Dr. Jens Wirth Institut für Angewandte Analysis TU Bergakademie Freiberg Funktionentheorie / Spezielle Funktionen 1. Auflage Freiberg, 17. Oktober 2006 Inhaltsverzeichnis 1 Polynome und rationale Funktionen 1.1 Der Körper der komplexen Zahlen . . . . . . . . 1.2 Polynome und der Fundamentalsatz der Algebra 1.3 Grenzwerte und Stetigkeit . . . . . . . . . . . . 1.4 Rationale Funktionen und Partialbrüche . . . . . . . . 5 5 7 9 10 . . . . . . . 13 13 15 18 19 20 22 24 . . . . 27 27 29 32 38 4 Funktionen der mathematischen Physik 4.1 Hypergeometrische Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Differentialgleichungen mit analytischen Koeffizienten . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Bessel-Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 41 44 49 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Theorie analytischer Funktionen 2.1 Komplexe Differenzierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Komplexe Integration und die Cauchysche Integralformel 2.3 Potenzreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die Exponentialfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Analytische Fortsetzungen und Riemannsche Flächen . . 2.6 Wurzel- und Logarithmusfunktion . . . . . . . . . . . . . 2.7 Ringgebiete und Laurent-Reihen . . . . . . . . . . . . . . 3 Spezielle eindeutige Funktionen 3.1 Ganze Funktionen, Produktdarstellungen . . 3.2 Meromorphe Funktionen . . . . . . . . . . . 3.3 Die Gamma-Funktion und ihre Verwandten . 3.4 Die Riemannsche Zeta-Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhaltsverzeichnis Vorrede Gegenstand der Vorlesung ist eine Einführung in die Theorie der holomorphen Funktionen einer komplexen Veränderlichen. Ausgehend von einer Wiederholung der wesentlichen Eigenschaften komplexer Zahlen werden in einem ersten Abschnitt Darstellungen von Polynomen und gebrochen rationalen Funktionen im Komplexen behandelt. Nach diesen einführenden Betrachtungen werden Darstellungen von Funktionen durch Potenzreihen im Mittelpunkt stehen. Hauptresultate dabei sind der Zusammenhang zur komplexen Differenzierbarkeit und der Cauchysche Integralsatz. Diskutiert werden ebenso die analytische Fortsetzung von Funktionen,die dabei auftretenden Mehrdeutigkeiten und die Idee der Riemannschen Flächen. In einem folgenden Abschnitt werden spezielle eindeutige Funktionen und ihre Darstellungen behandelt. Neben allgemeinen Aussagen zu ganzen und meromorphen Funktionen werden insbesondere die Gamma-Funktion, Besselfunktionen und allgemeiner hypergeometrische Reihen betrachtet. (Weiterführende) Literatur [1] Fritz Rühs: Funktionentheorie, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1971 [2] E.T. Whittaker & G.N. Watson: A course of modern analysis, Cambridge University Press 1927 4 1 Polynome und rationale Funktionen Ziel des ersten Kapitels ist die Wiederholung der wesentlichen Eigenschaften komplexer Zahlen, sowie die Anwendung komplexer Methoden zur Behandlung von rationalen Funktionen. 1.1 Der Körper der komplexen Zahlen Wie aus der Grundvorlesung bekannt, kann man sich komplexe Zahlen als Paare reeller Zahlen vorstellen. Dabei verwendet man die Notation z = x + iy, x = Re z, y = Im z (1.1.1) mit dem formalen Symbol i. Dieses erfüllt die Relation i2 = −1, (1.1.2) aus welcher sich die wichtigsten Rechenregeln unmittelbar ergeben. Zwei komplexe Zahlen sind gleich, wenn sowohl Real- als auch Imaginärteil übereinstimmen z1 = z2 gdw. Re z1 = Re z2 , Im z1 = Im z2 . (1.1.3) Die Menge aller komplexen Zahlen wird mit C bezeichnet. Man beweise folgende Aussagen: 1.1.1 Proposition. Seien z1 , z2 ∈ C. Dann gilt: 1. Re (z1 ± z2 ) = Re z1 ± Re z2 und Im (z1 ± z2 ) = Im z1 ± Im z2 , 2. Re (z1 z2 ) = (Re z1 )(Re z2 ) − (Im z1 )(Im z2 ), 3. Im (z1 z2 ) = (Re z1 )(Im z2 ) + (Im z1 )(Re z2 ). Neben i erfüllt auch −i die Bedingung (1.1.2). Im folgenden würde sich also nichts ändern, wenn man überall jedes i durch −i ersetzt. Dieser Symmetriezusammenhang wird im Begriff der konjugiert komplexen Zahl genutzt. Für z ∈ C, z = x + iy, setzt man z = x − iy. (1.1.4) zz = (x + iy)(x − iy) = x2 + y 2 =: |z|2 (1.1.5) 1 Re z = (z + z), 2 (1.1.6) Dann gilt insbesondere und Im z = 1 (z − z). 2i 5 1 Polynome und rationale Funktionen Bezeichnet man weiter für z ∈ C, z 6= 0, z −1 = z , |z|2 (1.1.7) so gilt damit z −1 z = zz −1 = 1. Damit existiert zu jeder von Null verschiedenen komplexen Zahl eine multiplikative Inverse. 1.1.2 Satz. Die komplexen Zahlen bilden einen Körper, d.h. die Operationen Addition und Multiplikation sind kommutativ und assoziativ, die Multiplikation ist bzgl. der Addition distributiv und die Gleichungen a + z = b und az = b, a 6= 0, sind eindeutig nach z auflösbar. Komplexe Zahlen kann man graphisch in der Ebene veranschaulichen. Dabei verwendet man als kartesische Koordinaten den√ Realteil x und den Imaginärteil y. Diese Darstellung geht auf Gauß zurück. Der Betrag |z| = zz entspricht dem Abstand der Zahl z vom Ursprung. Oft wird eine weitere Größe verwendet. Unter dem Argument der komplexen Zahl z ∈ C, z 6= 0, versteht man den Winkel der Zahl zur positiven reellen Achse (x-Achse). Durch r := |z| und φ := arg z wird der Punkt z also in Polarkoordinaten dargestellt. Es gilt insbesondere tan arg z = Im z z−z = −i . Re z z+z (1.1.8) Die polare Darstellung komplexer Zahlen kann man sehr gut nutzen, um Produkte komplexer Zahlen auszurechnen. Man beweise (wiederum als Übung) 1.1.3 Proposition. Seien z1 , z2 ∈ C. Dann gilt |z1 z2 | = |z1 | |z2 | (1.1.9) und arg(z1 z2 ) = arg z1 + arg z2 mod 2π. (1.1.10) Speziell auf Potenzen komplexer Zahlen angewandt, müssen wir also Winkelvielfache bilden. Analog müssen wir beim Wurzelziehen entsprechen Winkel teilen. 1.1.4 Proposition. Sei z ∈ C und n ∈ N. Dann gilt |z n | = |z|n , arg z n = n arg z mod 2π. (1.1.11) 1.1.5 Proposition. Sei z ∈ C und n ∈ N. Dann existieren genau √ n verschiedene komplexe Zahlen, deren n-te Potenz gleich z ist. Bezeichnen wir diese mit n z, so gilt p √ | n z| = n |z|, arg √ n z= 1 2π arg z + k n n mod 2π, k = 1, . . . n. (1.1.12) Diejenige dieser√ Zahlen mit dem kleinsten Argument (aus [0, 2π)) wird als Hauptwert der n-ten Wurzel ∗ n z bezeichnet. 6 1.2 Polynome und der Fundamentalsatz der Algebra Als Übung fertige man sich zu allen diesen Aussagen Skizzen an. Nutzt man die Umrechnung von Polar- in kartesische Koordinaten, so ergeben die beiden vorherigen Aussagen gerade die Moivre’schen Formeln. Sei dazu mit r = |z| und φ = arg z, z = r(cos φ + i sin φ) (1.1.13) so gilt z n = rn (cos nφ + i sin nφ) und √ n z= √ n r cos φ + 2kπ n + i sin φ + 2kπ n (1.1.14) , k = 1, . . . , n. (1.1.15) 1.2 Polynome und der Fundamentalsatz der Algebra Die erste Klasse der Funktionen, die wir betrachten wollen, sind Polynome. Unter einem komplexen Polynom verstehen wir eine Linearkombination von Potenzen der Veränderlichen z ∈ C, p(z) = n X αk z k (1.2.1) k=0 mit komplexen Koeffizienten αk ∈ C. Gilt nun αn 6= 0, so sagt man, das Polynom habe den Grad n, deg p = n. (1.2.2) Speziell setzt man für das Nullpolynom p(z) = 0 den Grad mit −∞ fest. Wenn p und q zwei Polynome mit Koeffizienten αk und βk sind, so kann man ihr Produkt p(z)q(z) betrachten, welches wegen ! ! m ! m+n ` n X X X X (1.2.3) αk β`−k z ` p(z)q(z) = αk z k βk z k = k=0 k=0 `=0 k=0 wiederum ein Polynom ist. Es gilt deg(pq) = deg p + deg q. Wenn man multiplizieren kann, stellt sich die Frage nach der Teilbarkeit. Ein Polynom p heißt durch ein Polynom q (ohne Rest) teilbar, falls es ein Polynom r gibt, so daß p(z) = q(z)r(z) (1.2.4) gilt. Offenbar muß dann deg p = deg q+deg r gelten. Sind zwei Polynome gegeben, so kann man ihren1 (gradmäßig) größten gemeinsamen Teiler ggT(p, q) rekursiv mittels des Euklidischen Algorithmus berechnen. Dazu nutzt man falls n = deg p ≥ deg q = m ggT(p, q) = ggT(p − αn /βm z n−m q, q), (1.2.5) wobei deg(p − αn /βm z n−m q) ≤ n − 1 gilt. Dies kann man fortführen bis eines der Polynome das Nullpolynom ist und damit ggT(p, 0) = p folgt. 1 Dieser ist bis auf einen Faktor eindeutig bestimmt. 7 1 Polynome und rationale Funktionen 1.2.1 Beispiel. Gegeben seien die Polynome p(z) = z 3 − z 2 + z − 1 und q(z) = z 2 − 1. Dann ergibt der Euklidische Algorithmus ggT(z 3 − z 2 + z − 1, z 2 − 1) = ggT(z 3 − z 2 + z − 1 − z(z 2 − 1), z 2 − 1) = ggT(−z 2 + 2z − 1, z 2 − 1) = ggT(2z − 2, z 2 − 1) = ggT(z 2 − 1, 2z − 2) 1 = ggT(z 2 − 1 − z(2z − 2), 2z − 2) = ggT(0, 2z − 2) = z − 1. 2 Betrachtet man die Transformationen im Euklidischen Algorithmus genauer, so ergibt sich eine Darstellung des ggT als Kombination von p und q und Polynomen als Faktoren. 1.2.2 Satz (Bezout’s Theorem für Polynome). Seien p(z) und q(z) Polynome und sei r = ggT(p, q) ein größter gemeinsamer Teiler. Dann existieren Polynome s(z) und t(z), so daß s(z)p(z) + t(z)q(z) = r(z) gilt. Punkte z ∈ C, für welche p(z) = 0 gilt, werden als Nullstellen des Polynoms bezeichnet. Das erste Resultat zu Polynomen ist nun, daß diese höchstens n = deg p Nullstellen besitzen können. Sei dazu p 6= 0 ein Polynom, deg p = n und z0 ∈ C eine Nullstelle von p(z). Betrachtet man dann den Linearfaktor z − z0 und bildet den größten gemeinsamen Teiler r(z) = ggT(p(z), z − z0 ), so ergibt Bezout’s Theorem r(z) = s(z)p(z) + t(z)(z − z0 ), (1.2.6) wobei 0 ≤ deg r ≤ deg(z − z0 ) = 1 und r(z0 ) = 0. Also ist r(z) linear und es gilt r(z) = α(z − z0 ). Insbesondere ist p(z) durch den Linearfaktor z − z0 teilbar. Setzt man nun q(z) = p(z)/(z−z0 ), so folgt deg q = n−1. Das Abspalten von Linearfaktoren kann man also höchstens n mal machen. 1.2.3 Lemma. Jedes komplexe Polynom vom Grad n besitzt höchstens n verschiedene Nullstellen. Der Fundamentalsatz der Algebra besagt nun, das es auch mindestens eine besitzt. Einen Beweis werden wir später erbringen. 1.2.4 Satz (Gauß). Jedes komplexe Polynom p besitzt mindestens eine Nullstelle. Wir wollen einige Folgerungen diskutieren. Wenn wir eine Nullstelle haben, können wir durch den zugehörigen Linearfaktor teilen und erhalten ein Polynom, welches um einen Grad niedriger ist. Dies können wir fortsetzen bis wir zuletzt ein lineares Polynom vor uns haben. Insbesondere erhalten wir damit eine komplette Zerlegung des Polynoms in Linearfaktoren. Nullstellen können bei diesem Verfahren mehrfach auftreten. 1.2.5 Satz. Sei p ein komplexes Polynom vom Grad n. Dann existieren genau n komplexe Zahlen ζ1 , . . . , ζn ∈ C und eine Konstante α ∈ C, so daß p(z) = α n Y k=1 gilt. 8 (z − ζk ) (1.2.7) 1.3 Grenzwerte und Stetigkeit Offen lassen muß man, wie man diese Nullstellen berechnet. Während es für lineare Polynome trivial ist, für quadratische Polynome einfache Lösungsformeln existieren, gibt es für Polynome vom Grad größer als 4 keine solchen (geschlossenen) Lösungsformeln mehr. Zusammenfassen kann man als Hauptresultat dieses Abschnittes, daß sich Polynome durch die Lage ihrer Nullstellen (sowie deren Vielfachheit) und den führenden Koeffizienten (α) eindeutig beschreiben lassen. 1.3 Grenzwerte und Stetigkeit Ganz analog zum reellen werden im komplexen Grenzwerte definiert. Sei dazu zk ∈ C eine Folge komplexer Zahlen und z ∈ C. Man sagt, zk strebt gegen den Grenzwert z, falls zu jedem > 0 ein Index N0 existiert, so daß für k ≥ N0 stets |z − zk | < (1.3.1) gilt. In diesem Falle schreibt man z = limk→∞ zk . Die bekannten Konvergenzkriterien übertragen sich ins Komplexe. Insbesondere gilt das 1.3.1 Satz (Cauchykriterium). Eine Folge zk ∈ C konvergiert genau dann, wenn es zu jedem > 0 ein N0 gibt, so daß für alle k, ` ≥ N0 |zk − z` | < (1.3.2) gilt. P Entsprechend sagt man, die Reihe ∞ k=1 zk konvergiert, wenn die Folge der Partialsummen P n k=1 zk für n → ∞ konvergiert. Von größerer Bedeutung ist Pdie absolute Konvergenz von Reihen, bei welcher gefordert wird, daß die Reihe der Beträge ∞ k=1 |zk | konvergiert. Absolute Konvergenz impliziert Konvergenz. Eine Anwendung des Cauchykriteriums ist das Majorantenkriterium für absolut konvergente Reihen P∞ 1.3.2 Satz. Eine Reihe k=1 zk konvergiert absolut genau dann, wenn es eine konvergente P∞ Reihe (Majorante) k=1 mk mit |zk | ≤ mk gibt. Beweis. Wenn die Reihe absolutP konvergiert, kann man mk = |zk | setzen und hat trivialerweise eine Majorante. Sei umgekehrt mk eine konvergente Majorante. Dann liefert das Cauchykriterium angewandt auf die Folge der Partialsummen zusammen mit der Dreiecksungleichung ` ` ` X X X zi ≤ |zi | ≤ mi < (1.3.3) i=k i=k i=k für k, ` ≥ N0 () und damit Konvergenz und absolute Konvergenz der Reihe. Sei nun G ein Gebiet, f : G ⊆ C → C eine Funktion und z ∈ G. Die Funktion f ist in z stetig, wenn für jede Folge zn → z lim f (zn ) = f (z) (1.3.4) n→∞ gilt. Beispiele stetiger Funktionen haben wir schon gesehen, Polynome sind stetig. Dies ergibt sich unmittelbar aus 9 1 Polynome und rationale Funktionen 1.3.3 Lemma. Seien f1 , f2 : G → C stetig. Sei weiter λ ∈ C. Dann sind das λ-fache λf1 , die Summe f1 + f2 und das Produkt f1 · f2 stetig. 1.3.4 Lemma. Seien f1 : G1 → G2 ⊆ C und f2 : G2 → C stetig. Dann ist auch die Verkettung f2 ◦ f1 (z) = f2 (f1 (z)) stetig. 1.4 Rationale Funktionen und Partialbrüche Unter einer rationalen Funktion verstehen wir eine Funktion, die sich als Quotient zweier Polynome schreiben läßt, also die Form f (z) = p(z) q(z) (1.4.1) besitzt. Für alle Werte von z, die keine Nullstellen des Zählers q(z) sind, ist dies sinnvoll. Ist deg p ≥ deg q, so kann man mittels Polynomdivision die Darstellung von f (z) vereinfachen und erhält p̃(z) (1.4.2) f (z) = r(z) + q(z) mit deg r = deg p − deg q und deg p̃ < deg q. Im folgenden sollen nur echt-gebrochene rationale Funktionen f = p/q mit deg p < deg q und ggT(p, q) = 1 betrachtet werden. Weiter setzen wir voraus, daß der führende Koeffizient von q(z) gleich 1 ist. Definiert sind diese nur außerhalb der Nullstellen des Nenners q(z), den wir uns in Linearfaktoren zerlegt denken. Zu jedem Faktor (z − ζk ) zählen wir dabei wie oft er in der Darstellung auftritt, die Anzahl sei ek q(z) = ` Y ek (z − ζk ) , deg q = k=1 ` X ek . (1.4.3) k=1 1.4.1 Satz (Partialbruchzerlegung). Jede echt-gebrochen rationale Funktion f (z) läßt sich eindeutig in der Form ek ` X X βk,j (1.4.4) f (z) = (z − ζk )j k=1 j=1 mit komplexen Koeffizienten βk,j ∈ C darstellen. Beweis. Eindeutigkeit der Koeffizienten ergibt sich aus der linearen Unabhängigkeit der 1/(z− ζk )j . Es bleibt die Existenz zu zeigen. Dazu berechnen wir die Koeffizienten. Multipliziert man f (z) mit (z − ζk )ek , so ergibt sich βk,ek = lim f (z)(z − ζk )ek = Q z→ζk p(ζk ) . ej j6=k (ζk − ζj ) (1.4.5) Es bleiben also die Koeffizienten βk,j mit j < ek zu berechnen. Dazu betrachten wir die Funktion βk,ek f˜(z) = f (z) − . (1.4.6) (z − ζk )ek 10 1.4 Rationale Funktionen und Partialbrüche Diese ist wieder gebrochen-rational. Bringt man sie entsprechend auf den Hauptnenner und nutzt die Definition von βk,ek so ergibt sich Q p(z) − βk,ek j6=k (z − ζj )ej Q f˜(z) = . (1.4.7) ei i (z − ζi ) An der Stelle z = ζk haben Zähler und Nenner Nullstellen, die also gekürzt werden können. Danach kann mit f˜ fortgefahren werden und man kann βk,ek −1 berechnen. Auf diese Weise sind nach endlich vielen Schritten alle Koeffizienten bestimmt, bei jedem der oben angegebenen Reduktionsschritte verringert sich der Grad des Zählers und des Nenners. An den Stellen z = ζk besitzt die Funktion f (z) Polstellen der Ordnung ek . Echt-gebrochen rationale Funktionen lassen sich also durch ihr Verhalten in den Polstellen eindeutig beschreiben. 1.4.2 Beispiel. Gegeben sei die gebrochen-rationale Funktion f (z) = 2z 2 + (1 − 4i)z − 2 . z 3 − 2iz 2 − z Um diese Funktion als Summe von Partialbrüchen darzustellen, benötigen wir zuerst die Nullstellen des Nenners. Es gilt z 3 − 2iz 2 − z = z(z 2 − 2iz − 1) = z(z − i)2 , es ist also ζ1 = 0 einfache und ζ2 = i doppelte Nullstelle. Es bleiben die entsprechenden Koeffizienten zu bestimmen. Zum Einen gilt −2 = 2, z→0 −1 −2 + i + 4 − 2 = 1, = lim(z − i)2 f (z) = z→i i β1,1 = lim zf (z) = β2,2 andererseits gilt f (z) − (2z 2 + (1 − 4i)z − 2) − z 2z 2 − 4iz − 2 2(z − i) 2 1 = = = = . (z − i)2 z 3 − 2iz 2 − z z 3 − 2iz 2 − z z(z − i) z Damit folgt β2,1 = 0 und wir haben f (z) in Partialbrüche zerlegt. 1.4.3. Zum Abschluß wollen wir den Begriff der Polstelle noch unabhängig von gebrochenrationalen Funktionen definieren. Eine Funktion f , die in einer punktierten Umgebung der Stelle z0 der komplexen Zahlenebene definiert und dort stetig ist besitzt in z0 eine Polstelle der Ordnung k, falls einerseits βk := lim f (z)(z − z0 )k (1.4.8) z→z0 existiert und andererseits (falls k > 1) f (z) − βk (z − z0 )k (1.4.9) 11 1 Polynome und rationale Funktionen einen Pol der Ordnung (k − 1) besitzt. Polstellen (der Ordnung k) lassen sich also stets durch Subtrahieren einer rationalen Funktion entfernen, f (z) − k X j=1 ist stetig in z = z0 . 12 βj (z − z0 )j (1.4.10) 2 Theorie analytischer Funktionen Neben den Polynomen und rationalen Funktionen, die wir als ’triviale’ komplexe Funktionen auffassen können, wollen wir nun eine wesentlich größere Funktionenklasse behandeln. Vorerst noch ein Hinweis: Die Resultate dieses Kapitels hängen wesentlich davon ab, daß wir Funktionen C → C betrachten. Für reelle Funktionen oder Funktionen mehrerer komplexer Veränderlicher sind die angegebenen Aussagen in der Regel falsch und auch nicht verallgemeinerbar. 2.1 Komplexe Differenzierbarkeit Sei f eine in einem Gebiet G der komplexen Zahlenebene definierte stetige komplexwertige Funktion. Wir wollen diese in einem Punkt z0 als differenzierbar bezeichnen, falls der Grenzwert f (z) − f (z0 ) (2.1.1) ∂z f (z0 ) = f 0 (z0 ) = lim z→z0 z − z0 existiert, d.h. falls f (z) = f (z0 ) + f 0 (z0 )(z − z0 ) + o(z − z0 ) (2.1.2) gilt. Die Definition ergibt, Existenz der Grenzwerte vorausgesetzt, sofort einige Rechenregeln. (Übung!) 2.1.1 Proposition. 1. ∂z (f1 + f2 ) = ∂z f1 + ∂z f2 2. ∂z (f1 f2 ) = (∂z f1 )f2 + f1 (∂z f2 ) 3. ∂z z = 1 4. ∂z f (g(z)) = f 0 (g(z))g 0 (z) 5. ∂z 1/f = −f 0 /f 2 Insbesondere ergibt sich für Potenzen von z genau das, was man erwartet, nämlich ∂z (z n ) = nz n−1 . (2.1.3) 2.1.2 Definition. Eine in einem Gebiet1 G ⊆ C definierte komplexwertige Funktion f : G → C, die in jedem z ∈ G komplex differenzierbar ist, heißt holomorph in G. 1 Gebiete sind offene und zusammenhängende Teilmengen von C. 13 2 Theorie analytischer Funktionen Bis jetzt haben wir das Komplexe nicht wirklich genutzt. Setzen wir nun f (z) = f (x + iy) = u(x, y) + iv(x, y) (2.1.4) mit reellen Funktionen u, v : G → R, so bedeutet Differenzierbarkeit u(x, y) − u(x0 , y0 ) + i(v(x, y) − v(x0 , y0 )) → f 0 (z0 ) (x − x0 ) + i(y − y0 ) (2.1.5) für jeden Weg auf dem x → x0 und y → y0 strebt. Wählt man speziell y = y0 oder x = x0 , so ergeben sich zwei Ausdrücke für die Ableitung, die offenbar übereinstimmen müssen. Für y = y0 folgt f 0 (z) = ∂x u + i∂x v, (2.1.6a) während für x = x0 (und Nutzen von 1/i = −i) f 0 (z) = −i∂y u + ∂y v (2.1.6b) folgt. Trennung von Real- und Imaginärteil liefert 2.1.3 Satz (Cauchy-Riemannsche Differentialgleichung). Ist f (z) holomorph in G, so erfüllen Real- und Imaginärteil u = Re f und v = Im f das Cauchy-Riemann-System ∂x u = ∂y v, ∂y u = −∂x v. (2.1.7) Das Cauchy-Riemann-System läßt sich auch in einer Gleichung schreiben. Dazu setzen wir 2∂z := ∂x + i∂y , 2∂z = ∂x − i∂y . (2.1.8) Wendet man diese Operatoren formal auf die Funktion f (z) = u(x, y) + iv(x, y) an, so ergibt sich einerseits 2∂z (u + iv) = ∂x u + i∂x v − i∂y u + ∂y v = 2f 0 (z), (2.1.9) was die Bezeichnung rechtfertigt, und 2∂z (u + iv) = ∂x u + i∂x v + i∂y u − ∂y v = f 0 (z) − f 0 (z) = 0. (2.1.10) Das Cauchy-Riemannsystem ist also äquivalent zu ∂z f = 0. Die Operatoren ∂z und ∂z werden als Wirtinger-Operatoren bezeichnet. Eine Folgerung aus dem Cauchy-Riemann-System ist, das Real- und Imaginärteil holomorpher Funktionen harmonisch sind. Dies folgt, hinreichende partielle Differenzierbarkeit vorausgesetzt, unmittelbar aus 4∂z ∂z = (∂x − i∂y )(∂x + i∂y ) = ∂x2 + ∂y2 = 4. (2.1.11) 2.1.4 Korollar. Ist f holomorph in G (und Re f, Im f ∈ C 2 (G))2 , so gilt dort 4Re f = 4Im f = 0. Das Cauchy-Riemann-System ist nicht nur notwendig für Holomorphie, sondern auch hinreichend. Das lehrt der folgende 2 Diese Voraussetzung erübrigt sich mit Korollar 2.2.8 14 2.2 Komplexe Integration und die Cauchysche Integralformel 2.1.5 Satz. Eine stetig differenzierbare Funktion (u, v) : G → R2 definiert genau dann eine holomorphe Funktion f = u + iv in einem Gebiet G, wenn sie das Cauchy-Riemann-System (2.1.7) erfüllt. Beweis. Es bleibt zu zeigen, daß aus der Gültigkeit des Cauchy-Riemann-Systems für zwei reelle Funktionen u und v in G die Holomorphie von f := u + iv folgt. Sei dazu z ∈ G und |∆z| so klein, daß z + ∆z ∈ G gilt. Mit z = x + iy und ∆z = ∆x + i∆y ergibt die Definition der partiellen Ableitung ∆u = u(x + ∆x, y + ∆y) − u(x, y) = ∂x u(x, y)∆x + ∂y u(x, y)∆y + o(∆x, ∆y) ∆v = ∂x v(x, y)∆x + ∂y v(x, y)∆y + o(∆x, ∆y) und damit mit dem Cauchy-Riemann-System ∆f = ∆u + i∆v = ∂x u(x, y) + i∂x v(x, y) ∆x + i − i∂y u(x, y) + ∂y v(x, y) ∆y + o(∆x, ∆y) = (∂x u + i∂x v)∆z + o(∆x, ∆y). Dies aber ist gerade die komplexe Differenzierbarkeit von f in z ∈ G. 2.2 Komplexe Integration und die Cauchysche Integralformel Sei f : C ⊇ G → C eine Funktion und Γ eine rektifizierbare3 Kurve in G. Dann können wir das komplexe Integral der Funktion f entlang der Kurve Γ, Z Z Z (2.2.1) f (z)dz = {udx − vdy} + i {udy + vdx}, Γ Γ Γ definieren. Das Cauchy-Riemann-System entspricht nun aber gerade der Integrabilitätsbedingung für dieses Kurvenintegral und impliziert damit dessen Wegunabhängigkeit. 2.2.1 Satz (Cauchyscher Integralsatz). Sei f : G → C holomorph und Γ ein geschlossener Weg dessen Inneres komplett zu G gehört. Dann gilt I f (z)dz = 0. (2.2.2) Γ Wir wollen zwei Wege (mit jeweils gleichem Anfangs- und Endpunkt oder beliebige geschlossene Wege) als homotop bezeichnen, wenn sie sich stetig ineinander überführen lassen, ohne dabei das Gebiet G zu verlassen. 2.2.2 Korollar (Monodromiesatz). Sei f : G → C holomorph und seien Γ1 und Γ2 zwei homotope Wege. Dann gilt Z Z f (z)dz = f (z)dz. (2.2.3) Γ1 3 Γ2 Wir können die Kurve auch als glatt voraussetzen oder annehmen, daß sie stetig und stückweise glatt (mit endlich vielen Ecken) ist. 15 2 Theorie analytischer Funktionen 2.2.3 Korollar. Sei G ein einfach zusammenhängendes Gebiet aus C und f holomorph in G. Dann existiert eine Stammfunktion F , so daß f = ∂z F gilt und diese ist gegeben durch Z z f (z)dz, (2.2.4) F (z) = z0 wobei z0 ein beliebiger (aber fest vorgegebener) Punkt aus G und der Integrationsweg eine beliebige rektifizierbare Verbindungskurve zwischen z0 und z innerhalb von G ist. Der Cauchysche Integralsatz ist nicht nur eine Folgerung aus der Holomorphie von f , sondern zu dieser Äquivalent. Da die Integrabilitätsbedingung gerade dem Cauchy-Riemann-System entspricht, folgt aus der Wegunabhängigkeit von (2.2.1) die Holomorphie von f . 2.2.4 Satz (Morera). Sei f : G → C stetig. Gilt für jede geschlossene und rektifizierbare Kurve Γ in G I f (z)dz = 0, (2.2.5) Γ so ist f in G holomorph. Wegintegrale über geschlossene Wege spielen eine wichtige Rolle in der Funktionentheorie. Befindet sich im Inneren des geschlossenen Weges eine Singularität, so hat das Wegintegral im Allgemeinen einen von Null verschiedenen Wert und kann zum Berechnen einer Vielzahl verschiedener Größen angewandt werden. 2.2.5 Beispiel. Sei Γ eine geschlossene Kurve, die den Ursprung einmal positiv umrundet. Dann gilt Z Z I dz = zdz = {xdx + ydy + i(xdy − ydx)} {|z|=1} {x2 +y 2 =1} Γ z Z 2π (cos2 φ + sin2 φ)dφ = 2πi, (2.2.6) = 0 da der Realteil des Integranden die Integrabilitätsbedingung erfüllt, der Imaginärteil aber gerade dem Kreisumfang entspricht, was hier in Polarkoordinaten nachgerechnet wurde. 2.2.6 Satz (Cauchysche Integralformel). Sei f : G → C holomorph in G und sei weiter z ∈ G und Γ eine in G liegende geschlossene rektifizierbare Kurve, die z einmal in positivem Sinne umläuft. Dann gilt I f (ζ) 1 dζ. (2.2.7) f (z) = 2πi Γ ζ − z Beweis. Wir betrachten die Funktion g(ζ) = f (ζ) − f (z) . ζ −z (2.2.8) Diese ist wegen limζ→z g(ζ) = f 0 (z) offenbar stetig und außerhalb ζ = z holomorph. Damit liefert der Cauchysche Integralsatz I I I = g(ζ)dζ = g(ζ)dζ (2.2.9) Γ 16 C 2.2 Komplexe Integration und die Cauchysche Integralformel für C einen Kreis vom Radius um den Punkt z. Da g in z stetig und damit lokal um z beschränkt ist, folgt |I| ≤ C, ≤ 0 (2.2.10) mit einer nur von 0 abhängenden Konstanten C. Für → 0 folgt I = 0 und damit wegen obigem Beispiel I I I 1 f (z) 1 f (ζ) dζ f (ζ) 0= dζ − = dζ − f (z). (2.2.11) 2πi Γ ζ − z 2πi Γ ζ − z 2πi Γ ζ − z Eine interessante Folgerung aus der Cauchyschen Integralformel ist, daß man die Größe der Funktion f an der Stelle z durch die Werte auf einer z umlaufenden Kurve abschätzen kann. Wählt man speziell einen Kreis um z mit Radius , so ergibt sich I 1 −1 |f (ζ)|dζ ≤ max |f (ζ)|. (2.2.12) |f (z)| ≤ |z−ζ|= 2π |z−ζ|= 2.2.7 Korollar (Maximum-Prinzip). Sei f holomorph in G und z ∈ G. Sei weiter Γ eine z umlaufende Kurve innerhalb G. Dann gilt |f (z)| ≤ max |f (ζ)|. ζ∈Γ (2.2.13) Für eine holomorphe Funktion f besitzt |f (z)| also keine lokalen Maxima, da dieses dem Maximumprinzip widersprechen würden. Wegen |f (z)| ≥ 0 müssen lokale Minima ebenso |f (z0 )| ≥ 0 erfüllen. Nimmt man nun an, ein solches Minimum wäre echt positiv, so könnte man dort die holomorphe Funktion 1/f (z) betrachten, für welche 1/|f (z)| ein lokales Maximum besitzt. Das ist ein Widerspruch. Also reichen alle lokalen Minima von |f (z)| bis zur Null hinab. Nun können wir den Beweis zum Fundamentalsatz der Algebra nachliefern. Beweis zu Satz 1.2.4. Sei p(z) ein Polynom mit deg p = m und führendem Koeffizienten 1. Dann ist |z|m = |z m − p(z) + p(z)| ≤ |p(z)| + |p(z) − z m |, also, da deg(p(z) − z m ) ≤ m − 1, |p(z)| ≥ |z|m − |p(z) − z m | ≥ |z|m − c|z|m−1 → ∞ (2.2.14) für |z| → ∞. Damit wird das Infimum über |p(z)| im Inneren des Kreises |z| ≤ c angenommen, insbesondere existiert damit ein z0 mit |p(z0 )| = inf z |p(z)| = 0. Weiter folgt aus der Cauchyschen Integralformel, das man holomorphe Funktionen stets beliebig oft differenzieren kann. 2.2.8 Korollar. Unter den Voraussetzungen von Satz 2.2.6 gilt I k! f (ζ) (k) f (z) = dζ. 2πi Γ (ζ − z)k+1 (2.2.15) Insbesondere sind holomorphe Funktionen beliebig oft differenzierbar. Die Ableitungen von f im Punkt z lassen sich damit abschätzen. Insbesondere folgt |f (k) (z)| ≤ k!−k M (2.2.16) mit dem Radius des Kreises um z auf dem Integriert wird und M := sup|ζ−z|= |f (ζ)|. 17 2 Theorie analytischer Funktionen 2.3 Potenzreihen Seien im folgenden αk ∈ C komplexe Zahlen. Dann kann man die Reihe f (z) = ∞ X αk (z − z0 )k (2.3.1) k=0 betrachten. Mit dem Wurzelkriterium aus der Grundvorlesung ergibt sich, das diese Reihe für lim sup p k |αk | |z − z0 | < 1, (2.3.2) k→∞ also für ρ−1 = lim sup |z − z0 | < ρ, p k |αk | (2.3.3) k→∞ absolut konvergiert. Falls supk p k |αk | < ∞, gilt ρ > 0. Die Funktion f ist also in einer Kreisscheibe um den Punkt z0 definiert. Eine Funktion, die sich in dieser Form durch eine Potenzreihe darstellen läßt, wird als analytisch bezeichnet. In jeder echt kleineren Kreisscheibe konvergiert die Reihe gleichmäßig, stellt also damit eine stetige Funktion dar. Es stellt sich die Frage nach der Differenzierbarkeit. Formales Differenzieren der Reihe ergibt 0 f (z) = ∞ X kαk (z − z0 )k−1 , (2.3.4) k=1 die Berechnung des Konvergenzradius (der Einfachheit halber für zf 0 (z)) ergibt wegen p p √ k lim sup |{z} k k |αk | = lim sup k |αk | = ρ−1 k→∞ →1 (2.3.5) k→∞ wiederum denselben Wert. Gleichmäßige Konvergenz der Reihe im Inneren des Kreises liefert damit also stetige Differenzierbarkeit, und dies beliebig oft. 2.3.1 Satz. Für jedes z0 ∈ C und alle Folgen αk ∈ C für welche supk die Potenzreihe ∞ X αk xk f (z) = p k |αk | < ∞ gilt, definiert (2.3.6) k=0 eine im Inneren des Kreises |z − z0 | ≤ ρ, ρ−1 = lim supk→∞ p k |αk |, holomorphe Funktion. Wegen f (z0 ) = α0 und allgemeiner f (k) (z0 ) = k!αk kann man die Koeffizienten der Potenzreihe aus den Ableitungen ausrechnen. Abschätzung (2.2.16) besagt, das für holomorphe Funktionen die Ableitungen nicht schneller als k!−k wachsen, was eine Reihe mit Konvergenzradius größer als > 0 liefert. 18 2.4 Die Exponentialfunktion Bleibt zu zeigen, daß in dem Konvergenzgebiet die Funktion f durch die Potenzreihe auch wirklich dargestellt wird. Dazu nutzt man die Taylorsche Formel mit Restglied I 1 f (ζ) f (z) = dζ 2πi Γ (ζ − z0 ) − (z − z0 ) I 1 z − z0 1 (z − z0 )n (z − z0 )n+1 = + dζ f (ζ) + ··· + + 2πi Γ ζ − z0 (ζ − z0 )2 (ζ − z0 )n+1 (ζ − z0 )n+1 (ζ − z) 1 1 (2.3.7) = f (z0 ) + f 0 (z0 )(z − z0 ) + f 00 (z0 )(z − z0 )2 + · · · + f (n) (z0 )(z − z0 )n + 2! n! I (z − z0 )n+1 f (ζ) + dζ, n+1 (ζ − z) 2πi Γ (ζ − z0 ) wobei z und z0 im Innern der Kurve Γ liegen. Das Cauchysche Restglied strebt gegen Null, n+1 I (z − z0 )n+1 f (ζ) |z − z | 0 dζ ≤ C (2.3.8) n+1 (ζ − z) 2πi R Γ (ζ − z0 ) falls man Γ als Kreis mit Radius R wählt. Das strebt gegen 0 für n → ∞. Somit haben wir die folgende Version des Taylorschen Satzes gezeigt: 2.3.2 Satz. Sei f : G → C holomorph und z0 ∈ G. Dann ist f in einer Umgebung von z0 analytisch und besitzt die Potenzreihendarstellung f (z) = ∞ X f (k) (z0 ) k=0 k! (z − z0 )k = ∞ X αk (z − z0 )k , (2.3.9) k=0 wobei die Koeffizienten durch die Cauchyschen Integralformeln I f (k) (z0 ) 1 f (ζ) αk = = dζ k! 2πi Γ (ζ − z0 )k+1 (2.3.10) gegeben sind. Insbesondere ergibt sich, das die Begriffe analytisch und holomorph für komplexe Funktionen Synonyme sind. 2.4 Die Exponentialfunktion Wir wollen dies mit einem Beispiel unterlegen. Dazu definieren wir uns die komplexe Exponentialfunktion ∞ X zk exp(z) = . (2.4.1) k! k=0 √ Der Konvergenzradius ergibt sich wegen n n! → ∞ als ρ = ∞ und die Reihe konvergiert für alle z ∈ C. Darüberhinaus gilt | exp(z)| ≤ e|z| . (2.4.2) 19 2 Theorie analytischer Funktionen Weiter sieht man sofort, daß ∂z exp(z) = exp(z) (2.4.3) gilt. Nicht unmittelbar ersichtlich ist die Produktformel ! ∞ ! ∞ ∞ n X X z` X z1k 1 X n! 2 exp(z1 ) exp(z2 ) = = z1k z2n−k k! `! n! k=1 k!(n − k)! n=1 k=1 `=1 = ∞ X (z1 + z2 )n n=1 = exp(z1 + z2 ) n! (2.4.4) die mit Hilfe des binomischen Satzes folgt. Diese Formel hat eine wichtige Konsequenz 2.4.1 Lemma. Die Exponentialfunktion besitzt keine Nullstellen. Beweis. Angenommen z0 ∈ C wäre Nullstelle. Dann würde wegen exp(z) = exp(z0 + z − z0 ) = exp(z0 ) exp(z − z0 ) = 0 die Exponentialfunktion identisch verschwinden. Widerspruch zu exp(0) = 1. 2.4.2 Satz. Sei z ∈ C mit r = |z| und φ = arg z. Dann gilt z = r exp(iφ). Insbesondere gilt für φ ∈ R cos φ = Re exp(iφ), sin φ = Im exp(iφ). (2.4.5) Beweis. Es genügt die letzten beiden Relationen zu zeigen. Diese folgen aus den (bekannten) Reihenentwicklungen Re exp(iφ) = ∞ X (−1)k k=0 Im exp(iφ) = ∞ X (−1)k k=0 φ2k = cos φ, (2k)! (2.4.6) φ2k+1 = sin φ (2k + 1)! (2.4.7) der Winkelfunktionen im reellen. 2.4.3 Korollar. Es gilt die Eulersche Formel exp(2πi) = 1, (2.4.8) insbesondere ist die Exponentialfunktion 2πi-periodisch. 2.5 Analytische Fortsetzungen und Riemannsche Flächen Wir haben bis jetzt gesehen, das holomorphe Funktionen lokal in Potenzreihen entwickelt werden können. Dies kann genutzt werden, um holomorphe Funktionen auf größere Gebiete fortzusetzen. Grundidee dazu ist die folgende: Kennt man von der holomorphen Funktion f in einem Punkt z0 des Gebietes alle Ableitungen f (k) (z0 ), so kann man damit f (z) in einer Umgebung des Punktes z0 durch die zugeordnete Taylorreihe darstellen. Das Verhalten von f in der Nähe eines Punktes z0 bestimmt also das Verhalten von f auf einer Kreisscheibe eindeutig. Das folgende Lemma besagt, das diese Kreisscheibe dabei maximal ist. 20 2.5 Analytische Fortsetzungen und Riemannsche Flächen 2.5.1 Lemma. Sei die holomorphe Funktion f auf einer Kreisscheibe um den Punkt z0 durch eine Potenzreihe ∞ X f (z) = αk (z − z0 )k (2.5.1) k=0 dargestellt. Sei weiter ρ der zugeordnete Konvergenzradius. Dann existiert ein Punkt z1 auf dem Rand des Konvergenzkreises, in den die Funktion f nicht holomorph fortgesetzt werden kann. Beweis. Nehmen wir an, es existiert in jedem Randpunkt der Kreisscheibe eine holomorphe Fortsetzung. Dann existiert insbesondere ein Kreis mit größerem Radius ρ0 auf dem f holomorph ist. Wendet man auf diesen Satz 2.3.2 an, so ergibt sich wegen (2.2.16) für die Koeffizienten der Potenzreihe die Abschätzung αk ≤ Cρ0−k im Widerspruch dazu, daß ρ < ρ0 der Konvergenzradius ist. Wählt man nun einen neuen Punkt z̃0 aus dieser Kreisscheibe, so kann man auch in z̃0 die Potenzreihe aufstellen. Diese Konvergiert in einem Kreis mit Radius ρ̃ um z̃0 . Dieser Kreis kann nicht vollständig im Inneren des Ausgangskreises liegen. Es kann sein, daß sich die Ränder berühren, dann ist der Berührungspunkt eine Singularität im Sinne des obigen Lemmas. Anderernfalls reicht dieser neue Kreis über den alten hinaus und setzt die Funktion fort. 2.5.2 Beispiel. Betrachtet wird die Funktion f (z) = eine Potenzreihe, so ergibt sich f (z) = ∞ X k=0 2k (iz) = ∞ X 1 . 1+z 2 Entwickelt man diese in z0 = 0 in (−1)k z 2k , (2.5.2) k=0 was den Konvergenzradius 1 besitzt. Wählt man nun andere Entwicklungspunkte, so ergeben sich wegen 1 α β z − i 1 1 f (z) = = + , α = = , β = − (2.5.3) 1 + z2 z−i z+i z 2 + i z=i 2i 2i als Konvergenzkreis jeweils ein Kreis, der bis zu einem der Punkte ±i in der komplexen Zahlenebene reicht. Die Idee der Fortsetzung und ihre Eindeutigkeit impliziert nun insbesondere den folgenden Eindeutigkeitssatz. 2.5.3 Satz (Eindeutigkeitssatz). Seien G1 und G2 zusammenhaengende Gebiete in C mit G1 ∩ G2 6= ∅. Seien weiter f1 : G1 → C und f2 : G2 → C holomorphe Funktionen mit f1 = f2 auf G1 ∩ G2 . Dann gilt f1 = f2 auf G1 ∪ G2 . Man beachte, das man Gleichheit auf dem Durchschnitt gefordert hat, nicht Gleichheit in einer gemeinsamen offenen Teilmenge. Letzteres ist nicht eindeutig, da Fortsetzungen von Funktionen auf verschiedenen nichthomotopen Wegen nicht gleich sein müssen! Die allgmeine Situation ist die folgende. Sei f in einer Umgebung des Punktes z0 holomorph. Dann kann man f dort in eine Potenzreihe entwickeln und obiges Verfahren anwenden. Solange 21 2 Theorie analytischer Funktionen man dabei ein einfach zusammenhängendes Gebiet erhält, auf dem man f fortsetzt, ist die Fortsetzung eindeutig. Gibt es aber mehrere nichthomotope Wege, die Punkte verbinden, so können verschiedene Wege zu verschiedenen Fortsetzungen führen. Statt die Funktion auf ein solches mehrfach zusammenhängendes Gebiet fortzusetzen, denken wir uns die Fortsetzung auf eine mehrschichtige Fläche über der komplexen Zahlenebene. Diese Fortsetzung ist dann wiederum eindeutig. Die Fläche auf die man sich Funktionen fortgesetzt denkt, wird als Riemannsche Fläche4 der Funktion bezeichnet. 2.6 Wurzel- und Logarithmusfunktion Wir wollen das an zwei Beispielen verdeutlichen. 2.6.1 Beispiel. Zum einen betrachten wir die für positive reelle Werte x ∈ R+ definierte Wurzelfunktion √ f (x) = n x. (2.6.1) Diese läßt sich in eine Taylorreihe entwickeln. Setzt man dazu x0 = 1 und bildet die (reellen) Ableitungen von f , so impliziert die Taylorsche Formel wegen 1 1 1 (k) − 1 ··· −k+1 , |f (k) (1)| ≤ k! (2.6.2) f (1) = · n n n Konvergenz in einem Kreis vom Radius 1 um den Punkt x0 = 1√auf der reellen Achse. Analytische Fortsetzung ins komplexe liefert einen der k Werte von k x. Setzt man mathematisch positiv fort und ’schneidet C entlang der positiven reellen Achse auf’ (setzt also nicht vom vierten Quadranten wieder auf den ersten fort), so ergibt sich gerade der in Abschnitt 1.1 definierte Hauptwert der Wurzel. Um dies im Detail nachzuvollziehen, betrachten wir die Fortsetzungen entlang des Einheitskreises und nutzen die (lokal aus der Holomorphie folgende) Stetigkeit der Wurzelfunktion. Eine Skizze macht deutlich, das nach einem Umrunden des Ursprungs das Argument der Wurzel um 2π zugenommen hat, wir also den nächstfolgenden Wurzelwert erhalten. Nach n n Umrundungen des Ursprungs und analytischer Fortsetzung nimmt das Argument um 2π nn zu, wir erhalten also wiederum den Hauptwert. Die Wurzelfunktion lebt also auf einer n-blättrigen Riemannschen Fläche über C \ {0} und besitzt in 0 einen Verzweigungspunkt der Ordnung n. 2.6.2 Übung. Wie sieht die Riemannsche Fläche der Funktion p f (z) = z(z − 1) (2.6.3) aus? Wieviele Blätter besitzt sie? 2.6.3 Übung. Was ergibt sich für f (z) = 4 p z(z − 1)(z − 2). (2.6.4) Genauer: Man zählt die Punkte dazu, an denen die Funktion gutartige Singularitäten besitzt. An diesen stellen verzweigt sich die Funktion. 22 2.6 Wurzel- und Logarithmusfunktion 2.6.4 Beispiel. Als zweites Beispiel betrachten wir die Logarithmusfunktion f (x) = ln x für reelle x. Wegen Z xX Z x ∞ ∞ X 1 1 k dξ = ξ dξ = xk+1 , ρ = 1, (2.6.5) − ln(1 − x) = k+1 0 k=0 0 1−ξ k=0 ist diese analytisch und besitzt in x = 1 die Darstellung ln x = ∞ X (−1)k k=1 k (x − 1)k , |x − 1| < 1. (2.6.6) Analytische Fortsetzung definiert die komplexe Logarithmusfunktion log z. Um die Rechnung nicht zu kompliziert zu gestalten, suchen wir zuerst eine Funktion log (lokal um die positive reelle Achse), die log(exp(z)) = z, bzw. exp(log(z)) = z (2.6.7) erfüllt und weisen danach ihre Analytizität/Holomorphie nach. Es gilt in polarer Darstellung für z z = |z| exp(i arg z) = exp(ln |z| + i arg z). (2.6.8) Deshalb ist es sinnvoll, die Logarithmusfunktion durch log z = ln |z| + i arg z (2.6.9) zu definieren. Diese stimmt für arg z = 0, also auf der reellen Achse mit ln x überein und erfüllt wegen 1 i 2∂z = ∂x + i∂y = i (cos φ + i sin φ)∂φ + (cos φ + i sin φ)∂r = exp(iφ)(∂r + ∂φ ) r r das Cauchy-Riemann-System (2.6.10) 1 1 2∂z log z = exp(iφ)( − ) = 0. (2.6.11) r r Da arg z modulo 2π definiert ist, sich also pro Umlauf um 2π erhöht, erhalten wir eine ∞blättrige Riemannsche Fläche mit Verzweigungspunkt 0. Weiter gilt | exp(z)| = | exp(x + iy)| = | exp(x) exp(iy)| = | exp(x)| wegen | exp(iy)| = 1 für reelles y. Also folgt mit obiger Definition und mit exp(x) ∈ R log(exp(z)) = log(exp(x)) + i arg(exp(iy)) = x + iy + 2kπi = z mod 2πi. (2.6.12) Beide Funktionen sind also (bei geeigneter Wahl der Blätter) zueinander invers. Insbesondere gilt log(z1 z2 ) = log(z1 ) + log(z2 ) mod 2πi. (2.6.13) Aus der Kettenregel (oder durch formales Anwenden von ∂z in Polarkoordinaten) folgt 1 ∂z log(z) = . (2.6.14) z Die Logarithmusfunktion ist also eine (∞-blättrige) Stammfunktion der Funktion 1/z. Damit haben wir ein Beispiel, daß die Voraussetzung des einfachen Zusammenhangs in Korollar 2.2.3 wesentlich ist. 23 2 Theorie analytischer Funktionen 2.6.5 Proposition (Eigenschaften der Logarithmusfunktion). Für alle z ∈ C \ {0} gilt 1. exp(log z) = z, 2. log(exp z) = z mod 2πi, 3. log(z1 z2 ) = log(z1 ) + log(z2 ) mod 2πi, 4. z∂z log z = 1. 2.6.6 Übung. Man begründe. daß für alle z ∈ C \ {0} und bei geeigneter Wahl der Blätter √ 1 n log z z = exp n gilt. 2.7 Ringgebiete und Laurent-Reihen Bis jetzt haben wir Löcher in Gebieten übersehen. Das wollen wir nun ändern. Sei vorerst G ein Kreisring um die Stelle z0 mit innerem Radius r1 und äußerem Radius r2 . Dann kann für eine holomorphe Funktion f : G → C formal I 1 f (ζ) αk = dζ (2.7.1) 2πi Γ (ζ − z0 )k+1 für alle k ∈ Z entlang eines im Kreisring um z0 verlaufenden Weges berechnet werden. Mit M := sup|ζ−z0 |=r |f (z)| und als Integrationsweg den entsprechenden Kreis mit Radius r1 ≤ r ≤ r2 erhält man wieder |αk | ≤ Cr−k . Damit konvergiert die Reihe ∞ X αk (z − z0 )k (2.7.2) k=−∞ mindestens im gegebenen Kreisring. (Zum Beweis: man variiere r.) 2.7.1 Satz (Laurent). Sei f in einem Ringgebiet bzgl. z0 holomorph. Dann besitzt f in diesem Ringgebiet die Darstellung ∞ X f (z) = αk (z − z0 )k (2.7.3) k=−∞ mit 1 αk = 2πi I Γ f (ζ) dζ. (ζ − z0 )k+1 (2.7.4) 2.7.2 Beispiel. Als erstes Beispiel betrachten wir die Funktion f (z) = exp(1/z). (2.7.5) Diese ist in C \ {0} holomorph und (offensichtlich) durch die Laurent-Reihe ∞ 0 X X 1 −k 1 exp(1/z) = z = zk k! (−k)! k=0 k=−∞ dargestellt. 24 (2.7.6) 2.7 Ringgebiete und Laurent-Reihen 2.7.3 Beispiel. Ein zweites, ebenso einfaches Beispiel, ist durch die beiden Reihen ∞ X 1 = zk , 1−z k=0 und |z| < 1 (2.7.7) ∞ −1 X X 1/z 1 −1 −k = = −z z =− zk , 1−z 1/z − 1 k=0 k=−∞ |z| > 1 (2.7.8) gegeben. Die Radien des maximalen Ringgebietes, in welchem die Laurent-Reihe konvergiert, kann man wieder mit der Formel von Hadamard berechnen. Die Reihe k ∞ ∞ ∞ X X X 1 k k (2.7.9) f (z) = αk (z − z0 ) = αk (z − z0 ) + α−k z − z0 k=−∞ k=0 k=1 konvergiert für ρ1 < |z − zo | < ρ2 mit ρ1 = lim sup k→∞ p k |α−k |, ρ2 = lim inf p k k→∞ 1 |αk | . (2.7.10) Weiter liegen nach Lemma 2.5.1 auf beiden Randkreisen Singularitäten von f . 25 2 Theorie analytischer Funktionen 26 3 Spezielle eindeutige Funktionen Ziel der folgenden Kapitel ist es eine Reihe spezieller Funktionen einzuführen und deren Eigenschaften zu hinterfragen. 3.1 Ganze Funktionen, Produktdarstellungen Eine holomorphe Funktion f wird als ganz bezeichnet, wenn sie in der kompletten komplexen Zahlenebene C definiert ist. Das bedeutet, das in jedem Entwicklungspunkt z0 die Potenzreihe f (z) = ∞ X αk (z − z0 )k (3.1.1) k=0 den Konvergenzradius ∞ besitzt, d.h. p k lim k→∞ p k |αk | = lim k→∞ |f (k) (z0 )| 1 √ = lim k k→∞ k k! q k |f (k) (z0 )| = 0 (3.1.2) unter Ausnutzung der Stirlingschen Formel k k √ k! ∼ 2πk e (3.1.3) gilt. Beispiele ganzer Funktionen sind uns schon begegnet. Alle Polynome sind ganze Funktionen, ebenso die Exponentialfunktion. 3.1.1 Satz (Liouville). Sei f eine beschränkte ganze Funktion. Dann ist f konstant. Beweis. Sei M := supz |f (z)|. Wendet man die Abschätzung (2.2.16) aus der Cauchyschen Integralformel für die Ableitungen an, so ergibt sich für einen Kreis mit Radius r um den Ursprung: |f (k) (0)| ≤ k!r−k M. (3.1.4) Läßt man nun für festes k den Radius r → ∞ streben, so folgt f (k) (0) = 0. Dies gilt für alle k und nach der Taylorschen Formel ist die Funktion damit die Nullfunktion. Die einfachsten ganzen Funktionen f sind diejenigen, die keine Nullstellen besitzt. Für sie ist ebenso 1/f ganz und sie können in der Form f (z) = exp(h(z)), h(z) = log f (z) (3.1.5) 27 3 Spezielle eindeutige Funktionen mit einer ganzen Funktion h(z) geschrieben werden. Dies wird ersichtlich, wenn man die zweite Gleichung nach z differenziert. Dies liefert f 0 (z) h (z) = , f (z) 0 (3.1.6) die rechte Seite ist ganz, besitzt also nach Korollar 2.2.3 eine Stammfunktion h. Ein weiterer Schritt zur Beschreibung ganzer Funktionen ist das Auffinden ihrer Nullstellen. 3.1.2 Lemma. Eine von Null verschiedene ganze Funktion besitzt höchstens abzählbar viele Nullstellen, die sich innerhalb von C nicht häufen können. Beweis. Sei f ganz und z0 Nullstelle von f . Entwickelt man nun f in z0 in eine Potenzreihe, so gilt ∞ X f (z) = αk (z − z0 )k . k=0 Da z0 Nullstelle ist, gilt α0 = 0. Da f nicht die Nullfunktion ist, existiert ein minimales k0 mit αk0 6= 0. Insbesondere folgt k0 −1 f (z) = (z − z0 ) ∞ X αk0 +k (z − z0 )k = (z − z0 )k0 −1 g(z) k=0 mit einer ganzen Funktion g. Diese erfüllt g(z0 ) = αk0 6= 0 und damit aus Stetigkeitsgründen g(z) 6= 0 in einer Umgebung von z0 . Angenommen, f besitzt Nullstellen in den Punkten zk und z̃ ist Häufungspunkt der Folge (zk ). Dann gilt offenbar f (z̃) = 0, die oben konstruierte Umgebung um z̃ existiert aber nicht. Widerspruch. 3.1.3 Korollar. Stimmen zwei holomorphe Funktionen f und g auf einer in C konvergenten Folge zk überein und sind die Funktionen im Grenzpunkt z̃ = limk→∞ zk holomorph, so folgt f = g. Die Anzahl der Nullstellen einer Funktion kann man auf einfache Weise zählen. Es gilt 3.1.4 Satz. Sei f in G holomorph und Γ eine geschlossene rektifizierbare Kurve in G deren Inneres vollständig in G liegt. Dann liegen innerhalb von Γ I 0 f (z) 1 1 dz = log f (z) (3.1.7) 2πi Γ f (z) 2πi Γ Nullstellen (gezählt entsprechend ihrer Vielfachheit) von f . Ähnlich wie Polynome kann man nun ganze Funktionen in Faktoren zerlegen. Das besagt der Produktsatz von Weierstraß. Doch zuerst ein Beispiel. 3.1.5 Beispiel. Leonhard Euler fand für die Sinusfunktion eine Produktdarstellung. Es gilt ∞ Y Y z2 z sin πz = πz 1− = πz 1− 2 . (3.1.8) k k k6=0 k=1 28 3.2 Meromorphe Funktionen Eine Beweisidee: Das Produkt auf der rechten Seite konvergiert für alle Werte von z (und lokal gleichmäßig), es definiert also eine ganze Funktion. Ebenso besitzt es offensichtlich genau für z ∈ Z Nullstellen. Der Quotient aus linker und rechter Seite ist damit eine ganze Funktion. Um den Beweis zu komplettieren, zeigt man, daß diese Funktion auf C beschränkt und damit nach dem Satz von Liouville konstant ist. Einsetzen eines Wertes genügt zur Berechnung dieser Konstanten. Um allgemeine ganze Funktionen als Produkte zu schreiben, genügt es zu der vorgegebenen Nullstellenmenge eine ganze Funktion zu konstruieren, welche genau diese Nullstellen besitzt. Dazu nutzt man ein unendliches Produkt der Linearfaktoren, welche zum erzwingen der Konvergenz noch geeignet modifiziert werden. Da man dann zwei Funktionen mit denselben Nullstellen und gleichen Vielfachheiten konstruiert hat, ist der Quotient beider ganz und nullstellenfrei. 3.1.6 Satz (Weierstraß). Sei f ganze Funktion mit Nullstellen zk der Ordnung nk (und n0 die Ordnung der Nullstelle z = 0). Sei weiter pk eine Folge natürlicher Zahlen, so daß X nk z pk +1 <∞ (3.1.9) zk p + 1 k k>0 konvergiert. Dann existiert eine ganze Funktion g(z), so daß das Produkt f (z) = exp(g(z)) z n0 Y k>0 1− z zk z 1 + zk 2 exp z zk 2 + ··· + 1 pk z zk pk !!nk (3.1.10) auf jedem beschränkten Gebiet gleichmäßig gegen die Funktion f (z) konvergiert. 3.2 Meromorphe Funktionen Funktionen, die sich als Quotient zweier ganzer Funktionen schreiben lassen, werden als meromorphe Funktionen bezeichnet. Meromorphe Funktionen besitzen also in C höchstens abzählbar viele Polstellen, die sich nicht häufen. Außerhalb dieser Polstellen sind meromorphe Funktionen eindeutig definiert. Für meromorphe Funktionen läßt sich eine Partialbruchzerlegung angeben. Seien zk die Polstellen der Funktion f und bezeichne ek die Ordnung der Polstelle zk . Dann kann man mit Hilfe der Zahlen I f (ζ) 1 dζ, ` = 1, . . . , ek , (3.2.1) βk,` = 2πi Γk (z − ζ)k−1 für positiv umlaufene Kurven Γk um die Pole zk rationale Funktionen hk (z) = ek X `=1 βk,l (z − zk )k (3.2.2) definieren, so daß f (z) − hk (z) in zk keinen Pol mehr besitzt. Genau wie Nullstellen können sich Pole einer meromorphen Funktion im endlichen nicht häufen, man kann also versuchen 29 3 Spezielle eindeutige Funktionen schrittweise alle Pole durch Subtraktion entsprechender rationaler Funktionen zu eliminieren. Da im Allgemeinen dabei Reihen auftreten, benötigt man konvergenzerzeugende zusätzliche Summanden. 3.2.1 Satz (Mittag-Leffler). Sei f (z) eine meromorphe Funktion mit Polen in den Stellen zk . Dann existieren Polynome sk (z), so daß die mit den rationalen Funktionen hk (z) aus (3.2.2) gebildete Reihe X f0 (z) = hk (z) + sk (z) (3.2.3) k in jedem Kreis |z| ≤ C ohne Umgebungen der Pole zk gleichmäßig gegen eine meromorphe Funktion f0 (z) konvergiert und die Funktion f (z) − f0 (z) ganz ist. Beweis. vgl. Rühs, Abschnitt V 4.3 Für meromorphe Funktionen gibt es eine einfache Formel zum berechnen komplexer Kurvenintegrale. Wegen dem Cauchyschen Integralsatz tragen nur Integrale um die einzelnen Löcher im Definitionsbereich, in unserem Fall also die Polstellen, zum Integralwert bei. Dazu führt man die Bezeichnung Residuum für das Integral I 1 Res(f, z) = f (ζ)dζ (3.2.4) 2πi Γ für eine Polstelle z der meromorphen Funktion f und eine Kurve Γ die nur diese Polstelle in positivem Sinne umläuft, ein. Das Residuum Res(f, zk ) entspricht gerade der Zahl βk,1 aus obiger Rechnung. 3.2.2 Satz (Residuensatz). Sei f meromorphe Funktion und Γ eine geschlossene Kurve. Seien weiter z1 , . . . zm die Polstellen, die von Γ umlaufen werden. Dann gilt I X Res(f, zk ). (3.2.5) f (z)dz = 2πi Γ k Beweis. (Übung!) Den Residuensatz kann man nutzen, um Integrale zu berechnen. Auch hier sollen wiederum nur Beispiele betrachtet werden. 3.2.3 Beispiel. Will man Integrale der Form Z 2π R(cos φ, sin φ)dφ (3.2.6) 0 mit einer rationalen Funktion R berechnen, so führt die Substitution z = exp(iφ) wegen dφ = −i dz auf z I X R̃(z)dz = 2πi Res(R̃, ζi ) (3.2.7) Γ i mit einer neuen rationalen Funktion 1 R̃(z) = −i R z z + 1/z z − 1/z , 2 2i . Dabei ist über alle Polstellen von R̃ im Inneren des Einheitskreises Γ zu summieren. 30 (3.2.8) 3.2 Meromorphe Funktionen 3.2.4 Beispiel. Etwas konkreter ergibt sich, a > b > 0 vorausgesetzt, Z 2π I dφ 2 dz = . 2 a + b cos φ ib Γ z + 2a/b z + 1 0 (3.2.9) Die Nullstellen des Nenners sind a ζ± = − ± b r a 2 b − 1, von denen nur ζ+ im Einheitskreis liegt. Also folgt Z 2π dφ 4π 1 = Res , ζ+ a + b cos φ b (z − ζ− )(z − ζ+ ) 0 1 2π 4π =√ = b ζ+ − ζ− a2 − b 2 3.2.5 Beispiel. Um das Integral Z ∞ −∞ 1 dx 1 + x2 (3.2.10) (3.2.11) (3.2.12) zu berechnen, betrachten wir den Integrationsweg ΓR , der auf der reellen Achse von −R bis R (mit R > 1) und auf einem Halbkreis um die Polstelle bei i wieder zurückführt. Der Wert dieses Integrals entspricht dem 2πi-fachen Residuum der Funktion 1/(1 + z 2 ) in der Polstelle i. Zerlegt man den Integrationsweg in den das Intervall auf der reellen Achse und den Halbkreis, so ist der Halbkreis wegen 1/|1 + z 2 | = 1/(1 + R2 ) durch πR/(1 + R2 ) abschätzbar. Dies strebt für R → ∞ gegen Null, für das Integral folgt also I Z ∞ 1 1 1 1 dx = dz = 2πi Res , i = 2πi = π (3.2.13) 2 2 2 1+z 2i ΓR 1 + z −∞ 1 + x wegen Res 1 ,i 1 + z2 = lim z→i z−i 1 1 = lim = . z→i z + i 1 + z2 2i (3.2.14) Eine interessante Anwendung des Residuensatzes ist die folgende Verallgemeinerung von Theorem 3.1.4. 3.2.6 Korollar. Sei f in G meromorph und Γ eine geschlossene rektifizierbare Kurve in G deren Inneres vollständig in G liegt. Dann ist I 0 1 f (z) 1 dz = log f (z) (3.2.15) 2πi Γ f (z) 2πi Γ die Differenz aus der Anzahl der innerhalb Γ liegenden Nullstellen und Polstellen von f . Beweis. Es genügt zu zeigen, daß für eine meromorphe Funktion f (z) die neu gebildete Funk0 (z) tion ff (z) meromorph ist und an jeder Nullstelle ζ der Ordnung m und jeder Polstelle ξ der Ordnung n 0 0 f (z) f (z) Res , ζ = m, Res , ξ = −n (3.2.16) f (z) f (z) 31 3 Spezielle eindeutige Funktionen gilt. Ist ζ Nullstelle von f der Ordnung m. Dann gilt f (z) = (z − ζ)m g(z) (3.2.17) mit einer in ζ analytischen Funktion g mit g(ζ) 6= 0. Also folgt f 0 (z) = m(z − ζ)m−1 g(z) + (z − ζ)m g 0 (z) und damit f 0 (z) m g 0 (z) = + , f (z) z−ζ g(z) Res f 0 (z) ,ζ f (z) (3.2.18) = m. (3.2.19) Analog folgt für eine Polstelle ξ der Ordnung n f (z) = g(z) (z − ξ)n (3.2.20) mit einer in ξ analytischen Funktion g mit g(ζ) 6= 0 und damit f 0 (z) = also (z − ξ)g 0 (z) − ng(z) , (z − ξ)n+1 g 0 (z) n f 0 (z) = − , f (z) g(z) (z − ξ) Res f 0 (z) ,ξ f (z) (3.2.21) = −n. (3.2.22) 3.3 Die Gamma-Funktion und ihre Verwandten Als erstes nichttriviales Beispiel wollen wir die Gammafunktion behandeln. Wendet man die Cauchysche Integralformel auf die Exponentialfunktion an, so ergibt sich I exp(z) 1 exp(ζ) = dζ (3.3.1) n! 2πi Γ (ζ − z)n+1 für jeden Weg Γ, der z einmal positiv umläuft. Insbesondere gilt damit für t = ζ − z I 1 1 = exp(t)t−n−1 dt (3.3.2) n! 2πi Γ0 für einen Weg Γ0 um den Ursprung. Um die Fakultät für komplexe Veränderliche zu definieren, ersetzen wir n + 1 durch eine komplexe Zahl z. Da t−z für nicht ganzzahliges z Verzweigungspunkte in 0 und ∞ besitzt, schneiden wir dazu C entlang der negativen Achse auf und definieren als Verallgemeinerung das Integral (Hankelsche Integraldarstellung) I 1 1 = exp(t)t−z dt (3.3.3) Γ(z) 2πi 32 3.3 Die Gamma-Funktion und ihre Verwandten entlang des Weges von −∞ in der unteren Halbebene, um den Ursprung und in der oberen Halbebene zurück nach −∞. Das Integral konvergiert für alle Werte von z ∈ C. Da der Integrand holomorph in z ist, erfüllt die so definierte Funktion (Vertauschbarkeit von ∂z und dem Integral vorausgesetzt) das Cauchy-Riemann-System und definiert damit eine ganze Funktion. Γ(z) wird als Gamma-Funktion bezeichnet. Eigenschaften der Gamma-Funktion ergeben sich durch Transformation des Integrals. Partielle Integration liefert I 1 1 1 z −z = exp(t)t + z , (3.3.4) exp(t)t−z−1 dt = Γ(z) 2πi 2πi Γ(z + 1) oder Γ(z + 1) = zΓ(z). Insbesondere gilt Γ(1) = Γ(2) = 1, Γ(n + 1) = n!, n ∈ N. (3.3.5) Für die Zahlen s = 0, −1, −2, . . . ist der Integrand selbst eine ganze Funktion, das Integral also Null. Damit besitzt die Gamma-Funktion in den Punkten s = 0, −1, −2, . . . Polstellen. Betrachtet man nun die Funktion Γ(z)Γ(1 − z), so ist diese meromorph und besitzt in den ganzen Zahlen Polstellen. Im Vergleich besitzt dort die Funktion sin(πz) gerade Nullstellen. Das Produkt beider Funktionen ist konstant. 3.3.1 Proposition (Eulerscher Ergänzungssatz). Es gilt für alle z ∈ C sin(πz)Γ(z)Γ(1 − z) = π. (3.3.6) Beweis. Den Beweis führen wir in mehreren Schritten und werden nebenbei noch einige andere Integraldarstellungen der Gamma-Funktion ableiten. Wir zerlegen den obigen Integrationsweg in die beiden Teile, einmal entlang des unteren Ufers von −∞ bis 0 und einmal entlang des oberen von 0 bis −∞. Dabei müssen wir jeweils den Wert von t−z auswerten. Logarithmieren liefert −z log(t) und damit am unteren Ufer −z(log |t| − iπ) und am oberen −z(log |t| + iπ). Damit ergibt sich für Re z < 1 das Integral Z 0 Z 1 1 sin πz ∞ −t −z t −z = e |t| (exp(izπ) − exp(−izπ))dt = e t dt. (3.3.7) Γ(z) 2πi −∞ π 0 Falls Re z ≥ 1 gilt, muß die Singularität in t = 0 weiterhin auf einer Kurve umlaufen werden, da das uneigentliche Riemann-Integral dann nicht mehr konvergiert. Es bleibt des rechts stehende Integral auszuwerten. Dazu betrachten wir für Re z > 0 die Funktion Z ∞ Γ̃(z) = e−t tz−1 dt. (3.3.8) 0 Wegen |tz−1 | = tRe z−1 ist dieses Integral gleichmäßig konvergent, |Γ̃(z)| ≤ Γ̃(Re z), und formales Anwenden von ∂z liefert seine Holomorphie. Damit ist Γ̃(z) auf Re z > 0 analytisch. Partielle Integration liefert darüberhinaus Γ̃(z + 1) = z Γ̃(z) und wegen Γ̃(1) = 1 folgt für z → 0 sofort Γ̃(z) = 1 z (3.3.9) + O(1) gleichmäßig auf |Re z| < 1/2. 33 3 Spezielle eindeutige Funktionen In einem dritten Schritt zeigen wir, daß die beiden Eigenschaften Γ̃(z + 1) = z Γ̃(z) und Γ̃(z) = 1 + O(1) die Funktion Γ̃(z) eindeutig bestimmen. Da aber auch Γ(z) diese Eigenschaften hat, z folgt damit Γ̃ = Γ und der Beweis ist beendet. Wir betrachten die Differenz ∆(z) = Γ(z)−Γ̃(z). Diese erfüllt auf dem Streifen |Re z| < 1/2 die Abschätzung |∆(z)| = O(1) (3.3.10) und für |1 − Re z| < 1/2 somit |∆(z)| = O(z). Weiter ist wegen der Rekursionsvorschrift ∆(z)∆(1 − z) eine 2-periodische Funktion, die mindestens in allen ganzen Zahlen Nullstellen besitzt und höchstens linear wächst. Nach dem Satz von Liouville folgt z −1 ∆(z)∆(1 − z) = 0 und damit ∆(z) = 0. √ 3.3.2 Korollar. 1. Es gilt Γ( 21 ) = π. 2. Weiter gilt für Re z > 0 die Eulersche Integraldarstellung Z ∞ e−t tz−1 dt. Γ(z) = (3.3.11) 0 3. Die Gamma-Funktion Γ(z) ist meromorph und besitzt einfache Pole in den nichtpositiven ganzen Zahlen z = 0, −1, −2, . . . mit Res(Γ, −n) = (−1)n 1 . n! (3.3.12) Als nächstes sollen Produktdarstellungen der Gamma-Funktion angegeben werden. Wir beginnen mit der Gaußschen Darstellung. Dazu nutzen wir das Eulersche Integral und verwenden die aus der Grundvorlesung bekannte Beziehung n t −t , (3.3.13) e = lim 1 − n→∞ n um für Re z > 0 Z ∞ Γ(z) = −t z−1 e t Z ∞ dt = lim n→∞ 0 0 t 1− n n tz−1 dt n!nz n→∞ z(z + 1)(z + 2) · · · (z + n) = lim (3.3.14) (3.3.15) zu zeigen, wobei das Integral durch n-malige partielle Integration berechnet wurde. Die Vertauschung des Grenzwerts mit dem Integral ist durch (1 − t/n)n ≤ e−t (im Rahmen der Lebesgueschen Integrationstheorie) durch den Satz über die majorisierte Konvergenz erlaubt. Die gerade abgeleitete Gaußsche Produktformel läßt sich mittels der Rekusionsvorschrift für die Gamma-Funktion zu der folgenden bemerkenswerten Grenzwertaussage zusammenfassen. 3.3.3 Proposition (Gaußsche Produktdarstellung). Es gilt für Re z > 0 n!nz = 1. n→∞ Γ(z + n) lim 34 (3.3.16) 3.3 Die Gamma-Funktion und ihre Verwandten Für die inverse Gamma-Funktion 1/Γ(z) folgt insbesondere n Y z z(z + 1) · · · (z + n) 1 −z = lim = lim n z 1 + n→∞ Γ(z) n→∞ n!nz k k=1 n Y P 1 z −z z( n −ln n ) k=1 k = lim e z 1+ e k n→∞ k k=1 ∞ Y z −z e k, = eγz z 1+ k k=1 wobei γ := lim n→∞ n X 1 k=1 k ! − ln n ≈ 0.577216 . . . (3.3.17) die Euler-Mascheroni-Konstante ist. Dies ist die Weierstraßsche Produktdarstellung der Gamma-Funktion. Die Faktoren e−k/n werden zum Erzeugen der Konvergenz des Produktes verwendet. Obwohl wir nur für Re z > 0 gerechnet haben, gilt die Darstellung nach analytischer Fortsetzung für ganz C. 3.3.4 Proposition (Weierstraßsche Produktdarstellung). Es gilt ∞ Y z −z 1 γz 1+ =e z e k. Γ(z) k k=1 (3.3.18) Die Produktdarstellung kann genutzt werden, die logarithmische Ableitung z(z) = Γ0 (z)/Γ(z), die sogenannte Digamma-Funktion, zu berechnen. Diese ist offenbar meromorph mit Polen in den nichtpositiven ganzen Zahlen und erfüllt ∞ 1 1 1 X 0 − z(z) = (log Γ(z)) = −γ − − . (3.3.19) z k=1 z + k k Wie die Weierstraßsche Produktdarstellung ein Beispiel für den Weierstraßschen Produktsatz ist, ist diese Reihendarstellung ein Beispiel für den Satz von Mittag-Leffler. Setzt man in ihr speziell z = 1, so kürzen sich gerade die Glieder der Reihe und man erhält z(1) = Γ0 (1) = −γ. Eine weitere Konsequenz der Gaußschen Produktformel ist der folgende Multiplikationssatz: 3.3.5 Korollar (Multiplikationssatz von Gauß). Es gilt für alle z ∈ C \ {0, − n1 , − n2 , ...} n−1 Y j Γ z+ n j=0 Beweis. Wir setzten ϕ(z) = und nutzen1 = (2π) n−1 2 1 n 2 −nz Γ(nz) nnz Γ(z) · · · Γ(z + nΓ(nz) n−1 ) n k z (k − 1)! k→∞ z(z + 1) · · · (z + k − 1) Γ(z) = lim 1 Wegen limk→∞ z+k k (3.3.20) (3.3.21) (3.3.22) = 1 entspricht dies gerade der Gaußschen Produktformel. 35 3 Spezielle eindeutige Funktionen um diesen Ausdruck weitestgehend zu vereinfachen. Das liefert nnz ϕ(z) = n−1 Q j kz+ n (k−1)! j j j (z+ n )(z+ n +1)···(z+ n +k−1) j=0 k→∞ lim (nk)nz (nk−1)! (nz)(nz+1)···(nz+nk−1) k→∞ n lim 1 =n nz−1 {(k − 1)!}n k nz+ 2 (n−1) lim k→∞ (nk − 1)!(nk)nz (nz)(nz + 1) · · · (nz + nk − 1) 1 z(z + n ) · · · (z + n−1 )(z + 1) · · · (z + k − 1 + n n−1 ) n 1 =n nz−1 {(k − 1)!}n k nz+ 2 (n−1) nnk lim k→∞ (nk − 1)!(nk)nz 1 {(k − 1)!}n k 2 (n−1) nnk−1 = lim , k→∞ (nk − 1)! ϕ(z) ist also konstant. Um diese Konstante zu berechnen setzen wir z = 1 2 n−1 ϕ(z) = Γ Γ ···Γ n n n 1 n und erhalten (3.3.23) beziehungsweise nach Quadrieren und Umsortieren der Faktoren 2 ϕ(z) = n−1 Y j=1 n−1 Y j j π (2π)n−1 Γ Γ 1− = = n n n sin( nj π) j=1 (3.3.24) mittels des Eulerschen Ergänzungssatzes und 2n−1 sin( πn ) sin( 2π ) · · · sin( (n−1)π ) = n. n n 3.3.6 Korollar (Verdopplungssatz). Für z ∈ C \ {0, − 21 , −1, − 32 , ...} gilt √ 22z−1 Γ(z)Γ(z + 1/2) = πΓ(2z). (3.3.25) Die Beta-Funktion. Die Funktion B(z, w) = Γ(z)Γ(w) Γ(z + w) (3.3.26) wird als Eulersche Beta-Funktion bezeichnet. Für diese Funktion soll eine Integraldarstellung angegeben werden. Multipliziert man für Re z, Re w > 0 die Eulerschen Integraldarstellungen der Gamma-Funktion, so ergibt sich Z ∞Z ∞ Γ(z)Γ(w) = e−(t+s) tz−1 sw−1 dsdt Z0 ∞ 0 Z 1 Z 1 −v z+w−1 z−1 w−1 = e v dv u (1 − u) du = Γ(z + w) uz−1 (1 − u)w−1 du 0 0 0 ∂(s,t) wobei s = uv und t = v(1 − u) mit ∂(u,v) = ∂u s∂v t − ∂v s∂u t = v(1 − u) + uv = v substituiert wurde. Damit haben wir gezeigt 36 3.3 Die Gamma-Funktion und ihre Verwandten 3.3.7 Proposition. Es gilt für Re z, Re w > 0 Γ(z)Γ(w) B(z, w) = = Γ(z + w) Z 1 uz−1 (1 − u)w−1 du. (3.3.27) 0 Einige Eigenschaften der Beta-Funktion ergeben sich sofort aus den Rekursionsformeln für die Gamma-Funktion. So gilt offenbar B(z, w) = B(w, z) und B(z, w + 1) = w w B(z, w) = B(z + 1, w). z+w z (3.3.28) Mit Hilfe der Beta-Funktion kann man Integrale ausrechnen, die Potenzen von Winkelfunktionen enthalten. Substituiert man u = sin2 φ mit φ ∈ [0, π/2], so folgt Z π 2 B(z, w) = 2 (sin φ)2z−1 (cos φ)2w−1 dφ, (3.3.29) 0 insbesondere Z 0 π 2 1 1 Γ(m/2)Γ(n/2) (cos φ)m−1 (sin φ)n−1 dφ = B(m/2, n/2) = . 2 2 Γ((m + n)/2) (3.3.30) Im Geiste der Hankelschen Integraldarstellung für Γ(z) kann man auch für die Betafunktion B(z, w) ein komplexes Kurvenintegral angeben. Dazu beachte man, daß der Integrand uz−1 (1 − u)w−1 (3.3.31) für komplexes u, w und z eine im Allgemeinen ∞-blättrige Riemannsche Fläche mit Verzweigungspunkten in u = 0 und u = 1 besitzt. Zum Integrieren nutzen wir eine nicht nullhomotope Kurve auf dieser Fläche. Die folgende Kurve erfüllt dies. (Warum?) Betrachtet man nun das Integral I Φ(z, w) = uz−1 (1 − u)w−1 du, (3.3.32) Γ so kann man das nach ’Straffen’ der Schleife zu Z 1 Φ(z, w) = uz−1 (1 − u)w−1 du (1 − exp(2πiw) + exp(2πi(z + w)) − exp(2πiz)) , (3.3.33) 0 37 3 Spezielle eindeutige Funktionen also exp(−πi(z + w)) Φ(z, w) exp(−πi(z + w)) − exp(−πi(w − z)) + exp(πi(z + w)) − exp(πi(w − z)) exp(−πi(z + w)) Φ(z, w) = (exp(πiz) − exp(−πiz))(exp(πiw) − exp(−πiw)) B(z, w) = exp(−πi(z + w)) =− 4 sin(πz) sin(πw) I uz−1 (1 − u)w−1 du, (3.3.34) Γ Die Darstellung bezeichnet man als Pochhammersches Umlaufintegral. 3.4 Die Riemannsche Zeta-Funktion Die Riemannsche ζ-Funktion ist für Re z > 1 durch die gleichmäßig konvergente Reihe ∞ X 1 ζ(z) = nz n=1 (3.4.1) definiert. Formales Ableiten der Reihe liefert ∞ X 1 ζ (z) = − ln n, nz n=1 0 (3.4.2) was ebenso gleichmäßig konvergiert und die Holomorphie der ζ-Funktion impliziert. Die Eindeutigkeit der Primfaktorzerlegung für natürliche Zahlen ergibt mit Hilfe der Summenformel für die geometrische Reihe eine Produktdarstellung der ζ-Funktion, wiederum für Re z > 1. ζ(z) = pz = (1 + 2−z + 2−2z + · · · )(1 + 3−z + 3−2z + · · · ) · · · . z −1 p p prim Y (3.4.3) Insbesondere besitzt die ζ-Funktion für Re z > 1 keine Nullstellen. Der hier aufgetretene Zusammenhang zu den Primzahlen ist fundamental für die Bedeutung der ζ-Funktion in der analytischen Zahlentheorie. 3.4.1 Proposition ((Erste) Riemannsche Integraldarstellung). Für Re z > 1 gilt Z ζ(z)Γ(z) = 0 ∞ tz−1 dt. et − 1 (3.4.4) Beweis. Wir nutzen die geometrische Reihe ∞ X e−t −t = e e−kt 1 − e−t k=0 38 (3.4.5) 3.4 Die Riemannsche Zeta-Funktion um das Integral für Re z > 1 als Z ∞ Z ∞ ∞ ∞ Z ∞ −t X X z−1 e −t z−1 −kt e dt = e−kt tz−1 dt t dt = e t −t 1−e 0 0 k=0 k=1 0 Z ∞ ∞ X = e−t tz−1 dt = ζ(z)Γ(z) k −z k=1 0 umzuschreiben. 3.4.2 Korollar. Für alle z ∈ C \ {1} gilt I 2i sin(πz)Γ(z)ζ(z) = (−t)z−1 dt, 1 − et (3.4.6) wobei der Integrationsweg von +∞ kommend den Ursprung einmal positiv umläuft (und die anderen Pole des Integranden nicht mit erfaßt). Beweis. Multipliziert man die (erste) Riemannsche Integraldarstellung mit 2i sin(πz) = (eπiz − e−πiz ) und nutzt −tz−1 = eπiz tz−1 , so erhält man I Z 0 Z ∞ (−t)z−1 (−t)z−1 (−t)z−1 −2πiz dt + e dt = dt 2i sin(πz)Γ(z)ζ(z) = t 1 − et 1 − et ∞ 1−e 0 solange man die Schleife des Integrationsweges nicht zu weit von der positiven reellen Achse wegbewegt. Diese Integraldarstellung kann man nutzen, um eine weitere Formel für die ζ-Funktion abzuleiten. Dazu bestimmen wir zuerst die Polstellen des Integranden. Es gilt et = eRe t (cos(Im t) + i sin(Im t)) = 1 (3.4.7) genau dann, wenn sin(Im t) = 0, d.h. Im t = kπ mit k ∈ Z und eRe t (−1)k = 1 gilt. Letzteres impliziert Re t = 0 und k gerade. Damit sind die Polstellen durch t = 2kπi, k ∈ Z \ {0} gegeben. Weiterhin gilt Res( t − 2kπi 1 ; t = 2kπi) = lim = −e−2kπi = −1. t t t→2kπi 1 − e 1−e (3.4.8) Für Re z < 0 kann man das Kurvenintegral mittels Residuensatz berechnen. Dies2 führt auf I (−t)z−1 dt 2i sin(πz)Γ(z)ζ(z) = 1 − et ∞ ∞ X X 1 z−1 z−1 z−1 z−1 = 2πi [(2kπi) + (−2kπi) ] = 2πi[(2πi) + (−2πi) ] 1−z k k=1 k=1 πz π πz = 2πi(2π)z−1 2 cos − ζ(1 − z) = 2i(2π)z sin ζ(1 − z). 2 2 2 Unter Ausnutzung des Verdopplungssatzes der Γ-Funktion folgt daraus die Funktionalgleichung der ζ-Funktion: 2 Die Transformation der Schleife ist nicht trivial, die Polstellen liegen alle außerhalb und man muß sich genau überlegen, was im Unendlichen wirklich passiert! 39 3 Spezielle eindeutige Funktionen 3.4.3 Korollar. Es gilt ζ (z) Γ z 2 π −z/2 = ζ (1 − z) Γ 1−z 2 π −(1−z)/2 . (3.4.9) Insbesondere hat die ζ-Funktion an allen negativen geraden Zahlen z = −2, −4, . . . Nullstellen. Alle weitere Nullstellen können nur in 0 < Re z < 1 liegen. Die Riemannsche Vermutung besagt, daß alle weiteren (nichttrivialen) Nullstellen auf der Geraden Re z = 1/2 liegen. Wenn man das wüßte, hätte das zum Beispiel Konsequenzen für Verteilungsaussagen zu Primzahlen. 40 4 Funktionen der mathematischen Physik Ziel dieses letzten Kapitels soll es sein, wichtige Funktionen der mathematischen Physik vorzustellen. Es wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben, die Darstellung möglichst vieler Verschiedener Betrachtungsweisen stand bei der Auswahl der Themen im Vordergrund. 4.1 Hypergeometrische Funktionen Hypergeometrische Reihen gehen auf Carl Friedrich Gauß zurück. Sei dazu (a)k = a(a + 1) · · · (a + k − 1) = Γ(a + k) Γ(a) (4.1.1) das Pochhammer-Symbol. Mit seiner Hilfe bilden wir die Potenzreihe F (a, b; c; z) = ∞ X (a)k (b)k z k k=0 (c)k k! . (4.1.2) 4.1.1 Lemma. Sei c keine negative ganze Zahl. Dann hat die Potenzreihe den Konvergenzradius 1 und F (a, b; c; z) definiert eine holomorphe Funktion in z. Diese wird als hypergeometrische Funktion bezeichnet. Beweis. Zum Nachweis verwenden wir das Quotientenkriterium. Dies liefert Konvergenz für (a)k (b)k zk (c)k k! 1 (k + 1)(c + k) = lim lim = >1 (4.1.3) k+1 k→∞ (a)k+1 (b)k+1 z |z| (c)k+1 (k+1)! k→∞ (a + k)(b + k)|z| und Divergenz für < 1. Damit folgt die Behauptung. Viele uns schon bekannte Funktionen lassen sich durch hypergeometrische Reihen ausdrücken. Wir wollen der Vollständigkeit halber einige Beispiele angeben. 1. Ist a oder b eine nichtpositive ganze Zahl, so bricht die Reihe nach endlich vielen Gliedern ab und wir erhalten ein Polynom. Diese werden als hypergeometrische Polynome bezeichnet. 2. Speziell erhält man F (−n, b; b; z) = (1 − z)n . (4.1.4) 41 4 Funktionen der mathematischen Physik 3. Für a = 1 und b = c entsteht die geometrische Reihe F (1, b; b; z) = ∞ X k=0 zk = 1 . 1−z 4. Für allgemeine a und b = c erhält man die Newtonsche Binomialreihe ∞ ∞ X (a)k k X k −a F (a, b; b; z) = z = z k = (1 − z)−a . (−1) k! k k=0 k=0 (4.1.5) (4.1.6) 5. Weiter gilt 1 log(1 − z) z 1 1 3 1 F ( , ; ; z 2 ) = arcsin z 2 2 2 z 1 3 1 F ( , 1; ; −z 2 ) = arctan z 2 2 z F (1, 1; 2; z) = (4.1.7) (4.1.8) (4.1.9) Hypergeometrische Funktionen besitzen eine Vielzahl innerer Zusammenhänge. Einen ersten erhalten wir durch Differenzieren der Reihe. Es gilt ∞ X (a)k (b)k z k−1 ab ∂z F (a, b; c; z) = = F (a + 1, b + 1; c + 1; z). (c)k (k − 1)! c k=1 (4.1.10) Für weitere Relationen benötigen wir als Hilfsmittel die hypergeometrische Differentialgleichung. 4.1.2 Proposition. Die hypergeometrische Funktion F (a, b; c; z) erfüllt die Differentialgleichung z(1 − z)∂z2 F (a, b; c; z) + (c − (a + b + 1)z)∂z F (a, b; c; z) − abF (a, b; c; z) = 0. (4.1.11) Beweis. (Übung!) Für die allgemeine Lösung der hypergeometrischen Differentialgleichung benötigen wir eine zweite Lösungsfunktion. Diese ist in z = 0 singulär und (wie man durch Einsetzen bestätige) durch z 1−c F (a + 1 − c, b + 1 − c; 2 − c; z) (4.1.12) gegeben. Dabei sei diesmal 2 − c keine negative ganze Zahl.1 Insbesondere sieht man, daß diese Funktion einen Verzweigungspunkt in z = 0 besitzt. 4.1.3 Proposition. Es gilt für Re c > Re b > 0 und z ∈ C \ [1, ∞) Z 1 b−1 Γ(c) t (1 − t)c−b−1 dt. F (a, b; c; z) = Γ(b)Γ(c − b) 0 (1 − tz)a Falls Re c − a − b > 0 gilt, gilt die Darstellung auch für z = 1. 1 Ausnahmewerte müssen anders behandelt werden. 42 (4.1.13) 4.1 Hypergeometrische Funktionen Beweis. Zum Einen ergibt das Integral für z = 0 Γ(c) B(b, c − b) = 1 = F (a, b; c; 0). Γ(b)Γ(c − b) (4.1.14) Weiter kann man das Integral formal nach z differenzieren und nachrechnen, das die so entstehende Funktion die hypergeometrische Differentialgleichung erfüllt. Die einzige Lösung, die an der Stelle z = 0 den Wert 1 annimmt, ist aber gerade F (a, b; c; z). Beweis (Variante 2). Sei |z| < 1. Dann gilt ∞ Γ(c) X (a)k k Γ(b + k) z F (a, b; c; z) = Γ(b) k=0 k! Γ(c + k) ∞ = = = = = X (a)k Γ(c) z k B(b + k, c − b) Γ(b)Γ(c − b) k=0 k! Z ∞ X Γ(c) (a)k k 1 b+k−1 z t (1 − t)c−b−1 dt Γ(b)Γ(c − b) k=0 k! 0 Z 1 ∞ X (a)k Γ(c) b−1 c−b−1 t (1 − t) (tz)k dt Γ(b)Γ(c − b) 0 k! k=0 Z 1 Γ(c) tb−1 (1 − t)c−b−1 F (a, 1; 1; tz)dt Γ(b)Γ(c − b) 0 Z 1 b−1 Γ(c) t (1 − t)c−b−1 dt. Γ(b)Γ(c − b) 0 (1 − tz)a unter Verwendung der Integraldarstellung der Betafunktion. Die Vertauschung des Integrals mit der Reihe ist wegen der gleichmäßigen Konvergenz der hypergeometrischen Reihe für |z| ≤ c < 1 erlaubt. Analytische Fortsetzung liefert die Behauptung. 4.1.4 Korollar. Es gilt für Re c − a > Re b > 0 lim F (a, b; c; z) = z→1 Γ(c)Γ(c − a − b) . Γ(c − a)Γ(c − b) (4.1.15) Auf die Integraldarstellung können die Eulerschen Transformationen t 7→ 1 − t t 7→ 1 1 − z − tz t 7→ 1−t 1 − tz (4.1.16) angewandt werden. Dies führt auf die Gleichungen F (a, b; c; z) = (1 − z)−a F (a, c − b; c; z/(z − 1)) (4.1.17) = (1 − z)−b F (c − a, b; c; z/(z − 1)) (4.1.18) c−a−b = (1 − z) F (c − a, c − b; c; z). (4.1.19) 43 4 Funktionen der mathematischen Physik Hypergeometrische Funktionen kann man verallgemeinern. Dazu seien a1 , . . . ak ∈ C und b1 , . . . b` ∈ C \ {−1, −2, . . .} komplexe Zahlen. Dann definiert man die verallgemeinerte hypergeometrische Funktion vom Typ (k, `), k ≤ ` + 1, durch die Potenzreihe F (a1 , . . . , ak ; b1 , . . . , b` ; z) = ∞ X (a1 )n (a2 )n · · · (ak )n z n n=0 (b1 )n (b2 )n · · · (b` )n n! . (4.1.20) Für k = ` + 1 haben diese wiederum den Konvergenzradius 1, für k < ` + 1 sind die entstehenden Funktionen offenbar ganz. Auf die genaue Behandlung der Eigenschaften soll verzichtet werden. Wichtiger Spezialfall sind die konfluent hypergeometrischen Funktionen F (a; b; z). 4.2 Differentialgleichungen mit analytischen Koeffizienten Vorbemerkungen: Die Resultate dieses Abschnittes gelten ebenso, wenn man C durch ein einfach zusammenhängendes Gebiet ersetzt. Seien im folgenden ak (z) für k = 0, 1, . . . n ganze Funktionen. Untersucht werden soll das Verhalten der Lösungen der linearen Differentialgleichung an (z)∂zn + an−1 (z)∂zn−1 n X + · · · a1 (z)∂z + a0 (z) f (z) = ak (z)f (k) (z) = 0. (4.2.1) k=0 Aus der Theorie gewöhnlicher Differentialgleichungen ist bekannt, daß eine solche Gleichung n-ter Ordnung maximal n linear unabhängige Lösungen besitzen kann. Ziel dieses Abschnittes soll es sein, mit Hilfe der Frobenius’schen Methode (auch bekannt als Potenzreihenansatz) diese Lösungen zu konstruieren. Erstes Resultat ist nachfolgender Satz. Er besagt, das die Lösungen der Gleichung analytische Funktionen sind. 4.2.1 Satz. Sei z0 keine Nullstelle von an . Dann existiert eine (kreisförmige) Umgebung der Stelle z0 , auf der die Gleichung (4.2.1) n linear unabhängige analytische Lösungen besitzt. Beweis. Da z0 keine Nullstelle von an (z) ist, können wir in einer Umgebung der Stelle z0 die Gleichung durch an (z) dividieren. Sei also nun an (z) ≡ 1 und dafür ak (z) für k < n meromoph. Zum Lösen machen wir den Ansatz f (z) = ∞ X α` (z − z0 )` , |z − z0 | < ρ (4.2.2) `=0 setzen ihn zusammen mit den Darstellungen ak (z) = ∞ X `=0 44 βk,` (z − z0 )` , (4.2.3) 4.2 Differentialgleichungen mit analytischen Koeffizienten in die Differentialgleichung ein. Dies liefert 0= ∞ X ` · · · (` − n + 1)α` (z − z0 )`−n `=0 + n−1 ∞ X X k=0 = ∞ X ! βk,` (z − z0 )` `=0 ∞ X `=0 ` · · · (` − k + 1)α` (z − z0 )`−k `=0 n−1 ` XX (j + k)! βk,`−j αj+k j! j=0 (` + n)! α`+n + `! k=0 (z − z0 )` ! ! und damit nach Koeffizientenvergleich ein Gleichungssystem zur Bestimmung der Unbekannten α` . Umgestellt nach α`+n erhält man n−1 α`+n ` XX `! (j + k)! . =− βk,`−j αj+k (` + n)! k=0 j=0 j! (4.2.4) Damit ist α`+n als Funktion von α0 , α1 bis α`+n−1 dargestellt. Gibt man sich die Werte α0 bis αn−1 vor, so erhält man damit (Konvergenz der Potenzreihen vorausgesetzt) die gesuchten n linear unabhängigen Lösungen. Bleibt in einem letzten Schritt die Konvergenz der Reihen nachzuweisen. Dazu nutzen wir, daß die Koeffizienten in einer kreisförmigen Umgebung von z0 analytisch sind. Ist r kleiner als der Radius, so existiert damit ein M , so daß für alle k und ` |βk,` | ≤ M r−` (4.2.5) gilt. Wir wollen zeigen, daß es auch ein hinreichend großes N mit |α` | ≤ N r−` (4.2.6) gibt. Dazu nutzen wir die Rekursionsformel der Koeffizienten und vollständige Induktion. Als Induktionsanfang nutzen wir, daß die Aussage für die ersten L Folgenglieder gilt (was durch Wahl eines hinreichend großen N möglich ist). Dann zeigen wir, daß für hinreichend groß vorausgesetzte L die Aussage auch für alle Koeffizienten folgt. Es gilt n−1 ` XX `! (j + k)! M rj−` N r−j−k |α`+n | ≤ (` + n)! k=0 j=0 j! n−1 = Nr −`−n = Nr −`−n = Nr −`−n ` X X (j + k)! `! M k!rn−k (` + n)! k=0 j!k! j=0 n−1 X `! (` + k)! k!rn−k M (` + n)! k=0 (` + 1)!(k − 1)! n−1 n−1 X X 1 (` + k)! 1 M krn−k ≤ N r−`−n M krn−k `+1 (` + n)! ` + 1 k=0 | {zk=0 } → 0 für ` → ∞ 45 4 Funktionen der mathematischen Physik unter Benutzung von ` X j+k j j=0 Wählt man nun L so groß, daß 1 `+1 Pn−1 M k=0 = `+k . `+1 (4.2.7) krn−k < 1 gilt, so ist der Beweis beendet. 4.2.2 Korollar. Auf dem Rand des Konvergenzkreises der Potenzreihen der Lösungen liegt eine Nullstelle von an (z). Eine weitere Konsequenz obiger Konstruktion eines Fundamentalsystems ist, daß nichttriviale Lösungen nur Nullstellen mit Ordnung kleiner n haben können. 4.2.3 Korollar. Sei f (z) eine Lösung von Gleichung (4.2.1). Hat f in einem Punkt z0 mit an (z0 ) 6= 0 eine Nullstelle n-ter Ordnung, so gilt f ≡ 0. 4.2.4 Beispiel. Die Exponentialfunktion erfüllt die Differentialgleichung (∂z − 1) exp(z) = 0. (4.2.8) Die Exponentialfunktion haben wir als Beispiel einer ganzen Funktion kennengelernt. Der führende Koeffizient der Differentialgleichung besitzt keine Nullstellen. 4.2.5 Beispiel. Ein nichttriviales Beispiel liefern die Airy-Funktionen, welche als Lösungen der Airyschen Differentialgleichung (∂z2 − z)f (z) = 0 (4.2.9) definiert sind. Da der führende Koeffizient keine Nullstellen besitzt, sind Airy-Funktionen ganz. Zur Konstruktion von Lösungen folgen wir dem obigen Beweis und machen den Ansatz f (z) = ∞ X α` z ` (4.2.10) `=0 als Potenzreihe um den Entwicklungspunkt z = 0. Dies führt nach Einsetzen in die Differentialgleichung auf 0= ∞ X α` `(` − 1)z `−2 − α` z `+1 `=0 = 2α2 + ∞ X z ` ((` + 1)(` + 2)α`+2 − α`−1 ) . `=1 Damit folgt zum Einen α2 = 0 und andererseits die Rekursion α`+3 = 1 α` . (` + 2)(` + 3) (4.2.11) Zwei lineaer unabhängige Lösungen erhalten wir zu den Startwerten α0 = 1, α1 = 0 beziehungsweise α̃0 = 0, α̃1 = 1. Im ersten Falle sind α3k+1 = α3k+2 = 0, während α3k = 46 1 , 2 · 3 · 5 · 6 · · · (3k − 1) · 3k (4.2.12) 4.2 Differentialgleichungen mit analytischen Koeffizienten im zweiten Falle α̃3k = α̃3k+2 = 0 und 1 . 3 · 4 · 6 · 7 · · · 3k · (3k + 1) α̃3k+1 = (4.2.13) Die beiden konstruierten linear unabhängigen Lösungen sind also durch f1 (z) = ∞ X α3k z 3k und f2 (z) = z k=0 ∞ X α̃3k+1 z 3k (4.2.14) k=0 gegeben. In einem zweiten Schritt müssen noch die Nullstellen des führenden Koeffizienten an (z) verstanden werden. Der folgende Satz besagt, das diese Stellen unter gewissen Voraussetzungen gerade Verzweigungspunkte der Lösungsfunktionen sind. 4.2.6 Satz (Fuchs). Sei z0 eine gemeinsame Nullstelle von ak (z) jeweils mit Ordnung k (oder größer falls k < n). Dann existieren ein r ∈ C und eine Lösung f (z) von (4.2.1), so daß die Funktion (z − z0 )−r f (z) in z0 analytisch und von Null verschieden ist. Beweis. Die Forderung an die Koeffizientenfunktionen besagt, daß es in z0 analytische Funktionen bk (z) mit ak (z) = (z − z0 )k bk (z) (4.2.15) gibt. Um eine Lösung zu konstruieren, nutzen wir den verallgemeinerten Potenzreihenansatz r f (z) = (z − z0 ) ∞ X αk (z − z0 )k , α0 = 1. (4.2.16) k=0 Eingesetzt in die Differentialgleichung ergibt das mit der (jetzt anders aussehenden) Darstellung der Koeffizientenfunktionen bk (z) = ∞ X βk,` (z − z0 )` `=0 dann die Gleichung 0= 0= n X k=0 ∞ X `=0 (z − z0 )k ` (z − z0 ) ∞ X ! βk,` (z − z0 )` `=0 ` X n X m=0 k=0 αm ∞ X (r + `)! (z − z0 )r+`−k α` (r + ` − k)! `=0 ! (r + m)! βk,`−m . (r + m − k)! Für ` = 0 muß wegen α0 = 1 der Exponent r Lösung der Indikator-Gleichung F (r) = n X k=0 r! βk,0 = 0 (r − k)! (4.2.17) sein. Diese Gleichung ist (nach Ausmultiplizieren) ein Polynom n-ten Grades in r, welches nach dem Fundamentalsatz der Algebra über C in Nullstellen zerfällt. 47 4 Funktionen der mathematischen Physik Sei r eine seiner Nullstellen. Dann kann man rekursiv durch α0 = 1 (4.2.18a) F (r + ` + 1)α`+1 = − ` X αm m=0 n X k=0 (r + m)! βk,`+1−m (r + m − k)! (4.2.18b) die zugehörige Koeffizientenfolge konstruieren, vorausgesetzt keine der Zahlen r + ` + 1 löst ebenso die Indikatorgleichung. (Die Nullstelle mit größtem Realteil erfüllt z.b. diese Bedingung.) Entsprechend zum Satz über die Potenzreihenentwicklung zeigt man wiederum, daß die Reihen konvergieren. 4.2.7 Korollar (Frobenius). Angenommen die Indikatorgleichung besitzt n verschiedene Nullstellen, von denen keine zwei eine ganzzahlige Differenz besitzen. Dann besitzt die Gleichung (4.2.1) n linear unabhängige Lösungen der im letzten Satz angegebenen Form. Eine Stelle z0 ∈ C, für welche die Voraussetzungen des letzten Satzes erfüllt sind, wird als regulärer Punkt der Gleichung (4.2.1) bezeichnet. Auch in den nicht diskutierten Fällen ganzzahliger Differenzen zwischen Nullstellen der Indikatorgleichung sind reguläre Punkte gutartig in dem Sinne, das Lösungen keine wesentlichen Singularitäten besitzen. Um das zu sehen, nutzen wir die Rekursion α0 (r) = 1 F (r + ` + 1)α`+1 (r) = − (4.2.19a) ` X αm (r) m=0 n X k=0 (r + m)! βk,`+1−m (r + m − k)! (4.2.19b) für alle r. Dies liefert eine Folge rationaler Funktionen α` (r) mit möglichen Polstellen in r0 − N>0 für Nullstellen r0 der Indikatorgleichung F (r0 ) = 0. Setzt man nun die Funktion f (z, r) = ∞ X α` (r)(z − z0 )r+` (4.2.20) `=0 in die Differentialgleichung (4.2.1) ein, so ergibt sich n X ak (z)∂zk f (z, r) = F (r)(z − z0 )r . (4.2.21) k=1 Ist nun r0 mehrfache Nullstelle von F (r), so kann man diese Gleichung an der Stelle r0 differenzieren und nutzen, das neben F (r0 ) = 0 auch ∂r F (r0 ) = 0 gilt. Dies liefert n X k=1 ak (z)∂zk (∂r f (z, r)) = (∂r F (r0 ))(z − z0 )r + F (r0 )(z − z0 )r0 log(z − z0 ) = 0. (4.2.22) r=r0 Insbesondere ist für eine m-fache Nullstelle r0 von F (r) die Funktion ∂rk f (z, r0 ) für alle k = 0, . . . , m − 1 Lösung der Differentialgleichung. 48 4.3 Bessel-Funktionen Analog kann man vorgehen, wenn die Differenz der Nullstellen ganzzahlig ist. Angenommen r0 und r1 lösen die Indikatorgleichung mit r0 − r1 ∈ N. Dann hat einer der Koeffizienten von f (z, r) in r1 eine Polstelle, deren Ordnung e der Differenz der Nullstellenordnungen von F in r0 und r1 plus Eins entspricht. Bildet man dann g(z, r) = (r − r1 )e f (z, r), so folgt n X ak (z)∂zk g(z, r) = (r − r1 )e F (r)(z − z0 )r . (4.2.23) k=1 und damit nach Differenzieren (r1 ist nun e + 1-fache Nullstelle) n X =0 ak (z)∂zk (∂rm g(z, r)) k=1 (4.2.24) r=r1 für m = 0, 1, . . . e. Damit sind ∂rm (r − r1 )e f (z, r) an der Stelle r = r1 für m = 1, . . . , e weitere Lösungen der Differentialgleichung. Man kann zeigen, daß alle erhaltenen Lösungen linear unabhängig sind. Grund dafür ist das Auftreten von log z-Termen. 4.2.8 Beispiel. Die einfachsten Beispiele sind die Logarithmusfunktion oder die (allgemeine) Potenzfunktion. Diese haben Verzweigungspunkte oder Polstellen in z = 0, ebenso besitzt der führende Koeffizient der zugehörigen Differentialgleichung in z = 0 eine Nullstelle. Es gilt ∂z (z∂z log z) = (z∂z2 + ∂z ) log z = 0 (4.2.25) (z∂z − α)(z α ) = 0. (4.2.26) beziehungsweise 4.2.9 Beispiel. Die hypergeometrische Differentialgleichung (z(1 − z)∂z2 + (c − (a + b + 1)z)∂z − ab)f (z) = 0 (4.2.27) besitzt reguläre Punkte in z = 0 und z = 1, die wir schon als Verzweigungspunkte der hypergeometrischen Funktionen kennengelernt haben. Substituiert man ζ = z −1 , so folgt ∂z = ζ 2 ∂ζ und damit z(1 − z)(−ζ 2 ∂ζ )2 + (c − (a + b + 1)z)(−ζ 2 ∂ζ ) − ab = ζ 2 (ζ − 1)∂ζ2 + 2ζ(ζ − 1)∂ζ + ((a + b + 1)ζ − cζ 2 )∂ζ − ab. Für diesen Ausdruck ist ζ = 0 ebenso regulär, z = ∞ ist regulärer Punkt der Differentialgleichung. 4.3 Bessel-Funktionen Wir wollen die Theorie des letzten Kapitels durch ein Beispiel unterlegen und Lösungen der Besselschen Differentialgleichung Oν f (z) = (z 2 ∂z2 + z∂z + z 2 − ν 2 )f (z) = 0 (4.3.1) 49 4 Funktionen der mathematischen Physik konstruieren. Die Stelle z = 0 ist ein regulärer Punkt dieser Differentialgleichung, während z = ∞ ein irregulärer Punkt ist. Zum Lösen verwenden wir die Methode von Frobenius (basierend auf dem Ansatz ∞ X f (z) = z r αk z k (4.3.2) k=0 mit α0 6= 0.) Die zugehörige Indikatorgleichung lautet F (r) = r(r − 1) + r − ν 2 = r2 − ν 2 = 0 (4.3.3) mit den Nullstellen r = ±ν. Zumindest für ν 6= n2 , n ∈ Z, liefert damit die Rekursion F (r + 1)α1 = 0 F (r + k)αk + αk−2 = 0 (4.3.4a) (4.3.4b) (β2,0 = β1,0 = β0,2 = 1 und β0,0 = −ν 2 , alle anderen Koeffizienten verschwinden in (4.2.18)) mit einem noch festzulegenden Startwert α0 Koeffizienten, die zusammen mit (4.3.2) für r = ±ν zu zwei linear unabhängigen Lösungen führen. Aus (4.3.4) folgt α1 = 0 und damit für alle k ∈ N auch α2k+1 = 0. Für die geraden Koeffizienten ergibt sich 1 1 α0 r+ν +2r−ν +2 1 1 α4 = α0 (r + ν + 2)(r + ν + 4) (r − ν + 2)(r − ν + 4) α2 = − und allgemein 1 1 α0 (r + ν + 2)(r + ν + 4) · · · (r + ν + 2k) (r − ν + 2)(r − ν + 4) · · · (r − ν + 2k) + 1) Γ( r−ν + 1) Γ( r+ν k −k 2 2 α0 . (4.3.5) = (−1) 4 r+ν r−ν Γ( 2 + k + 1) Γ( 2 + k + 1) α2k = (−1)k 1 Setzt man nun r = ν und α0 = 2−ν Γ(ν+1) , so erhält man die Lösung Jν (z) = ∞ z ν X 2 k=0 z 2k (−1)k . Γ(k + 1)Γ(ν + k + 1) 2 (4.3.6) Die so konstruierten Funktionen Jν werden als Besselfunktionen erster Art bezeichnet. Bevor wir uns weiteren Lösungen im Falle ganz- und halbzahliger ν zuwenden, wollen wir diese Funktionen näher untersuchen. Der Konvergenzradius der auftretenden Reihe ist unendlich, die Reihen selbst definieren also ganze Funktionen. Durch Multiplikation mit z ν erhalten wir für nichtganzzahlige ν einen Verzweigungspunkt in z = 0. Weiter stellen halbzahlige Werte kein Problem für die Konstruktion der Lösung dar. (Warum?) Für negative ganzzahlige ν kann die Funktion Jν (z) durch J−n (z) = lim Jν (z) ν→−n 50 (4.3.7) 4.3 Bessel-Funktionen definiert werden. Dadurch erhält man J−n (z) = ∞ z −n X 2 k=n z 2k (−1)k = (−1)n Jn (z). Γ(k + 1)Γ(k − n + 1) 2 (4.3.8) Wir fassen die Eigenschaften der Besselfunktionen erster Art in einer Proposition zusammen. 4.3.1 Proposition (Eigenschaften der Besselfunktionen erster Art). 1. Es gilt ∞ z ν X k 2k (−1) z für ν ∈ C \ {−1, −2, . . .}. Jν (z) = 2 k=0 Γ(k + 1)Γ(ν + k + 1) 2 2. J−n (z) = lim Jν (z) = (−1)n = Jn (z). ν→−n 3. O±ν Jν (z) = 0. 4. Jν (z) ∼ z ν 1 für z → 0. Γ(ν + 1) 2 5. Es gelten die Rekurrenzformeln a) zJν±1 (z) = νJν (z) ∓ z∂z Jν (z), b) 2ν Jν (z) = Jν−1 (z) + Jν+1 (z), z c) 2∂z Jν (z) = Jν−1 (z) − Jν+1 (z). Beweis zu 5. Wir zeigen zwei der Aussagen, die beiden verbleibenden folgen durch Linearkombination. Zum Einen gilt ∞ z 2k ν z ν−1 X (−1)k z∂z Jν (z) =z 2 2 Γ(k + 1)Γ(ν + k + 1) 2 k=0 ∞ z ν X z 2k−1 (−1)k +z k 2 k=0 Γ(k + 1)Γ(ν + k + 1) 2 ∞ z ν X z 2k (−1)k =ν 2 k=0 Γ(k + 1)Γ(ν + k + 1) 2 ∞ z ν X z 2(k−1)+1 (−1)k −z 2 k=1 Γ(k)Γ(ν + k + 1) 2 =νJν (z) − zJν+1 (z), 51 4 Funktionen der mathematischen Physik andererseits Jν−1 (z) + Jν+1 (z) = ∞ z ν−1 X z 2k (−1)k Γ(k + 1)Γ(ν + k) 2 2 k=0 ∞ z ν+1 X z 2k (−1)k + 2 Γ(k + 1)Γ(ν + k + 2) 2 k=0 ∞ z 2k X 2ν z ν 1 = + (−1)k z 2 νΓ(ν) k=1 2 1 1 1 1 − ν k!Γ(ν + k) ν (k − 1)!Γ(k + ν + 1) ∞ z 2k 2ν z ν X (−1)k = z 2 k=0 Γ(k + 1)Γ(ν + k + 1) 2 da 1 1 1 1 1 1 1 − = − ν k!Γ(ν + k) ν (k − 1)!Γ(k + ν + 1) ν(k − 1)!Γ(k + ν) k k + ν 1 1 ν = . ν(k − 1)!Γ(k + ν) k(k + ν) k!Γ(k + ν + 1) Die beiden Lösungen Jn (z) und J−n (z) sind für ganzzahlige n also linear abhängig und wir müssen in diesem Falle eine zweite Lösungsfunktion konstruieren. Dazu nutzen wir wiederum das Verfahren aus dem letzten Abschnitt. Sei nun alsoP ν = n ∈ N0 . Sei weiter α0 = 1 und α2k (r) durch (4.3.4) definiert. Dann erfüllt ∞ 2k r die Gleichung f (z, r) = z k=0 α2k (r)z On f (z, r) = F (r)f (z, r) = (r2 − n2 )z r . (4.3.9) Ist n = 0, so haben wir auf der rechten Seite eine doppelte Nullstelle in r = 0, erhalten also durch ∂r f (z, 0) eine zweite Lösung. Analog erhalten wir für n ∈ N>0 in r = −n eine Polstelle erster Ordnung in α2k (r), k ≥ n. Damit erfüllt (r + n)f (z, r) On (r + n)f (z, r) = (r − n)(r + n)2 z r . (4.3.10) Damit ist r = −n wiederum doppelte Nullstelle der rechten Seite und ∂r (r + n)f (z, r)|r=−n die gesuchte zweite Lösung. Um konkreter zu werden, müssen wir α2k (r) nach r Ableiten. Dazu nutzen wir ∂z Γ(z + a) Γ(z + a) = (z(z + a) − z(z + b)) , Γ(z + b) Γ(z + b) (4.3.11) beziehungsweise falls b − a ∈ N>0 ∂z 52 b−a−1 Γ(z + a) Γ(z + a) X 1 =− . Γ(z + b) Γ(z + b) k=0 z + a + k (4.3.12) 4.3 Bessel-Funktionen Damit erhält man für ν = 0 als zweite Lösung Ỹ0 (z) = J0 (z) log z + ∞ X β2k z 2k (4.3.13) k=1 mit k X 1 Γ(r/2 + 1)2 k+1 −k 1 . = (−1) 4 4 ∂r Γ(r/2 + k + 1)2 r=0 (k!)2 `=1 ` k+1 −k β2k = ∂r α2k (0) = (−1) (4.3.14) Entsprechend ergibt sich für ν = n Ỹn (z) = z −n log z ∞ X Res(α2k , −n)z 2k + z −n k=n ∞ X β2k z 2k + z −n k=n n−1 X α2k (−n)z 2k (4.3.15) k=0 mit β2k = lim ∂r (r + n)α2k (r). (4.3.16) r→−n Wir wollen nur eine Eigenschaft festhalten, und zwar das Verhalten dieser zweiten Lösungen für z → 0. Es gilt 4.3.2 Proposition. Es gilt Ỹ0 (z) ∼ log z, z→0 (4.3.17) Ỹn (z) ∼ z −n , z→0 (4.3.18) und Es existiert eine einfachere Variante eine zweite Lösung der Besselsche Differentialgleichung ganzzahliger Ordnung zu berechnen. Gebräuchlicher ist nach Weber, Schläfli und Nielsen Jν (z) cos νπ − J−ν (z) ν→n sin νπ Yn (z) = lim Yν (z) = lim ν→n (4.3.19) zu definieren. Dies hat den Vorteil, daß Yν (z) für alle ν ∈ C eine Lösung der Besselschen Differentialgleichung darstellt, man kann zeigen, daß Jν (z) und Yν (z) immer linear unabhängig sind. Neben diesen Besselschen Funktionen zweiter Art sind noch sogenannte Besselsche Funktionen dritter Art, die Hankelfunktionen Hν± (z) = Jν (z) ± iYν (z) (4.3.20) gebräuchlich. Die Funktionen Hν± (z) bilden ebenso ein Fundamentalsystem von Lösungen der Besselschen Differentialgleichung. 4.3.3 Proposition (Erzeugendenfunktion). Für z ∈ C und t ∈ C \ {0} gilt G(t, z) = ∞ X n=−∞ n Jn (z)t = exp z (t − 1/t) 2 . (4.3.21) 53 4 Funktionen der mathematischen Physik Beweis. Zum Beweis bemerken wir, daß G(t, z) = exp(tz/2) exp(−zt−1 /2) Produkt zweier Exponentialfunktionen ist, die jeweils in Potenzreihen entwickelt werden können. Es folgt also (mit n = k − `) ! ∞ ! ∞ z ` X X (−1)` 1 k z k G(t, z) = t t−` k! 2 `! 2 k=0 `=0 ∞ ∞ X X (−1)` z 2`+n n = t , `!(n + `)! 2 n=−∞ `=0 die innere Reihe ist aber gerade Jn (z). (Als Produkt absolut konvergenter Reihen erhalten wir wiederum eine absolut konvergente Reihe, damit war die Umordnung nach Potenzen von t erlaubt.) Mittels der Erzeugendenfunktion G(t, z) erhalten wir sofort eine Integraldarstellung der Besselfunktionen erster Art. Als Koeffizienten der Laurentreihe von G(t, z) (gesehen als Funktion von t) erfüllen sie 4.3.4 Proposition (Integraldarstellung nach Hansen). Es gilt I I 1 z (t − 1/t) 1 −n−1 −n−1 Jn (z) = t G(t, z)dt = t exp dt 2πi Γ 2πi Γ 2 (4.3.22) für alle n ∈ Z und jede, den Ursprung einmal positiv umlaufende, geschlossene Kurve Γ. 4.3.5 Korollar (Besselsche Integraldarstellung). Für Besselfunktionen ganzzahliger Ordnung gilt Z 1 π cos(nθ − z sin θ)dθ (4.3.23) Jn (z) = π 0 Beweis. Wählt man in der Hansenschen Integraldarstellung speziell als Weg den Einheitskreis, so ergibt sich mit t = exp(iθ) und dt = i exp(iθ)dθ I Z π 1 z (t − 1/t) 1 −k−1 Jn (z) = t exp exp(−inθ + z(exp(iθ) − exp(iθ))/2)dθ dt = 2πi Γ 2 2π −π Z π 1 exp(−i(nθ − z sin θ))dθ = 2π −π Z π 1 = exp(−i(nθ − z sin θ)) + exp(i(nθ − z sin θ)) dθ 2π 0 Z 1 π = cos(nθ − z sin θ)dθ. π 0 Um die Hansensche Integraldarstellung auf nichtganzzahlige ν zu verallgemeinern, nutzen wir (analog zur Definition der Gammafunktion) eine Deformation des Integrationsweges (so daß auf diesem dann Re (tz) → −∞ gilt). Zur Vereinfachung substituieren wir ζ = tz/2, so daß I I 1 z (t − 1/t) 1 z n z2 −n−1 −n−1 Jn (z) = t exp dt = ζ exp ζ − dζ 2πi Γ 2 2πi 2 4ζ Γ 54 4.3 Bessel-Funktionen gilt. Nun deformieren wir den Integrationsweg, so daß er von −∞ einmal um den Ursprung zurück nach −∞ läuft. 4.3.6 Proposition (Integraldarstellung nach Schläfli-Sonine). Für alle z, ν ∈ C gilt I 1 z ν z2 −ν−1 dζ (4.3.24) Jν (z) = ζ exp ζ − 2πi 2 4ζ Γ entlang jedes Weges Γ von −∞ einmal um den Ursprung zurück nach −∞. Beweis. Wir entwickeln z2 exp − 4ζ ∞ X (−1)k z 2k −k = ζ k! 2 k=0 (4.3.25) in eine auf dem Integrationsweg gleichmäßig konvergente Potenzreihe (ζ ≥ c > 0) und setzen diese in das Integral ein. Dies führt auf 1 2πi I ζ Γ −ν−1 z2 exp ζ − 4ζ I ∞ X (−1)k z 2k 1 dζ = ζ −k−ν−1 exp(ζ)dζ k! 2 2πi Γ k=0 ∞ z 2k X (−1)k = k!Γ(k + ν + 1) 2 k=0 unter Nutzung der Hankelschen Integraldarstellung der Gammafunktion. Ein Vergleich mit der Potenzreihendarstellung von Jν (z) liefert die Behauptung. Für Besselsche Funktionen gibt es neben dieser Integraldarstellung mit unendlichem Integrationsweg auch solche mit einem endlichen Integrationsweg. Um diese zu erhalten nutzen wir einen komplett anderen Zugang und suchen eine analytische Funktion v, so daß für einen geeigneten Integrationsweg Γ durch Z ν f (z) = z exp(izt)v(t)dt (4.3.26) Γ eine Lösung der Besselschen Differentialgleichung Oν f = 0 gegeben ist. Einsetzen dieses Ansatzes in die Differentialgleichung liefert Z Z 0 ν−1 ν exp(izt)v(t)dt + iz exp(izt)tv(t)dt f (z) = νz Γ Γ Z Z Z ν 00 ν−2 ν−1 exp(izt)tv(t)dt − z exp(izt)t2 v(t)dt f (z) = ν(ν − 1)z exp(izt)v(t)dt + 2iνz Γ Γ Γ und damit nach Einsetzen in die Besselsche Differentialgleichung Z ν 0=z exp(izt) z 2 (1 − t2 ) + (2ν + 1)izt v(t)dt (4.3.27) Γ Z ν+1 2 ν+1 = iz exp(izt)(t − 1)v(t) Γ + iz exp(izt) (2ν + 1)tv(t) − ∂t ((t2 − 1)v(t)) dt Γ (4.3.28) 55 4 Funktionen der mathematischen Physik mittels partieller Integration. Wir wählen v(t), so daß ∂t ((t2 − 1)v(t)) = (2ν + 1)tv(t) (4.3.29) und den Integrationsweg so, daß exp(izt)(t2 − 1)v(t)Γ = 0 (4.3.30) 1 gilt. Die erste Bedingung liefert v(t) = (t2 − 1)ν− 2 , die zweite erlaubt alle geschlossenen Wege auf der Riemannschen Fläche von v(t) oder Wege die bei +i∞ ins Unendliche verlaufen. Wir wählen den folgende Wege, zum einen den geschlossenen Weg Γ1 (in Form einer Acht) und zum anderen den offenen Weg Γ2 . Dann gilt 4.3.7 Proposition (Hankelsche Integraldarstellungen). C \ { 21 , 32 , 52 , . . .} 1 Γ( 12 − ν) z ν Jν (z) = 2πi Γ( 12 ) 2 I 1. Es gilt für z ∈ C und alle ν ∈ 1 exp(izt)(t2 − 1)ν− 2 dt. (4.3.31) Γ1 2. Für Re ν > 0 gilt 1 Γ( 12 − ν) z ν J−ν (z) = exp(νπi) 2πi Γ( 12 ) 2 I 1 exp(izt)(t2 − 1)ν− 2 dt. (4.3.32) Γ2 Beweisskizze. Daß wir eine Lösung der Besselschen Differentialgleichung erhalten haben ist nach obiger Konstruktion klar. Es bleibt zu zeigen, daß es sich tatsächlich um Jν beziehungsweise J−ν handelt. Dazu nutzen wir, daß Jν (z) für Re ν > 0 durch z −ν 1 lim Jν (z) = (4.3.33) z→0 2 Γ(ν + 1) 56 4.3 Bessel-Funktionen eindeutig bestimmt ist. Damit ist nur noch das Integral für z = 0 auszuwerten. Dies erfolgt durch Rückführen auf das Pochhammersche Umlaufintegral (man setzt t−2 = τ ) und Ausnutzung des Ergänzungssatzes der Gammafunktion. Analytische Fortsetzung (in ν) liefert Gültigkeit der Darstellung für ν ∈ C \ { 12 , 32 , 52 , . . .}. Für die zweite Integraldarstellung nutzt man, daß |t| > 1 auf dem Integrationsweg gilt und damit der Integrand in eine Potenzreihe 2 ν− 21 (t − 1) 2ν−1 =t −2 ν− 21 (1 − t ) 2ν−1 =t ∞ X 1 Γ( 12 − ν + k) −2k t k! Γ(ν − 12 ) k=0 (4.3.34) entwickelt werden kann. Gliedweise Integration und Nutzung der Hankelschen Integraldarstellung für die Gammafunktion liefert zusammen mit (??) die Behauptung. Bezeichnet man nun Γ− bzw. Γ+ die beiden Wege in der folgenden Skizze, Γ± jeweils um ±1, so kann man aus den vorherigen Integraldarstellungen Formeln für die Hankelfunktionen ableiten. Zum Einen gilt 1 Γ( 21 − ν) z ν Jν (z) = 2πi Γ( 12 ) 2 I 1 exp(izt)(t2 − 1)ν− 2 dt Γ+ Z + 2 ν− 12 exp(izt)(t − 1) dt . (4.3.35) Γ− Andererseits erhält man für J−ν (z) eine entsprechende Darstellung mit Integralen über Γ+ und −Γ− . Bei letzterem ist zu beachten, daß wir nicht nur den Integrationsweg in anderer Richtung durchlaufen, sondern auch auf dem ’falschen’ Blatt der Riemannschen Fläche des Integranden starten. Um eine vergleichbare Darstellung zu erhalten (also auf der Riemannschen Fläche dieselben Wege zu nutzen) multiplizieren wir daher das Integral auf Γ− mit exp(−2πi(ν − 12 )) 57 4 Funktionen der mathematischen Physik und erhalten 1 Γ( 12 − ν) z ν J−ν (z) = 2πi Γ( 12 ) 2 I exp(νπi) 1 exp(izt)(t2 − 1)ν− 2 dt Γ+ Z 2 ν− 12 exp(izt)(t − 1) dt . (4.3.36) + exp(−νπi) Γ− Daraus folgt im Vergleich mit 1 Jν (z) = (Hν+ (z) + Hν− (z)) 2 1 J−ν (z) = (exp(νπi)Hν+ (z) + exp(−νπi)Hν− (z)) 2 (4.3.37a) (4.3.37b) unmittelbar: 4.3.8 Korollar. Es gilt Hν± (z) 1 Γ( 12 − ν) z ν = πi Γ( 12 ) 2 I 1 exp(izt)(t2 − 1)ν− 2 dt (4.3.38) Γ± für alle ν ∈ C \ { 12 , 32 , 52 , . . .} und Re z > 0. Wir wollen diese Integraldarstellung nutzen, um das Verhalten von Hν± (z) für große |z| zu untersuchen. Da wir den Integrationsweg des letzten Integrals in der komplexen Zahlenebene drehen können (solange wir nicht den zweiten Verzweigungspunkt überschreiten und solange Re zt > 0 bleibt) kann man die Darstellung auf −π < arg z < 2π für Hν+ (z) und −2π < arg z < π für Hν− (z) ausdehnen. Es gilt 4.3.9 Satz. Sei ν ∈ C \ { 12 , 32 , 25 , . . .}. Dann gilt für −π + δ ≤ arg z ≤ π − δ und z → ∞ r Hν± (z) = 2 ±(z− νπ − π ) 2 4 e 1 + O(|z|−1 ) πz (wobei auftretende Konstanten nur von δ abhängen). Insbesondere gilt r 2 νπ π Jν (z) = cos z − − 1 + O(|z|−1 ) , πz 2 4 r 2 νπ π 1 + O(|z|−1 ) . Yν (z) = sin z − − πz 2 4 (4.3.39a) (4.3.39b) (4.3.39c) Beweisskizze. Wir beschränken uns auf die entsprechende asymptotische Formel für Hν+ (z), diejenige für Hν− (z) folgt analog, die Aussagen für Funktionen erster und zweiter Art mittels der Definition der Winkelfunktionen. Da t = 1 der einzige Verzweigungspunkt ist, substituieren wir t−1=i 58 π u u = ei 2 , z z π 1 dt = ei 2 du. z (4.3.40) 4.3 Bessel-Funktionen Das führt auf Hν+ (z) Z 1 1 Γ( 21 − ν) z ν = eizt (t2 − 1)ν− 2 dt 1 πi Γ( 2 ) 2 Γ+ Z 1 ν− 12 u ν− 12 1 1 Γ( 2 − ν) z ν −u+iz+ π2 i(ν− 12 ) u i = + 2 du e π Γ( 21 ) 2 z z z Γ̃ Z 1 u ν− 12 1 Γ( 21 − ν) i(z+ν π − π 2 4 e =√ e−u uν− 2 1 + i du π 2z 2πz Γ̃ mit dem neuen Integrationsweg Γ̃. Ziehen wir diesen zu einem Strahl G = (0, ∞ exp(iγ)) zusammen, so erhalten wir zwei Summanden, Z Z Z u ν− 12 u ν− 12 u ν− 12 −u ν− 12 −2πi(ν− 12 ) −u ν− 12 −u ν− 12 du = e u du−e du, 1+i 1+i 1+i e u e u 2z 2z 2z G Γ̃ G so daß r Hν+ (z) = 2 i(z−ν π − π 1 eiπν + e−iπν 2 4 Γ( e − ν) πz {z 2π } | 2 Z −u ν− 12 e u G u ν− 12 1+i du 2z 1 Γ( 1 2 +ν) mit dem Ergänzungssatz der Gammafunktion folgt. Um Konvergenz der Integrale zu sichern verschieben wir den Integrationsweg in der komplexen Zahlenebene entsprechend. Es muß γ ∈ (− π2 , π2 ) sein, γ = arg(tz) = arg t + arg z. Weiter sollte arg t ∈ (−π + δ, π − δ) sein. Im folgenden bleibt also das Integral abzuschätzen. Dazu nutzen wir folgende Idee: Falls |u| < |z|, so ist der letzte Faktor des Integranden in eine konvergente Potenzreihe entwickelbar, diese kann man gliedweise integrieren. Ist umgekehrt |u| > |z|, so zeigen wir daß das Integral exponentiell fällt. Es gilt (da man den Integrationsweg in die positive reelle Achse hineindrehen kann) Z Z ∞ ∞ exp(iγ) ν− 12 1 u | 21 −Re ν| −u ν− 2 e u 1+i − 1 du ≤ C|z| e−u u2Re ν−1 du |z| exp(iγ) 2z |z| ≤ Ce−|z| . Andererseits haben wir für |u| ≤ |z| u u ν− 12 −1=i 1+i 2z 2z so daß mit Z 1 0 1 1 Γ( 2 + ν) 1 u ν− 32 (ν − ) 1 + i s ds = O(|z|−1 ), 2 2z Z ∞ 1 e−u uν− 2 du = 1 0 die Behauptung folgt. 59