Seite 1 Einige Bemerkungen zur poststrukturalistischen Theoriemode am Beispiel von Gilles Deleuze Roger Behrens Anmerkung 1: Freibaduniversität, gesendet am 1. August 2007, 14.00 bis 15.00 Uhr; Sprechzeit: 44:00 Minuten; Musik: Stan Getz und João Gilberto, ›Vivo sonhando‹; Herbie Hancock, ›Water Torture‹. Anmerkung 2: Dieser Text ist in seinen Ausführungen vorläufig. Er ist in den Hauptabschnitten identisch mit einem im März 2005 für eine Hamburger Lesegruppe verfassten Papier. Geplant ist eine vollkommen überarbeitete und erweiterte Fassung des Beitrags. *** Der französische Philosoph Gilles Deleuze gehört zusammen mit seinem Freunden und Kollegen Michel Foucault und Félix Guattari zu den einflussreichsten Vertretern des so genannten Poststrukturalismus, einer Theorie, die sich – wie der Name unschwer erahnen lässt – aus dem Strukturalismus heraus entwickelt hat. Grundlegend für den Strukturalismus ist – auch das verrät freilich das Wort – die Struktur, und das heißt die Annahme, dass gesellschaftliche Beziehungen wesentlich durch Strukturen geprägt und definiert werden, wobei etwa für die Ethnologie Strukturähnlichkeiten zwischen gesellschaftlichen oder kulturellen Zusammenhängen auffällig waren, die auf den ersten Blick vollkommen unterschiedlich organisiert schienen (etwa in Bezug auf Sitten, Geschlechterverhältnisse, Politik, Recht, Ökonomie etc.). Als Begründer des Poststrukturalismus gilt Roland Barthes (1915 bis 1980), der Ende der sechziger Jahre mit seinem Essay ›Der Tod des Autors‹ Aufsehen erregte. Seine These in diesem Essay: Es gebe überhaupt keine Autorität im Sinne eines schöpferischen, originale Werke hervorbringenden Autors als autonomer Urheber, sondern jede Textproduktion sei eine Verkettung von Zitaten und zitierten Zitaten, von Anspielungen und Verweisen auf bereits bestehende Texte. Seite 2 Diese, zunächst in der Literaturwissenschaft kursierende These wurde alsbald auch von der Philosophie und Gesellschaftstheorie dort aufgegriffen, wo ohnehin schon der Einfluss der Linguistik und darüber hinaus die Sprachwissenschaft f ü r einen s o genannten Paradigmenwechsel sorgten – der dann später als ›linguistic turn‹ bezeichnet werden sollte. Ausgeweitet wurde die These vom Tod des Autors in der Rede vom Tod des Subjekts, womit mindestens ein Verschwinden des Subjekts gemeint war. Sofern die Strukturen, mit denen sich der Strukturalismus beschäftigte, vorrangig als sprachliche gedeutet und beschrieben wurden, indem man die Welt in einen Text übersetzte, erschienen auch alle praktischen, konkreten und materialen Verhältnisse der Menschen untereinander und zu sich selbst als Strukturen von Sprache oder Zeichen; alles, was wir ›Mensch‹, ›Subjekt‹, ›Ich‹ und so weiter nennen, ist strukturell eine Verkettung von linguistischen Zeichen und Operationen. Der Mensch ist eine Definition, und agiert nicht nur innerhalb der Grenzen dieser Definition, sondern seine menschlichen Aktivitäten, sein Aktionsradius gewissermaßen sind durch die Sprache und als Sprache definiert. Das bedeutet für die Anthropologie: Sofern der Mensch, griechisch Anthropos, wesentlich durch das Wort, griechisch Logos, bestimmt ist, forderten die Poststrukturalisten nicht nur eine Kritik des Anthropozentrismus, sondern eine Kritik des logozentrischen Weltbildes und Wissenschaftsverständnisses. Die den Menschen strukturierende Ordnung der Sprache sowie die daraus resultierende von der Sprache abhängige Ordnung sollte grundsätzlich hinterfragt werden: Man könne nicht länger philosophisch vom Menschen ausgehen … Michel Foucault – er lebte von 1926 bis 1984 – hat diese Forderung mit seiner Archäologie und Genealogie moderner Machtpraktiken der Normierung und Disziplinierung präzisiert; er untersuchte die »Erfindung des Menschen« d u r c h d i e so genannten Humanwissenschaften (also Medizin, Rechtswissenschaft, Pädagogik) sowie Diskurse und Techniken der Einschließung (also Gefängnisse, Irrenanstalten, Arbeitshäuser, Kasernen, Schulen und dergleichen). Gilles Deleuze – er lebte von 1925 bis 1995 – gab dem eine philosophische Grundlage, allein schon dadurch, dass er den üblichen Seite 3 philosophiegeschichtlichen Kanon von Autoren verwarf: Er ging vor allem zurück zur Barockphilosophie und ignorierte den philosophischen Fortschritt der Linie Kant, Hegel, Marx: Dialektik und eine Theorie des historischen Materialismus lehnte er entschieden ab und verteidigte ein unsystematisches, bewusst inkonsistentes Denken, welches eine Weltphilosophie verwarf und statt dessen auf ein ›theatrum philosophicum‹, ein philosophisches Theater hinauslief. Die von Deleuze bevorzugten Philosophen sind neben Spinoza vor allem Henri Bergson und Friedrich Nietzsche – also Denker, die eigentlich gegen die Philosophie oder nach der Philosophie philosophieren. In diesem Sinne vertritt auch Deleuze eine postphilosophische Position, ohne sich aber aus dem akademischen Rahmen der Philosophie zu lösen. Damit läuft seine Kritik der Philosophie auf etwas diametral anderes hinaus als Marx’ Kritik der Philosophie, die in einer revolutionären Theorie der Praxis mündet: Deleuze unternimmt den Versuch, mit der Philosophie den philosophischen Essentialismus, mit dem Denken den Idealismus aufzulösen. Was bei ihm »Begriff« heißt, ist das Gegenteil von dem Hegelschen Konzept der Begriffslogik: Deleuze geht es um Neuschöpfung von Begriffen, die sich jeder Idee oder idealen Prägung, jeder essentialistischen Struktur widersetzen – das in diesem Sinne antihierarchische Denken vollzöge sich in Fluchtlinien und fände sich in Rhizomen ausgebreitet. Zusammen mit dem Psychoanalytiker Félix Guattari – er lebte von 1930 bis 1992 – verfasste er einige Schriften, wobei ›Anti-Ödipus‹ von 1972, Untertitel ›Kapitalismus und Schizophrenie I‹, und ›Tausend Plateaus‹ von 1980, Obertitel ›Kapitalismus und Schizophrenie II‹, heute als Schlüsselwerke des Poststrukturalismus gelten. In ›Tausend Plateaus‹ wird der Begriff des R h i z o m s beziehungsweise der Ansatz der Rhizomatik eingeführt: Das Rhizom ist ein Pilzgeflecht, welches der nach Ansicht von Deleuze und Guattari ansonsten in der abendländischen Geschichte üblichen Baumstruktur entgegengestellt wird. Zumindest ihrem Selbstanspruch nach beabsichtigten Deleuze und Guattari mit den ›Tausend Plateaus‹ eine Fortsetzung des ›Kapitals‹ von Marx zu liefern – ein Plateau ist nicht nur eine Ebene, sondern auch ein Kapitel; die Zahl Tausend ist dürfte allerdings wohl nur metaphorisch für »Viele« gemeint Seite 4 sein, denn tatsächlich finden sich in dem 645 Seiten umfassenden Buch »nur« fünfzehn Kapitel … Mithin hatte und hat Deleuze, ebenso wie Guattari und vor allem Foucault, Einfluss auf die Theoriedebatten der linken Bewegung. Insbesondere die verschiedenen Fraktionen der postpolitischen und liberaldemokratischen Kulturlinken orientierten sich in den neunziger Jahren maßgeblich an Deleuze, Foucault und Guattari, beziehungsweise deren Denkfiguren: mit den Schlagworten »Macht«, »Kontrolle«, »Rhizomatik«, »Nomadologie« und dergleichen wurden so nach und nach die kritische Theorie der Gesellschaft und damit die materialistische Kritik der politischen Ökonomie, die dialektische Kritik der Kultur und die historische Kritik der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse im Sinne einer konkreten Totalität abgedrängt und schließlich als veraltet oder gar widerlegt zurückgewiesen. – Gerade die suggestive Sprache und die gedanklichen Assoziationen von Deleuze scheinen für die modische Attraktivität des Poststrukturalismus nicht unwesentlich zu sein. Der nachfolgende Text versucht, diese Attraktivität kritisch zu hinterfragen. *** Der Komponist Hanns Eisler antwortet 1958 in einem Rundfunkgespräch während einer Probe auf die Frage, wie sich die Dummheit in der Musik äußert: »Dummheit in der Musik kann sich in Tönen ausdrücken, Tonverbindungen können als dumm bezeichnet werden. Aber auch die allgemeine menschliche Dummheit kann in der Musik verbreitet sein. Bei Vokalwerken ist es das Verhältnis der Musik zum Text. Ein Beispiel: Ein Komponist komponierte das Gedicht Goethes ›Ich ging im Walde so für mich hin‹ polyphon, motettenartig. Er hat nicht begriffen, dass die volkstümliche Lyrik Goethes ein Fortschritt war in ihrer Subjektivität. Das war kein Schäfergedicht mehr, kein höfisches Liebesgedicht, sondern hier hat Goethe subjektive Innerlichkeit ausgebildet. Diese nun durch die Methode der Komposition ins Barock zurückzuzerren, halte ich für dumm. Solche Gedichte sollte man heute nicht komponieren. Es gibt herrliche Vertonungen von Schubert, Schumann und kleineren Meistern, und das genügt. Aber gewisse Komponisten versuchen, Seite 5 abstraktes ›Kollektivgefühl‹, das sie zu empfinden glauben, oder wie es dumpf heißt: das Gemeinschaftserlebnis, im Barock zu finden. Wobei aber endlich einmal festgestellt werden muss, dass es nichts Langweiligeres und Geistloseres gibt als zweit- und drittklassige Barockmusik. Barockstil heute ist die Flucht in die Musikgeschichte. Komponisten dieses Stils glauben, damit die verfeinerte, allerdings auch überhitzte Subjektivität der alten Avantgarde überwunden zu haben und sich sozial zu benehmen. Ich halte das für dumm, weil sie die Wirklichkeit, die viel komplizierter ist und die man nicht wegeskamotieren kann, durch Barock-Sequenzen zu verkleistern versuchen.«1 Eisler stirbt 1962; 1966 referiert sein schwieriger Freund und Kollege Theodor W. Adorno in Berlin zum Thema ›Der missbrauchte Barock‹: »Barock ist ein Prestigebegriff. Durch den Namen hielt wie durch ein Tor die Kulturindustrie, spätestens seit dem Rosenkavalier, Einzug in die Kultur … Nur das Unspezifische und Vage, wozu der Barock dem gegenwärtigen Bewusstsein sich verdünnte, erlaubt den universalen Gebrauch des Namens … Dies Bewusstsein passt gut zu der Kultur, auf die es schwört. Bequem vermag einer als Anhänger der Barockmusik sich zu bekennen, ohne in deren Vorrat viel zwischen den einzelnen Autoren und Werken zu unterscheiden.«2 Die Barockmode gab es damals nicht nur in der Musik. In der Sehnsucht nach dem Ornament und einem Verspielten, das von dem ökonomischen Regime der abstrakten Arbeit noch weit entfernt ist, spiegelt sich die Ideologie des Spätkapitalismus, die fortgeschrittene Gesellschaft, die den geschichtlichen Takt des Fortschritts gerade zu überwinden trachtet: Die postindustrielle Gesellschaft, die Nachgeschichte, der Umschlag des Fordismus in Post-Fordismus. In dieser Zeit erfährt aber auch das idealistische System Hegels, durch den Nationalsozialismus ohnehin desavouiert, seine materialistische Korrektur: Herbert Marcuse 1 Hanns Eisler, ›Über die Dummheit in der Musik‹, in: Ders., ›Materialien zu einer Dialektik der Musik‹, Leipzig 1976, S. 251. 2 Theodor W. Adorno, ›Der missbrauchte Barock‹, in: GS Bd. 10·1, S. 401 f. Seite 6 veröffentlicht 1964 ›Der eindimensionale Mensch‹, Adorno 1966 die ›Negative Dialektik‹. 1968, also zehn Jahre nach Eislers Rundfunkgespräch über die Dummheit in der Musik, veröffentlicht Gilles Deleuze sein philosophisches Hauptwerk ›Differenz und Wiederholung‹, das – wenn man so will – schon im Titel Marcuses Eindimensionalitätsthese und Adornos Dialektik verwirft: Deleuze reiht sich ein in den »verallgemeinerten Antihegelianismus …« Und er erläutert: »Die Differenz und die Wiederholung sind an die Stelle des Identischen und des Negativen, der Identität und des Widerspruchs getreten.«3 Ein nicht unwesentlicher Zeuge des philosophischen Unterfangens Deleuze’ ist der Barockphilosoph Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 bis 1716). Deleuze’ Antihegelianismus ist philosophischgeschichtlich eine Regression, ein Rückschritt auf den Mechanismus der Barockzeit. In dem Maße, wie Deleuze aber die Philosophiegeschichte »wie die Collage in einem Gemälde« versteht, wie eine »Kopie …, die der Kopie entsprechende Modifikationen« enthält, ist der Zugriff auf Leibniz lediglich eine beliebige Bastelei. In seinem Buch ›Die Falte. Leibniz und der Barock‹ beantwortet Deleuze im dritten Kapitel die Frage »Was ist barock?« mit der Monadologie Leibniz’. Leibniz denkt die Welt in Monaden (von ›monas‹ = Einheit), die fensterlos sind, keine Türen und Löcher haben (hieran schließt das ganze Leibnizsche System der ›prästablierten Harmonie‹ und der ›repraesentatio mundi‹ an). Deleuze warnt, das Bild der fensterlosen Monaden zu abstrakt zu verstehen. Er konkretisiert mit a) dem Film, b) Jackson Pollock und Robert Rauschenberg. Dann kommt die barocke Stadt, dann Le Corbusier, Régis Debray, dann Mallarmé und schließlich Heidegger …, die ›Zwiefalt‹.4 – Was soll das bedeuten? Deleuze’ Konkretion der Leibnizschen Monade scheint nicht mehr zu sein als eine absurde Banalisierug, assoziative Beliebigkeit des manierierten Gedankens. 3 Gilles Deleuze, ›Differenz und Wiederholung‹, München 1997, S. 11. 4 Gilles Deleuze, ›Die Falte. Leibniz und der Barock‹, Frankfurt am Main 1995, S. 53 ff. Seite 7 Heidegger steht am Anfang von ›Differenz und Wiederholung‹: »Die immer schärfere Ausrichtung Heideggers auf eine Philosophie der ontologischen Differenz.«5 (Ontologische Differenz = bei Heidegger die Annahme, dass Sein und Seiendes nicht zusammenfallen, sondern ontologisch geschieden sind; Heideggers Frage: ›cogito ergo sum‹ – was ist das »Bin«?) Heidegger und die ontologische Differenz, schließlich die Explikation der Frage nach dem Sinn des Seins – das Selbe, das Identische – bilden auch den Schluss von ›Differenz und Wiederholung‹6 (wobei die letzte Figur der »schwankenden Spitze« auf Nietzsches Zarathustra zurückgehen dürfte …)7. »Heute Abend findet ein Konzert statt. Das ist das Ereignis, Klangschwingungen breiten sich aus, periodische Bewegungen durchqueren die Ausdehnung mit ihren Obertönen oder den in ihnen enthaltenen Vielfachen.«8 Die Frage, was Barock ist,9 führt weiter zur Musik: Pierre Boulez. Deleuze hat seine Philosophie oft und immer wieder mit der Musik in Zusammenhang gebracht: Mit der Barockmusik, aber auch mit der seriellen Moderne (die sich auf die Barockmusik bezieht), schließlich mit der Popmusik, der elektronischen Musik. Mit einem Buch sollte genauso umgegangen werden wie mit einer Schallplatte. Deleuze möchte so gelesen werden, wie man eine Platte hört. Die ›Tausend Plateaus‹ postulieren »RHIZOMATIK = POP-ANALYSE«,10 5 Gilles Deleuze, ›Differenz und Wiederholung‹, München 1997, S. 11. 6 Vgl. Gilles Deleuze, ›Differenz und Wiederholung‹, München 1997, S. 373 ff. 7 Vgl. Gilles Deleuze, ›Differenz und Wiederholung‹, München 1997, S. 377. 8 Gilles Deleuze, ›Die Falte. Leibniz und der Barock‹, Frankfurt am Main 1995, S. 133. 9 Die Antworten: a) Die Falte, b) Das Innere und das Äußere, c) das Oben und das Unten, d) Das Entfalten, e) Die Texturen, f) Das Paradigma. Vgl. Gilles Deleuze, ›Die Falte. Leibniz und der Barock‹, Frankfurt am Main 1995, S. 61 ff. 10 Gilles Deleuze und Félix Guattari, ›Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie‹, Berlin 1992, S. 40. Seite 8 immer wieder geht es um Musik, – so philosophieren, wie Bob »Dylan … einen Song komponiert«.11 – Die Prinzip der Collage wurde mit Sampling gleichgesetzt. Diedrich Diederichsen hatte beim Lesen vom ›Anti-Ödipus‹ und von ›Tausend Plateaus‹ gleich das »Gefühl, dass hier zwei Leute das Buch geschrieben haben, das jeder schon immer schreiben wollte, nämlich: was in allen meinen Büchern steht und auf allen Platten drauf ist, die ich je gehört habe, nebst dem, was ich alles dazu denken kann«.12 Und Martin Büsser entdeckt in Deleuze’ »Pseudo-Dilletantismus und sein[em] hybride[n] Eklektizismus im Umgang mit Zitaten und Querverbindung sowie sein Hass auf alles kulturell Tradierte … einen ganz speziellen Sound.«13 Dieser »Sound« etabliert sich im Barock; es ist der Sound der Wiederholung, was Deleuze und Guattari später als das »Ritornell« bezeichnen.14 Ritornell: in der Musik mit verschiedenen Bedeutungen, aber immer als Wiederkehr, Wiederholung, Refrain. Die Entdeckung, dass es sich bei der Musik um Wiederholung (von Tönen) handelt, ist so banal wie die Feststellung, dass die Musik aus Sound (Klang, Geräusch) besteht. Pop ist per definitionem immer ein Ritornell. Die philosophische Zwitschermaschine (dem Kapitel vorangestellt ist Paul Klees ›Zwitschermaschine‹ – so wie beim Rhizom-Kapitel ein Auszug aus einer Partitur Sylvano Bussotis …): »Auch in der Philosophie haben wir der traditionellen Paarbildung zwischen einer indifferenzierten bedenkbaren Materie und den Denkformen des Typs Kategorien oder Großbegriffe den Rücken gekehrt. Wir versuchen mit sehr elaborierten Denkmaterialien zu arbeiten, um Kräfte denkbar zu machen, die an sich 11 Gilles Deleuze und Claire Parnet, ›Dialoge‹, Frankfurt am Main 1980, S. 15. 12 Diedrich Diederichsen, ›Aus dem Zusammenhang reißen / In den Zusammenhang schmeißen‹, in: Ders.: ›Freiheit macht arm. Das Leben nach Rock’n’Roll 1990–1993‹, Köln 1993, S. 175. 13 Martin Büsser, ›Wissen um der Lust willen. Deleuze und die Pop- Intellektuellen‹, in: Marvin Chlada (Hg.), ›Das Universum des Gilles Deleuze. Eine Einführung‹, Aschaffenburg 2000, S. 85. 14 Vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari, ›Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie‹, Berlin 1992, S. 424 ff. Seite 9 nicht denkbar sind. Das ist dieselbe Geschichte wie in der Musik, wenn sie ein Klangmaterial ausarbeitet, um Kräfte hörbar zu machen, die es an sich nicht sind. In der Musik geht es nicht mehr um ein absolutes Ohr, sondern um ein unmögliches Ohr, das sich auf jemand legen kann, kurzzeitig jemand überkommen kann. In der Philosophie geht es nicht mehr um ein absolutes Denken, sondern um ein unmögliches Denken, d.h. um die Ausarbeitung eines Materials, das Kräfte denkbar macht, die es nicht durch sich selbst sind.«15 Das Zentrum: Heidegger und der Barock. Und jetzt: Die Öffnung »auf eine Wegstrecke oder Spirale hin, die sich immer weiter von einem Zentrum entfernt.«16 Die Peripherie, und der Wunsch des dezentrierten Subjekts wenigstens am Rande (politische) Bedeutung zu bekommen. Die Krise des Kapitalismus und die Krise der Linken, die sich ohne Wissbegehren, ohne Interesse, ohne Utopie und ohne Materialismus begeistert: Das Theatrum philosophicum ist ein Guckkastentheater, ein Puppentheater, nicht einmal eine Schaubühne als moralische (politische) Anstalt. Es geht ums Außen, ohne die fundamentalontologische Innerlichkeit zu verlassen; man versteht Heidegger hier sehr genau17: Es gibt wieder einen Grund; und wieder ist dieser Grund scheinbar konkret.18 Zur Philosophie Leibniz’ gehört der brillante Satz, dass wir in der besten aller denk-möglichen Welten lebten. Wie im kritischen Rationalismus wird das kleine Präfix ›Denk‹ weggestrichen, im Glauben, damit den idealistischen Rationalismus in materialistische Kritik überführt zu haben – das heißt bei Popper wird es weggestrichen, bei Deleuze und Guattari müsste freilich stehen: Wir leben in der besten aller begehrens-möglichen Welten. Die kritische Theorie postuliert: Dieses ist 15 Gilles Deleuze, ›Die musikalische Zeit‹, http://www.webdeleuze.com/php. 16 Gilles Deleuze, ›Die Falte. Leibniz und der Barock‹, Frankfurt am Main 1995, S. 226. 17 Anders als Sartre, der Heidegger in produktiver Weise missverstand … 18 Vgl. Günther Anders, ›On the Pseudo-Concreteness of Heidegger’s Philosophy‹, in: Philosophy and Phenomenological Research, New York (März 1948) Seite 10 nicht die beste aller möglichen Welten. Die Wiederholung und die Differenz des Barock »möchte mit jener Welt sich abfinden: sie blieb als entzauberte die dinghafte, eine von Waren. Der Barock steht … ein fürs verdrängte und ersehnte Ornament, und macht … dabei als Stil, der das Ornament gestatte und erheische, das gute Gewissen. Aber das vermeintlich unbeschädigte Ornament, zu dem sie flüchten, ist Ausdruck des gleichen Prinzips, vor dem sie die Flucht ergreifen. Die Einheit des Bürgerlichen und Absolutistischen, die sie zum Barock zieht, steht ihnen als Gleichnis jener tödlichen Ordnung vor Augen, in der die Verflechtung der bürgerlichen Gesellschaft umschlägt in totale Unterdrückung.«19 Das Ornament ist die Differenz, die Reihe, die Verzierung, das Parergon, jenseits von Ergon und Energeia. Was ist die Dummheit in der Philosophie? Die Methode der Philosophie wird ins Barock zurückgezerrt, in den Pop verzerrt (der Jargon der Eigentlichkeit der Fünfziger passt vortrefflich zur Kulturalisierung der Linken in den Neunzigern). Im Anschluss an Deleuze: die Multitude – ein Begriff, den Negri, der sich wesentlich auf den frühen Deleuze bezieht, bereits Anfang der Achtziger von Spinoza übernimmt. Deleuze verwandelt die Monadologie in eine Nomadologie, auch hier mit dem Soundtrack Barock und Pop: »Das Problem ist immer noch, die Welt zu bewohnen, aber die musikalische Behausung Stockhausens, die plastische Behausung Jean Dubuffets lassen den Unterschied des Inneren und des Äußeren, des Privaten und des Öffentlichen nicht bestehen: sie identifizieren Variation und Trajektorie und überbieten die Monadologie durch eine ›Nomadologie‹. Die Musik ist das Haus geblieben, was sich aber verändert hat, ist die Organisation des Hauses und seine Natur. Wir bleiben Leibnizianer, obwohl es nicht mehr die Zusammenklänge sind, die unsere Welt oder unseren Text ausdrücken. Wir entdecken neue Weisen zu falten und neue Hüllen, wir bleiben aber Leibnizianer, weil es immerzu darum geht zu falten, zu entfalten, wieder 19 Theodor W. Adorno, ›Der missbrauchte Barock‹, in: GS Bd. 10·1, S. 422. Seite 11 zu falten.«20 – Das Nomadische oder die Multitude können als der Versuch verstanden werden, jenseits der »Identität« und »Repräsentation« das Kollektivgefühl zurück zu gewinnen: das Gemeinschaftserlebnis. (»Wobei aber endlich einmal festgestellt werden muss, dass es nichts Langweiligeres und Geistloseres gibt als Bob Dylan, Patti Smith, Pierre Boulez, Sonic Youth ff.«). Barock ist Flucht in die Kulturgeschichte; man glaubt, damit den Subjektivismus zu überwinden, indem man ihn stärkt. *** Wir räumen Gilles Deleuze zahlreiche Vorteile ein. Wir nehmen ihn als Autor ernst, obwohl nicht nur die Autorschaft in Frage steht (zumindest im postmodernen Diskurs), sondern auch zahlreiche andere Theorieansätze in ihrer Autorität in Frage stehen. Die kritische Theorie, die ihre Hauptwerke zur selben Zeit fertig stellte wie Deleuze ›Differenz und Wiederholung‹ – Adornos ›Negative Dialektik‹ von 1966, Marcuses ›Der eindimensionale Mensch‹ von 1964 –, erscheint nachgerade obsolet, unbedeutend, für eine Linke nicht mehr brauchbar, sogar widerlegt (wer hat eigentlich jemals Adorno oder Marcuse widerlegt?). Kritische Theorie ist durch vier Bereiche zu bestimmen: Erkenntniskritik, Kritik der Geschichte, Kritik des Unbewussten und des Bewusstseins (Ideologiekritik versus Psychoanalyse) und Kritik der politischen Ökonomie. Schlüsselbegriffe: Konkrete Totalität, Gesellschaft, Dialektik, Praxis, strukturelle Dynamik, Krise, historischer Materialismus, Utopie und Befreiung. Das Zentrum: die Emanzipation des Subjekts. Dass die Revolution bisher ausblieb, ist kein Problem der Theorie, sondern ein Problem der Praxis (Löwenthal : »Wir haben nicht 20 Gilles Deleuze, ›Die Falte. Leibniz und der Barock‹, Frankfurt am Main 1995, S. 226. Die Musik – die alte Universalsprache – ist das Haus; eine Heideggeranspielung sicherlich, der die Sprache das Haus des Seins nannte. Übrigens: der Heideggertext, der zum Schluss von ›Differenz und Wiederholung‹ zitiert wird, ist ›Dichterisch wohnet der Mensch …‹. Seite 12 die Praxis verlassen, sondern die Praxis hat uns verlassen.«21). Gleichwohl vermag die Theorie zu erklären, warum die Praxis scheiterte, bisher. Kritische Theorie hat das erklärt. Kritische Theorie hat nicht das Interesse, bestehendes Unrecht, die Erniedrigung des Menschen anders zu denken. Keine Umwege. »Félix Guattari und Gilles Deleuze gehen viele Umwege, um den Lauf dessen, was passiert, anders zu denken, nicht als Philosophie eines erkennenden autonomen Subjekts, keine Story von Ich und Nicht-Ich, nicht als Dialektik, keine schöpferische Kraft der Negation bemühen, die noch das Nicht-Identische einer höheren Identität zuschlagen. Sie gehen nicht vom Gesetz der Struktur oder des Systems aus … Deleuze’ und Guattaris Versuch, den Kapitalismus zu verstehen, führt in ein Feld interessanter theoretischer Einsätze, darunter ein Denken ohne Subjekt, ein Primat des Begehrens von der Macht, eine relative Unwichtigkeit von Ideologie und die Veränderung des kapitalistischen Kontrollregimes.«22 – Abgesehen davon, dass ohne Subjekt kein Denken denkbar ist, abgesehen davon, dass es kein theoretischer Einsatz ist, Unsinn zu konstatieren, abgesehen davon, dass hier ein Popanz nach dem anderen aufgebaut wird, fragt sich: Wozu werden diese Umwege gegangen? Was ist das politische Problem? Weshalb muss das bisherige Denken des Systems und der Struktur verworfen werden? – Es wird behauptet, »in einer Reihe unterschiedlicher linker Praktiken [wurde] zuwenig bedacht …, warum die Leute ›für ihre Knechtschaft kämpfen, als sei es für ihr Heil‹.« Erstaunlich ist es, ausgerechnet diese Frage ins Zentrum zu setzen und so zu tun, als sei sie von der kritischen Theorie völlig vernachlässigt worden: Auf ihre Beantwortung hat sich nämlich seit 1932 (seit Erich Fromms Studie ›Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reichs‹) die kritische Theorie konzentriert. 21 Vgl. Leo Löwenthal, ›Mitmachen wollte ich nie. Ein autobiografisches Gespräch mit Helmut Dubiel‹, Frankfurt am Main 1980, S. 77 ff. 22 Katja Diefenbach, ›[The crack up:] Kapitalismus verstehen‹, in: jour-fixe- initiative berlin (Hg.), ›Kritische Theorie und Poststrukturalismus‹, Hamburg 1999, S. 79 und S. 85. Seite 13 Die Frage stammt von Spinoza.23 Es geht um das politische Mittel des Aberglaubens, mit dem die Menge (Multitude) getäuscht wird – eine Ideologiekritik, die Spinoza hier im ›Tractatus theologico-politicus‹ entwirft (anonym 1670 in Hamburg veröffentlicht): »Wenn es in monarchischen Staaten als das wichtigste Geheimmittel gilt, und es da vor Allem darauf ankommt, die Menschen im Irrthum zu erhalten und die Furcht, mit der man sie bändigt, unter dem glänzenden Namen der Religion zu verhüllen, damit sie für ihre Sklaverei, als wäre es ihr Glück, kämpfen und es nicht für schmählich, sondern für höchstehrenvoll halten, ihr Blut und Leben für den Uebermuth eines Menschen einzusetzen: so kann doch für Freistaaten nichts Unglücklicheres als dies erdacht und versucht werden, da es der allgemeinen Freiheit geradezu widerspricht, wenn das freie Urtheil des Einzelnen durch Vorurtheile beengt oder sonst gehemmt wird. Jene Aufstände aber, die unter dem Schein der Religion erregt werden, entspringen nur daraus, dass man über spekulative Fragen Gesetze erlässt, und dass blosse Meinungen wie Verbrechen für strafbar erklärt und verfolgt werden. Die Vertheidiger und Anhänger solcher Meinungen werden nicht dem Wohle des Staats, sondern nur der Wuth und dem Hasse der Gegner geopfert. Wenn nach dem Rechte eines Staates nur Handlungen verfolgt würden, Worte aber für straflos gälten, so könnten solche Aufstände mit keinem Rechtsvorwande beschönigt werden, und blosse Streitfragen würden sich in keine Aufstände verwandeln.« Eine Verteidigung des Freistaates, die der vom Antisemitismus und politisch verfolgte Spinoza auch im eigenen Interesse formuliert. Deleuze und Guattari übersetzen die Frage, warum die Menschen für ihre Unterdrückung kämpfen als sei es für ihr Wohl, transformieren aber auch die Verteidigung des bürgerlichen Rechtsstaates in die assoziative Politik der Selbstanklage: »Nur der Mikro-Faschismus gibt eine Antwort auf die allgemeine Frage: Warum begehrt das Begehren 23 Zitiert von: Katja Diefenbach, ›[The crack up:] Kapitalismus verstehen‹, in: jour-fixe-initiative berlin (Hg.), ›Kritische Theorie und Poststrukturalismus‹, Hamburg 1999, S. 82. Auch, ohne Zitatangabe, von: Elfriede Müller, ›Die Fluchtlinien des Gilles Deleuze‹, in: Ebd., S. 100. Seite 14 seine eigene Unterdrückung, wie kann es seine eigene Unterdrückung wünschen? … Die Organisationen der Linken sind nicht die letzten, die ihre Mikro-Faschismen absondern. Es ist allzu leicht, auf molarer Ebene ein Antifaschist zu sein, ohne den Faschisten zu sehen, der man selber ist, den man unterstützt und nährt und an dem man selber mit persönlichen und kollektiven Molekülen liebevoll hängt.«24 – Der Poststrukturalismus weist die Kategorie der Totalität zurück, so wie er jede Kategorie zurückweist, um den Totalitarismus sodann kategorial vollkommen unterbestimmt mit dem Faschismus in eins zu setzen: Faschismus ist das Begehren, die Bewegung, die »komplizierte Montage«, die »undifferenzierte Triebenergie«, das »e n g i n e e r i n g «, das »Experiment«,25 die »Verkehrung der Fluchtlinie in eine Destruktionslinie«26. Es ist eben keine Dialektik der Aufklärung, kein Immanenzzusammenhang, keine Ideologie, keine Verdinglichung und kein universeller Verblendungszusammenhang. Keine Entfremdung und kein Antisemitismus, kein Rassismus und kein Konformismus; keine »zynische Sachlichkeit« (Marcuse) und keine Volksgemeinschaft, sondern eine ›more geometrico‹ in die Politik gehobene bloße Assoziation … »An einer Fluchtlinie ist nichts Imaginäres oder Symbolisches.«27 Wie auch? Die Fluchtlinie ist das Symbol der politischen Imagination selbst. 24 Gilles Deleuze und Félix Guattari, ›Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie‹, Berlin 1992, S. 293. 25 Vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari, ›Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie‹, Berlin 1992, S. 292 f. 26 Gilles Deleuze und Félix Guattari, ›Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie‹, Berlin 1992, S. 316. 27 Gilles Deleuze und Félix Guattari, ›Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie‹, Berlin 1992, S. 279. Seite 15 Diefenbach will mit Deleuze »neue Waffen … suchen«.28 Müller will mit Deleuze und Guattari auf die Fluchtlinie setzen.29 Deleuze und Guattari schreiben: »Auf den Fluchtlinien werden neue Waffen erfunden, um sie gegen die schweren Waffen des Staates zu wenden.«30 Mikro-Politik: diese Theorie steht nicht außerhalb der Macht des Staates, sondern ist integraler Bestandteil der Herrschaft. Das Risiko der radikalen Praxis wird verlagert in die Sicherheitszone, wo nur noch mit entschärften Waffen gekämpft wird. Die größte Gefahr ist schlimmstenfalls: man selbst, der Faschist in uns: Jeder Versuch der Negation, der Identifikation kann dieses Ungetüm wecken. Und nur die rücksichtlose Affirmation verhindert die rücksichtslose Kritik des Bestehenden. – Das scheint die Quintessenz von dem zu sein, was hier Mikro-Politik geannnt wird. *** Wir räumen Deleuze ein, ein politisches, interventionistisches Ziel zu verfolgen. Wir räumen Deleuze ein, ein kluger, und zwar nicht nur im elitären französischen oder allgemein bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb anerkannter Philosoph zu sein. Wir räumen Deleuze ein – der größte Vorteil, dem man einen Autor verschaffen kann –, dass Unverständnis, Schwierigkeiten, Sperrigkeiten auf unser Unvermögen zurückzuführen sind. Unsere Kritik muss sich herantasten; die richtige Kritik bleibt den richtigen Philosophen überlassen (Alain Badiou). Gleichwohl kann gezeigt werden, dass Deleuze in vielen Punkten nicht nur Unrecht hat, 28 Vgl. Katja Diefenbach, ›[The crack up:] Kapitalismus verstehen‹, in: jour-fixe- initiative berlin (Hg.), ›Kritische Theorie und Poststrukturalismus‹, Hamburg 1999, S. 95 29 Vgl. Elfriede Müller, ›Die Fluchtlinien des Gilles Deleuze‹, in: jour-fixe- initiative berlin (Hg.), ›Kritische Theorie und Poststrukturalismus‹, Hamburg 1999, S. 107. 30 Gilles Deleuze und Félix Guattari, ›Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie‹, Berlin 1992, S. 279. Seite 16 sondern Unfug ist. Eine Philosophie kann die immanente Kritik zurückweisen, klärt damit aber nicht ihre Unstimmigkeiten. Was tun? [Anmerkung: Der nachfolgende Absatz entfiel in der Radiosendung, weil er sich unmittelbar auf den Umgang mit Deleuze in der Lesegruppe bezieht, für die dieser Text ursprünglich verfasst wurde.] Ein ganz einfacher Einwand gegen Deleuze’ Zurückweisung der systematischen Totalität von Allgemeinem und Besonderem ergibt sich durch den Umstand, dass wir eine Lesegruppe sind, in der wir alle dasselbe Buch lesen, alle den gleichen Text haben: Ein allgemeiner Zusammenhang mit einem besonderen Interesse (Deleuze, die Linke, Lesen, Verstehen, Diskutieren etc.). Meinethalben kann man die Denkfigur durchspielen, dass dieses Buch aber nur eine Wiederholung einer Singularität sei, ein Urtext etc. Aber das macht a) keinen Sinn, weil wir uns alle zum Beispiel auf die Allgemeinheiten von Sprache (ein übersetzter Text; manche haben Französischkenntnisse, andere kennen philosophische Fachbegriffe, können Anspielungen nachvollziehen …) und auf die Allgemeinheit der Diskutierbarkeit, Disputierbarkeit und Lesbarkeit von Ideen beziehen (in jedem Buch steht dasselbe, dieselben Buchstaben …, Treffen – wir hatten eine schöne, Deleuze widerlegende Unstimmigkeit über den Termin –, soziales Verhalten, pädagogisches Verhalten etc.). Als Ereignis, als Wiederholung der Singularitäten wäre die Lesegruppe gar nicht möglich, ja: wir hätten wahrscheinlich nicht einmal Bücher, Texte, Schrift zur Verfügung. Allein die Annahme, dass der Philosoph sein Philosophieren in Singularitäten preisgibt, ist widersinnig: nicht ein anderer Nietzsche zu zitieren wäre denkbar, die Streit um die Bedeutung seiner Figur der Wiederkunft, sondern Nietzsche, Zarathustra und all die anderen könnten gar nicht benannt werden. Da aber kaum vorstellbar ist (auch wenn die bürgerliche Ideologie durchaus spektakuläre Widersinnigkeiten kennt), dass Deleuze vorsätzlich solche, sagen wir mal, groben Fehler in der zugegeben schwierigen Arbeit am Begriff unterlaufen, kann nur ein anderes, nicht rein wissenschaftliches Interesse unterstellt werden. Aber: Kann überhaupt ein Interesse unterstellt werden? Immer wieder die Frage: Was ist Deleuze’ Problem? Es wurde mehrfach darauf insistiert, dass Deleuze politisch sei, Marxist sei (sich selber so nenne), als Kommunist eingreife in die Ereignisse des Mai 68, die KP kritisiere etc. Man mag sich streiten, ob zur marxistischen Theorie die Dialektik gehört oder nicht. Und der erste, der die Dialektik zumindest entmachtete, sie zur Denkweise, zur Widerspiegelung, zum schlechten Positivismus degradierte und enthistorisierte, war: Stalin Seite 17 (dagegen zum Beispiel auch Sartres ›Kritik der dialektischen Vernunft‹). Was aber von der Marxschen Theorie gewiss nicht zu trennen ist, ist ihr Materialismus. Und zwar ihr spezifischer Materialismus, der die »sinnliche Anschauung« (Theorie) in der materiellen Praxis, in der Tätigkeit des Menschen fundiert: Weil der Mensch ein praktisches Wesen ist. Die Praxis ist in ihrer dynamischen Gestalt das, was im emphatischen Sinne »Wirklichkeit« (i.e. das Wirkende, das Durchwirkte, Erwirkte etc.) heißt, das ist die Dialektik von Allgemeinen und Besonderen: die Realität. Ein Reich neben der Realität ist ein Reich ohne Realität. Zum Beispiel das Reich der mathematischen Ideen. Ereignisse, die in der »n-ten Potenz« auftreten. Deleuze behauptet die Potenz, kann aber »n« nicht bestimmen, außer in der Unendlichkeit der Wiederholung. Jedes Ereignis ist in seiner Potenz, seiner Wiederholung mit sich selbst das singuläre Ereignis (das bedeutet ja Potenz: 22 = 2 x 2, und 2n = 2 x 2 x 2 …); die Potenz gibt dem Ereignis nichts zu, ist eben keine Addition. Macht oder Kraft erlangt das Ereignis in seiner Potenzierung, nicht in seiner Potenzialität (bei Deleuze sind diese beiden Worte auch unterschieden: Potenz = puissance, potenzieren = élever à une puissance, aber Potenzialität = potentialité). Aber das Ereignis selbst hat keine Macht oder Kraft (0n = 0). Das Ereignis Einkaufenn ist, zynisch gesagt, von keiner anderen unendlichen Potenz als das Ereignis Auschwitzn . Wenn es einen wesentlichen Unterschied zwischen den Ereignissen gibt, dann eben in ihrem Verhältnis als Besonderheiten zum Allgemeinen. Hegel führt das übrigens alles in der Logik aus. Deleuze hat aber mit diesem Zynismus kein Problem, weil genau das die Ironie bestimmt: die Ironie gegenüber einer Welt, die als Realität verneint wird (also: es ist logisch für Deleuze gar nicht möglich, an dieser Stelle sich doch auf das Reale als das Allgemeine zu beziehen). Deleuze’ Theorie ist mit dem Materialismus, mit einer kritischen Theorie der Praxis nicht vereinbar. Deleuze’ Anschauung ist insofern auch mit der Kritik der Geschichte nichtvereinbar. (Marx, ›Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte‹ – wird mit Hinblick auf »Wiederholung und Geschichte« zitiert.31 Marx wird »philosophisch kahlrasiert«32; s o bekommt der 31 Vgl. Gilles Deleuze, ›Differenz und Wiederholung‹, München 1997, S. 389. Seite 18 historische Materialismus bei Deleuze sein Gesicht verpasst: als die Wiederholung der Geschichte – wie Marx es schon darstellte: das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce.33 – Auch Deleuze’ Interpretation von Nietzsches ewiger Wiederkehr folgt zwar nicht der reaktionären und defätistischen Interpretation, bleibt aber gleichwohl mythisch.34) Deleuze’ Realität ist Mythos, bloße, nämlich »leere« Wiederholung. Es gibt in der materialistischen Theorie, und zwar seit Aristoteles, einen anderen Begriff von Potenz, nämlich den der Potenzialität: als Möglichkeit. Deleuze’ Ereignisse sind »Unmöglichkeiten«, verweisen auf nichts Potenzielles. Sie sind aber auch »Unwirklichkeiten«, weil sie keine Wirkung haben, aus keiner Ursache resultieren. Für die Dialektik des Materialismus, nämlich für den revolutionären Entwurf der Geschichte, ganz wichtig: Dass wirklich ist, was auch möglich ist. Noch einmal: die »n-te« Potenz ist allerdings nur mathematisch möglich und eben nicht wirklich. Als reale Unmöglichkeit ist diese Denkfigur unwirklich. Deleuze kann kein Marxist sein, wenn er kein Materialist ist. Materialismus ist aber für eine Kritik der Moderne nicht akzidentiell. Der Materialismus bezeichnet das materielle Interesse an der materiellen Welt und erweitert damit den Idealismus, der in seiner höchsten Form ein ideelles Interesse an der materiellen Welt hatte. Wenn aber der Materialismus das Interesse an der Welt begründet (vgl. Marxens kategorischer Imperativ, der ja nicht gegen Kants ist, sondern diesen um genau die praktische Dimension der Revolution erweitert, um die Nietzsche ihn formalistisch verengt …), was ist dann das Interesse von Deleuze, wenn er kein Interesse an der Wirklichkeit der Welt hat? Deleuze ist Idealist. Er hat keinen Begriff von Realität und auch keinen realen Begriff von Praxis, sondern behandelt sein Thema als rein 32 Vgl. Gilles Deleuze, ›Differenz und Wiederholung‹, München 1997, S. 14. 33 Vgl. Gilles Deleuze, ›Differenz und Wiederholung‹, München 1997, S. 125. 34 Vgl. Gilles Deleuze, ›Differenz und Wiederholung‹, München 1997, S. 368 ff. Seite 19 theoretisches, abstraktes Problem. Er ist nicht konkret – deshalb seine Nähe zu den Empiristen, auf die er sich mehrfach positiv bezieht. Deleuze ist schlechter Idealist; deshalb steht er dem Materialismus nicht einmal nahe. Deleuze hat ein ideales, wenn nicht sogar ein ideologisches Interesse an der ideellen Welt, an der idealisierten Welt. Ideologisch deshalb, weil vermutet werden kann, dass Deleuze gar kein Interesse hat. Streng genommen dürfte er auch gar kein Interesse formulieren können, denn Inter-esse, Zwischen-Sein, bezeichnet ja ein allgemeines Verhältnis zu Besonderheiten (selbst wenn man hier von Singularitäten spricht, deren Inter-esse eben in Differenz und Wiederholung bestünde, also selbst, wenn man die Singularitäten ontologisiert, ist der Allgemeinbegriff des Seins notwendig). Im Gegensatz zu Adorno: Deleuze beruft sich zwar auf Kritik (was bei ihm nicht mehr heißt als Entscheidung, Scheidung, Teilung, Differenz …), aber nicht auf immanente Kritik. Weder setzt er sich mit zum Beispiel Hegel immanent auseinander, indem er die Hegelsche Logik nachvollzieht, noch lässt er es zu, dass man sich mit ihm selbst immanent auseinander setzt. (Man kann sagen: in Deleuze’ Welt ist immer schon alles auseinandergesetzt, entschieden, entfaltet.) Deleuze ist ungenau. Er arbeitet mit dieser theoretischen, begrifflichen, reflexiven Unschärfe allerdings als Genauigkeit. Das kann er machen, weil seine ›Begriffe‹ nicht Reflexionsbegriffe sind – ihnen liegt keine, im strengen Sinne, Begriffsarbeit zugrunde –, sondern eine Reihe Behauptungen. Zum Beispiel die Hegellektüre: Differenz und Wiederholung sind bei Hegel nichts, was jenseits vom Allgemeinen und Besonderen besteht. Nichts jenseits der Logik. Bei Deleuze werden die Differenz und die Wiederholung zu einem metaphysischen Reiche jenseits dieser Welt erklärt. Schlechte Metaphysik. Es ist Metaphysik genau in dem Punkt, wo dieser Kosmos von Ereignis, Singularität und Universalität Alles, nur keine Metaphysik, zu sein behauptet. Es gibt bei Deleuze keine Solidarität mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes. Auch vor diesem Hintergrund (da es nicht einmal Immanenz im eigenen Kosmos Deleuze’ gibt, bleibt dieser merkwürdige Ereignishimmel, das Reich des Einzigartigen, Singulären: Hintergrund, Projektionsfläche, Seite 20 Oberfläche) ist die Frage von ›Differenz und Wiederholung‹ offen, nämlich unzureichend geklärt. Was es bei Deleuze nicht gibt: das Absolute. Das Absolute kann es nicht geben, weil System, Totalität, Einheit und Widerspruch ausgeschlossen werden. Ohne Allgemeinheit kein Absolutes. Dennoch: Deleuze setzt die Differenz absolut. Das heißt, weil es ja nicht im Hegelschen Sinne das Absolute sein kann, ontologisiert er sie. Damit setzt er die Differenz aber aus der Geschichte heraus. Als ontologisierte Differenz ist sie zeitlos, ewig, universal und singulär (gleichzeitig, zeitgleich, das heißt: für das Singuläre ist die Zeit immer gleich). Auch hier ist der Zeitbegriff von Bergson: heterogene Zeit – im Gegensatz zum homogenen Raum.35 Es ist immer eine Innenwelt, eine monadische Welt (siehe oben zur Frage, was barock ist). Zu Deleuze’ Zeitbegriff gehört das Ereignis, das das Kontinuum unterbricht. Es ist aber keine Dialektik im Stillstand, wie bei Benjamin. Die Probleme der Erinnerung und der Verdrängung bleiben ausgespart. Gerade am Zeitbegriff kann die prekäre Notwendigkeit von Allgemeinheit und Besonderheit dargestellt werden: zum Beispiel in der Reihentechnik der Musik, der Fuge ebenso wie der Zwölftonmusik: Hier geht es ganz explizit nicht um Singuläres. Selbst die indische RâgaTechnik setzt den singulären Ton ins Verhältnis zu anderen Tönen, auch wenn sie sich auf das Singuläre konzentriert. – Die musikalische Figur, die sich ästhetisch im Barock findet und im Pop zur ökonomischen Signatur wurde, ist offenbar für eine utopie- und praxislose Kulturlinke höchst attraktiv. Die Philosophie von ›Differenz und Wiederholung‹ entspricht einem spätbürgerlichen Bewusstsein, welches vor der Wirklichkeit in einen Konservatismus flüchtet, ohne reaktionär erscheinen zu wollen. Deshalb wählt man einen Weg des Fortschritts, der nicht den Prozess der Geschichte vorantreibt, sondern der aus der Geschichte geradewegs herausführt. 35 Es wäre zu diskutieren, ob die Vermutung stimmt, dass man derart die Singularität des zeitlichen Ereignisses behaupten kann, weil es das Allgemeine des umgebenden Raums gibt; und weil es umgekehrt genauso geht. Heidegger hatte mit ›Sein und Zeit‹ ein ähnliches Problem; Deleuze schreibt vielleicht deshalb auch zwei Kino-Bücher …