Kurzfassung zum Vortrag

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aus der Veranstaltungsreihe Feminismus in Theorie und Praxis
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ARBEITS- UND GESCHLECHTERVERHÄLTNISSE IM WANDEL?
Do. 27. September 2012 , 18.00 – 20.00 Uhr
Vortrag
„Gesellschaftliche Widersprüche – Zumutungen im Arbeitsensemble von Frauen –
soziale Spannungen in ihrem Alltagsleben“
von REGINA BECKER-SCHMIDT
„Gesellschaftliche Widersprüche – Zumutungen im Arbeitsensemble von Frauen – soziale Spannungen in ihrem Alltagsleben“
1. EINSTIEG
Wenn wir danach fragen, warum Frauen bis heute in vielen sozialen Bereichen gegenüber
Männern benachteiligt sind, so stoßen wir auf die Geschichte der Arbeit. Seit der Moderne
gilt sie vor allem in ihren marktvermittelten Formen als zentrales Medium der Vergesellschaftung. Für die Mehrheit der Bevölkerung wird mit der Durchsetzung kapitalistischen Wirtschaftens Lohnarbeit zum entscheidenden Existenzmittel, was bedeutet, dass diejenigen, die sich
auf dem Arbeitsmarkt nicht behaupten können, schnell an den Rand der Gesellschaft geraten. „Arbeit“, die keinen Marktwert hat, gilt nicht viel in einem Sozialgefüge, in der eine gewinnorientierte Wirtschaft ganz oben in der Hierarchie der gesellschaftlichen Sphären steht.
In einer solchen Vorherrschaft der Marktökonomie steckt ein Paradox, das Frauen in besonderer Weise trifft. Aus dem Blick geraten nämlich jene sozialen Praxen, die für das Gemeinwesen zwar unabdingbar sind, die aber nicht auf dem Markt in Erscheinung treten und damit
aus der Geldwirtschaft herausfallen. Zu solchen Praxen gehören Hausarbeit und die psychosoziale Versorgung von Angehörigen, die private Betreuung des Nachwuchses und ehrenamtliche Tätigkeiten, die umsonst geleistet werden. Sie alle sind für das Wohlergehen einer
Bevölkerung ebenso notwendig wie die Bereitstellung von Waren und öffentlichen Dienstleitungen. Sie haben jedoch in einer auf Profit ausgerichteten Leistungsgesellschaft ein geringeres Gewicht als jene, die in die Geldwirtschaft eingebunden sind. Unter ihrem Regime gilt
der Erhalt von Leben und Lebensmöglichkeiten nicht als „produktiv“, d.h. mehrwertschöpfend. Er wird darum mit dem Etikett „nur reproduktiv“ versehen und unterschätzt. Für Arbeiten dieser Art gibt es keine ihrer sozialen Bedeutsamkeit angemessenen Gratifikationen.
Die Hierarchisierung von bezahlten und unbezahlten Arbeitsformen geht in vielfacher Weise
zu Lasten von Frauen. Da ihnen im Vergleich zu Männern ein größeres Maß an Haushaltpflichten und care work aufgebürdet wird, sie zudem häufiger unentgoltene gemeinnützige
Aufgaben übernehmen (vgl. Notz: 2004), leisten sie durchschnittlich mehr unbezahlte Arbeit
als das andere Geschlecht. Dazu kommt, dass ihr Anteil an der gesellschaftlichen Gesamtarbeit nicht nur umfangreicher, sondern auch vielschichtiger und kontrastreicher ist. Die
Mehrzahl der Frauen kombiniert Aufgaben im Privatbereich und Erwerbsarbeit, ohne dass
sie bei diesem Balanceakt ausreichende gesellschaftliche Unterstützung finden. Das hat
Konsequenzen.
Die gleichzeitige Bewältigung von familienbezogenen und marktvermittelten Praxen, in denen unterschiedliche Logiken herrschen, impliziert Konflikte und Spannungen, die nicht allein
auf das täglich zu bewältigende Arbeitspensum zurückzuführen sind. Bei dem Wort „Doppelbelastung“ ist vielmehr mitzubedenken, dass Frauen im Wechsel der Arbeitsplätze mit Umstellungsproblemen und unvereinbaren Verhaltensanforderungen konfrontiert sind. Das impliziert neben physischem Kräfteverschleiß psychischen Energieaufwand, dem Männer in der
Regel nicht in gleicher Weise ausgesetzt sind. Darauf komme ich zurück.
Regina Becker-Schmidt
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„Gesellschaftliche Widersprüche – Zumutungen im Arbeitsensemble von Frauen – soziale Spannungen in ihrem Alltagsleben“
Wir werden genauer zu untersuchen haben, wie die konflikthaltige Integration von Frauen in
die Erwerbs- und Familienarbeit mit der Organisation der gesellschaftlichen Gesamtarbeit
zusammenhängt. Der Begriff der doppelten Vergesellschaftung von Frauen und die theoretische Konzeption ihres Arbeitsensembles (vgl. Becker-Schmidt 2002:41f., 2007:262ff.) sind
Schlüsselkategorien für eine solche Analyse.
2. „DOPPELTE VERGESELLSCHAFTUNG VON FRAUEN“: ZUR
SOZIAL PRODUZIERTEN KONFLIKTSTRUKTUR VON
FREIWILLIGKEIT UND SOZIALEM ZWANG
Das Theorem von der „doppelten Vergesellschaftung“ wurde mit dem Anspruch formuliert,
Licht in die widersprüchliche Art und Weise zu bringen, in der Frauen in häusliche und
marktvermittelte Arbeitsverhältnisse eingebunden sind (vgl. Becker-Schmidt 1987, 2004;
Knapp 1990).
Die Reservierung des Begriffs „doppelte Vergesellschaftung“ für Frauen ist erklärungsbedürftig. Denn auch Männer bewegen sich in privaten und beruflichen Sphären: Sie gehen in der
Regel einer Tätigkeit im Beschäftigungssystem nach und gründen Familien, und beide Institutionen stellen Anforderungen an sie. Aber sind sie in gleichem Maße in die Aufrechterhaltung privater Lebenswelten eingespannt wie Frauen? Übernehmen sie ebenso häufig Dienstleistungen in der Pflege, im Kindergarten, in Altersheimen – Tätigkeiten, die immer noch als
hausarbeitsnah bzw. „typisch weiblich“ gelten und entsprechend schlecht entlohnt werden?
Auf der Suche nach Antworten auf solche Fragen werden wir uns ausführlicher mit dem Begriff „doppelte Vergesellschaft“ beschäftigen müssen.
Er besagt zunächst einmal zweierlei. Zum einen verändern sich die Lebenslaufmuster von
Frauen, für die sich im Zuge der Industrialisierung, der Ausweitung des Dienstleistungssektors und besserer Ausbildungsmöglichkeiten neue Chancen auf dem Arbeitsmarkt eröffnen.
In ihrer Sozialisation taucht neben der Ausrichtung auf eine Familiengründung eine zweite
Perspektive auf, nämlich die, eine Erwerbstätigkeit anzustreben. Diese Doppelorientierung
sorgt in ihrer Lebensplanung für Konflikte. Alte Weiblichkeitsbilder kollidieren mit neuen Vorstellungen von der „modernen Frau“ und tradierte Leitbilder von geschlechtlicher Arbeitsteilung in der Familie werden für Frauen brüchig, ohne dass sie jedoch in der herkömmlichen
Ehe die Macht hätten, diese grundlegend zu verändern.
Der Wunsch, Heim und Kinder zu haben, und der Anspruch, einer Berufstätigkeit nachzugehen, disharmonieren, wenn – trotz des stetigen Anstiegs weiblicher Beschäftigter an der Erwerbsbevölkerung – weiterhin die Vorstellung herrscht, dass vorrangig Frauen für Hausarbeit
und Nachwuchsbetreuung in die Pflicht zu nehmen sind. Die ihnen von der gesellschaftlichen
Entwicklung eröffnete Option, ihren Biographieverlauf zweipolig anzulegen, wird konterkariert
Regina Becker-Schmidt
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„Gesellschaftliche Widersprüche – Zumutungen im Arbeitsensemble von Frauen – soziale Spannungen in ihrem Alltagsleben“
durch die Zumutung, für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf selbst Sorge tragen zu
müssen.
Das setzt Frauen – anders als Männer – immer wieder unter Entscheidungszwang: Was soll
Vorrang haben – Kinderversorgung oder Erwerbstätigkeit, die Karriereambitionen des Ehemannes oder die eigenen, die Bedürfnisse der Angehörigen nach psychosozialer Unterstützung oder die Möglichkeit größerer Selbständigkeit und eigenständiger Existenzsicherung
durch entlohnte Arbeit? Auch Männer, die kein Singledasein führen wollen, müssen in ihrer
Berufsplanung damit rechnen, dass sie einmal heiraten werden und auch, dass sich Nachwuchs einstellt. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie in ihrer biographischen Orientierung, die
traditioneller Weise vorrangig auf den Werdegang im Erwerbsleben fokussiert ist, eine Richtungsänderung vornehmen müssen. Im Gegenteil: Familienplanung kann bei ihnen die Anstrengungen verstärken, Arbeitsmarktchancen zu verbessern und alles zu tun, um sie zu
verstetigen (vgl. hierzu Krüger 1995: 206ff.).
Frauen dagegen müssen antizipieren, dass ihre Berufstätigkeit sehr wahrscheinlich durch
Familienphasen Unterbrechungen erfährt. Angesichts von Geburten, Zeiten der Kinderbetreuung oder häuslicher Pflegefälle, die erzwingen, im Haushalt präsent zu sein, gestalten
sich ihre Erwerbsverläufe diskontinuierlicher, was häufig Karriereknicks zur Folge hat. Es
sind eher die Ehefrauen, die zuhause bleiben, wenn ein Versorgungsengpass in der Familie
auftaucht. Sie halten ihren Lebenspartnern häufiger den Rücken frei für deren berufliche Interessen – umgekehrt ist das seltener der Fall. Das lässt sich z. B. an der geringeren Zahl
von Vätern im Vergleich zu Müttern ablesen, die Elternzeit in Anspruch nehmen und sich für
eine gewisse Zeit von beruflichen Verpflichtungen freistellen lassen.
Zum zweiten besagt „doppelte Vergesellschaftung“, dass Frauen zwei unterschiedlichen und
gegeneinander widersprüchlich strukturierten Praxisbereichen zugehören. Die Aufspaltung
der gesellschaftlichen Gesamtarbeit in markvermittelte oder öffentliche Tätigkeitsbereiche
und solche, die im Privaten angesiedelt sind, schlägt sich im Alltag von Frauen als Spagat
zwischen zwei Sphären nieder, die in ihren jeweiligen Beanspruchungsprofilen, inhaltlichen
Orientierungen, Verkehrsformen und Anforderungen im Umgang mit Zeit erheblich von einander abweichen. Frauen leiden nicht nur unter dem täglichen Arbeitspensum, das ihnen
obliegt, ihnen machen darüber hinaus die Diskrepanzen zu schaffen, die sie austarieren
müssen, wenn sie sich zwischen dem häuslichen Arbeitsplatz und dem des Gelderwerbs hin
und herbewegen. So sind zum Beispiel beim Nachhausekommen betriebliche Umgangsformen auf das Familienklima umzustellen, es gilt Fortsetzungsverhalten zu stoppen, routinisierte Handlungsabläufe im Haushalt fahren zu lassen, wenn spontane Bedürfnisse der Angehörigen Improvisation erforderlich machen. Und umgekehrt werden „im Dienst“ Disziplinierungen eingefordert, die sich aus den beruflichen Leistungsnormen, dem Konkurrenzdruck
und der marktförmiger Zeitökonomie ergeben. Und das bedeutet, die Familie hinter sich zu
lassen, wenn die Berufsarbeit beginnt.
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„Gesellschaftliche Widersprüche – Zumutungen im Arbeitsensemble von Frauen – soziale Spannungen in ihrem Alltagsleben“
Und dennoch: Frauen wollen ihr Arbeitsvermögen nicht nur in den Privatbereich einbringen;
für sie ist es ebenso wichtig, sich in öffentlichen Sektoren zu bewähren. Sie können weder
von einer bezahlten Tätigkeit ablassen, die größere Unabhängigkeit und mehr Lebensqualität verspricht, noch ist für viele von ihnen vorstellbar, auf eine Paarbeziehung mit Kindern zu
verzichten – auch wenn das bedeutet, berufliche Wünsche zurücknehmen zu müssen. Das
heißt: Frauen stecken in einer Zwickmühle. Beides – Familienarbeit und Geldverdienen –
impliziert häufig Überforderung; sich eines von beidem zu versagen, das Gefühl der Unterforderung.
Es wäre jedoch nur die halbe Wahrheit, den Entschluss von Frauen, einer marktvermittelten
Beschäftigung trotz Familienbindung nachzugehen, allein auf subjektive Bedürfnisse nach
vielfältigen Erfahrungen und Entfaltungsmöglichkeiten zurückzuführen. Für die Aufnahme
einer Berufstätigkeit gibt es einen gewichtigen objektiven Grund. Von einem Verdienst kann
die Mehrzahl der Familien nicht leben – weibliche Erwerbsarbeit war und ist für deren Existenzsicherung von Nöten. Und die Ehe ist immer weniger eine Garantie dafür, lebenslang
abgesichert zu sein. So müssen Frauen widerstreitende Gefühle austarieren, die sich aus
dem Pro und Kontra in jedem ihrer Tätigkeitsfelder ergeben. Sie machen im Wechsel ihrer
Praxisfelder die Erfahrung, dass ihnen in der Familie etwas fehlt. was sie im Berufsleben
suchen: Bezahlung, Anerkennung, Kopperation und den Einsatz von anderen Kompetenzen,
als jenen, die zuhause abgerufen werden. Und umgekehrt bekommen sie zu spüren, woran
es im Erwerbsleben mangelt – an Beziehungen der Nähe, an Möglichkeiten, die Arbeit selbst
zu organisieren und ihr einen persönlichen Sinn zu geben. So sind sie gefordert, sich mit der
Zweischneidigkeit des Hausfrauendaseins ebenso auseinander zu setzen, wie mit der Überlastung als berufstätiger Familienversorgerin. Nur so können sie den Defiziten in einer Praxis
durch die Pluspunkte in der anderen begegnen.
3. GESCHICHTLICHE STRUKTURVORGABEN DER DOPPELTEN
VERGESELLSCHAFTUNG VON FRAUEN UND IHRE GESELLSCHAFTLICHEN FOLGEN
Die Zwickmühle, in der Frauen stecken, wenn sie sich weigern, mit einer halbierten Teilhabe
an der sozialen Welt vorlieb zu nehmen, ist ein Produkt problematischer gesellschaftlicher
Entwicklungen. Ein kurzer Blick in die Geschichte soll das deutlich machen.
Im 19ten Jahrhundert lassen sich in Deutschland Umbrüche in der Sozialordnung festmachen, die zu den benannten Arbeitsbelastungen und Formen der Ungleichbehandlung von
Frauen führen.
In diesem Zeitalter bilden sich die sozialen Prozesse heraus, welche die gesellschaftliche
Stellung von Frauen und Männern bis heute maßgeblich beeinflussen. In der bürgerlichen
Gesellschaft verändern sich im Zuge der Industrialisierung Wirtschaftsweisen, BesitzverhältRegina Becker-Schmidt
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nisse, Familien- und Arbeitsformen sowie Geschlechterordnungen. Die Gliederung der Bevölkerung als ganze wird transformiert – die Klassengesellschaft entsteht.
Die Durchsetzung neuer industrieller Produktionsweisen geht mit einer Auflösung der Hauswirtschaft einher. Marktökonomie und Geldwesen werden zu den beherrschenden Merkmalen der industriell-bürgerlichen Gesellschaft: „Nicht mehr die Erwirtschaftung eines Mehrprodukts unter vorwiegend agrarischen oder handwerklichen Bedingungen bei wenig Warenund Geldwirtschaft sind ausschlaggebend für den Familienerhalt. In der bürgerlichen Sozialordnung geht es vielmehr um die Erzeugung eines Mehrprodukts in Waren- und Geldform“
(Beer 1990, 152ff.). Für die Mehrheit der Bevölkerung wird abhängige Lohnarbeit zum Existenzmittel.
Fabriken, Dienstleistungsbetriebe, Unternehmen sind in öffentlichen Räumen angesiedelt,
was bedeutet, dass für die Beschäftigten Familienleben und Erwerbsarbeit an getrennten
sozialen Orten stattfinden. Damit verändern sich Vorstellungen von der Institution „Familie“.
Sie wird im kulturellen Selbstverständnis dieser Zeit zu einem Privatraum, der die Kälte der
Geschäftwelt abschirmen und dem Raubbau an Arbeitskraft in der Erwerbssphäre Einhalt
gebieten soll. Für Frauen stimmt dieses Bild von der heilen Welt in den eigenen vier Wänden
selten mit der Realität überein: Frauen erfahren nicht nur draußen, sondern auch im häuslichen Bereich sexuelle Gewalt, sie sind der Bevormundung durch den Ehemann unterworfen
und einer ungleichen geschlechtlichen Arbeitsteilung ausgesetzt. Mit der Etablierung der
Geldform als Mittel der sozialen Anerkennung von Arbeit verliert Hausarbeit im gesellschaftlichen Bewusstsein an Bedeutung. Sie verschwindet im Privaten, die unter dem Aspekt der
herrschenden Ökonomie nichts zur Volkswirtschaft beiträgt. Der Begriffs „Vergesellschaftung“, soweit er auf den Prozess der Integration von sozialen Sektoren ins arbeitsteilige Gesamtgefüge abzielt, erfährt in dieser Perspektive eine prekäre Einschnürung: in erster Linie
bezieht er sich auf die marktförmigen Kreisläufe in der Gesellschaft; Lebenswelten wie die
Familie werden dagegen der Privatsphäre zugerechnet, die als von der Öffentlichkeit abgespaltener Arkanbereich betrachtet wird. Öffentlichkeit und Privatsphäre sind jedoch wechselseitig aufeinander angewiesene Bestandteile des historisch entstandenen Ganzen: das
eine gibt es nicht ohne das andere.
Die Polarisierung und Hierarchisierung von Privatem und Öffentlichem tangiert die Bewertung von Frauenarbeit. Die Hausfrau, die früher in vielen Familienbetrieben mitgewirtschaftet
hat, wird zur „Nur-Hausfrau“. Nimmt sie eine Erwerbstätigkeit auf, steht ihr allenfalls die Rolle
der Zuverdienerin zu. Umgang mit Geld ist Männersache und als Hauptverdiener gilt der
Hausherr.
In allen Schichten der Gesellschaft setzt sich ein Familienmodell durch, in welchem der
Ehemann das Familienbudget bestreitet und die Frau Haushalt und Kinder versorgt. Diese
Form der geschlechtlichen Arbeitsteilung herrscht nicht nur in gutsituierten bürgerlichen Bevölkerungsgruppen vor, es wird auch zum Leitbild von Interessenvertretungen des Mittelstandes und der Lohnabhängigen: „Sie waren alle am Transfer der geschlechtsspezifiRegina Becker-Schmidt
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schen Arbeitsteilung, die seit alters her das in Zünften organisierte Handwerk, den Bergbau
und die Metallverarbeitung prägte, in die moderne Gesellschaft interessiert und beteiligt“
(Mantl 2006: 239).
Dass in erster Linie der Mann auf dem Arbeitsmarkt die monetären Mittel beschafft, mit denen der Haushalt finanziert wird, die Frau dagegen die Verantwortung für dessen Funktionieren zu übernehmen hat, dient der Sicherung einer männerbündischen Privilegienstruktur.
Klassenübergreifend wird dem Ehemann im bürgerlichen Gesetzbuch bis in die zweite Hälfte
der 1970er Jahre hinein das Recht zuerkannt, die Aufnahme einer bezahlten Arbeit seiner
Ehefrau zu verbieten, wenn er meint, dass vertrüge sich nicht mit ihren Familienpflichten (vgl.
Beer, a.a.O., 168ff.). 1
Im Zuge der Industrialisierung kommt es zu einem massiven Versuch, Frauen aus Arbeiterfamilien unter Verweis auf ihre Hausfrauenrolle vom Arbeitsmarkt fern zu halten. Als sie
massenhaft in den Fabriken Lohnarbeit aufnehmen, wird für die damaligen Sozialpolitiker die
Frage nach der Vereinbarkeit von häuslicher und außerhäuslicher Arbeit zur „Frauenfrage“.
Dabei geht es aber gar nicht in erster Linie um die Probleme erwerbstätiger Frauen, sondern
um die Erhaltung der tradierten geschlechtlichen Arbeitsteilung in der Familie und um die
Eindämmung weiblicher Konkurrenz auf dem Feld „Industriearbeit“ (vgl. Hausen 1978). In
dieser Sicht der Dinge gibt es eine Übereinstimmung zwischen männlichen Hegemonieansprüchen auf dem Arbeitsmarkt und in der Familie und den Interessen von Kapitaleignern,
welche sowohl von der Reproduktion der Ware Arbeitskraft durch die unbezahlte Hausarbeit
von Frauen profitieren als auch von einer weiblichen Reservearmee, die sich kostengünstig
und flexibel in den Betrieben einsetzten lässt.
Widerstand gegen „weibliche Erwerbstätigkeit“ erfahren Frauen von Seiten der staatlichen
Sozialpolitik, die den Niedergang der Familie und vor allem die Verwahrlosung von Kindern
befürchtet, und von Seiten der Ehemänner, die nicht zur Hausarbeit herangezogen werden
wollen. Aber die Frauen aller Schichten lassen sich nicht mehr vom Arbeitsmarkt vertreiben.
Die Aufnahme einer entlohnten Beschäftigung bezahlen sie allerdings mit einem Kompromiss: Sie vermögen ihre Erwerbsarbeit nur durchzusetzen, wenn sie ihre Ehepartner davon
überzeugen, dass der Haushalt trotz ihrer Marktgängigkeit reibungslos läuft (vgl.
Born/Krüger/Lorenz-Meyer 1996: 215ff.)
Helga Krüger hat in ihrer Biographieforschung herausgearbeitet, dass frauendiskriminierende
Ungleichheitslagen durch eine Verkettung von institutionalisierten Formen geschlechtlicher
Ungleichbehandlung zustande kommen. Disparitäre Arbeitsteilung zwischen Frauen und
Männer ist nicht auf die Familie zu beschränken. Die nichtegalitäre Verteilung von Hausarbeit zwischen den Geschlechtern erscheint vielmehr als Ausgangspunkt für weitere Formen
der Frauenbenachteiligung. Dieses Arrangement wirkt sich nämlich in vielfältiger Weise auf
die Erwerbschancen von Frauen aus. Die gesellschaftliche Unterschätzung der sogenannten
reproduktiven Hausarbeit färbt auf die Erwerbstätigkeiten von Frauen ab. Als „weibliche“ sind
1
Dieses Verdikt wird in Österreich 1976, in Deutschland 1967 gesetzlich außer Kraft gesetzt.
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sie per se weniger Wert als männliche. So verdienen Frauen weniger, auch wenn sie von der
Qualifikation her das gleiche leisten wie ihre Kollegen. Hier kommt die Vorstellung vom
männlichen bread-winner zum Zuge, dem mehr Entgelt zukommt, weil er die Familie ernährt.
Zum zweiten gelten Frauen wegen ihrer Familienbindung im Erwerbssystem als weniger verfügbar – deswegen scheint es im Sinne dieser Fehleinschätzung besser, sie der Vereinbarkeit von zwei Arbeitsplätzen zuliebe in Teilzeitjobs einzusetzen.
So schaffen engendering-Prozesse im Beschäftigungssystem Segregationslinien, die zur
Privilegierung der Arbeiternehmer führen. Die Nachrangigkeit von Frauen auf dem Arbeitsmarkt zieht eine weitere gesellschaftliche Schlechterstellung nach sich. Geringere Entgelte
schwächen die Chance, die eigene Existenz durch Ansprüche an Sozialleistungen zu sichern
und bei Erwerbsarbeitslosigkeit und im Alter nicht von staatlicher Fürsorge abhängig zu werden (vgl. Krüger 1995: 195-219; 2001: 63-90).
Es lässt sich eine Zwischenbilanz ziehen: Die Verkettung von Formen geschlechtlicher Ungleichbehandlung in der Verteilung von unbezahlter und bezahlter Arbeit hat zur Folge, dass
sich in der Biografie von Frauen Diskriminierungen aufschaukeln. In der Akkumulation von
Ungleichbehandlungen drücken sich die vielfachen frauendiskriminierenden Benachteiligungsstrukturen aus, die das Geschlechterverhältnis markieren. Es ist die Überlappung
höchst unterschiedlicher institutioneller Zugriffe auf die Praxen von Frauen, die eine ungleichgewichtige Distribution von sozialen Teilhabechancen zwischen den Geschlechtern
bewirkt. Dabei entwickelten sich Dynamiken, in denen Tendenzen, herkömmliche Geschlechterrollen hinter sich zu lassen, durch deren Retraditionalisierung wieder geschwächt
werden. So können Geschlechterklischees, die in einem sozialen Bereich, etwa in privaten
Lebenswelten, an Bedeutung verlieren, unter dem Anpassungsdruck von Geschlechterregimen in anderen Sphären (etwa im Berufssystem) wieder verhaltensrelevant werden.
Was in der gesellschaftlichen Strukturierung ermöglicht die Verflechtung von asymmetrischen Geschlechterarrangements? Wie kommt es, dass sich in verschiedenen Institutionen
– so als hätten sie sich untereinander abgestimmt – in Anlehnung an die geschlechtliche
Arbeitsteilung in der Familie engendering-Prozesse durchsetzten?
Institutionen beziehen ihre Durchsetzungskraft von der Macht der gesellschaftlichen Sektoren, in denen sie verortet sind. Das gilt auch für die Funktionalisierung sozial produzierter
Geschlechterdifferenzen in betrieblichen Strategien des Arbeitseinsatzes, in sozialstaatlichen
Programmen wie in kulturellen Medien. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Hierarchisierung von „Frauen-“ und „Männerarbeit“ und der gesellschaftlichen Rangordnung von
Sozialbereichen: Den Sphären der Öffentlichkeit (Märkte, Arenen des Politischen und kulturelle Foren) wird mehr gesellschaftliches Gewicht zuerkannt als den privaten Lebenswelten.
In den genannten sozial einflussreichen Bereichen sind Männer dominant, während Frauen,
auch wenn sie erwerbstätig sind, eher die sozial unterschätzten häuslichen Praxen repräsentieren. Männer haben somit mehr Möglichkeiten in Machtbereichen präsent zu sein, ihre Privilegien öffentlich zu propagieren und zu verteidigen.
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„Gesellschaftliche Widersprüche – Zumutungen im Arbeitsensemble von Frauen – soziale Spannungen in ihrem Alltagsleben“
Die genderbezogene Verteilung von unbezahlter und bezahlter, von gesicherter und ungesicherter, von hochdotierter und minder honorierter Arbeit bestimmt nicht nur maßgeblich
nicht-egalitäre Konfigurationen von Geschlechterarrangements, sondern auch die soziale
Strukturierung der Gesellschaft insgesamt: die Organisation des Geschlechterverhältnisses
schlägt sich dort ebenso nieder, wie gesellschaftliche Verhältnisse, die geschlechtliche
Gleichheitsrechte verletzen, Einfluss auf die Stellung von Frauen und Männern im sozialen
Ganzen nehmen (vgl. Becker-Schmidt 2004: 219f., 2007a: 261).
Eine neue Dimension im Konzept der doppelten Vergesellschaftung von Frauen wird sichtbar, wenn wir die Intersektionalität von Geschlecht, Klasse und Ethnizität berücksichtigen.
Soziale Teilhabechancen von Frauen hängen zum einen von ihrer Stellung im Geschlechterverhältnis, zum anderen von ihrer Klassenzugehörigkeit bzw. von ihrem Migrationshintergrund ab. Ihre gesellschaftliche Benachteiligung hat also einen doppelten Bezugspunkt –
Geschlecht und Klasse/Ethnizität. Das trifft für Männer in dieser Weise nicht zu. Sie werden
weder in der Familie, noch im Erwerbsleben noch in anderen öffentlichen Zusammenhängen
wegen ihres Geschlechts sozial benachteiligt. Sie erfahren zwar innerhalb männlicher Hierarchien gesellschaftliche Ungleichbehandlung als Angehörige nicht-herrschender Klassen
oder als Zugehörige zu Minderheiten, die Fremdenfeindlichkeit auf sich ziehen. Soziale Angriffe drohen Männern, wenn sie homosexuell sind – also gerade, wenn sie nicht den normierten Männlichkeitskonzepten entsprechen. Ihr soziales Geschlecht an sich ist dagegen
kein Kriterium für soziale Benachteiligung. Sie profitieren vielmehr von geschichtlich tradierten sozialen Geschlechterordnungen, in denen „Maskulinität“ höher bewertet wird als „Femininität“. Während Praxen von Frauen häufig durch abwertende Weiblichkeitsklischees in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung heruntergespielt werden, haben Bilder von Männlichkeit
und Männerarbeit – sieht man einmal von Standesdünkel oder kulturellen Vorurteilen ab –
diese negative Wirkung eher selten. „Maskulinität“ ist ein Statussymbol, das sich der Legitimierung entzieht. Das tangiert das androzentrische Selbstbewusstsein wenig. Der männliche
Masterstatus soll sich einzig und allein auf Überlegenheit und größeres Leistungsvermögen
gründen.
Die Intersektionalität von Geschlecht und Klasse/Ethnizität ist offensichtlich ein soziales
Phänomen, welches in der Ausbildung von frauendiskriminierenden Ungleichheitslagen virulent ist. Das wird sich im Folgenden zeigen.
4. „GESCHLECHT“ UND „POLITISCHE ÖKONOMIE“ IM
NEOLIBERALEN KAPITALISMUS
Kapitalistisches Wirtschaften hat sich in den letzten Jahrzehnten entscheidend verändert.
Erwerbsarbeit, Bildung, Kultur und private Lebensformen werden immer stärker nach Zielen
einer neoliberalen Marktpolitik ausgerichtet, die mehr an schrankenloser Gewinnmaximie-
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rung als an einem humanen Gemeinwesen interessiert ist. Auf dem Arbeitsmarkt wächst die
Zahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse, welche die Existenzsicherung eines Großteils der
Bevölkerungsgruppen bedrohen (vgl. Dörre 2007: 290ff.). Erosionen im Sozialstaat führen zu
finanziellen Kürzungen im Gesundheitswesen, in personenbezogenen Diensten und Einrichtungen der Kinderbetreuung. In allen diesen Entwicklungen breitet sich eine soziale Unsicherheit aus, von der Bürger und Bürgerinnen betroffen sind, Frauen jedoch gravierender als
Männer.
Die Spaltung des Arbeitsmarktes in formelle und informelle Segmente hat in der industriellen
Produktion wie im Dienstleistungssektor zu einem Abbau von Ganztagsarbeit, zu einem Anstieg von Teilzeitjobs und Niedriglohnbereichen geführt. Von solchen Veränderungen sind
alle lohnabhängig Arbeitenden betroffen – Qualifizierte und minder Qualifizierte, Männer und
Frauen, Einheimische und Zugewanderte. Aber sie sind es nicht in gleicher Weise. Das lässt
sich schlaglichtartig zeigen, wenn wir Geschlechtzugehörigkeit als Diskriminierungsmerkmal
beachten: Männer sind häufiger in Normalarbeitsverhältnissen verankert als Frauen. In den
meisten der zumindest potentiell prekären Beschäftigungsverhältnissen sind letztere dagegen deutlich überrepräsentiert (Dörre. a.a.O., 294).
In der post-fordistischen Organisation von Erwerbsarbeit nehmen Verwertungsstrategien
neue Formen an. Unter dem Stichwort „Selbstverantwortung“ werden alle Befähigungs- und
Motivationspotenziale der lohnabhängig Beschäftigten für Zwecke der Profitmaximierung
mobilisiert. 2 Die Leistungsanforderungen sind enorm angestiegen. Selbst Freizeit und private
Lebensräume sind in den Dienst von Unternehmen zu stellen. „Entgrenzung“, d. h. die
Durchbrechung der Demarkationslinien zwischen häuslichen und gewerblichen Sphären ist
für viele Beschäftigte eine große Belastung. 3 Auch im Dienstleistungssektor werden Rationalisierungsmaßnahmen forciert. Dazu gehört die Flexibilisierung von Erwerbsarbeitszeiten, die
nicht unbedingt zur Erweiterung von Gestaltungsspielräumen im Familienleben führt. Eher
kommt es zu einer strikteren Verregelung des häuslichen Alltags, den jene Frauen auszutarieren haben, die den „Familienbetrieb“ planen und organisieren (vgl. Jürgens 2005).
Angesichts solcher Entwicklungen ist zu konstatieren, dass sich die gesellschaftlichen Widersprüche im Umgang mit „Arbeit“ eher verschärft als abgeschwächt haben: Durch den anwachsenden Stress im Erwerbsleben und im privaten Haushalt, der Regenerationsmöglichkeiten bedroht, wird gerade jenes soziale Potential gefährdet, ohne das eine zivilisierte Gesellschaft nicht auskommen kann: unverbrauchtes, d h. lebendiges Arbeitsvermögen und
soziale Vitalität im Miteinanderleben.
Kerstin Jürgens hat in ihrem Aufsatz mit dem Titel „Gesellschaftliche Reproduktionskrise“
(2010) aufgezeigt, dass Handlungserwartungen in der alltäglichen Lebensführung für Männer
2
Für solche Phänomene steht in der sozialkritischen Arbeits- und Industriesoziologie der Begriff „Subjektivierung der Arbeit“
(vgl. Moldaschl & Sauer 2000, Moldaschl 2002, Moldaschl & Voß 2002, Gottschall & Voß 2003). Zur Kritik an der androzentrischen Beschränkung der Analysen auf marktvermittelte Arbeit und männliche Beschäftigte vgl. Aulenbacher 2005: 208-279;
.
Jürgens 2006: 58-110.
3
Vgl. hierzu: Saurer 2007; Pongratz/ Voß 2003; Voß 2007.
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„Gesellschaftliche Widersprüche – Zumutungen im Arbeitsensemble von Frauen – soziale Spannungen in ihrem Alltagsleben“
und Frauen um so unerträglicher geworden sind, je schwieriger es wird, aus eigenem Vermögen lebenslang Gesundheit und Leistungsfähigkeit für familiale und berufliche Aufgaben
sicherzustellen (vgl. a. a. O.: 578). Aber die „Überforderungssyndromatik“ (ebenda) hat in
den Lebensverhältnissen von Frauen doch ein anderes Gesicht. Die Hauptlast der Haushaltung wird immer noch von ihnen getragen, die Betreuung der Kinder und der hilfsbedürftigen
Angehörigen ist weitgehend ihnen überantwortet. Dazu kommt der steigende Zeitdruck durch
die Flexibilisierung des Familienlebens, die Bedrängnis durch die steigenden Leistungsanforderungen in der Erwerbssphäre, welche die Angst schüren, ihnen auf Dauer nicht standhalten zu können und den Job zu verlieren. 4 In der neuesten Familien-Untersuchung des
Allensbach-Institutes tritt zu Tage, dass 55% der berufstätigen Mütter nur selten Freizeit haben, in der sie sich entspannen können. Bei den berufstätigen Vätern liegt die Quote der
Dauergestressten bei 40%. Während letztere sich mehr Zeit für die Familie wünschen, hätten
Mütter gerne einfach mehr Erholungsphasen für sich selbst (vgl. Hannoversche Allgemeine
Zeitung, Welt im Spiegel, 12.09.2012, Nr. 215, S. 10).
5. SCHLUSSBEMERKUNGEN
In der Frauen- und Geschlechterforschung sind Stimmen laut geworden, die davon sprechen, dass der Kategorie „Geschlecht“ heute kaum noch gesellschaftsstrukturierende Bedeutung zukomme. Gleichstellungspolitiken haben – so wird argumentiert – Wirkung gezeitigt, Gleichheitssemantiken Geschlechterstereotypisierung tabuisiert. Wo im sozialen Verhalten die Orientierung an Geschlechtskonstruktionen noch zu beobachten ist, gilt das situationsspezifisch und kontextgebunden (vgl. hierzu Bettina Heintz: 2006; Sylvia Maria Wilz:
2007; kritisch dazu: Becker-Schmidt: 2008).
Aus der Perspektive einer gesellschafstheoretisch orientierten Geschlechterforschung lässt
sich dagegen ins Feld führen, dass das Zurücktreten von sexuierten Klischees im Alltagsleben zwar zu beobachten ist, daraus aber noch nicht geschlossen werden kann, dass sie im
sozialen Handeln keine Auswirkungen mehr haben. Verwiesen sei auf junge Paare, die ihren
Äußerungen zwar hohe Erwartungen an eine egalitäre Partnerschaft artikulieren, bezahlte
und unbezahlte Arbeit jedoch keineswegs gerecht unter sich verteilen. Mechanismen der
Geschlechterdifferenzierung mögen inkonsistenter geworden sein. Das heißt aber noch lange nicht, dass in der gesellschaftlichen Distribution von materiellen, kulturellen und politischen Ressourcen keine gravierenden Unterschiede mehr zwischen Frauen und Männern
4
Eine neue Forsa-Umfrage belegt, dass 78% der interviewten Frauen, die einen Job haben, für die Mahlzeiten in der Familie
zuständig sind, 68% ohne Mithilfe anderer die Wohnung in Ordnung halten, 61% die Kinder zu ihren Freizeitaktivitäten fahren
und über die Hälfte mit ihnen Schulaufgaben macht (vgl. dpa-Mitteilung in der Hannoverschen Allgemeine vom 7. März 2011,
Seite 9). Sieht man sich neuere Daten zur häuslichen Pflege an, so wird die größere Belastung von Frauen noch einmal deutlich: In Deutschland werden zwei Drittel der rund 2,37 Millionen Pflegebedürftigen zu Hause betreut, in der überwiegenden
Mehrheit von weiblichen Angehörigen. Diese Methode, Fürsorgepflichten vom Sozialstaat auf die Familie zu verschieben, hat
einen hohen Preis: Auffällig sind körperliche Zusammenbrüche, Gesundheitsprobleme und Depressionen, die sich bei pflegenden Angehörigen häufen (vgl. Rainer Woratschka 2011: 1). Nach einem Bericht des Bundesarbeitsministeriums müssen sich
immer mehr Menschen wegen psychischer Erkrankungen und Verhaltensstörungen krank schreiben lassen (vgl. Hannoversche
Allgemeine Zeitung, Nr. 102; 2012) Der rasante Anstieg von Burn-out-Symptomen schlägt sich in der wachsenden Zahl von
Menschen nieder, die eine Erwerbsminderungsrente auf Grund psychischer Erkrankungen beantragen. Bei Männern stieg die
Zahl der Rentenzugänge in eine Erwerbsminderungsrente von 2000 bis 2010 um 66%, bei Frauen um 97%.
Regina Becker-Schmidt
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gemacht werden. Zu fragen ist zudem, ob nicht gegen Frauen gerichtete Benachteiligungsstrukturen durch die Herrschaftsmittel des Marktes, des Sozialstaates und männerbündischer Hegemonien durchgesetzt werden können, ohne dass zu deren Legitimation auf symbolische Geschlechterordnungen zurückgegriffen werden muss.
Um zu klären, ob soziale Ungleichheitslagen, in denen Formen der geschlechtlichen Arbeitsteilung am Werk sind, sich nivelliert haben oder nicht, muss m. E. dreierlei überprüft werden:
1. Gibt es in der Ausbildung von Benachteiligungsstrukturen, die gegen Frauen gerichtet
sind, weiterhin Verstärkereffekte durch die Verflechtung von Formen der Ungleichbehandlung über verschiedene Praxisfelder hinweg?
2. Um Aussagen über den Abbau von geschlechtlichen Ungleichheitslagen machen zu
können, müssen die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Frauen und Männern aus
vergleichbaren sozialen Milieus aneinander gemessen werden. Kann gezeigt werden,
dass es soziale Schichten/Klassen gibt, in denen es keine Benachteiligung qua gender mehr gibt? Oder müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass mit der Verortung von
Frauen in bildungsnahen und sozial gesicherten Milieus sich geschlechtliche Differenzsetzung zwar abschwächt, aber die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern nicht völlig verschwindet? (Auch in gut situierten Familien finden wir geschlechtliche Asymmetrien in der Verteilung von Verantwortlichkeiten für Hausarbeit und care
work. Und die Forderung nach gleicher Bezahlung von Männern und Frauen bei gleicher Qualifikation ist auch in gehobenen Berufspositionen noch längst nicht überall
eingelöst.)
3. Wenn von Fortschritten in der Gleichstellung der Geschlechter die Rede ist, dann
muss deutlich gemacht werden, wer davon profitiert und wer nicht. In welchem Verhältnis steht die Zahl der Frauen, deren Lebens- und Arbeitsverhältnisse sich verbessert haben, zur Zahl derer, die von Prekarisierung bedroht sind? Welches Gewicht
kommt bei der Bestimmung der Größenordnung von Frauendiskriminierung der Intersektionalität von Geschlechtszugehörigkeit und Klasse/Ethnizität zu?
Regina Becker-Schmidt
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