Humanmimikry. Poetik der Evolution

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Andrea von Braun Stiftung
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Humanmimikry.
Poetik der Evolution
Autor: Dr. Kyung-Ho Cha / Projekt: Humanmimikry. Poetik der Evolution /
Art des Projektes: Publikation der Dissertation
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Mimikry ist eines der bekanntesten Phänomene in der Geschichte der Evolutionsbiologie.
Der Begriff bezeichnet ursprünglich die täuschende Ähnlichkeit eines Insekts mit einer
anderen Art oder seiner Umgebung. Um 1900 beschäftigen sich Literaten und Humanwissenschaftler mit der Frage, ob eine menschliche Mimikry existiert und welche Bedeutung
ihr für das gesellschaftliche Zusammenleben zukommt. In Gedankenexperimenten,
Theorien und literarischen Texten entsteht so der wissenschaftliche Mythos der Humanmimikry, dem ein zum Teil fantastisches Menschenbild zugrunde liegt: Dem Menschen
wird die Fähigkeit zugeschrieben, sich perfekt an die soziale Umwelt anpassen zu können,
bis er sich weder physisch noch psychisch von seinen Mitmenschen unterscheiden lässt. Die
Humanmimikry wird im wissenschaftshistorischen Kontext der lamarckistischen Evolutionsbiologie verortet und ihre epistemischen und poetologischen Voraussetzungen analysiert, die ihre Entstehung und Verbreitung in der Literatur und im Wissen vom Menschen
auf der Schwelle zum 20. Jahrhundert ermöglichen.
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Mimikry ist eines der bekanntesten Phänomene in der Geschichte der Evolutionsbiologie.
Der Begriff bezeichnet ursprünglich die täuschende Ähnlichkeit eines Insekts mit einer
anderen Art oder seiner Umgebung. Eingeführt wird er in die Biologie durch den von
Charles Darwin hoch geschätzten englischen Biologen Henry Walter Bates. Sein Artikel, in
dem das Phänomen der Mimikry zum ersten Mal unter Schmetterlingen untersucht wird,
erscheint im Jahre 1862. Im Laufe seiner Geschichte erfährt das biologische Konzept zahlreiche Wandlungen. Um 1900 umfasst „Mimikry“ (engl.: mimicry, franz.: mimétisme) eine
größere Anzahl von Phänomenen als heute. Unter den Begriff fällt damals die täuschende
Ähnlichkeit zwischen unterschiedlichen Arten ebenso wie jene zwischen einem Insekt und
seiner Umwelt (ein Blatt, ein Stein, ein Zweig, etc.). Hinzugezählt wird außerdem das sogenannte Todstellen (thanatosis). Der Mimikry werden unterschiedliche Funktionen zugeschrieben: Ihre täuschende Ähnlichkeit kann der Tarnung, der Abschreckung oder der
Anlockung dienen. Heute beschränkt sich der Begriffsgebrauch vornehmlich auf solche akustischen, olfaktorischen, optischen oder taktilen Signale, die ausgesendet werden, um die
Aufmerksamkeit eines Beobachters zu erregen.
In den Dezennien um 1900 setzen sich Humanwissenschaftler und Literaten mit der Frage
auseinander, ob eine Mimikry unter Menschen existiert und welche gesellschaftlichen und
kulturellen Auswirkungen sie besitzt. „Entwicklung der mimicry unter Menschen.“
Friedrich Nietzsches Aussage aus dem Jahre 1884 (1885) steht paradigmatisch für einen solchen Versuch, eine Mimikry des Menschen zu denken.
Die Humanmimikry oder menschliche Mimikry ist der Gegenstand meiner Untersuchung.
Es handelt sich um ein fantastisches Menschenbild, das aus einer Faszination für die
Mimikry und die Insekten, die sie betreiben, entsteht. In der Retrospektive gleicht
Nietzsches Aussage dem Ausruf eines wissenschaftlichen Forschungsprogramms, an dessen
Umsetzung sich ein Kollektiv, bestehend aus Biologen, Medizinern, Psychologen,
Psychoanalytikern, Soziologen, Kulturtheoretikern, Philosophen und Literaten, in den folgenden Jahrzehnten abarbeiten wird. Unabhängig voneinander beabsichtigen sie, die (fiktive) Hominisation der Mimikry zu rekonstruieren und zu analysieren. Die Erfindung eines
mimetischen Verhaltens geht Hand in Hand mit der Erfindung eines neuen „Tiers“: des
Menschen, der eine Mimikry betreibt. Seine Konstruktion stellt kein singuläres, das heißt in
sich abgeschlossenes Ereignis dar. Erfunden wird das „neue Tier“ in unterschiedlichen Wissensformationen, die ihre spezifische Version der Humanmimikry entwerfen.
Dieser Mimikrymensch ist ein homo adaptivus par excellence. Er ist ein Mensch, der sich an
sein soziales Milieu anpasst wie die Mimikryinsekten an ihre natürliche Umwelt. Mimikry
steht für einen Anpassungsprozess, bei dem eine Ähnlichkeit mit einem Vorbild beziehungs-
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weise der Umwelt hergestellt wird. Die Auffassungen zur Ähnlichkeit hängen von dem
Interesse des Beobachters ab, für den die Anpassung entweder physischer oder psychischer
Art sein kann. Ein Mensch kann demzufolge auf einen anderen Menschen eine ähnliche
Wirkung entfalten wie die Umwelt auf ein Insekt. In Bezug auf den Menschen müssen es
nicht ausschließlich morphologische Merkmale sein, es kommen auch kulturelle Wertvorstellungen infrage. Es genügt, dass sich eine solche Person lange genug an einem Ort aufhält,
bis sie seinen Mitmenschen ähnlich wird. Nicht nur wird dieser Mensch sich irgendwann so
bewegen, reden, schreiben, denken und schließlich so fühlen wie seine soziale Umwelt. In
einigen Fällen soll er sogar imstande sein, sich physisch in seine Mitmenschen zu verwandeln.
Am Anfang der Arbeit stand eine paradoxe Beobachtung: Obwohl keine Mimikry unter
Menschen beobachtet wird, regt der bloße Gedanke an die Möglichkeit ihrer Existenz die
kulturelle wie wissenschaftliche Neugierde an. Es wird vermutlich der Anblick der bunten,
in wohl kaum einem Konversationslexikon oder einer populärwissenschaftlichen Abhandlung fehlenden Mimikryillustrationen sein, die den menschlichen Verstand in der damaligen
Zeit verführen und ihn hoch auffahren lassen in das Reich szientistischer Fantasien. Das
Paradox verdichtet sich sodann zu einer Erscheinung, bis der Mensch gegen Ende des 19.
Jahrhunderts plötzlich inmitten der Mimikrytiere erscheint. Hier kommt der Einfall vor der
Beobachtung, die Idee vor dem Leben.
Die Herausforderungen der Arbeit bestanden im Wesentlichen in der Analyse eines
Wissensobjekts, dem kein Gegenstand in der Wirklichkeit entspricht. Denn der Mythos
besitzt keine empirische Gestalt und kann daher weder verifiziert noch falsifiziert werden.
Der Körper des Mimikrymenschen aus dem Labor der Fantasie hat kein Gewicht, wiegt er
doch nur so viel wie die Ideen, aus denen er gemacht ist, und die Fantasien, die auf ihm
lasten.
Vor allem in Bezug auf die Rekonstruktion der Entstehungsbedingungen des szientistischen
Mythos galt es, dessen historischen Unschärfen zu berücksichtigen. Historisch „unscharf “
ist die Mimikry nicht zuletzt, weil sie in Vergessenheit geraten ist. Das Wissen, das den
Mimikrymenschen hervorbringt, wird von der Mehrheit der Wissenschaftler als ein „falsches“ Wissen beurteilt. Sie stehen der Vorstellung einer Humanmimikry entweder skeptisch gegenüber oder lehnen sie schlichtweg ab. Dieses Manko bot jedoch zugleich die Möglichkeit, einen anderen historiografischen Pfad einzuschlagen und sich abseits der Geschichte der erfolgreichen wissenschaftlichen Theorien zu bewegen. Humanmimikry ist ein Beispiel für ein Objekt, das einer „kleinen“ Wissensgeschichte angehört, einer deshalb „kleinen“
Geschichte, weil sie von jenen Ideen und Objekten handelt, die im historischen Schatten
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erfolgreicher wissenschaftlicher Paradigmen stehen und aus diesem Grund in Vergessenheit
geraten sind. Und in der Tat zeigte sich, dass der Mythos fernab jener Forschungsdisziplinen
wie etwa des (Neo-)Darwinismus, der Genetik, Soziobiologie und der Ethologie, also all
jener Disziplinen, die die aktuelle wissenschaftliche Gegenwart bestimmen, zirkulierte. Das
methodologische Interesse der Arbeit an diesem ephemeren und peripheren Wissensphänomen war also ein dezidiert archäologisches.
Im weiteren Verlauf der Untersuchung wurde deutlich, dass sich die Genese des szientistischen Mythos der Humanmimikry nicht einem, sondern einer Reihe von Faktoren verdankte: Seinen wissenschaftshistorischen Hintergrund bildet die (neo- und psycho-)lamarckistische Evolutionstheorie. Beim Lamarckismus handelt es sich um eine Milieutheorie, auf
deren Grundlage es möglich wird, die Anpassung eines Lebewesens als einen spontanen
Prozess zu denken, der eine körperliche Verwandlung nach sich zieht. Zu nennen ist des
Weiteren die Krise der Mimikryforschung um 1900, in deren Verlauf das zoologische Mimikrykonzept an Kohärenz und definitorischer Eingrenzungskraft verliert, sodass die taxonomische Bestimmung willkürlich zu werden droht. Eine Folge der Krise ist die Öffnung der
klassifikatorischen Ordnung für neue Lebewesen. Zu ihnen gehört der Mensch, der fortan
zu den Mimikrytieren gezählt werden kann.
Eine der weiteren Herausforderungen im Laufe der Arbeit war es, dem seiner Natur nach
interdisziplinären Charakter des Forschungsobjekts methodologisch gerecht zu werden. Es
gehört zu der Besonderheit des Mythos, dass er nicht in einer wissenschaftlichen Disziplin
oder in einem Wissensfeld zu verorten ist, sondern vielmehr zwischen den unterschiedlichen
Gebieten des Wissens zirkuliert: Von der Biologie bis zur Psychoanalyse, von der Literatur
bis zur Soziologie. Es hatte den Anschein, als ob der Untersuchungsgegenstand selbst eine
Art von epistemischer Mimikry oder Anpassung an das jeweilige theoretische Milieu
betreibt. Und schließlich drängte sich der Eindruck auf, dass dieses proteische Objekt sogar
imstande war, heterogene Theorien miteinander mühelos zu verbinden. Die Suche nach der
Struktur des Mythos war aus diesem Grund ebenso wichtig wie notwendig geworden.
Der literaturwissenschaftliche Zugang erwies sich hier als besonders fruchtbar, um die strukturellen Elemente des Mythos zu bestimmen.Ungeachtet ihrer literarischen, kulturellen oder
wissenschaftlichen Provenienz ist den Texten eine Struktur immanent, die als eine „Poetik
der Evolution“ bezeichnet werden soll. Eine Poetik des Wissens ermöglicht den Transfer des
Konzepts von der Wissenschaft der Zoologie in das anthropologische Wissen. Sie schafft
Strukturen der Vernetzung, die den epistemischen Bruch zwischen Wissenschaft und Alltagswissen, wenn nicht zu überwinden, so doch zu umgehen helfen. Präzise Naturbeobachtung oder Experimente treten damit hinsichtlich ihrer epistemischen Bedeutung und
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Funktionalität zurück. In den Abhandlungen tauchen drei wissenspoetologische Strukturelemente auf, die die drei Hauptelemente der Poetik der Evolution darstellen: Buchstäblichkeit, szientistischer Gestus, Theatralität: Auf der Basis dessen, was man als ein phylogenetisches Phantasma auffassen könnte, welches erlaubt, eine gedankliche Linie vom Insekt zum
Menschen zu ziehen, wird das Wort auf eine buchstäbliche Weise gelesen und infolge dessen
als Mimesis interpretiert; es wird sodann der Anschein von Wissenschaftlichkeit durch
einen textimmanenten szientistischen Gestus suggeriert; schließlich wird ein theatralischer
Rahmen geschaffen, in dem ein neues Verhalten erfunden und dem menschlichen Leben
eine teleologische Struktur zugeschrieben wird, die auf die perfekte Anpassung an die soziale Umwelt hinausläuft. Das auf diese Art dramatisierte Leben gleicht einem Theaterstück
mit ungewissem Ausgang: Am Ende steht die erfolgreiche oder die gescheiterte Anpassung,
ist das Schicksal des „mimikrierenden“ Subjekts entweder eine Komödie oder eine Tragödie.
Mein Hauptinteresse an der Humanmimikry war ursprünglich ein historisches, lag doch der
Schwerpunkt der Untersuchung zeitlich auf den Dezennien um 1900. Fest steht aber auch,
dass die Faszination an der Mimikry in der Gegenwart noch anhält und die menschliche
Mimikry damit nicht nur eine bloße „historische“ Idee ist. Heute, wenn auch mit einem
anderen Bedeutungsinhalt, gehört „Mimikry“ beispielsweise zum festen Begriffsinventar
postmoderner (Identitäts-)Theorien. Man bedient sich des Mimikrykonzepts in der Regel,
um mit ihm ein Gegengewicht zum normativen Traditionsbegriff der Mimesis zu schaffen.
In der ästhetischen Theorie, Anthropologie, Theaterwissenschaft, Literaturwissenschaft,
Medientheorie, den gender studies und postcolonial studies wird er häufig verwendet.
Besondere Erwähnung verdienen die Arbeiten von Homi K. Bhabha und Rey Chow, die den
Mimikrybegriff weit über die Grenzen der postcolonial studies bekannt gemacht haben.
Ein weiteres Beispiel stammt aus der Soziologie. Dort existieren Bemühungen, Mimikry in
die Soziologie einzuführen. Die Überlegungen Diego Gambettas stellen den zurzeit wichtigsten (Neu-)Versuch dar, das zoologische Modell auf die Ökologie des menschlichen Zusammenlebens anzuwenden. Gambetta konzentriert sich darauf, die zoologischen Klassifikationssysteme für das Studium des sozialen Verhaltens fruchtbar zu machen. Er vermeidet es,
Human- und Insektenmimikry miteinander zu verwechseln. Sein Vergleich spielt sich auf
der Ebene der Analogien und Modelle ab. Der Soziologe sieht in der Humanmimikry ein
wichtiges Desiderat. Für Gambetta besitzt die Erforschung der menschlichen Mimikry das
Potenzial eines „interdisziplinären Forschungsfeldes“:
„Still, despite its ubiquity, human mimicry has not been studied very much at all.
Description of countless acts of mimicry are narrated in studies of crime, espionage, business,
war, class, political conflict, gender, religious conversion, and ethnic assimilation.“
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Meine Untersuchung stellt nicht zuletzt einen möglichen Versuch dar, diese aktuelle interdisziplinäre Perspektive um eine historische Sichtweise zu ergänzen und die gesellschaftlichen wie wissenschaftlichen Veränderungen im Vergleich zu damals mit zu berücksichtigen.
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Curriculum Vitae
Studium der Biologie, Neueren Germanistik,
Komparatistik und Philosophie an der Rheinischen
Friedrich Wilhelm Universität Bonn, Oxford
University, Columbia University New York
DFG-Stipendiat am Graduiertenkolleg „KörperInszenierungen“ an der Freien Universität Berlin
Promotion an der Technischen Universität Berlin
Literaturwissenschaftler am Institut für Neuere
Deutsche Philologie der Freien Universität Berlin
Die von Andrea von Braun Stiftung geförderte
Dissertation „Humanmimikry. Poetik der Evolution“ ist
2010 im Wilhelm Fink Verlag, München erschienen,
ISBN: 978-3-7705-4994-8
Forschungsschwerpunkte liegen im interdisziplinären
Feld der literature and science unter besonderer
Berücksichtigung der (anti-)darwinistischen
Evolutionsbiologie und ihrer Bedeutung für das
kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft
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