Abteilung für Klinische Ethik „ethische Werte in der Behandlung von Menschen mit Psychosen“ Zwangsunterbringung und –maßnahmen als Thema in ethischen Fallgesprächen in der Psychiatrie 41. BFLK Jahrestagung „Die Freiheit ist unantastbar?“ Birgit Hahn Montag, 11.04.2016 Abteilung für Klinische Ethik Bedarf an Klinischer Ethik als Reaktion auf einen Wandel • • Individualisierung, Wunsch nach Selbstbestimmung pluralistische Gesellschaft • • Bildquelle: www.wordpress.com Experten – Verantwortung Patienten – Selbstverantwortung medizinischer Fortschritt Gesundheitswesen als hochdifferenziertes und ökonomisiertes System Abteilung für Klinische Ethik Formate der Ethikberatung Klinisches Ethikkomitee Ethische Visiten Ethische Fallgespräche Einzelgespräch, telefonische Beratung … Abteilung für Klinische Ethik Ziele ethischer Fallberatung • • • • • • • • verantwortungsvolle Entscheidungsfindung durch Einbeziehung vieler Perspektiven (Patient und/oder sein gesetzlicher Vertreter, Angehörige, beteiligte Berufsgruppen aus dem stationären und ambulanten Bereich) Aufzeigen ethischer Fragestellungen Eruierung des Patientenwillens Ermittlung von Handlungsoptionen im konkreten Fall Abstimmung der weiteren Behandlung Erarbeitung einer Empfehlung Entlastung des Patienten, der Angehörigen und der Mitarbeitenden Entwicklung einer ethischen Kultur Abteilung für Klinische Ethik Ethische Fallgespräche im Evangelischen Krankenhaus Bielefeld Ethikberatungsdienst: 12 in Ethikberatung ausgebildete Personen (Ärzte, Ethiker, Sozial- und Milieupädagogen, Pflege, Psychologen, Seelsorge) Juristische Verantwortung bei den behandelnden Ärzten und den Patienten bzw. ihren gesetzlichen Vertretern Moderation nach dem „Nimwegener Modell“ bei Bedarf kurzfristige Anberaumung Teilnahme ist freiwillig prospektiv ausgerichtet Dokumentation Evaluation Rückmeldung an das Klinische Ethikkommitee Abteilung für Klinische Ethik Indikationen für ein ethisches Fallgespräch Intuition: Hier stimmt etwas nicht! Unsicherheiten über den Patientenwillen Konflikte zwischen beteiligten Personen Divergierende Wertvorstellungen Juristische Überprüfung Belastungen für Patienten, Team und Angehörige Abteilung für Klinische Ethik Entwicklung der ethischen Fallgespräche (N=371, 2006-2014) Abteilung für Klinische Ethik Einteilung nach Bereich (N=434, 2006-2015) Somatik (Kinder) 18% Psychiatrie (Erwachsene) 19% Somatik (Erwachsene) 63% Abteilung für Klinische Ethik Retrospektive Untersuchung ethischer Fallbesprechungen zu psychiatrischen Patienten Abteilung für Klinische Ethik Ethische Fragestellungen in der Psychiatrie sind z.B: Zwangsbehandlung mit Neuroleptika keine Grenzsituationen am Lebensende – Themen in der Mitte eines Lebens Umgang mit Freiheitsentzug Grenzsetzung bei mangelnder Körperhygiene Zwangsbehandlung von körperlicher (z.B. onkologischer) Erkrankung Fürsorgliche geschlossene Unterbringung Umgang mit dauerhaftem selbstschädigendem Verhalten Zwangsernährung Abteilung für Klinische Ethik Fragestellungen in ethischen Fallgesprächen im psychiatrischen Setting (N=82) Behandlungsauftrag 6% Schweigepflicht 1% Interne Diskussion 2% Kommunikation 2% Patientenwille 6% PEG/PEJ 4% Zwangsmaßnahmen und -unterbringung 35% Selbstgefährdung 12% Therapieintensität 7% Vorgehensweise 5% Therapieziel 18% Abteilung für Klinische Ethik Empfehlungen in ethischen Fallgesprächen im psychiatrischen Setting 1% Behandlungsangebot 5%Beachtung der SchweigepflichtZwangsunterbringung 2% Behandlungsversuch 5% Einfrieren der Therapie 5% Kommunikation 1% Fortführen der Therapie 11% Zwangsmaßnahmen 20% Entlassung 5% keine PEG/PEJ 1% keine Zwangsmaßnahmen 16% Weitere Abklärung/Verlauf abwarten 9% Verlegung 4% Klärung des Patientenwillens 1% palliative Therapie 4% Selbstgefährdung unabwendbar 4% Therapiesteigerung 7% Abteilung für Klinische Ethik Prinzipienethik nach Beauchamp & Childress: Konzepte der Medizinethik sind auch in der Psychiatrie gültig ! 1. Respekt vor der Autonomie des Patienten (respect for autonomy) 2. Schadensvermeidung (nonmaleficence) 3. Fürsorge (maleficence) 4. Gerechtigkeit (justice) Abteilung für Klinische Ethik Konzepte der Medizinethik sind auch in der Psychiatrie gültig !!! Informed Consent → Informierte Zustimmung Selbstbestimmungsrecht Achtung der Autonomie des Patienten Recht auf Krankheit, Recht anders zu sein Behandlungsteam und gesetzlicher Vertreter müssen Patientenwillen beachten (z.B. Patientenverfügung,Behandlungsvereinba rung) Shared decision making → Partizipative Entscheidungsfindung Besonderheit in der Psychiatrie Patienten leiden u.U. an einer Erkrankung, die eine freie Willensbildung beeinträchtigt → Behandlung einer Erkrankung, die u.U. die Autonomie begrenzt Abteilung für Klinische Ethik besondere Achtung der Menschenwürde besondere ethische Themen in der Psychiatrie: Konflikt zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Patienten und der Fürsorgeverantwortung der Profis Durchführung von Zwangsmaßnahmen und Zwangsbehandlungen Abteilung für Klinische Ethik Der ethische Grundkonflikt in der Psychiatrie Ärztl. + pfleg. Maßnahmen bedürfen der Einwilligung der Patienten (sonst: Straftatbestand der Körperverletzung/ Freiheitsberaubung) Balance herstellen zwischen: Leitprinzip „Fürsorge“ Leitprinzip „Autonomie“ der natürliche Wille des Patienten steht im Vordergrund führt aber auch u.U. zum langfristigen Schaden „Wesen, Bedeutung und Tragweite der Maßnahme können im Groben erfasst werden“ „Für und Wider abwägen“ „Wille danach bestimmen“ „therapeutische Beziehung“ Abwehr von Schaden fördert Regression begünstigt die Entscheidung zu Zwangsbehandlungen Abteilung für Klinische Ethik Thematisierung des Konfliktes Autonomie vs. Fürsorge Psychiatrie (N=82) 0,87 Somatik (N=275) 0,13 0,2 0% 10% 0,79 20% 30% thematisiert 40% 50% nicht thematisiert 60% 70% 80% 90% 100% unbekannt Patientenautonomie und Fürsorgeverständnis müssen nicht zwingend kontrovers verlaufen. Möglichkeit der konstruktiven Auseinandersetzung in einem ethischen Fallgespräch. Abteilung für Klinische Ethik Die Bedeutung für die therapeutische Beziehung nach einen bedeutenden Beitrag zu einem möglichen Behandlungserfolg. strument, um die therapeutische Beziehung zu den Patienten zu stärken. trifft voll und ganz zu trifft überhaupt nicht zu trifft eher zu nicht beantwortet 0,73 0,34 0,24 0,51 0,13 trifft eher nicht zu Ethische Fallgespräche können einen Beitrag leisten, die therapeutische Beziehung zu dem Patienten zu stärken oder aufrechtzuerhalten. In ihnen werden die Ansichten der Patienten gewürdigt und auf sie eingegangen. Ethische Fallbesprechungen können demnach auch vertrauenserhaltende bzw. -verstärkende Wirkung erzielen. Abteilung für Klinische Ethik Maßnahmen gegen den Willen von Patienten sind zu vermeiden! „Ethische Konflikte im Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmung und Zwang können wir vermeiden, wenn es uns gelingt, den Patienten zu überzeugen!“ Tilmann Steinert, 2001 Abteilung für Klinische Ethik Falldarstellung Eine Patientin wird seit vier Jahren von einem Team der allgemeinen Psychiatrie behandelt. Ein halbes Jahr nach dem Tod der Mutter erfolgte die erste Einweisung der damals 20-jährigen Studentin der Philosophie und Literaturwissenschaften aufgrund von Erregungszuständen und massiven Ängsten. Die junge Frau hat Angst, selbst zu sterben und hört die kommentierende Stimme ihres Nachbarn. Bei der Entlassung erhält sie die psychiatrische Diagnose „paranoid – halluzinatorische Schizophrenie (F20.0)“, die Diagnose verändert sich im Lauf der Behandlung nicht mehr. Einer längerfristigen Behandlung mit Neuroleptika steht die Patientin im gesamten Behandlungsverlauf ambivalent gegenüber. Nach Einstellungsversuchen mit unterschiedlichen Neuroleptika findet sie dabei ein Medikament, welches ihr Entlastung von psychotischen Symptomen bringt. Allerdings verursacht dieses Neuroleptikum extreme Müdigkeit bei der Patientin, deshalb setzt sie es auch immer wieder ab. Die Patientin hat nach der ersten Behandlungsepisode das Studium nicht wieder aufnehmen können. Sie lebt sehr isoliert und hat kaum noch Kontakt zu ihrer Familie. Es kommt zu häufigen Aufnahmen aufgrund von Erregungszuständen, wegen derer die Patientin schließlich wohnungslos wird. In der nun langfristig gemeinsam geplanten Behandlung mit dem Ziel der Perspektivklärung kommt es immer wieder zu Erregungszuständen mit einerseits suizidalen Äußerungen, aber auch zu fremdgefährdenden Handlungen. Abteilung für Klinische Ethik Wie sollte weiter vorgegangen werden? Welche Behandlungsentscheidungen sind zu treffen? Abteilung für Klinische Ethik Ethisches Fallgespräch Zwangsbehandlung steht im Raum – Überlegung eines ethischen Fallgesprächs Abteilung „Klinische Ethik“ übernimmt i.d.R. Moderation und Protokoll. Fallgespräch nach der „Nimwegener Methode“ Patientin wurde dazu eingeladen – entschied sich gegen die Teilnahme. Der Blickwinkel aller Beteiligten fließt in die Bewertung ein – der Mensch wird in vielen (allen) Dimensionen wahrgenommen. Weltanschauung und Werte des Patienten werden respektiert. mögliche Konsensbildung am Gesprächsende Abteilung für Klinische Ethik Ethische Fragestellung im dargestellten Fall „Kann dem selbstbestimmten Willen der Patientin in der Wahl der neuroleptischen Medikation weiter gefolgt werden? Muss eine dauerhafte Medikation als auch eine andere Wahl des Medikaments auch gegen der natürlichen Willen der Patientin erfolgen?“ Abteilung für Klinische Ethik Respekt vor der Autonomie und Selbstbestimmtheit der Patientin ethische Werte, die in der Diskussion eine Rolle spielten: Schutz und Fürsorge für die Patientin Schutz und Fürsorge für andere Patienten und Mitarbeiter Bewertung der therapeutischen Beziehung Wert des Nicht-Schaden-Wollens Abteilung für Klinische Ethik Pro – Argumente: durch einen Wechsel des Medikaments können die Symptome möglicherweise besser beeinflusst werden. keine Behandlungsoption vorenthalten Schutz vor weiterer Gefährdung und Chronifizierung Abteilung für Klinische Ethik Zwangsbehandlung wäre extrem demütigend Destabilisierung durch Verlust der Psychoseinhalte Contra – Argumente: subjektiv geeignetes Medikament gefunden Ein Nutzen ist nicht sicher zu erwarten. Veränderungsbereitschaft ist zu beobachten. Zerstören von Sicherheit und Vertrauen Abteilung für Klinische Ethik Beratung zu einem Medikamentenwechsel Konsens der Ethikberatung: weitere Unterstützung der Patientin im Krankheitsverstehen und Finden von Bewältigungsstrategien keine Zwangsbehandlung mit einem anderen Neuroleptikum Abteilung für Klinische Ethik Zwangsbehandlung Zwangsweise Unterbringung und Behandlung bedürfen einer medizinischen (pflegerischen) rechtlichen ethischen Rechtfertigung ZEKO*: „Eine klinische Ethikberatung kann bei der Entscheidung über eine Zwangsbehandlung Unterstützung geben.“ DGPPN**: Klinische Ethikberatung trägt zur Reduzierung von Zwangsmaßnahmen bei. * Stellungnahme der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) bei der Bundesärztekammer: Zwangsbehandlung bei psychischen Erkrankungen (2013) ** Achtung der Selbstbestimmung und Anwendung von Zwang bei der Behandlung von psychisch erkrankten Menschen Eine ethische Stellungnahme der DGPPN. (2014) Abteilung für Klinische Ethik Bedeutung für die therapeutische Beziehung „Also meine Erfahrung ist, dass ein ethisches Fallgespräch die Beziehung zu dem Patienten stärken kann, mit allen, wo wir das [ethische Fallberatung mit psychiatrischen Patienten] gemacht haben. Die Patienten haben es als transparent erlebt, auch als hilfreich oder als Wertschätzung, dass man sich so viele Gedanken macht, auch ein Beeindrucken, dass so viele Facetten angesprochen werden.“ (Pfleg. Stationsleitung, 2012) Abteilung für Klinische Ethik Bedeutung für die therapeutische Beziehung „So kann ein ethisches Fallgespräch sicher auch die therapeutische Beziehung zu dem Patienten stärken, weil der Patient auch die unterschiedlichen Meinungen sieht, die auf der Station herrschen und dass er selbst in seinen Äußerungen auch ernst genommen wird, das alles stärkt mit Sicherheit die therapeutische Beziehung zu dem Patienten. Auch dass er sieht, so viele Menschen setzen sich mit mir hin und überlegen mit mir, wie es mit mir weitergehen kann.“ (Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, für psychosomatische Medizin und für forensische Medizin, 2012) Abteilung für Klinische Ethik Ethische Fallgespräche mit Patienten in der Psychiatrie Einbeziehung in den Prozess wird von Patienten als wertschätzend erlebt. Ethische Entscheidungsfindung aufgrund vielfältiger Perspektiven (auch Pat. - Perspektive) Der Mensch wird in vielen Dimensionen wahrgenommen. Ethische Fallgespräche mit Patientenbeteiligung können dazu beitragen, die therapeutische Beziehung zu stärken. Zwang sollte vermieden werden – Überzeugung der Patienten !!! Patientenautonomie und Fürsorge (ethischer Grundkonflikt in der Psychiatrie) müssen nicht zwingend kontrovers verlaufen. Klinische Ethikberatung trägt zur Reduzierung von Zwangsmaßnahmen bei. Abteilung für Klinische Ethik Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit !!!