Kulturelle Wertekonflikte?

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Kulturelle Wertekonflikte?
Implikationen für die pädagogische Praxis und interkulturelle Familienarbeit
PD Dr. Haci-Halil Uslucan
Vertretung der Professur für Pädagogische Psychologie
Helmut-Schmidt-Universität Hamburg
Vortrag beim DRK am 27.05.2010 in Berlin
Vortragsprogramm
Was sind Werte
Soziale Verunsicherung von Migranten
Wertedivergenzen zwischen
Migranten und Deutschen
Türken,
türkischen
Werteerziehung in islamischen Familien und ihre
pädagogischen Implikationen
Was sind Werte?
1. Überzeugungen, die aber nicht als bloße Ideen
mit nur einem kognitiven Gehalt, sondern, wenn sie
aktiviert werden, emotional aufgeladen sind
(Schwartz, 1999).
2. Werte verweisen auf wünschenswerte Ziele
wie z.B. Gleichheit, Gerechtigkeit etc.
3. Werte gehen über konkrete Situationen hinaus und
umfassen größere Handlungskontexte (bspw. soll man
nicht nur in der Schule oder auf der Arbeit gerecht
sein, sondern überall).
4. Werte dienen auch als ein Standard, wie die
Handlungen und Überzeugungen anderer zu
bewerten sind.).
Kulturenübergreifende Befunde:
1. Jüngere tendieren eher nach Werten, die
Wichtigkeit von Offenheit (Stimulation
Hedonismus) betonen, während ältere eher
Wichtigkeit von Traditionen (Konformität
Sicherheit) betonen.
die
und
die
und
Kulturenübergreifende Befunde:
2. Jüngere weisen in der Regel höhere
individualistische Werte auf als ältere, die stärker den
Kollektivismus betonen
Kulturenübergreifende Befunde:
3. Geschlechtsspezifische Unterschiede in 47
Nationen: Frauen schätzten eher die Werte Sicherheit
und Großzügigkeit höher ein, Männer dagegen legten
mehr Wert auf Hedonismus, Leistung und Macht.
Strukturelle Beziehung der Werte untereinander
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W
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n
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en
d
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Sicherheit
Konformität
Macht
Leistung
Tradition
Hedonismus
Großzügigkeit
Stimulation
Universalismus
Selbstbestimmung
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Intergenerationale Transmission von Werten:
•Komplette Transmission: kein Wandel
•Keine Transmission: kein koordiniertes Handeln
zwischen den Generationen
Intergenerationale Transmission von Werten:
•In Migrationskontexten intensivere Transmission
Veränderung kindlicher Werte in der Entwicklung
durch:
•Wechsel der Bezugsperson
•Erziehungsstil der Eltern
•Auswirkungen des sozioökonomischen Status
Veränderung des kindlichen
Wertewandels in seiner Entwicklung:
•Erziehungsstil der Eltern: Elterliche Erziehungspraktiken und –
stile wesentliche Determinanten in der frühen Kindheit;
einschneidender Wandel in den Erziehungsstilen des Kindes
(bspw. durch Trennung und Alleinerziehung des Elternteils,
durch Migrationserfahrungen oder durch eine Liberalisierung der
Erziehungspraktiken etc.) kann Werteentwicklung beeinflussen.
Kontakt: [email protected]
www.uslucan.de
•Veränderung des kindlichen Wertewandels in
seiner Entwicklung:
Auswirkungen des sozioökonomischen Status:
•Werthaltungen werden auch durch Schichtzugehörigkeit
bestimmt; ein Wechsel (Abstieg oder auch Aufstieg, auch
Zugehörigkeit zu sozialen Randgruppen, etwa zu
ethnischen Minderheiten) kann Wertprioritäten
beeinflussen (Vgl. Standop, 2005).
Kontakt: [email protected]
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Soziale Verunsicherung von (türkischen) Migranten
Welche Werteunterschiede gibt es zwischen
Deutschen und Türken?
Tabelle : Religiosität der Befragten (Angaben in Prozente)
Bezeichnen Sie
sich als religiös?
Gehen Sie
regelmäßig in die
Moschee (Kirche)?
Ja
Nein
Deutsche Türkischstämmige Türken in der Türkei
Migranten in
Deutschland
38.9
83.4
91.1
60.7
16.1
8.0
Ja
5.1
33.7
34.6
Nein
80.3
60.5
59.6
Tabelle : Stichprobenkennzeichnung (Angaben in Prozente)
Türken in der Türkei
Deutsche (n= 234) Türkischstämmige
(n= 327)
Migranten in
Deutschland (n = 205)
Geschlecht
Männlich
Weiblich
Bildungshintergrund
Grundschule
Mittlere Reife
(Mittelschule i. d.
Türkei)
Gymnasium
Universität
Anderer Abschluß
Schüler
20.5
79.5
50.7
49.3
59
41
1.3
21.4
16.1
23.9
14.1
30.0
65.8
1.3
6.4
2.6
31.7
14.1
2.9
8.3
18.3
8.0
3.4
20.8
Werteausprägung
7,00
Deutsche
6,00
Türkische
Migranten
Türken
5,00
4,00
3,00
2,00
1,00
0,00
Höflichkeit
Achtung v.
Tradition
Nationale
Sicherheit
Autorität
Familiäre
Sicherheit
Werteausprägung
7,00
Deutsche
6,00
Türkische
Migranten
5,00
Türken
4,00
3,00
2,00
1,00
0,00
Freiheit
Anregendes
Leben
Reichtum
Spiritualität
Freundschaft
Tabelle: Wertehierarchien (Rangreihen) im Kulturvergleich
Deutsche
Türkische Migranten
Türken
1. Familiäre Sicherheit
2. Freundschaft
3. Freiheit
4. Anregendes Leben
5. Höflichkeit
6. Nationale Sicherheit
7. Reichtum
8. Achtung vor Traditionen
9. Autorität
10.Spiritualität
1. Familiäre Sicherheit
2. Freundschaft
3. Freiheit
4. Höflichkeit
5. Nationale Sicherheit
6. Achtung vor Traditionen
7. Spiritualität
8. Reichtum
9. Anregendes Leben
10.Autorität
1. Familiäre Sicherheit
2. Freiheit
3. Freundschaft
4. Nationale Sicherheit
5. Höflichkeit
6. Achtung vor Traditionen
7. Spiritualität
8. Anregendes Leben
9. Reichtum
10.Autorität
Reihenfolge
Keine signifikanten Unterschiede bei familialer Sicherheit und
Freiheit; alle anderen Werte signifikant unterschiedlich
Tabelle: Herkunftsspezifische Ausprägung der Wertvorstellungen: Effektstärken
Höflichkeit
Achtung vor Tradition
Nationale Sicherheit
Autorität
Familiäre Sicherheit
Freiheit
Anregendes Leben
Reichtum
Spiritualität
Freundschaft
Deutsche
Türkische Migranten
Effektstärke d (D-TM)
Effektstärke d (TM-T)
-.45
-1.00
-.46
.04
-.06
-.11
.91
-.27
-1.22
-.07
.31
.07
-.20
-.26
.13
.07
-.35
-.26
-.11
-.16
Türken
Erziehung in islamischen Familien
Werteauffassungen: Differenziert nach der selbstberichteten Religiosität (Mittelwerte):
Non-Relig: nicht religiös; Relig: religiös
Kulturelle Zugehörigkeit
Stichprobengröße:
Deutsche
Türkische
Migranten
Türken
Non-Relig.
Relig.
Non-Relig.
Relig.
NonRelig.
Relig.
n= 141
n= 88
n= 33
n= 168
n= 26
N= 295
Mittelwerte
Werteauffassungen
Familiäre Sicherheit
6.25
6.42
5.88
6.49
4.77
6.39
Freundschaft
5.88
5.83
5.58
6.05
5.62
6.21
Freiheit
5.83
5.72
6.18
5.90
5.54
5.93
Anregendes Leben
5.36
5.14
3.82
3.34
4.50
4.15
Höflichkeit
4.83
4.74
4.94
5.55
4.23
5.28
Nationale Sicherheit
4.35
4.09
3.00
5.68
3.28
5.87
Reichtum
3.03
2.93
2.91
3.58
3.69
4.05
Achtung vor Tradition
2.56
3.11
3.24
5.74
1.73
4.76
Autorität
1.72
1.75
0.76
1.81
1.77
2.31
Spiritualität
0.93
2.00
1.88
4.65
1.04
4.79
Diskussion
Erwartungen, dass gerade jüngere Migranten sich in ihren
Wertauffassungen an ihre deutschen Altersgenossen angleichen
würden, lassen sich mit unseren Daten nicht bestätigen.
Denkbar: jüngere Migranten stärkeren lebensweltlichen
Verunsicherungen ausgesetzt und deshalb Präferenz für eher
Sicherheit und Halt versprechende Orientierungen (wie etwa
Achtung der Tradition, Höflichkeit, Autorität).
Diskussion
Annahme: Jüngere Migranten deutlich stärker in Kontakt und
Diskurs mit Deutschen; vermutlich eher das Bedürfnis, sich von
der Mehrheitsgesellschaft abzugrenzen, offensiver die Differenzen
zu betonen und die als "typisch" für die "türkische Kultur"
unterstellten traditionalen Werte wie etwa Höflichkeit, Achtung vor
Tradition, Autorität, nationale Sicherheit etc. verteidigen oder
zumindestens wertschätzen zu müssen.
Diskussion
Die bisherigen Ergebnisse zusammenfassend:
Keine "Parallelgesellschaft" der Migranten:
Dazu gibt es eine zu große Anzahl an positiven
Werteübereinstimmungen wie gemeinsamer Negationen.
Dennoch: Migranten, insbesondere aber Migrantenjugendliche:
weitaus stärker als ihre deutsche Bezugsgruppe Favorisierung
einer konservativen Wertewelt.
Deutung der Daten: Vorsicht geboten, als dass diese Studie trotz
einer relativ großen Stichprobe keine Repräsentativität, weder für
die deutsche noch für die türkische Stichprobe, beanspruchen
kann.
Diskussion
Methodenkritisch: Werte vorgegeben, nicht jedoch genuin
kulturspezifische Werte eruiert worden.
Trotz eines differenzmaximierenden
Überlappungen
Ansatzes:
Methodisch bedenklich: Vorgabe positiver
Tendenz
sehr
große
Werte; Ja-Sage-
Diskussion
Kritisch: Studien zu bzw. über Migranten mit dem methodischen
Problem der Konfundierung von ethnischer Zugehörigkeit und
sozialer Schicht konfrontiert:
Überschneidung von Schichtzugehörigkeit (z.B. Unterschicht) und
ethnische Zugehörigkeit;
Phänomene, die eventuell nur vor dem Hintergrund
unterschiedlicher sozialer Zugehörigkeiten zu verstehen wären,
werden dann unreflektiert ethnisiert.
Religiöse Werterziehung in islamischen Familien
religiöse Sozialisation in den islamischen Ländern:
vom Kontext unterstützt und z. T. unreflektiert als eine Alltagsgewissheit
übernommen
Koedukation durch das soziale Umfeld
In der Migrationssituation fehlt der bestätigende und unterstützende Kontext:
gezielte islamische Erziehung erforderlich
Gründe der Religiosität in der Migrationssituation andere:
scharfe Differenz zur sozialen Mitwelt markieren.
Schiffauer (1991): „Islamisierung des Selbst“, Reflexivierung des Islam
Erziehung in islamischen Familien
Inhalte islamischer Erziehung:
einfache Frömmigkeit:
Ziel: Nachkommen in die elementaren Inhalte islamischen Lebens
unterweisen (z.B. die fünf Säulen des Islam) und Rituale wie
Gebetsuren, Waschungen lehren,
aber auch die Unterscheidungen zwischen dem, was „rein“ und
„unrein“ ist, zu kennen.
Erziehung in islamischen Familien
Inhalte islamischer Erziehung:
Das andere Extrem:
fundamentalistische Positionen: in den koranischen
Inhalten sämtliches Wissen vorgeformt und kryptisch
vorformuliert;
deshalb gegen eine (natur-) wissenschaftliche kognitive
Bildung.
Erziehung in islamischen Familien
Religion als Schutzfaktor
Funktion von Moscheen: eigene Identität unter seinesgleichen
bewahren und bestärkten;
praktizierte Religiosität auch ein Schutz vor einer Identitätskrise
In der Untersuchung von Heitmeyer, Müller und Schröder (1997):
34%-39%
der
befragten
Jugendlichen:
Diskriminierungserfahrungen in Deutschland;
rund zwei Drittel der Befragten bekundeten, der Islam bzw. die
Zugehörigkeit zum muslimischen Religionskreis stärke ihr
Selbstvertrauen.
Erziehung in islamischen Familien
Religion als Schutzfaktor:
Gerade in der Diaspora:
Religion bedeutsame Ordnungsfunktion.
Orientierung am Islam hilft mit Blick auf den Erziehungskontext,
die in der Moderne – auch für deutsche Eltern - immer schwerer
gewordene Frage nach angemessenen Erziehungsinhalten zu
vermeiden bzw. zu umgehen oder sie individuell beantworten zu
müssen.
Klare Regeln und Orientierung: Reduktion von Komplexität
Erziehung in islamischen Familien
Religion als Integrationshemmnis:
•
•
Antiintegrative Folgen dann:
strukturelle Barrieren und eine geringe Akzeptanz von
muslimische Migranten seitens der Mehrheitsbevölkerung,
andererseits:
Moscheen bzw. muslimische Vereine und Verbände - als
Reaktion darauf oder auch proaktiv-, islamzentrierte
Überlegenheitsgefühle produzieren, Differenzen verstärken
oder bewusst zur Kontaktmeidung mit „Heiden“ oder Christen
aufrufen und eine Selbstgenügsamkeit der Muslime
suggerieren.
Religiöse Werterziehung in islamischen Familien:
Erziehung in Moscheen
•
Pädagogisch bedenklich: autoritärer Unterrichtsstil und die
Fixierung auf Disziplin in diesen Einrichtungen (Vgl. Aslan, 1996),
•
keine „Pädagogik vom Kinde“ aus;
•
Personal verfügt kaum über pädagogische und didaktische
Fähigkeiten (Vgl. Marschke, 2003).
Religiöse Werterziehung in islamischen Familien:
Mensch eingefasst in eine umfassende Gehorsamsstruktur der Natur
gegenüber Gott; wie alle Geschöpfe hat er auch im islamischen
Selbstverständnis seinem Schöpfer dankbar und gehorsam zu sein.
Gehorsam eine ethische Dimension, die vielen Kulturkreisen
gemeinsam ist und ein essenzielles Erziehungsziel darstellt (Vgl.
Uslucan & Fuhrer, 2003).
Auch in der bayerischen Verfassung ist die „Ehrfurcht vor Gott“ als ein
oberstes Bildungsziel formuliert (Art. 131).
Religiöse Werterziehung in islamischen Familien:
Orientierung ausschließlich an der koranischen Offenbarung:
in erster Linie an der Tradition fixiert; keine Anweisung für die Lösung
moderner Alltagsprobleme, überlässt den Einzelnen hilflos der
Gegenwart, die er dann nicht bewältigen kann.
rigide Fixierung auf klare erzieherische Leitsätze, die aus dem Koran
abgeleitet werden: Ausdruck massiver Verunsicherung muslimischer
Eltern;
Ziel: Klarheit und Orientierung, jedoch vielfach nicht zeitgemäß (bspw.
Orientierung an Gehorsam).
Religiöse Werterziehung in islamischen Familien:
Frage nach der Wirkung religiöser Sozialisation:
Angstbesetzte religiöse Sozialisation (Gott als strafende Instanz): bei
sensiblen Personen auch zu einem Bruch mit der Religion (Oser, Di
Loreto, & Reich, 1996), also keine Festigung der religiösen Identität,
sondern eher kontraproduktive Effekte
Recht einheitlich: Belege gegen ein autoritär-strenges Erzieherverhalten:
überwiegend an Strafe orientiertes Erzieherverhalten führt nicht
zur
Bildung von disziplinierten Persönlichkeiten,
sondern kann Kinder
und Jugendliche zur Disziplinlosigkeit,
Widerstand, Aggression sowie
zu passiver Unterwerfung führen (Vgl. Hurrelmann, 1994).
Angst und Lernen: negativ korreliert; ca. r = -.30
Religiöse Werterziehung in islamischen Familien:
Wirkung religiöser Sozialisation:
Dagegen: Vermittlung eines Gottesbildes, bei dem Gott als eine
schützende, bergende und bedingungslos liebende Macht
wahrgenommen wird, selbstwertstabilisierend für Kinder (Grom,
1982).
Implikationen für die kindliche Entwicklung
Gehorsam, elterliche Kontrolle und (Selbst)disziplinierung im islamischen
Sinne zentrale Elemente in der islamischen Werteerziehung
Erziehung eigener Kinder bei muslimischen Eltern vielfach angelehnt an
ein Muster der eigenen Sozialisation.
Starke Inkonsistenzen im kindlichen Leben:
Besonders Schulkinder müssen enorme Syntheseleistungen vollbringen
und eine äußerst flexible Persönlichkeit ausbilden, wenn sie in ihrem
Alltag beständig mit Ideen, Regelsystemen und Weltdeutungen
konfrontiert sind, die konträr zueinander sind, um weiterhin
handlungsfähig zu bleiben.
Implikationen für die kindliche Entwicklung
Starke
Gehorsamsforderung:
Entwicklung
selbstgesteuerter Lerntechniken wird gehemmt;
selbstständiger
und
Selbstgesteuertes und erworbene Inhalte durch eine semantische
Durchdringung in eigene Schemata übersetzendes Lernen bildet eines
der zentralen Schlüsselkompetenzen erfolgreicher Bildungsgeschichten
Vielen Dank für Ihre Geduld und Aufmerksamkeit !
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