Seht der Mensch! Joh 19: 1-5 “Da nahm Pilatus Jesus und ließ ihn geißeln. Und die Soldaten flochten eine Krone aus Dornen und setzten sie auf sein Haupt und legten ihm ein Purpurgewand an und traten zu ihm und sprachen: ‘Sei gegrüßt, König der Juden!’ und schlugen ihm ins Ge-sicht. Da ging Pilatus wieder hinaus und sprach zu ihnen: Seht, ich führe ihn heraus zu euch, damit ihr erkennt, daß ich keine Schuld an ihm finde. Jesus kam heraus und trug die Dornenk rone und das Purpurgewand. Pilatus spricht zu ihnen: Seht, der Mensch! Als ihn die Hohenpriester und die Knechte sahen, schrien sie: ‘Kreuzige! Kreuzige!’” Pilatus spricht die Wahrheit ohne es zu wissen: “Seht, der Mensch!” Jesus ist “der Mensch”, der Mensch schlechthin. Alles, was den Menschen ausmacht, sehen wir in dem Mann, auf den Pilatus mit dem Finger zeigt. Alles, was unser Menschsein ausmacht, sehen wir in Jesus. Jesus ist der Mensch, wie er ist. Jesus ist der Mensch, wie er sein sollte. Jesus ist der Mensch, der den Ist-Zustand überwindet und wird, wie der Mensch sein sollte. Jesus ist unser Spiegelbild, unser Vorbild und unsere Hoffnung. Der Mob von Jerusalem und die Hohenpriester, die ihn aufhetzen, sehen in Jesus den gefallenen Stern von Israel. Nur wenige Tage zuvor, bei seiner Ankunft in Jerusalem, hat der Mob Jesus gefeiert als den langersehnten Befreier Israels wie einen König. Nun liegt er geschlagen am Boden, dem gehässigen Spott der Menge, den Quälereien der Soldaten wehrlos ausgesetzt. Ein paar Tage zuvor hatten sie ihm zugejubelt: “Gelobt sei, der da kommt”, nun kreischen sie sein Todesurteil “Kreuzige!” Für einen, den sie als König gefeiert haben und der sich als Verlierer entpuppte, hatte der Mob von Jerusalem nur Verachtung übrig. “Weg mit dem!” Kurz darauf, als Jesus unter größten Schmerzen am Kreuz hängt, lästern sie über ihn: “Der Du den Tempel abreißt und in drei Tagen wieder aufbaust, hilf Dir selbst und steig herab vom Kreuz!” Können Menschen so grausam sein? Sie können! Der Journalist Alexander Görlach beobachtet in seinem Buch „Wir wollen Euch scheitern sehen!“, wie die deutsche Öffentlichkeit mit Menschen umgeht, die, zuerst öffentlich bewundert und verehrt, plötzlich am Boden liegen und all ihren Glanz verloren haben. Spott, Häme und Verachtung wird ihnen allenthalben zuteil; mancher tritt nochmal richtig nach. Die Häme, urteilt Görlach, zerfrisst unser Land. Bevor wir also die Menschen verurteilen, die damals am Kreuz Jesu vorbeigingen und spotteten, prüfen wir uns einmal selbst. Wie denken und reden wir über gefallene Prominente, oder über die Großen in unseren Familien oder unter unseren Kollegen, wenn sie plötzlich verwundet am Boden liegen? Menschen, die gerade noch unsere Helden waren, ernten Spott anstelle von Barmherzigkeit, wenn sie sich plötzlich als genauso schwach erweisen, wie wir selbst. 1 Es ist Neid, der sich in Verachtung verwandelt. Und hinter dem Neid steht die Sünde, die uns von Gott trennt und unser Leben zerfrisst. Der verspottete und geschlagene Jesus ist der Mensch schlechthin. Gott hält uns mit ihm einen Spiegel vor. Wir schauen in den Spiegel und sehen einen Menschen in einer falschen, wertlosen Königstracht: Purpurgewand, Dornenkrone, ein Rohrstock als Zepter. Das sind wir! Wir schmücken uns gern mit Königskleidern - all die Dinge, die uns und anderen zeigen sollen, wie gut wir unser Leben beherrschen. Unser Purpurgewand ist alles, womit wir meinen, sicher ausgesorgt zu haben, die stattliche Rente, das volle Bankkonto, die Wohnung, die uns keiner nehmen kann. Unsere Krone ist unser wohlverdientes gutes Ansehen in unserer Gesellschaft, unser guter Ruf, unsere Frömmigkeit, mit der wir in der Gemeinde viel gelten, die Lebenslügen, mit denen wir uns nach Außen präsentieren, um zu zeigen, dass wir unser Leben im Griff haben, ohne Probleme und ohne Risse. Was tun wir nicht alles, um das Gesicht zu wahren! Unser Zepter sind die stolzen Ansprüche an andere, die wir vor uns hertragen: Sollten unsere Kinder uns nicht dankbar sein? Sollte unser Ehepartner nicht endlich so werden, wie wir es wollen? Sollte unsere Gemeinde nicht endlich von Liebe erfüllt sein, sprich: sich um uns kümmern? Der stolze Anspruch an uns selbst: “Ich will niemandem zur Last fallen!” Damit ich niemandem dankbar sein muss. Schauen Sie heute Morgen sich selbst und Ihr Leben an: Erkennen Sie Ihr Purpurgewand, ihre Krone und Zepter? Falsche, wertlose Königstracht! Die 150 Menschen auf Flug 4U 9525 hatten ihre Purpurgewänder wie wir, Sicherheit hatten sie nicht und wir nicht. Dem reichen Kornbauern (Lukas 12:16ff.), der meinte ausgesorgt zu haben, sagt Gott: “Du Narr, in dieser Nacht wird man Deine Seele von Dir verlangen.” Was helfen alle Sicherheiten, wenn uns unvermittelt ein Unglück, eine schwere Krankheit oder der Tod trifft? Unser Leben ist wie ein Hauch (Ps 144:4), wie ein Dampf (Jak 4:14), die kleinste Brise der Natur bläst es aus. Wir haben keine Sicherheiten, denn wir wissen nicht, was Morgen sein wird (Jak 4). Gott regiert diese Welt, stark und souverän. Vor seinem Handeln sind wir nicht sicher, gibt es kein Entkommen. “Herr, siehe meiner Tage sind eine Hand breit bei Dir und mein Leben ist wie nichts vor Dir. Wie gar nichts sind alle Menschen, die sich doch so sicher wähnen!” (Psalm 39:5). Aber anstatt uns das einzugestehen und danach zu leben, laufen wir herum in unseren falschen Purpurgewändern und wiegen uns in selbstgemachter Sicherheit, bis einer umfällt und die 2 anderen über ihn spotten und ihn verurteilen. Gesellschaftliches Ansehen, das wir so gern als unsere Krone tragen, erweist sich als brüchig. Beispiele gibt es genug: Herr Wulff, Uli Hoeneß, Frau Schavan. Verehrte deutsche Prominenz, die plötzlich am Boden lag und verhöhnt wurde, weil sich herausstellte, dass sie ganz normale Menschen mit ganz normalen Schwächen und Fehlern sind. Aber man muss nicht auf die Prominenz schauen, um zu sehen, wie zerbrechlich Ansehen ist. Als mein Vater mit seinem Unternehmen Konkurs anmelden musste, wurde er von einem angesehenen Bürger der Stadt zu einem Niemand, der Kreis seiner Freunde schmolz auf zwei oder drei, aus seiner engsten Familie bekam ich Anrufe, die mir versicherten, wie peinlich das alles sei. Ob er nicht aus der Stadt wegziehen könnte? Jeder Mensch, und sei er noch so gering angesehen in unserer Gesellschaft, findet einen anderen, den er verachten und verspotten kann - der Mörder, der mit Jesus gekreuzigt wurde und ihn noch im Tod verhöhnte, macht es uns vor. Darum fürchten wir uns vor dem Absturz und spielen anderen vor, etwas zu sein, was es längst nicht mehr gibt. Manche Menschen machen lieber Schulden ohne Ende als ihrer Familie, ihren Freunden und Nachbarn einzugestehen, dass sie sich nicht mehr soviel leisten können wie die anderen. Andere schuften lieber auf Kosten ihrer Gesundheit, als ihren Kollegen einzugestehen, dass sie nicht mehr so leistungsfähig sind wie die Jüngeren. So mancher ruiniert sich still mit Tabletten, damit bloß keiner merkt, wie schwach und zerbrechlich er geworden ist. Weil wir alle nur zu genau wissen, wie schnell wir zum Spott der anderen würden, wie schnell und grausam über uns geurteilt würde, wenn die Fassade bröckelt, tun wir lieber so, als sei alles in Ordnung. Alles Bestens! Falsche, wertlose Kronen tragen wir. Gott, der die Welt regiert schaut uns an und lässt sich nicht von uns täuschen. “Vor Gott gilt kein Ansehen der Person” (Röm 2:2). “Der Tag des Herrn (Gottes Gericht) wird kommen über alles Stolze und Erhabene und Erhöhtes, dass es erniedrigt werde. ... So lasst nun ab von dem Menschen, dessen Leben ein Hauch ist, denn was gilt er schon?” (Jesaja 2:12, 22) “Gott sieht nicht auf den guten Ruf einer Person, sondern wer immer ihn fürchtet und gerecht handelt, den hat er lieb!” (APG 10:34-35). “Gott ist denen nahe, die ein zerbrochenes Herz haben (die ihren Stolz abgelegt haben)” (Psalm 34:18). Aber anstatt uns zu bemühen, mit ihm ins Reine zu kommen, tragen wir lieber unsere wertlosen Kronen 3 durchs Leben, bis sie uns vom Kopf fallen und zerbrechen, zum Spott der anderen. Unsere westliche Gesellschaft ist geprägt von Anspruchsdenken. Sie redet uns ein, dass jeder Mensch ein Recht hat auf das, was er sich wünscht: Versorgung durch den Staat, Gesundheit, Bildung, sexuelle Freiheit, Selbstverwirklichung, zum Schluss noch ein angenehmes Sterben. Es ist gut, dass der moderne Staat niemandem ohne Grund verwehrt, was er sich wünscht, um glücklich zu werden. Aber wir machen daraus den Anspruch, von anderen zu bekommen, was wir wollen. Wo menschliches Leben nur noch aus Ansprüchen an andere besteht, verkümmert die Freiheit, etwas freiwillig für andere zu tun. M e ns c hli c he B e zi e hung e n ve r k ümmern zu Rechtsverhältnissen, weil wir andere Menschen nur noch an unseren Ansprüchen messen: Tut er genug für mich? Steht er mir im Weg meine Ansprüche zu befriedigen? Kain ermordete seinen Bruder Abel, weil er glaubte, einen Anspruch darauf zu haben, dass Gott sein Opfer akzeptiert. Falsche Zepter, mit denen wir glauben, die Welt zu dirigieren. Vor Gott, der die Welt regiert, haben wir keine Anspüche, denn Gott lässt sich nicht von uns zur Rechenschaft ziehen. Zurzeit klingen überall die Rufe: “Wie konnte Gott das Unglück von 4U 9525 zulassen?” Dahinter steht der Anspruch, den wir an Gott richten, auf sicheres Reisen, sicheres Leben. Gottes Wort hält dagegen: “Weh dem, der mit seinem Schöpfer rechtet!” (Jesaja 45:9) und “Wer bist Du Mensch, dass Du mit Deinem Gott rechten willst?” (Römer 9:20) Darum sagt Jesus (Matth 18:2-3), dass, wer mit Gott ins Reine kommen will, so werden muss wie ein Kind, das keine Ansprüche vorbringt, weil es von Rechten nichts weiss. Aber anstatt uns anderen unterzuordnen, d.h. auf ihr Wohl mehr bedacht zu sein als auf unser eigenes, schwingen wir lieber unsere Zepter, bis sie abbrechen und wir merken, dass die andern über unsere vermeintlichen Ansprüche lachen. Falsche Königstrachten, die wir durchs Leben tragen. Warum tun wir das? Weil wir Menschen uns im Sündenfall von Gott abgewandt haben, um unser Leben vermeintlich selbst zu regieren. Gott hat uns geschaffen zu liebevoller Gemeinschaft mit ihm. Gemeinschaft, die auf völligem Vertrauen in seine Kraft, Güte und Treue beruht. Gemeinschaft mit Gott, die liebevolle Gemeinschaft der Menschen untereinander beinhaltet. Aber wir Menschen misstrauen Gott und wollen lieber selbst bestimmen, was gut und richtig ist. Die Zerstörung der Gemeinschaft mit Gott zerstört auch die 4 Gemeinschaft der Menschen untereinander. Darum laufen wir jeder in seiner falschen Königstracht herum. Der Blick auf Jesus zeigt, wohin das führt: Schmerz, Spott, Verachtung, der gellende Schrei: “Weg mit dem! Kreuzige ihn!” Seht, der Mensch! Gott hält uns in Jesus den Spiegel vor. Wenn wir genau hinschauen, sehen wir noch mehr als “den Mensch”, wie er ist - wie wir sind. Wir sehen auch den Menschen, wie Gott ihn geschaffen hat. Denn Jesus ist nicht wie wir durch die Macht der Sünde und die Verstrickungen menschlichen Stolzes in die Situation geraten, in der wir ihn sehen. Er hat sich freiwillig dort hineinbegeben, wohl wissend, was auf ihn zukam. Am Abend vor seiner Gefangennahme sehen wir Jesus im Garten Getsemaneh, zitternd vor Angst, Blut schwitzend vor seelischer Anspannung und Not. Jesus hat zu seinem himmlischen Vater gebetet: “Mein Vater, lass diesen Kelch an mir vorüber gehen!” Das Leiden, die völlige Einsamkeit am Kreuz, verlassen von allen Freunden und von seinem himmlischen Vater, der Tod, der ihn erwartete, sie waren zu schrecklich. Aber sein Gebet endete mit den Worten: “Nicht wie ich will, sondern wie Du willst!” Man kann diese Worte hören als Ausdruck extremen, willenlosen Gehorsams. Dann wäre Gott ein schrecklicher Gott, der seinen Sohn so leiden läßt. Man kann sie aber auch hören als Ausdruck tiefsten Vertrauens auf Gottes Macht, Güte und Treue, Vertrauen auf Gottes Wort: “Du wirst meine Seele nicht im Tode lassen, noch wirst Du zusehen, dass Dein Heiliger verwese. Du wirst mir den Weg des Lebens weisen.” (Psalm 16:10-11). Tiefer kann ein Mensch Gott nicht vertrauen, als dass er sein Leben buchstäblich auf Gedeih und Verderb in Gottes Hand legt und stirbt im Vertrauen darauf, dass Gott ihn zu einem neuen Leben auferstehen lassen wird, dass Gott Macht hat über den Tod und dass er treu sein wird. Mehr kann sich ein Mensch Gottes Führung nicht anvertrauen, als wenn er die Kontrolle über sein Leben völlig in Gottes Hand legt, wohl wissend, dass er sterben muss, bevor er neues Leben erlangen wird. So gehört wird Jesu Gebet zum Ausdruck einer innigsten Liebesbeziehung zwischen Vater und Sohn. Dazu hat Gott uns geschaffen: Seht, der Mensch wie er sein soll! Jesus ist den Weg ans Kreuz gegangen, weil er wusste, dass es der einzige Weg war, um für uns die Gemeinschaft mit dem Vater im Himmel wiederzuerlangen. Unsere Sünde und unser Stolz hatte die Gemeinschaft zerstört. Jesu absolutes Vertrauen zu Gott hat sie wieder möglich gemacht für alle, die an ihn glauben und ihn zum Vorbild ihres Lebens machen. Jesu Worte: “Nicht wie ich will, sondern wie Du 5 willst!” sind auch der Beweis seiner grenzenlosen Liebe zu uns. Wie Jesus selbst sagt: “Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde” (Joh 15:13). Wir schauen auf Jesus und sehen, dass aus größter Liebe und größtem Vertrauen zum Vater im Himmel größte Liebe zu Menschen wird. Dazu hat Gott uns geschaffen: Seht der Mensch, wie er sein soll! In seiner Liebe und seinem Vertrauen zu Gott und in seiner Liebe zu uns ist Jesus allen, die an ihn glauben, Vorbild. Karfreitag ist Jesus allen, die an ihn glauben, vorausgegangen in den Tod, aus dem er Ostern zu neuem Leben in ewiger Gemeinschaft mit dem himmlischen Vater und allen Menschen, die an ihn glauben, auferstanden ist. Er starb am Kreuz freiwillig und stellvertretend für alle, die an ihn glauben. Karfreitag und Ostern zusammen beweisen, dass uns dieser Weg offen steht. Jesus ist unsere Hoffnung, dass es möglich ist, in die liebevolle Gemeinschaft mit Gott zurückzukommen. Wir brauchen dafür nichts zu leisten, nicht selbst am Kreuz zu sterben, sondern allein auf Gottes Gnade zu vertrauen. Wer auf Christus schaut, sieht, dass der Mensch nicht so bleiben muss, wie er durch die Sünde geworden ist: Seht, der Mensch! Er überwindet Sünde und Tod überwindet durch den Glauben an Gott und wird, wozu er uns geschaffen hat. Christen sind Jünger, d.h. Nachfolger, die sich in ihrem Leben darum bemühen, es dem Meister nachzutun, auch wenn sie niemals so große Liebe und so vollständiges Vertrauen erreichen wie er. Nachfolger, die ihrem Herrn durch den Tod ins ewige Leben nachgehen. Nachfolge beginnt in diesem Leben, wenn wir uns zu Jesus bekehren und damit für die Sünde sterben, so dass sie keine Macht mehr über uns hat. Wer Jesus vertraut, braucht keine falsche Königstracht mehr. Welche Befreiung, wenn wir endlich den Purpurmantel unser falschen Sicherheiten, die falsche Krone unseres Ansehens vor anderen Menschen und das falsche Zepter unserer Ansprüche an andere und uns selbst fortwerfen können. Welche Befreiung, wenn wir endlich ehrlich sein können vor anderen und vor uns selbst, weil Gottes Liebe, Macht und Treue unsere Sicherheit ist, weil wir bei Gott gut angesehen sind und er für uns sorgt. Welche Befreiung, wenn wir durch Gottes Liebe einander in Liebe annehmen können. Seht der Mensch! Er macht uns frei zum Leben. Schauen Sie also heute auf Jesus. Bedenken Sie, was Sie sehen. Er ist der Mensch! Werfen Sie Ihre falsche Königstracht endlich weg. Folgen Sie ihm nach und werden Sie Mensch, wie Gott sie geschaffen hat. Amen 6