Die Ethische Fallbesprechung in der institutionalisierten Altenhilfe Erfahrungen in der Bremer Heimstiftung PEA e.V. Institut für angewandte Wissenschaft zur Förderung der Lebenssituation von Personen mit eingeschränkter Alltags kompetenz 19. Jahrestagung der Betreuungsbehörden Berlin Erkner, 12. Mai 2015 Petra Scholz: Diplompädagogin, Ethikberatung im Gesundheitswesen 0 Ethische Fragen in der institutionalisierten Altenpflege verweisen auf die Grundrechte des Menschen Charta der Rechte hilfe-und pflegebedürftiger Menschen: Präambel „ Jeder Mensch hat uneingeschränkten Anspruch auf Respektierung seiner Würde und Einzigartigkeit. Menschen, die Hilfe und Pflege benötigen, haben die gleichen Rechte wie alle anderen Menschen und dürfen in ihrer besonderen Lebenssituation in keiner Weise benachteiligt werden. Da sie sich häufig nicht selbst vertreten können, tragen Staat und Gesellschaft eine besondere Verantwortung für den Schutz der Menschenwürde hilfe- und pflegebedürftiger Menschen.“ 1 Artikel der Pflegecharta • Selbstbestimmung und Hilfe zur Selbsthilfe • Körperliche und Seelische Unversehrtheit, Freiheit und Sicherheit • Privatheit • Pflege, Betreuung und Behandlung • Information, Beratung und Aufklärung • Kommunikation, Wertschätzung und Teilhabe an der Gesellschaft • Religion, Kultur, Weltanschauung • Palliative Begleitung, Sterben und Tod 2 Herausforderungen in der stationären Pflege alter Menschen • alte Menschen ziehen immer später ein und leben dort wenige Jahre: - Einzugsalter durchschnittlich 87 Jahre - Verweildauer durchschnittlich 1,4 Jahre (Zahlen BHS) • ca. 60-80 % sind dementiell erkrankt • 46% -72% zeigen herausforderndes Verhalten. Am häufigsten treten auf: Agitation, Depression, Angst und Aggression (Bartholomeyczik 2006) • soziale Netzwerke meist reduziert, Angehörige selbst stark belastet, manchmal keine soziale Anbindung • hohe Erwartungen an Pflege und medizinische Versorgung • vielfältige Wertvorstellungen über Alter, Krankheit und Tod 3 Herausforderndes Verhalten in Pflegeeinrichtungen „Herausforderndes Verhalten (Verhaltensauffälligkeiten) sind ein wesentlicher Grund für den Einzug in eine Pflegeeinrichtung • • • • • Aggressives-abwehrendes Verhalten Ständiges Rufen oder Schreien Weglauftendenz mit Selbst- und Fremdgefährdung Widerstand gegenüber pflegerischen Maßnahmen Nächtliche Unruhe“ (Quelle: Bernhard Fleer, Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) e.V. 2010) 4 Erkrankungshäufigkeit Demenz Quelle: Demenz Informations- und Koordinationsstelle, Bremen 5 Fallbeispiel Situation des alten Mannes: • verwitwet, enger sozialer Kontakt mit der einzigen Tochter (Betreuerin) und dem Schwiegersohn • orientierungslos durch Demenz, insulinpflichtiger Diabetes mellitus mit Neuropathie, schwere Depression, mehrmaliger Einrichtungswechsel in den letzten Monaten • Hinlauftendenz, Entledigung der Kleidung, Festklammern an Personen und Gegenständen, Angriffe auf Mitbewohner, Zerstörung von Gegenständen, zwanghaftes Verhalten • Starkes Abwehrverhalten, Pflege und Nahrungsaufnahme kaum möglich Pflege und Angehörige: • Ratlosigkeit, Angst, Erschöpfung Hausarzt und Psychiater: • Verlegung in eine geschlossene Einrichtung? • Grenzen der Medikamentierung (Kombination Insulin - Psychoparmaka)! • Ethische Bedenken bei der Frage nach medikamentöser Fixierung 6 Spannungsfelder institutionalisierter Pflege Schutz / Fürsorge Behandlung Patientenwohl Freiheit Selbstbestimmung Recht auf Leben positives Spannungsverhältnis Beschränkung von Selbstbestimmung und persönlicher Freiheit Nötigung / Körperverletzung Selbst- und Fremdgefährdung Überkompensation 7 Anlässe für Fragen nach freiheitsentziehenden Maßnahmen von Angehörigen von MitarbeiterInnen von Angehörigen anderer Gesundheitsberufe • Nach Bewegungseinschränkung / Sedierung / Fixierung zum Schutz des Bewohners vor Sturz, Verlaufen • zum Schutz vor Übergriffen von Mitbewohnern • als „fürsorglicher Zwang“ zum Schutz des Bewohners vor „Verhungern“, „Verdursten“, Selbstschädigung z.B. Ablehnung der Medikamenteneinnahme • bei stark störendem Verhalten wie Rufen, Schreien, motorischer Unruhe, etc. 8 Nimwegener Methode für ethische Fallbesprechungen im klinischen Alltag • entwickelt von Norbert Steinkamp und Bert Gordijn (Ethik in der Klinik – Ein Arbeitsbuch 2003) • Moderationsanleitung zur Unterstützung und Strukturierung von Diskussionen im Behandlungsteam über Entscheidungen in ethisch problematischen Situationen • Formular, bestehend aus vier Schritten: Problembeschreibung, Faktenerhebung, Abwägung von Bewertungen und Beschlussfassung 9 Der Weg der Bremer Heimstiftung – Einführung Ethischer Fallbesprechungen 2004 Kooperation mit ambulanten Hospizvereinen • • • • Kooperationen seit 1997 / 2013 3 hauptamtliche KoordinatorInnen 7 ModeratorInnen für EFB Ca. 100 qualifizierte Ehrenamtliche in der Lebens-, Sterbe- und Trauerbegleitung Grundlagen von Ethikberatung in der Altenhilfe • Gesetze und juristische Fragen Was ist erlaubt? Was ist verboten? Patientenwille etc… • Prinzipienethik / Medizinethik (BEAUCHAMP UND CHILDRESS): Nutzen Nichtschaden Autonomie Gerechtigkeit • Praktische Medizinethik (JONSEN/SIEGLER/WINSLADE): Indikation Präferenzen des Patienten Lebensqualität Sonstige Gesichtspunkte (z. B. Finanzen, rechtlicher Rahmen) • Pflegeethik (LAY und andere) Selbständigkeit Wohlbefinden Hygiene Sicherheit Material Zeit Wirtschaftlichkeit • Allgemeine ethische Fragen Was ist sinnvoll? Wie kann das erreicht werden? 11 Konfliktlösung im Rahmen der moderierten Ethischen Fallbesprechung: alle an einen Tisch Leitungskräfte Hospiz Horn e.V. Hospiz Bremen Nord e.V. (haupt- oder ehrenamtlich) Hausarzt Facharzt ModeratorIn Pflegekräfte Für Bewohner≠ X ModeratorIn Moderation und Ethikberatung durch zwei „neutrale“ ModeratorInnen Betreuer Gesetzl. Vertreter Andere.. Angehörige Sozialdienst Bremer Heimstiftung Stabsstelle Qualität (hauptamtlich) 12 Grundsätze für die Ethischen Fallbesprechungen ① Ethikberatung erfolgt nur auf Anfrage ② Jede/r aus dem professionellen oder sozialen Umfeld kann eine EFB beantragen ③ Beteiligte beraten gemeinsam vor Ort. Alle werden gehört, können ihre Fragen und Sichtweisen darlegen ④ Orientierung erfolgt an Gesetzen, Patientenrechten, Dienstanweisungen, Leitlinien, etc. ⑤ Schweigepflicht und Datenschutz sind einzuhalten ⑥ Beratungsergebnis ist eine Empfehlung, keine Handlungsanweisung - Berufsgruppen und Bezugspersonen behalten die Verantwortung für ihre Handlungen Handbuch Ethik, Bremer Heimstiftung 2010 Bremer Heimstiftung - Petra Scholz 13 prozessorientierte Ethische Fallbesprechungen in Anlehnung an das Nimwegener Modell ① Bestimmung des ethischen Problems ② Analyse der medizinischen, pflegerischen, sozialen, weltanschaulichen und organisatorischen Gesichtspunkten ③ Bewertung und Entwicklung von Argumenten unter Berücksichtigung ethischer Normen und Werte ④ Formulierung eines Votums einschließlich der wichtigsten Gründe, die zur Empfehlung geführt haben Handbuch Ethik, Bremer Heimstiftung, 2010 nach Steinkamp und Gordijn: Ethik in Klinik und Pflegeeinrichtungen, 2005 14 Konkreter Ablauf einer EFB 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. Vorstellung, Kommunikation auf Augenhöhe Beschreibung des Konflikts, Gesprächsanlass Medizinische Perspektive Pflegerische Perspektive Psychosoziale Perspektive Autonomie / rechtliche Fragen Findung eines Votums Jede Handlungsempfehlung Protokoll ethische Fallbesprechung ist einzigartig! 15 Dialog und Orientierung am Prozess • Systematischer Perspektivenwechsel – Patient, Angehörige, Pflegekräfte, Ärzte, etc. • Prinzipienorientierung – Beachtung des Patientenwillens und der Fürsorgeaspekte – Nutzenabwägung und Schadensvermeidung – Recht und Gerechtigkeit, Einzelwohl und Gemeinwohl • Diagnosen / Indikationen und Therapieziele Pflegemaßnahmen werden erläutert und hinterfragt • Was hilft dem alten Menschen? • Was unterstützt Angehörige / Betreuer und beruflich Beteiligte? 16 Fragen zum herausfordernden Verhalten haben Vorrang vor Fragen nach Freiheitsentziehenden Maßnahmen !! • • • • Welches Verhalten fordert wen heraus? Welche Grenzen werden von wem und wie überschritten? Welche Gründe und Anlässe gibt es für dieses Verhalten? Wie erlebt der Mensch, der sich herausfordernd verhält, seine Situation? (Beziehungen? Selbständige Lebensführung? Angst und Unruhe? Depression? Sinnestäuschungen? Sehen? Hören? Etc…) • Wie wirkt die Umwelt auf den Menschen ein (Kommunikation? Interaktion? Umgebung?) • Gibt es unbefriedigte, nicht verstandene Bedürfnisse? (Geborgenheit, Sorge, Aufgaben, etc…) Quelle: Menschen mit Demenz: Anlässe und Gründe von herausforderndem Verhalten und Antworten der Pflegewissenschaft. Prof. Dr. Sabine Bartholomeyczik, DZNE Standort Witten, 17 Institut für Pflegewissenschaft, Universität Witten/Herdecke 2006 „Kleine Ethik: Habe ich ein gutes Gefühl bei dem, was ich tue?“ (Katharina Heimerl, Wien 2012) • Reflexion von Wahrnehmungen / Haltungen / Einstellungen ressourcenorientiert personenzentriert wertschätzend unterstützend • • • • defizitorientiert funktional fremdbestimmt fordernd Wissen? emotionale Notlagen? Gespräche und gegenseitige Unterstützung ? Sterben akzeptieren? „Vom ich zum Wir kommen“ (Andreas Heller, Wien 2012) 18 Ethische Entscheidungsfindung bei Einwilligungsunfähigkeit des Patienten Diagnose •Differentialdiagnosen? Willensermittlung plus autorisierte Stellvertretung •vorausverfügter ausdrücklicher Wille? Patientenverfügung? Medizinische Indikation • Therapieziel? • Leidenslinderung? geboten – erlaubt – verboten? •Maßnahme geeignet zur Therapie oder Symptomkontrolle? + •Vollmachten? •Mutmaßlicher Wille? •natürlicher Wille? •Entscheidung zum Wohl des Patienten! Abb: ©Scholz (in Anlehnung an Jox 2009: Zwei Säulen der ethischen Entscheidungsfindung) 19 Beruhigende, nicht sedierende Intervention als letztes Mittel der Wahl !! 20 Behandlung psychomotorischer Unruhe bei Demenz S3-Leitlinie-Demenz (DGPPN, DGN 2009) „Die Gabe von Antipsychotika bei Patienten mit Demenz ist mit einem erhöhten Risiko für Mortalität und für zerebrovaskuläre Ereignisse assoziiert. Patienten und rechtliche Vertreter müssen über dieses Risiko aufgeklärt werden. Die Behandlung soll mit der geringst möglichen Dosis und über einen möglichst kurzen Zeitraum erfolgen. Der Behandlungsverlauf muss engmaschig kontrolliert werden.“ (…) Bei schwerer psychomotorischer Unruhe, die zu deutlicher Beeinträchtigung des Betroffenen und /oder der Pflegenden führt, kann ein zeitlich begrenzter Therapieversuch mit Risperidon empfohlen werden.“ 21 Umgang mit Freiheitsentziehenden Maßnahmen? Die Würde des Menschen ist unantastbar (Art. 1GG) Recht auf Freiheit (Art. 2 Abs 2GG) Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs 2GG) • Aufklärung über Grundrechte und Patientenrechte • Aufklärung der Angehörigen über Vollmacht / Betreuung und Stellvertreterrechte • Alternativen!! Fixierung / Sedierung als allerletztes Mittel • ärztliches Gutachten / Stellungnahme • Antrag beim Betreuungsgericht / richterlicher Beschluss • autorisierte Einwilligung (Schriftgebot § 1906 BGB Abs 5) • erhöhte Sorgfaltspflicht und Überwachung bei FEM • Regelmäßige Überprüfung der Notwendigkeit von FEM 22 Protokoll der EFB • • • • • zur allgemeinen Dokumentation der Absprachen Zur Erläuterung einer begründeten Empfehlung als Grundlage für weitere Gespräche zur Vorlage beim Betreuungsgericht etc. 23 häufige Anlässe für ethische Fallbesprechungen • Nichteinwilligungsfähigkeit des alten Menschen, Ermittlung des Patientenwillens, Wünsche von Angehörigen, Betreuern oder Ärzten • Herausforderndes Verhalten • Essen und Trinken, Frage nach PEG • Schmerzen / palliative Versorgung / Therapiezieländerung • Frage nach invasiver Diagnostik und Therapie, Krankenhauseinweisung • Nicht-Einwilligung in ärztliche oder pflegerische Maßnahmen • Depressivität und Sorge bei Suizidgefahr • unerträgliche Pflegesituationen, z.B. aufbrechende Tumore, zerfallendes Gewebe • Einstellung lebenserhaltender Maßnahmen 24 Lösungen im Fallbeispiel 1 : Herr Feuer • Herrn Feuers Verhalten wurde aus seiner zunehmenden Demenz, der sozialen Isolation und aus seiner Verzweiflung heraus verstanden • Besuche eines männlichen Ehrenamtlichen führten zu mehr Zuwendung unabhängig von Pflegehandlungen und entlasteten die Angehörigen und MitarbeiterInnen • Umstellung auf ein orales Diabetikum und Einstellung mittels eines psychotropen Medikamentes mit Genehmigung des Betreuungsrichters führte zur Abnahme des selbst- und fremdgefährdenden Verhaltens • Die gemeinsamen Absprachen verstärkten das soziale Netz um Herrn Feuer. • Herr Feuer konnte in der Einrichtung verbleiben. Das herausfordernde Verhalten wurde seltener. Psychopharmaka wurden schrittweise reduziert. Herr Feuer konnte in die Gemeinschaft der Wohngruppe integriert werden. • Angehörige und Mitarbeiter sind sehr erleichtert. 25 Positive Effekte von Ethischen Fallbesprechungen • Alle Beiträge zusammen ergeben ein neues Bild • Bereitschaft zum Konsens ist erstaunlich hoch • Erfahrungen der MitarbeiterInnen und die Kenntnisse der Angehörigen finden Beachtung • verstärkte Individualisierung der Pflege und der medizinischen Behandlung, erhöhte Achtsamkeit • Kreativität im Umgang mit Herausforderungen steigt • Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung steigt • Unnötige Behandlungen / Freiheitsentziehende Maßnahmen und Einweisungen ins Krankenhaus werden vermieden • selbst kleine Schritte tragen oft zu einer guten Lösung bei • Gegenseitige Unterstützung bringt hohe Verbindlichkeit 26 „Die Lösung ist nicht dort zu suchen, wo jemand „Recht hat“ oder über Expertenwissen verfügt, sondern sie ergibt sich durch die gemeinsame Suche nach dem Sinn unserer Handlungen für einen bestimmten Menschen und das Anliegen, begründet und verantwortungsvoll zu handeln.“ Dr. med. Hans Schottky (Hospiz Horn e.V.) 27 „Ethik braucht die Kompetenz geteilter Inkompetenz. Niemand hat alleine den Blick auf das Ganze.“ (Heller und Reitinger 2010) 28 Ethikberatung für die Altenhilfe Autor: Lic. theol. Wolfgang Heinemann Ethik und Seelsorge der MTG Malteser Trägergesellschaft gGmbH 1. Auflage © MTG, Köln 2009 29 Broschüre der Bremer Heimstiftung www.hospiz-horn.de 30 Erscheinungsdatum: 1. Mai 2015 184 Seiten; 21 Euro ISBN 978-3-89918-237-8 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! 31