Individuums) sind unvereinbar mit den
Werten des Islam. Nie war die Kluft zwischen dem Islam und dem Westen ökonomisch und militärisch
so groß wie heute. Die industrielle Welt wird den Islam besiegen, wenn die moderne Welt nicht aus
Mangel an Werten des Lebens (Verlust des Geheimnisses des inneren Friedens/ Verdrängung des
12
Todes) ihre Kraft verliert.
Traditionalisten nicht nur im Islam verweisen gerne auf die Krise im Westen, die die Menschen
in das Zeitalter der Automation und der Informatik „schleuderte“. Doch die Kritik an Wissenschaft und
Technologie stellt ihre Nützlichkeit und Legitimität nicht in Frage, sondern wie das bereits Theologen
des 12. Jh. taten, lediglich ihre Exzesse. Die große Mehrheit der Menschen im Westen weiß darum,
dass es unmöglich ist, dem Fortschritt den Rücken zu kehren. Man kann ihn in seinen
Hemmungslosigkeiten wohl bedauern, aber man kann ihn nicht mehr stoppen! Der Gegensatz
zwischen Wissenschaft und Glauben beschränkt liegt in den integristischen Interpretationen des 12.
Jahrhunderts. Nur das Überleben des mittelalterlichen Integrismus stellt den Muslim heute vor das
scheinbare Dilemma, sich zwischen zwei unvereinbaren Kulturen entscheiden zu müssen: einer
Gesellschaft, die Gott durch ein imperatives, ewiges Gesetz unterworfen ist, und einer Gesellschaft, in
der Staat und Religion getrennt sind und allen Gesetzen menschliche Entscheidungen zu Grunde
liegen – kurz: zwischen göttlichem und menschlichem Gesetz.
Aber wie kann man die Forderungen der modernen Welt mit denen der Tradition vereinbaren?
Das geht nur so, dass die Vielfalt in der muslimischen Identität vorausgesetzt wird, so sieht es
13
jedenfalls Fereydoun Hoveyda, der Botschafter des Iran von 1971-1979 war.
Er geht davon aus, dass Religion die Westlichkeit, die Modernität als ein Element menschlicher
Persönlichkeit akzeptieren muss und biografische Herkunft sowie gegenwärtiger Lebensmittelpunkt
unter westlichen Bedingungen in Einklang gebracht werden müssen. Was ist denn die wahre Identität
des Ägypters, des Berbers, des Iraners, des Sudanesen? Im 7. Jh. sind die Beduinen aus der Wüste
ausgezogen und haben völlig fremde Kulturen assimiliert. Heute stehen die Muslime einer
wissenschaftlichen und technologischen Kultur gegenüber, die ihnen im Grunde nicht fremd ist. Denn
bis ins Mittelalter waren sie selbst an der Entwicklung dieser Kultur beteiligt! Es besteht kein wirklicher
Gegensatz zwischen der westlichen Kultur und der muslimischen Zivilisation. Der Anthropologe Malek
Chebel setzt sich darum mit Vehemenz für einen Wettkampf der Ideen ein, um aus dem unsinnigen
Dilemma zwischen Islam und Vernunft herauszukommen.14
11. Vgl. Bassam Tibi, besonders: Krieg der Zivilisationen. Politik und Religion zwischen Vernunft und
Fundamentalismus. Hamburg: Hoffmann und Campe 1995, bes. S. 247ff; ferner ders.: Europa ohne Identität.
München: BTB 2000, aber auch ders.: Islamische Zuwanderung. Stuttgart: DVA 2002, sowie: Islam Between
Culture and Politics. London u.a.: Macmillan / Palgrave 2005.
12. Vgl. Roger Garaudy: L’Islam en Occident. Cordove, capitale de l’esprit. Paris: Harmattan 1991 und: Avonsnous besoin de Dieu? Paris: Desclée de Broúwer 1993 (mit einer interessanten Einleitung von Abbé Pierre).
13. Fereydoun Hoveyda: L’islam bloqué. Paris: Laffont 1992.
14
Malek Chebel: Manifeste pour un islam des Lumières. 27 propositions por réformer l’islam. Paris : Hachette
2004 und: L’islam et la raison. Le combat des idées. Paris: Perrin 2005
Wie differenziert der Modernediskurs islamsicher Theologie und Philosophie zu sehen ist, hat Geert Hendrich
aufgezeigt: Islam und Aufklärung. Der Modernediskurs in der arabischen Philosophie. Darmstadt: WBG 2004.
Hier kommen wichtige arabische Vertreter im Zusammenhang von Orientalismuskritik, Fortschrittsdiskussion,
Aufklärung und „arabischer Vernunft“ zu Wort.
7
Säkularisierung und Begegnung der Religionen
Wie verhalten sich nun Religionen in einem sich so in Bewegung geratenen Kontext, der in
Variationen für ganz Europa zutreffen dürfte? Kirchliche Verbundenheit von einzelnen oder Gruppen
tritt allenfalls in einer Form auf, die mehr oder minder auch dem eigenen Erfahrungshorizont
angepasst ist und dem eigenen Lebensgefühl in etwa entspricht. So schwanken die
Glaubensanschauungen schon erheblich innerhalb einer Konfession oder Religion. Die gesamte
religiöse Szene wirkt weithin wie ein bunter Flickenteppich („Patchwork-Religiosität“). Anders gesagt:
Unsere westlichen Gesellschaften sind insgesamt durch einen Pluralismus religiöser, quasi-religiöser
und nicht-religiöser Art gekennzeichnet, verstärkt durch Individualisierung und immer neue
15
Synkretismen. So werden religiösen Anschauungen zunehmend unüberschaubarer.
Unbestreitbar scheinen dogmatisch festgelegte Religionen bzw. Konfessionen zum Teil
ausgewandert und marginalisiert zu sein, aber als Religiöses und Religiosität kommen sie verändert
16
zurück. Im Blick auf Religion und die wissenschaftliche Theologie Europas und Amerikas hat sich
insgesamt ein theologisches Verständnis entwickelt, dass den Begriff der Säkularisierung positiv
aufzunehmen versucht. Dieser Gedanke ist ursprünglich Teil protestantisch-theologischen Denkens,
besonders bei Dietrich Bonhoeffer, Friedrich Gogarten, Harvey G. Cox und Thomas Altizer, das sich
17
im Sinne eines erwachsenen, befreiten Christentums denken lässt.
Das ändert aber nichts daran, dass der Begriff „Säkularisierung“ in vielen religiösen und
kirchlichen Äußerungen einen negativen Beiklang (Konnotation) beibehalten hat und die Krise
organisierter Religion oder rituell verfestigter Kirchlichkeit bezeichnet.
Im postmodernen Gegenzug zur Moderne führt das Wiedererwachen des Religiösen (nicht der
Kirchen) seit etwa 30 Jahren verstärkt zur Infragestellung dieser säkularisierten Gesellschaft, die sich
in ihrer Abkehr von traditionellen religiösen Denkmustern selbst genug ist und einem teilweise
enthemmten Materialismus und Konsumdenken huldigt (Stichwort: Fun-Gesellschaft).
Aber auch innerhalb der klassischen Religionen finden eine Veränderungen statt, die zuerst
einmal das Verhältnis des Christentums zu den Religionen und Weltanschauungen neu interpretieren.
Herausragend sind dazu bis heute die Äußerungen des Zweiten Vatikanischen Konzils und des
Weltrats der Kirchen:
Das Vaticanum II und die katholische Position zur Säkularisierung
Das 2. Vatikanische Konzil bedeutete für das Verhältnis der katholischen Kirche zu den
nichtchristlichen Religionen einen gewaltigen Umbruch. In der Erklärung „Nostra Aetate“ vom
28.10.1965 wird zum ersten Male eine Haltung freigesetzt, die die Heilswahrheit nicht für sich allein
beansprucht, sondern den „Strahl jener Wahrheit“ in den verschiedenen nichtchristlichen Religionen
widergespiegelt sieht. Es handelt sich um jene Wahrheit, „die alle Menschen erleuchtet“.
„Wir können aber Gott, den Vater aller, nicht anrufen, wenn wir irgendwelche Menschen, die ja nach dem
Ebenbild Gottes geschaffen sind, die brüderliche Haltung verweigern. Das Verhalten des Menschen zu
Gott, dem Vater, und sein Verhalten zu den Menschenbrüdern stehen in so engem Zusammenhang, dass
die Schrift sagt: ‘Wer nicht liebt, kennt Gott nicht’ (1 Joh 4,8). So wird also jeder Theorie und Praxis das
Fundament entzogen, die zwischen Mensch und Mensch, zwischen Volk und Volk bezüglich der
Menschenwürde und der daraus fließenden Rechte einen Unterschied macht. Deshalb verwirft die Kirche
jede Diskriminierung eines Menschen oder jeden Gewaltakt gegen ihn um seiner Rasse oder Farbe,
18
seines Standes oder seiner Religion willen, weil dies dem Geist Christi widerspricht ...“
Hier werden tatsächlich faire und ehrliche Bedingungen für den Dialog genannt, in dem offensichtlich
auch nicht-religiöse humanistische Strömungen ihren Platz haben. Der Wettstreit um die Wahrheit
kann beginnen. Zu fragen bleibt allerdings, ob die Heilswahrheit des Christentums bzw. der
katholischen Kirche – wenn auch eingeschränkt – als letztgültig weiter festgehalten wird.
Der Ökumenische Rat (ÖRK / WCC): Leitlinien des Dialogs
Auf der 6. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK = WCC = World
19
Council of Churches) 1983 in Vancouver/Kanada wurde formuliert:
„Wir anerkennen die Erfahrungen gemeinsamen Handelns und der Zusammenarbeit zwischen Christen
15. Das beschreibt sehr eindrücklich: Juan José Sebreli: El asedio a la modernidad. Crítica del relativismo
cultural. Barcelona: Ariel 1992.
16. Vgl.: Gianni Vattimo: Jenseits des Christentums. Gibt es eine Welt ohne Gott? Aus dem Italienischen von
Martin Pfeiffer. München: hanser 2004, bes. S. 116ff, 128ff.
17. Vgl. Harvey Cox: Religion in the Secular City. Toward a Postmodern Theology. Touchstone: New York 1984.
18. Karl Rahner / Herbert Vorgrimler (Hg.): Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten
Vaticanums. Freiburg u.a.: Herder 2004, 31. Aufl., S. 359, vgl. zum päpstlichen Friedensgebet vom 24.01.2002
in Assisi: Encounter <Hg. PISAI Rom> No. 292, Febr./März 2003: Peace a single goal and a shared intention).
19. Walter Müller-Römheld (Hg.): Bericht aus Vancouver. Frankfurt/M.Lembeck 1983, S. 67).
8
und Menschen anderen Glaubens und die Dringlichkeit der Zusammenarbeit besonders auf Gebieten, wo
es um die Armen, die grundlegende Menschenwürde, Gerechtigkeit und Frieden, wirtschaftlichen Wiederaufbau und die Beseitigung von Hunger und Krankheit geht.“
Wo aber Sympathie, Respekt vor dem anderen und vorausgesetzte Gleichheit der Partner sich
verbinden, hat der interreligiöse Dialog eine echte Chance. Diese Chance war bereits 1979
(Neuausgabe, Genf 1990) formuliert worden: Neu herausgebracht mit Anmerkungen und Fragen
20
Guidelines on Dialogue with People of Living Faiths and Ideologies):
Darum lässt sich sagen: „To enter into dialogue requires an opening of the mind and heart to
others. It is an undertaking which requires risk as well as a deep sense of vocation. It is impossible
without sensitivity to the richly varied life of humankind.”
Veränderungen im interreligiösen Dialog – um der Dialogfähigkeit willen
Angesichts der weltweiten Herausforderungen in der Entwicklung von Säkularisierung, Moderne
und Postmoderne hat auch die Theologie reagiert, so dass sich inzwischen im christlichen Kontext
„Theologien der Religionen“ entwickelt haben. Das umfassendste Beispiel hat kürzlich der dem
englischen Theologen und Religionsphilosophen John Hick nahe stehende Perry Schmidt-Leukel
21
geliefert:
Was Theologen wie John Hick, Leonard Swidler, Paul Knitter u.a. als Vordenker religionspluralistischer Theologie mit dem Durchbruch des Buches „The Myth of Christian Uniqueness“
öffentlich gemacht und dann systematisch ausgebaut haben, kann bis heute als Grundmuster
interreligiöser Betrachtung und systematischer Einordnung im Blick auf die Begegnung der Religionen
22
dienen:
1. Exklusivismus: Im katholischen Raum fand man viele Jahrhunderte (bis zum Vaticanum II)
die exklusivistische Position: „Außerhalb der Kirche ist kein Heil". Ihr kann man die
protestantische Variante zuordnen: „Außerhalb des Christentums ist kein Heil". Diese wird
unter missionarischer Perspektive teilweise immer noch - wenn auch nicht mehr so
offenkundig unter post-kolonialen Bedingungen - gepflegt.
2. Inklusivismus: Inklusivistische Positionen – auf die sich das Vaticanum II einlässt - schieben
letztlich ein christliches Verständnis den anderen Glaubensweisen unter, ohne allerdings die
andere Religion damit abwerten zu wollen. Karl Rahners Ausspruch von den anonymen
Christen in anderen Religionen ist ebenso berühmt wie problematisch. Christologische
Absolutsetzungen im Sinne der Verbindlichkeit auch für andere Glaubensweisen scheinen das
wirkliche Handicap inklusivistischer Positionen zu sein, denn die volle Wahrheit bleibt der
katholischen Kirche vorbehalten bzw. denjenigen theologischen Positionen die den
christologisch begründeten Heilsweg auch für Menschen anderen Glaubens notwendig
machen wollen. Im anderen Falle bräuchten diese ja weder das Kreuz Christi noch seine
Auferstehung im Sinne einer Heilskonzeption.
3. Religionspluralismus: Religionspuralistische Theologien haben durchaus verschiedenene
Prägungen. Aber alle Befürworter dieser Positionen versuchen, jeder Glaubensweise ihr
Recht zu lassen und sie als eigenständigen Weg zum Heil anzuerkennen.„Alle Religionen
bedürfen einander, nicht nur in ihren Gemeinsamkeiten, sondern gerade auch in ihren
Unterschieden, durch die sie einander ergänzen. Wir sollen in der eigenen Religion daheim
23
und in der anderen Gäste sein, Gäste, nicht Fremde“
Es geht also darum, in der interreligiösen Begegnung den Gedanken von Toleranz und
Versöhnung umfassend zu fördern. Bewahrung, Vertiefung und Förderung der eigenen religiösen
Identität und Spiritualität sind dabei Grundlage eines weiterführenden Dialogs, der sich auch mit nichtchristlichen und nicht-religiösen Weltanschauungen auseinandersetzen muss. Die zentrale Frage
bleibt, was die einzelnen Religionen von der Auslegung und Aktualisierung ihrer heiligen Schriften her
zur Versöhnung unterschiedlich Glaubender und Denkender bereits geleistet haben oder zu leisten
imstande sind.
Daraus ergeben sich interreligiös und im Blick auf die postmoderne Situation folgende
Konsequenzen:
20. Guidelines on Dialogue with People of Living Faiths and Ideologies. Geneva: WCC 1990, 4th revised printing,
S. 22, noch verstärkt durch “Ecumenical Considerations for Dialogue and Relations with People of Other
Religions. Geneva: WCC 2003 (bes. Nr. 31), die an die erste Publikation der „Guidelines“ und die bleibende
Verantwortung für den interreligiösen Dialog im Jahre 1979 erinnern.
21. Perry Schmidt-Leukel: Gott ohne Grenzen. Eine christliche und pluralistische Theologie der Religionen.
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2005.
22. John Hick / Paul F. Knitter: The Myth of Christian Uniqueness. Maryknoll, NY: Orbis 1987 / London: SCM
1988.
23. Paul Schwarzenau in Reinhard Kirste / Paul Schwarzenau Udo Tworuschka (Hg.): Europa im Orient – der
Orient in Europa. Religionen im Gespräch, Bd 9 (RIG 9). Balve: Zimmermann 2006, S. 10
9
1. Dialog kann nur sinnvoll zwischen gleichen Partnern und Partnerinnen geschehen, wer auch immer
diese Partner ideologischer, weltanschaulicher oder religiöser Art sein mögen.
2. Absolutheitsansprüche einzelner Religionen dürfen sich nur auf die Verbindlichkeit des eigenen
Glaubens beziehen. Das erlaubt kein noch so verdecktes inklusives Denken, das die anderen
religiösen Traditionen in irgendeiner Form als minder-wertig einstuft. Es erlaubt auch kein
inklusives Vereinnahmen (z.B.: „anonyme“ Christen, Buddhisten, Muslime usw.).
3. Das Verständnis von Mission ist im Sinne eines persönlichen Zeugnisses und Engagements zu
interpretieren, ohne dabei die anderen zur eigenen Glaubensweise bekehren zu wollen. Ziel muss
vielmehr ein friedliches Zusammenleben verschiedener Gruppen sein (siehe These 7).
4. Religionen sind eingebunden in vielfältige Kulturen und differierende Denkweisen. Sie sind darum
als unterschiedliche Wege zum Heil zu verstehen. Darum sind alle Anschauungen kritisch zu
prüfen, in denen ein Glaubensverständnis mit missionierendem Charakter zur Sprache kommt. Der
Anspruch der Religionen im Blick auf Sinnfindung und Wertevermittlung macht jedoch deutlich,
dass es ihnen nicht nur auf das Wohl, sondern auf das Heil des Menschen ankommt. Künftiges
Heil darf aber nicht von irdischer Gerechtigkeit getrennt werden oder gar auf ein Jenseits
verschoben werden.
5. Religionen drücken nicht endgültige Wahrheit aus. Sie sind sprachliche, rituelle und spirituelle
Annäherungen an das Transzendente, an eine Wirklichkeit die das herkömmliche Verständnis
übersteigt. Religiöse Lehr-Aussagen sind immer menschliche Ausdruckweisen, darum vorläufig
und bedürfen darum der Revision. Das nötigt auch zum Gespräch mit nicht-religiösen
Sinnfindungsversuchen, und zwar auf derselben Diskurs-Ebene.
6. Religionen haben sich mit den sie umgebenden Strömungen, Weltanschauungen und Ideologien
und damit auch mit den Säkularisierungstendenzen der jeweiligen Gesellschaft auseinander zu
setzen. Sie haben dies so zu tun, dass der Dialog auf Augenhöhe geschieht. Auch nicht-religiöse
und atheistische Begründungen von Humanität und Menschenwürde sind zu achten und als
genauso ernsthafter Lösungsvorschlag anzusehen wie religiöse Antworten zu Fragen nach dem
Sinn des Lebens und den Hoffnungen der Gesellschaft.
7. Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung so lautete die Initiative, die die
Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver 1983 anstieß. Dieser
weltumspannende konziliare Prozess gründete in der Verantwortung des Menschen vor Gott,
seinem Schöpfer. Die Konsequenz dieser Aussage sollte und musste jedoch sein, sich nachhaltig
für ein friedvolles Zusammenleben unter den Menschen einzusetzen, unabhängig von Menschen
mit anderen Denkvoraussetzungen und unabhängig vom Säkularisierungsgrad der jeweiligen
Gesellschaft. Nur so wird das Ziel gemeinsamer Humanität realisierbar (vgl. dazu
Menschenrechtserklärung der UNO, islamische Menschenrechtserklärungen u.a.).
Die Verantwortung der Religionen in einer säkularisierten Gesellschaft
Aus dem Gesagten ergibt sich: Die Unterschiede zwischen den einzelnen Religionen sollen
weder nivelliert, noch im Sinne einer gegenseitigen Angleichung relativiert werden. Eine einzelne
Religion, welcher Art sie auch immer sei, kann jedoch keine ethische Priorität beanspruchen. Sie kann
sich ebensowenig aus der gesellschaftlichen Mitverantwortung heraushalten. Wenn die theologische
Diskussion nicht nur auf den eigenen binnenreligiösen Rahmen beschränkt bleibt, sondern den
24
andern in seinem Anderssein wahr-nimmt, beginnt ernsthafter Dialog.
Dadurch eröffnen die Grundfragen nach dem Sinn des Lebens, nach Gott, Erlösung und Heil in
ihren jeweiligen kulturellen Zusammenhängen neue Perspektiven. Bei der Ethik lassen sich die
Gemeinsamkeiten leichter prüfen als bei den Glaubenslehren (vgl. dazu das Weltethos-Projekt von
Hans Küng). Letztlich kann man jedoch zwei religiöse Grundmuster festhalten, die von den Religionen
her in die gesellschaftliche Debatte eingebracht werden, das eine mit konvergierender, das andere mit
divergierender Zielrichtung:
a) Es gibt einen gemeinsamen Urgrund der Religionen, wie er – allerdings nicht durch systematischrationale Beweisführung – sondern eher durch mystische Erfahrungen in allen Religionen belegt
werden kann. Allerdings lässt sich der Gedanke vom gemeinsamen Urgrund aller Religionen weder
thetisch festschreiben noch pan(-en-)theistisch bestätigen. Begegnung der Religionen führt unter
dieser Voraussetzung allerdings zu einer tieferen Harmonie und unterschiedlichen
Herangehensweisen zur Transzendenz. Die Religionen haben von daher zwar unterschiedliche
Ausdrucksformen, sind sich aber der Vorläufigkeit ihrer Aussagen und des gemeinsamen Zieles
24. Vgl. dazu H.-M. Barth. Dogmatik. Evangelischer Glaube im Kontext der Weltreligionen. Gütersloh: Gütersloher
Verlagshaus 2001, bes. S. 220f, 807-816 und der Gedanke einer „integralen Anthropologie“ S. 511-524.
10
bewusst. In diesem Sinne wird ein sich entwickelnder religiöser Pluralismus zur Bereicherung,
Korrektur und Ergänzung der eigenen Glaubensweise, m.a.W.: die anderen Religionen wirken auf
die eigene Religion komplementär ein, d.h. korrigierend, erweiternd und ergänzend. In dieser
Weise können sich Religionen von ihrem unterschiedlichen Verständnis her auch in eine stark
säkularisierte Gesellschaft als gleichwertige (nicht völlig gleiche!) Partner einbringen.
b) Lehnt man einen gemeinsamen Urgrund ab, ist es wesentlich schwieriger, das Gemeinsame in den
Vordergrund zu stellen. Das Trennende wird leicht zum hermeneutischen Prinzip des
Verständnisses („Differenz-Hermeneutik“), um den andern in seinem Anderssein ernst zu nehmen.
Das ist durchaus erst einmal positiv zu sehen, weil der Andere in seinem Anderssein nicht durch
die eigene religiöse oder kulturelle Tradition vereinnahmt werden soll. Interreligiöser Dialog wird in
diesem Kontext zur Möglichkeit, Wahrheit als Heils-Wahrheit auf verschiedenen Wegen zu suchen.
Allerdings muss bei diesem Verständnis die Frage beantwortet werden, welche religiöse Tradition
wesensmäßig günstigere oder gar ethisch bessere Voraussetzungen zum Verständnis von HeilsWahrheit bietet und wie sich diese in der Differenziertheit einer pluralen Gesellschaft überzeugend
artikuliert. Bei solcher „Auseinandersetzung“ kann sehr schnell das Ende des Dialogs erreicht sein
und religiöse Traditionen bleiben unter sich und gleichzeitig noch konfessionell abgegrenzt, weil
das Verschiedene Vorrang vor dem Gemeinsamen und Konvergierenden gewinnt. Diese
Verschiedenheit versucht man dann als wesensmäßig festzuschreiben. Das führt aber vom Dialog
25
zum Monologisieren und hindert den fruchtbaren Austausch mit anderen Weltanschauungen.
Ziele des Dialogs
Soll der interreligiöse Dialog so offen bleiben, dass die Dialogpartner ihre Vorurteile gegenüber
unterschiedlichen Weltanschauungen und neueren religiösen Strömungen um der Sachklärung willen
zurücknehmen, so bieten die Gemeinsamkeiten und Konvergenzen nicht-totalitärer Ideologien und
religiöser Traditionen eine Kooperationsbasis, die angesichts der komplizierter werdenden Problemen
einer Welt unter den Vorzeichen der Globalisierung dem Frieden in den Gesellschaften nachhaltig
dienen kann. Angesichts der Zunahme von Terrorismus und Gewalt in den unterschiedlichen
gesellschaftlichen Strömungen die Friedens- und Versöhnungskräfte zu bündeln und gemeinsame
ethische Ziele zu formulieren und umfassend zu praktizieren, kann sich gerade für die Religionen als
Handlungsinstrument erweisen, um Menschen verachtende politische Interessen und
Hegemonialansprüche zu entlarven und ihnen ihre oft quasi-religiöse Rechtfertigung zu nehmen. Die
letzten Kriege, besonders im Zusammenhang des Nahostkonflikts, des Krieges der USA im Frühjahr
2003 gegen den Irak und dessen verheerenden Folgen, ebenso die Instabilität in Südasien und
Zentralasien machen offenkundig, wie fadenscheinig in der Politik religiöse Begründungen wirken, um
machtpolitische Ziele (auch im Sinne einer neuen Weltordnung) durchzusetzen. Da in den Religionen
selbst ein aggressives Potential vorhanden ist, muss darum verhindert werden, dass Texte göttlicher
Offenbarung zur Legitimierung von Gewalt, Terrorismus und Präventivkriegen benutzt werden.
Hören wir darum auf den islamischen Mystiker Ibn ´Arabi von Murcia (gestorben 1240); denn er
leistete einen wesentlichen Beitrag zur Versöhnung der Religionen. Er hielt ihre Verschiedenheit fest,
beurteilte jedoch von der gemeinsamen religiösen Grundlage her ihre Unterschiede in ihrer Relativität.
Nur in dieser Art können Religionen glaubwürdig ihre Stimme erheben und die Ungerechtigkeiten und
Konflikte in der Welt anprangern. Nur so setzen sie Versöhnungskräfte in einer in Arm und Reich
zerrissenen Welt frei – allein durch die Religion der Liebe – und nicht durch irgendeine auf Lehrsätze
26
festgelegte Religion:
„Jetzt können alle Bilder und Formen
Platz in meinem Herzen finden,
denn mein Herz
wurde eine Weide für die Gazellen,
ein Kloster für die Mönche,
ein Tempel für die Götzen
(auch "Götter" möglich),
eine Kaaba des Tawaf = Umkreisung der Kaaba),
eine Tafel der Tora
und ein Buch des Korans.
ich gehöre der Religion der Liebe
und wandele mit festen Schritten
auf ihrer Karawanenstraße, denn Liebe ist mein Bekenntnis und mein Glaube."
25
Vgl. dazu besonders die Versuche von Christian Danz, Friedrich Hermanni und Reinhard Leuze in: Christian
Danz / Friedrich Hermanni: Wahrheitsansprüche der Weltreligionen. Konturen gegenwärtiger Religionstheologie.
Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2006
26. Ibn ‘Arabi: L’interprète des désirs. Turjuman al-Ashwaq. Traduit de l’arabe, présenté et annoté par Maurice
Gloton. Paris: Albin Michel 1996, S. 117f – hier in eigener Übersetzung aus dem Französischen).
11
Es wäre schön, wenn noch mehr Menschen aus den verschiedenen Religionen bereit wären, diese
Versöhnungskraft zu leben und damit Religiosität und Säkularisierung nicht als unvereinbare
Gegensätze zu sehen, sondern als Chance dialogischer Begegnung, als Kennzeichen wahrer
Humanität und Menschenwürde. Wie sagte der Schriftsteller Erich Kästner? „Es gibt nichts Gutes,
außer man tut es!“
Zusammenfassung: Konfessionen, Religionen und Religiosität in einer säkularen Gesellschaft.
Der Autor beschreibt in diesem Artikel wie die Säkularissation im 19. Jahrhundert zu einer Herausforderung für
die christlichen Kirchen geworden ist. Religionskritik und Kirchenkritik breiteten sich bereits während des
Zeitalters der Aufklärung aus. So zeigt der Autor wie die Macht der Kirchen zurückgegangen ist; und viele
Menschen verließen die Kirche besonders im 20. Jahrhundert. Dann fährt er fort, indem er die Ursachen erwägt,
wie der Säkularismus die Gesellschaften durchdrang, indem durch die Etablierung des Laizismus die Trennung
von Staat und Kirche erfolgte. Das Beispiel Frankreich illustriert die politische und religiöse Diskussion
verschiedener Verständnisse, die solche Begriffe wie Laizismus, Laizität, Moderne, Postmoderne,
Postmodernismus und Fundamentalismus ausdrücken. Er zitiert solche Wissenschaftler wie Mohamd Arkoun,
Roger Garaudy, Alain Touraine, Dietrich Boonhoeffer u.a.
WeildDie organisierten Kirchen und Religionen in Europa und Amerika mehr in der privaten Späre oder in
besonderen Teilen der Gesellschaft zu Hause sind, bedeutet das nicht, dass der Säkularismus zum
Verschwinden der Religion geführt hat. Im Gegenteil heute gibt es einen Flickenteppich der verschiedenen Ideen
und Lebensstile (Patchwork-Religiosität).
Das Wiedererwachen der von Religion muss als eine Aufgabe für alle Religionen gesehenen werden, die
Notwendigkeit des interreligiösen Dialogs zu verstärken als Teil ihrer sozialen Verantwortung. Das Verstehen
anderer Religionen sollte auf der Ebene gleichwertiger religiöser Pluralität praktiziert werden. Der Autor sieht
darum die Unmöglichkeit des religiösen Exklusivismus und die Engpässe von inklusiven Positionen.
Nichtsdestotrotz sind Positionen im Dialog mit anderen Religionen, wie sie im 2. Vatikanischen Konzil und dem
Ökumenischen Rat der Kirchen formuliert wurden, Durchbrüche in der interreligiösen Begegnung. Der beste Weg
– so argumentiert der Autor – sind Positionen des religiösen Pluralismus, wie John Hick und andere
herausgearbeitet haben. Deshalb sollten die Partner durch Diskurse zu Wahrheit und Erlösung versuchen,
dieselbe Ebene zu haben; und der Respekt vor anderen Positionen wird im Wert gleich der eigenen Position
akzeptiert werden. Das wird gleichzeitig als Möglichkeit von kontextuellen Annäherungen an das Transzendente
gesehen werden.
Die Bedingungen für eine erfolgreiche Kooperation in einer säkularen Gesellschaft mit verschiedenen Meinungen
und Voraussetzungen sind zuerst Offenheit für den interreligiösen Dialog und zweitens die Notwendigkeit sich auf
die Versöhnung in Konflikten weltweit zu konzentrieren oder in der Gesellschaft, wo die verschiedenen Partner
leben. Religionen dürfen nicht durch politische Interessen und Machtansprüche instrumentalisiert werden, um
Terrorismus und Gewalt zu rechtfertigen. Die Begegnung wirkt sich nur hilfreich in wahrer Menschlichkeit und
Menschenwürde aus. Die gemeinsame Aufgabe kann auch als Arbeit für ein Weltethos beschrieben werden oder
als Praxis der Religion der Liebe.
Summary: Denominations, religions and religiosity in a secular society
th
The author describes in his article how the secularisation of the 19 century has been an impact on the Christian
churches. Criticism of religion and the churches grew up already during since the era of enlightenment. So he
th
shows how the power of the churches has diminished, and many people left the churches especially in the 20
century. He continues in considering the reasons how secularism has penetrated the societies by also
establishing laicism as separation from church and state. The example of France illustrates the political and
religious discussion of different understandings which express such terms as laicism (laïcité) modernity, postmodernity and post-modernism, fundamentalism. He quotes such scholars as Mohamed Arkoun, Roger Garaudy,
Alain Touraine, Dietrich Bonhoeffer and others.
Because the organized churches and religions in Europe and America are more at home in the private sphere or
in special parts of the society this does not mean that secularism has lead to a disappearance of religion, on the
contrary there is today a patchwork of different religious ideas and lifestyles (patchwork religiosity).
The re-awakening of religion must be seen as a task for all religions to emphasize the necessity of interfaith
dialogue as part of their social responsibility. The understanding of other religions should be practised on the level
of equal religious plurality. The author therefore sees the impossibility of religious exclusivism and the narrow
passes of inclusive positions. Nevertheless the positions in dialogue with other religions as formulated by the
Second Vatican Council and the World Council of Churches are breakthroughs in interfaith encounter. The best
way – so argues the author – will be positions of religious pluralism, as John Hick and others has pointed out.
Therefore by discourses on truth and salvation the partners try to have the same level; and the respect for other
positions will be accepted as equal on worth to the own position. This will on the same time be seen as possibility
of contextual approaches to the transcendent.
The conditions for a successful cooperation in a secular society with different opinions and suppositions
are first openness for interfaith dialogue and second the necessity to focus on reconciliation of conflicts worldwide
12
or in the society where the different religious partners live. Religions must not be instrumentalised by political
interests and claims of power to justify terrorism and violence. The encounter works only helpful in true humanity
and human dignity. The common task can also be described as the work for a global ethic or as the practice of
the religion of love.
Der originale Beitrag wurde dem orthodoxen Theologen und INTR°A-Mitglied Prof. Dr. Gregorios
Ziakas von der Aristoteles-Universität Thessaloniki anlässlich seiner Emeritierung im Jahre 2007
gewidmet.
Relpäd/religion-säkular2.doc
Überarbeitung, Aktualisierung 18.08.08
Herunterladen